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Bin ich so?


Meine Idee ist, eine autobiographische Kurzgeschichte zu schreiben. Komische Idee. Was soll ich denn schreiben? Ist in meinem Leben irgendetwas Spannendes passiert? Wen interessiert das überhaupt? Wo soll ich anfangen? Irgendwie klingt Autobiographie für mich wie Lebenslauf. Wer möchte schon einen Lebenslauf lesen? Es sei denn unter den Lesern gibt es jemanden, der mir einen hochdotierten Job anbieten möchte. Was soll ich also schreiben? Muss ich irgendwelche Regeln beachten? Einen roten Faden haben? Das Wichtigste ist, dass der Leser überhaupt einen Sinn erkennt. Kann ich so schreiben, wie mir der Schnabel gewachsen ist? Puh, Fragen über Fragen.
Mir fällt dazu der Bildhauerschüler ein, der alles Überflüssige vom Stein weghauen soll, um die Figur, die schon im Stein ist, ans Tageslicht zu bringen. Ich muss also nur das Weiße vom Blatt entfernen und schon ist die Kurzgeschichte da. So einfach ist das. Bisher habe ich viele Fragen aufgeschrieben. Ich muss sehen, dass meine erste Kurzgeschichte nicht zum Fragenkatalog mutiert. Habe ich überhaupt Talent zum Schreiben? Ich hoffe es, ich hoffe es. Ich weiß eigentlich auch gar nicht richtig, worüber ich schreiben soll. Mir fällt einfach keine spannende Begebenheit ein, die ich hier zum Besten geben könnte. Ich bin auch kein Plappermaul. Im Gegenteil. Eigentlich bin ich ein schüchterner Mensch. Eigentlich so ein introvertierter Typ, dem man jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Durch meinen heutigen Job muss ich die Introvertiertheit vergessen. Ich muss extrovertiert sein. Ich und schüchtern? Das glaubt keiner, der mich kennt. Aber es ist so, ehrlich. 
Bis mir ein Erlebnis einfällt, das aufregend genug ist, um hier erzählt zu werden, schreibe ich ein wenig so vor mich her.

Ich beginne mal mit meiner Geburt. Mit der Geburt der Person, über die man schreiben möchte, beginnt jede Biographie. Meine Autobiographie also auch. Jubel, der Anfang ist gemacht. Im Jahr 1955, im schönen Monat März, erblicke ich das Licht dieser Welt. Mein Vater hat mich mit den Worten begrüßt: »Der Junge hat einen Eierkopf.« Irgendwie passend, denn mein Geburtstag ist in die Osterzeit gefallen. Danach passiert erst mal nichts Aufregendes. Kindergarten, Schule, Pubertät.

Ach ja, Pubertät. Mit Beginn meiner Pubertät stürzt die mir bis dahin bekannte und geliebte Welt ein. Plötzlich mag ich Mädchen. Man stelle sich vor: Ich mag Mädchen. Na ja, irgendwie finde ich sie unterhaltsam. Mittlerweile hat sich mein Äußeres auch gewandelt. Die Stimme ist dunkler geworden, meine Haare trage ich länger, schulterlang. Man nennt mich auch den Jüngling mit dem goldenen Haar. Jaaa, war wirklich so. Eins ist mir erspart geblieben. Der Albtraum eines jeden Mädchen und eines jeden Jungen, die oder der Eindruck beim anderen Geschlecht machen möchte: PICKEL!!
Ich nicht, keine Pickel, nicht einen, nicht einmal ein Pickelchen. Nada, nothing, nichts. Meine Gesichtshaut glatt wie ein Kinderpopo. 
Mit der Pubertät verändert sich noch etwas in meinem Leben. Ich beginne für meinen Unterhalt selbst zu sorgen. Ich muss arbeiten. Schöne, neue Welt. Zuerst die Lehre. Wie wird immer so schön gesagt? Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Genau. Sich nicht mehr auf der Schulbank rumdrücken, sondern die Kohle ranschaffen. Dabei habe ich mir eine so schöne Lebensplanung vorbereitet. Älter als dreißig will ich nicht werden. Mensch! Dreißig! Eine Horrorvorstellung! Alles über dreißig gehört in die Tonne. Reich werden ist mein Ziel gewesen. Vom Millionärslehrling, über den Millionärsgesellen zum Millionärmeister. Das wäre eine Karriere geworden. Okay, die ersten 3 Millionen habe ich nicht geschafft, jetzt beginne ich mit der vierten.
Der nächste Einschnitt in meinem Leben hat dann Vater Staat gemacht. Er wollte mich. Nicht nur mich, hunderte meiner Altersgenossen haben mein Schicksal geteilt. Der Bund hat gerufen, wir sind dem Ruf gefolgt. In den nächsten Monaten haben nette Vorgesetzte mir das beigebracht, was meine Eltern in meiner Erziehung versäumt haben. Ich habe gelernt wie man richtig steht, richtig geht, richtig liegt, richtig sitzt, richtig isst, richtig grüßt, sich richtig anzieht. Einfach super. Die Ausbilder sind ganz besorgte Menschen gewesen. Damit wir Soldaten auch immer verstehen konnten, was wir so machen sollen, haben sie ganz laut geredet. Noch eins habe ich beim Bund gelernt: Um Ausbilder bei der Bundeswehr zu sein, ist Intelligenz nicht zwingend notwendig und auch nicht vorgeschrieben.


Mein Leben geht auch nach dem Bund weiter. Ich bin geformt und gefestigt. Ich habe weiter die Kohle rangeschafft. In der Stahlindustrie, in einem Hüttenwerk. So richtig mit Hochöfen, flüssigem Eisen, glühender Schlacke. So habe ich mir immer arbeiten in der Hölle vorgestellt. Der Vorarbeiter hat den Teufel gegeben. Ich bin aber stolz gewesen, ein »Hüttenknecht« zu sein. Die Rohre, die wir Stahlarbeiter hergestellt haben, liegen heute noch in der sibirischen Tundra und liefern immer noch das begehrte Rohöl. Das ist doch was. 
Ich habe aber diese Hölle verlassen und gegen eine andere eingetauscht. Ich bin in die Arme des Staates zurückgekehrt.
Ich arbeite wieder für den Bund. Bis heute. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist mir einfach wichtig gewesen. Zwar liegen die Stahlrohre noch in der Tundra, aber viele Arbeiter aus dem Hüttenwerk sind arbeitslos geworden. Leider. Ich habe es vermeiden wollen dem Heer der Arbeitslosen beizutreten. Die Entlohnung dafür ist mir dann doch zu gering.
Ich habe irgendwann, in einem Anfall von Lernsucht, das Abitur nachgemacht. Sogar ein wenig herumstudiert habe ich. Wirtschaftswissenschaften und Informatik. Ich habe unbedingt ausprobieren wollen, wie weit ich komme. Na ja, ich bin zufrieden mit meiner Leistung. 
Ich habe auch mal geheiratet. Was heißt mal? DREIMAL. Ja, genau. Dreimal.
Das habe ich nie so gewollt. Heiraten schon. Nur nicht so oft. Es hat auch Vorteile gehabt. Zwischen dem Standesbeamten und mir hat sich eine Duzfreundschaft entwickelt. Vor der letzten Zeremonie hat er mich gefragt: »Na Rolf, wie immer?« Ist doch irgendwie schön, oder? 
Aber mal ernsthaft. Meine erste Frau ist eine Enttäuschung für mich gewesen. Wahrscheinlich ich für sie auch. Sie hat mich mit meinem besten Freund betrogen. Der wiederum mich mit meiner Frau. Nett, nicht wahr? Es kommt sogar noch besser. Ich habe eine Geburtstagsparty geschmissen. Zahlreiche Gäste haben mit mir in den Geburtstag reingefeiert. Um Mitternacht, exakt um null Uhr, kam meine Frau zu mir und gratulierte mir mit den Worten: »Herzlichen Glückwunsch, ich verlasse Dich.« Ich schwöre, genauso hat sie es gesagt. Wobei mir bis heute nicht klar ist, wozu sie mir eigentlich gratuliert hat. Dazu, dass sie mich verlässt oder zu meinem Geburtstag. Später habe ich mir selbst gratuliert: »Herzlichen Glückwunsch Rolf, die bist du los.« Aber mal im Ernst. So verlassen zu werden, doppelt betrogen von meiner Frau und meinem Freund ist hart, sehr hart. In dem Moment habe ich mich nackt gefühlt. Richtig hilflos. Ich habe mir in meiner Hilflosigkeit etwas Luft verschafft. Irgendwie hat es meine Faust geschafft das Gesicht meines Freundes hart, aber herzlich zu treffen. Das tat gut. Die Gäste haben sich auch vom Acker gemacht. Ich bin alleine. Und sie, meine Frau, mein Freund und meine Gäste, haben mir einen Berg verschmutztes Geschirr und Besteck hinterlassen. Ich habe stundenlang gespült und abgetrocknet, gespült und abgetrocknet, gespült und abgetrocknet. 
Wie auch immer, vorbei ist vorbei und das Leben geht weiter. Gut so.
Auf meine zweite Ehe möchte ich nicht weiter eingehen. Nur so viel: Sie ist auch ein Irrtum gewesen. 
Beim dritten Mal ist alles anders geworden. Heute schon viele Jahre lang anders. Finde ich einfach nur toll. Meine dritte Frau ist eine wahre Altruistin, sie passt zu mir und ich offensichtlich zu ihr. Die jetzige Ehe kennt zwar auch Höhen und Tiefen, wahrscheinlich ist das ganz normal im menschlichen Miteinander, aber sie hat es ausgehalten. Ich kann sagen ich habe ein glückliches und zufriedenes Leben und ich hoffe meine Frau hat es auch. Ich bin das geworden, was für mich mit siebzehn ein Albtraum gewesen ist: Ein Spießer. Heute finde ich das gar nicht mehr so schlimm. Das normale Leben hat mich eben eingeholt, wie Millionen anderer Menschen auch. 
Jetzt gehe ich meinem letzten Lebensabschnitt entgegen. In wenigen Jahren erwartet mich mein wohlverdienter Ruhestand. Ich freue mich schon auf mein aufregendendes Leben zwischen Bingo Abende im Seniorenwohnheim, Tanztees im Gemeindehaus, Verkaufsveranstaltungen für Rheumadecken und Warten auf den Tod. 
Bei aller vor sich hin Schreiberei ist mir immer noch nichts eingefallen, was ich hier zu Papier bringen könnte. Somit höre ich jetzt auf, in dem Bewusstsein, dass ich gescheitert bin, eine Geschichte niederzuschreiben. Finde ich sehr schade. Sehr, sehr schade.

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Tag der Veröffentlichung: 16.01.2011

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