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Wer von den Pinguinen dort unten ist der Bräutigam? Alle in Schwarz, fast wie bei einer Beerdigung, alle in weißen Hemden; die Masse wirkt dadurch dunkel-schwarz, eine Eisscholle am Südpol, watschel-watschel, nick-nick, watschel-watschel, die Pinguine beim Aperitif, Kaviarschnittchen, Lachsbrötchen, Bündnerfleisch und Sekt, nein, richtiger, echter Champagner, gelbes Etikett, Veuve-Cliquot; wow, das sind Edelpinguine; ich werde vornehm aussehen müssen, also raus mit dem Schmuckanhänger; steckt immer in der Innentasche des weinroten Jacketts; über den Kopf, Blick in die Fensterscheibe. Sitzt richtig? Gut!
Wer ist der Bräutigam? Alle haben dasselbe Miniblumensträußchen am Revers, wahrscheinlich Orchideen; haben es alle in Weiß? Ja. Also sind alle Bräutigam...e oder Bräutigämer oder wie heißt der Plural? Komisch, bei den Frauen weiß man ihn sofort: die Braut – die Bräute; Sexismus im Kleinen. Ich sehe nur Männer; wo sind die weiblichen Pinguine; schon wieder ein grammatikalisches Problem: der Pinguin – die Pinguinin – die Pingu..., Pingu..., geht nicht. Auch sie werden schwarz-weiß sein; vielleicht mit Hüten wie beim englischen Königshaus, sicher mit bunten Seidenhalstüchern und teuren Stöckelschuhen, in denen sie nicht normal laufen können und beim Langsamgehen so aussehen wie Pingu-i-ne auf der Flucht. Wieder versteckter Sexismus.
Das sind alles hyperwichtige Männer da unten; sie haben extrem wichtige Themen, die sie besprechen; schade, dass dieses Fenster nicht zu öffnen ist, Klimaanlage, Zeichen des Fortschritts; dabei ist die Landschaft hier so sauber. Sie haben ein Einheitslächeln, nicht wie unsereiner. Lippen nach hinten, dass die Backen dicker werden und man einen Teil der Zähne zeigt; sie haben eine abgespeckte Variante, wahrscheinlich, weil sie ständig am Lächeln sind: sie spannen nur leicht die Lippen, der Mund bleibt geschlossen, manchmal bewegen sie nur den linken oder rechten Teil; wenn sie nicht reden, lächeln sie, vielleicht sollte man ein neues Verb dafür erfinden: geschäftslächeln partylächeln, pflichtlächeln; sie tun es zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit: »Es tut mir leid, der Markt hat sich verändert, wir müssen Sie entlassen.« – »Sie ist schon mit einundachtzig Jahren dahingegangen.« Es wird wahrscheinlich auch das Letzte sein, was sie mit ihrem letzten Atemzug noch bewerkstelligen werden, damit sie eine schöne Leiche abgeben.
Schade, dass man sie von hier oben nicht hören kann; es scheint nicht nur wichtig, was sie sagen, es muss unglaublich bedeutend sein, selbst die Hand mit dem Champagnerglas bewegt sich heftig, die andere ist ständig als Faust geballt; mit dem Zeigefinger jemandem auf die Brust zielen, Victoryzeichen oder Daumen nach oben werfen, mehrmals in sich drehen, sich selbst den Bauch streicheln, den Arm des Nachbarn festhalten und ohne Hemmungen sich selbst kurz in und an die Nase greifen, um das Ergatterte nicht nur symbolisch an der Hose abzustreifen.
Ich habe noch viel Zeit, ich zähle durch; Viehzählung: 14, 18, 24, 31, 39, so viele, plus die drei, die auf der Parkbank sitzen; mit den Frauen und Kindern werden es 100 Leute sein, eine große Hochzeit, eine teure Hochzeit, fast wie im Süden.
Aah, das erste weibliche Wesen im Kreise der männlichen Pinguine; eine Bedienung, richtig gesagt »Serviererin«. »Wesen« ist die richtige Bezeichnung, sie sieht aus wie eine Frau, sie ist eine Frau, sie bringt aber nichts Frauliches für mich rüber. Obwohl höchstens 22, kommt sie grau, gebeugt, lustlos daher, schlurfend tut sie so, als würde sie die Platte mit Appetithäppchen gerne anbieten; sie schaut nie jemanden an, lächelt nie, ihre Aufgabe ist ein ihr leidiger Job; sie demonstriert es eindrücklich, ein Graureiher inmitten der Kälte des Südpols. Privat wird sie wie viele ihrer Altersgenossinnen total egoistisch sein: ich will – ich will – ich will! Ich! Ausländerinnen haben da mehr Charme und Arbeitsfreude, doch in diesem vornehmen Schuppen achtet man auf die richtige, akzentfreie Sprache, selbst Personal aus Sachsen wirkt hier schon fremd; im Geldadel erwartet man klare, saubere und reaktionäre Lösungen. Die Edelhäppchen sind jetzt alle gegessen. Sie bringt wie in alten Zeiten Salzstangen und kleine Brezeln; Notreserve, wird alles aufgepickt, als hieße der Auftrag »nippen, essen, zugreifen, essen«, automatisierte Vorgänge ohne einen Hauch von kritischem Denken, denn heute ist Hochzeit und Hoch-Zeit für Gaumen und Magen, wahrscheinlich stammt die Haltung noch aus menschlichen Urzeiten und ist genetisch verankert.
Wenn nicht bald etwas passiert, sind auch die Salzstangen weg, noch eine einzige Flasche Champagner steht im Eiskühler; vielleicht gibt es bald schnell aufgebackene Knoblauchbaguettes. Ein Servierwagen rollt herein, geschoben von zwei Jungköchen; mit oder ohne Baguettes? Falsch eingeschätzt, man lässt sich hier nicht lumpen: es sind nochmals Lachs- und Kaviar-Teilchen, hundert, nein, über zweihundert Stück; geteilt durch vierzig macht nochmals fünf Stück pro Mann. Kein Problem, die ersten nehmen sich jeder ein paar davon, noch bevor die Platten vom Wagen weggehoben werden. Hunger in der High-Society? Essen aus Langeweile? Oder halten sie sich nur auf Abstand voneinander, mit Glas und Essen in den Händen? Ihre Füße sprechen Bände: viele scharren ständig, bis sie den Kies unter den Schuhen weggetreten haben und auf der blanken Erde angekommen sind; sie wechseln dann wenige Zentimeter daneben, um dort wieder das gleiche Spiel zu beginnen. Da viele dasselbe tun, werden ständig Lücken im Kies geschaffen und wieder zugeschüttet.
Und ich werde seit zwanzig Minuten bezahlt. Toller Job, hinter einem Fenster zu stehen und warten. Warten auf ein Einsatzkommando, das in einer Minute oder in einer Stunde kommen kann, hier vielleicht noch später. Warten auf den Einlass, die Reden, die Suppe, warten auf die erste, die zweite Vorspeise, Reden, Geschenke, warten auf den Hauptgang, den Brautwalzer, das Dessert, den Kaffee, die Schnäpse, warten auf die Ersten, die gehen und hoffen, dass bald darauf alle müde sind und nach Hause wollen. Von sechs Stunden Präsenzzeit bis zu fünf Stunden warten und rumhängen. Immer der selbe Ablauf, immer die selben Erwartungen, immer das selbe Schema. Hochzeit als Normveranstaltung, austauschbar, risikoarm. Die Gesellschaft hat sich offensichtlich diese Form in Jahrzehnten geschaffen, um ja keine Organisationsfehlschläge zu produzieren. Was gäbe es Imageprobleme bei einer nur teilweise misslungenen Veranstaltung! Das Brautpaar würde ein Leben lang leiden, die Eltern würden bemitleidet, die Familienehren wären beschädigt. Also macht man es immer sehr ähnlich; diese Form hat auch den Vorteil, dass man höhere Investitionen in das Fest schnell erkennen kann. Wer Sekt offeriert, bietet Normales; wer Champagner anbietet, hat schon einen Pluspunkt, und wer Markenchampagner serviert, gehört, zumindest was die Auslagen betrifft, zur High-Society. Ähnlich sind die Abstufungen im Menü: Gemüsesuppe oder Schildkröten-Consommé, geräucherte Forelle oder Saumon froid à l’aneth du pays, Putenschnitzel oder Aiguelettes de canard au vinaigre de framboise avec ses légumes automnales und Himbeerpudding oder Flan de mûres sauvages à la crème friandise. Je weiter der Weißwein transportiert ist, um so ehrenvoller ist er für die Hochzeiter: Mosel, Rhein und Elsass sind out; der Weiße kommt aus Chile oder Australien. Der Rote darf aus dem Bordeaux oder der Bourgogne kommen; hier wird die Qualität am Namen und dem Alter gemessen: ein Premier Grand Cru macht etwas her im Gegensatz zu einfachen Schlossabfüllungen; fünf Jahre alte Crus sind für mittlere Kader-Hochzeiten; zwanzig Jahre alte genügen gerade noch für Direktoren. Das Mineralwasser muss in blauen Flaschen serviert werden, Kunststoffflaschen wären proletarisch; der Cognac und der Whisky sind am besten »hors d’âge«, dann hat man noch Jahre später positive Erinnerungen an das »einmalig gelungene Fest« und »seitdem einen solch famosen Tropfen nicht mehr getrunken«. »Ihr solltet öfters heiraten – gut der Scherz, was?«
Sie stehen immer noch herum und essen; wieso fällt mir ausgerechnet jetzt ein, dass ich endlich mein Testament machen sollte; man fühlt sich ständig noch zu jung dazu, ein Stück Aberglaube ist dabei: wenn du es mal geschrieben hast, bist du eher dran. O ja, ich wäre es beinahe auf der Autobahn gewesen, saudumme Situation; nach dem Überholen eines Lasters werde ich von zwei BMW’s nach links gedrängt; eigentlich kein Problem, wenn der Polski-Fiat vor mir in normalen Tempo gefahren wäre. Eigentlich kein Problem, er hatte maximal siebzig drauf; yeuh, haben meine Bremsen gequietscht, aber er hat nichts bemerkt, überladen bis unters Dach; ganz obendrauf ein Videorecorder, daneben ein Fußball, Picknickkorb und sechs Rollen Klopapier; so was prägt sich in der letzten Sekunde auf ewig ein; mit Können habe ich rechtzeitig den Unfall vermieden, eigentlich kein Problem. Aber Herzklopfen hatte ich trotzdem; nicht lange, aber immerhin; so was ist bei mir selten, ich bin halt ein cooler Typ, so was braucht man in meinem Job.
Da unten tut sich was. Die Gläser werden abgestellt, die Serviertabletts sind bis auf ein einziges Lachsschnittchen geleert, man sagt sich einen letzten wichtigen Satz, und wie auf ein geheimes Zeichen schreiten alle bewusst und wichtig um die Ecke – und schnell rüber zum Eckfenster – wie herzig: die Frauen sind da! Welche ist die schönste; wer gehört zu wem; welches Parfum benutzen sie; sind Ausländerinnen darunter? Es kommt Arbeit auf mich zu. Geniale Idee, ein gelbes Oldtimer-Postauto zu chartern und damit spazieren zu fahren; wahrscheinlich erst am See entlang, dann kurz in die Berge und auf einen Musterbilderbuchbauernhof, den Frauen-Aperitif mit Champagner, Milch und Likörchen: »Baileys mag ich am liebsten, da muss ich mir keinen Kaffee mehr kochen.« – »Ein bis zwei Camparis brauche ich schon zwischen Mittagsschlaf und Abend, ohne Eis mit einem Schnitz Orange, müssen Sie mal probieren!«
Die Gratismodeschau beginnt. Alle sind unglaublich schön, mindestens Frauenzeitschriftenniveau. Das 19. Jahrhundert ist wohl in Mode: Biedermeier wohin das Auge blickt; sie sehen nach braven, treuen Ehefrauen aus, angepasst, lieb, vordergründig und beinahe so wichtig wie ihre Männer. Wie viel Zeit, welche Energien und Mittel wurden hier investiert? Tage und Wochen Gesprächsstoff, Anproben, Selbstzweifel, Spionieren bei ebenfalls Eingeladenen: »Eigentlich steht mir Hell-blau gar nicht, aber mein Mann findet mich sexy darin.« – »Nein, ein weißes Oberteil ziehe ich dieses Mal sicher nicht an, variatio delectat, ich hatte schon eines bei den Hochzeiten von Julia und Désirée, ich werde es mit meiner Modeberaterin besprechen müssen, man kann schließlich nicht immer gleich herumlaufen.« – »Die Schuhe sind für mich das größte Problem, man muss schön laufen können, aber doch lange sitzen, ich ziehe sie meist unter dem Tisch aus.«
Irgendwann sollte ich heimlich alles mit einer Videokamera aufnehmen, nee, brauche ich nicht, am nächsten Wochenende ist es wieder gleich: anderer Ort, andere Namen, andere Personen und doch alles austauschbar. Die Enten und Schwäne in den Parks von London, Zürich, New York, Sydney sehen genau gleich aus, bewegen sich gleich und fressen wahrscheinlich auch das Gleiche, also ist das hier die Logik eines Naturgesetzes auf Menschen übertragen. Tierpsychologe hätte ich werden sollen, nee, lieber nicht, dann müsste ich in braunem Wasser mit jungen Enten rumschwimmen und »wi-wi-wi-wi« deren Stimmfühlungslaut nachmachen; sie würden mir bis aufs Klo und ins Bett folgen und schließlich alles ... Was machen die da unten? Sieht aus wie ein Balzritual. Höre ich richtig? »Nastrovje – und ex!«, die Männer stehen mit dem Rücken zum Haus, trinken auf einen Zug das Champagnerglas leer und werfen es alle gleichzeitig an die Wand, »Nastrovje – und ex!«, zum zweiten Mal, jetzt gibt es nicht mehr genug Gläser für alle; »Nastrovje – und ex!«, die Frauen applaudieren, die Bedienungen sind entsetzt, es gibt eine Konferenz der Ober-Pinguine, klare Handbewegungen, »nein, nicht noch einmal – Entschuldigung – wir bezahlen alles, selbstverständlich – nochmals Entschuldigung.« Eine ältere Küchenhilfe sammelt mühsam die Scherben ein, die Stiele der Gläser extra in eine Plastiktüte, wahrscheinlich zum Berechnen des zerschlagenen Kristalls. Das Rudel der Männer empfindet nun offensichtlich die Peinlichkeit und geht wie auf ein Kommando in Richtung der Damen, bleibt ein paar Meter vor ihnen stehen und drängt sich zusammen; niemand schert aus, sie bewegen sich langsam um sich selbst – ein Tanz der Drohnen oder Ameisen vor ihrem Bau? Ihr Verhalten ist unnatürlich, sie signalisieren Nervosität, ihre Blicke gehen häufig nach oben in den Himmel wie in einem modern inszenierten griechischen Drama oder wie die Angst der Hühner vor dem kreisenden Habicht. Es liegt was in der Luft, etwas nicht Alltägliches, selbst für eine verwöhnte Gesellschaft, die alle Sensationen dieser Welt erlebt hat und jeder sicher Riverrafting, Zeltnächte mit streunenden Löwen in der Serengeti und Schlittenhunderennen am Südpol mitgemacht hat.
Es ist schon eigenartig wie heutzutage das Fliegen zur Normalität geworden ist. In meiner Schulzeit war die aufregendste Exkursion die Besichtigung des Flughafens. Was haben wir gestaunt, was haben unsere Phantasien mit den startenden Maschinen abgehoben: kurz nach Rio über New York, Mittagessen in Nizza und sofort wieder zurück, ein Fußballspiel in London anschauen, Muscheln sammeln in der Südsee, wo auch immer das sein mag. Heute ist dies für diese High-Society Realität, sie tun es wie unsereiner Auto fährt, kaum eine Strecke ist zu kurz zum Fliegen; sie sparen Zeit und haben keine, eine Repräsentation jagt die andere, nicht der Anlass ist das Entscheidende, das Gesehenwerden und die eigene Bedeutung und das Herausstellen der eigenen Bedeutung, das sind die Triebfedern endloser, hektischer Aktivitäten: »Was? Sie waren nicht in Baden-Baden beim Empfang des Herzogs von Lothringen, also wir müssen da hin, alle andern Termine sind nicht so wichtig; er mag uns besonders, zumal wir stundenlang über unser gemeinsames Hobby reden können ... Sie fragen nicht, welches es ist? ... Gut, dann sage ich es Ihnen! Wir leisten uns den Luxus, selbst schwarze Johannisbeeren anzubauen, natürlich nur an exquisiten Südseiten und mit automatischer Bewässerung – die Gärtner von heute sind ja auch nicht mehr die zuverlässigsten, dennoch halten wir an unserm Portugiesen fest – ernten Ende August die Früchte persönlich von Hand; in den letzten Jahren wegen der globalen Erwärmung auch schon ein paar Tage früher; aua, das piekst schon mal, Achtung, ich scherze jetzt: manchmal mischt sich unser Blut mit dem roten Saft – gut, gell! – und dann kochen wir in unserem Kellergeschoss, mein Mann ist da rührend, er hat die Einmachutensilien seiner Großmutter teuer restaurieren lassen, etwa einhundertzwanzig bis einhundert fünfzig Gläser Konfitüre; ich kann Ihnen leider keines überlassen, unsere Freunde reißen sich darum; Brigitte, ausgerechnet sie mit ihrer Figur, isst ein Glas ganz alleine zum Nachtisch; wir haben schon oft diskutiert, ob wir nicht an unserem Ferienhaus auf Mallorca noch acht bis zehn Stauden setzen sollen, aber der Transport der Einmachgläser ist doch sehr mühsam und mit modernem Zeugs wird uns eine solche Qualität doch nie, nie gelingen; wir halten den Standard wie immer im Leben. Ich halte Sie auf dem Laufenden, Sie müssen gar nicht nachfragen. Übrigens fliegen wir morgen mit der Mittagsmaschine runter, um uns ein paar Stunden zu erholen.«
Flugzeuggeräusche in der Stille dieses Schlossgartens, schade für die Störung, unten werden die Bewegungen hektischer, Männer und Frauen mischen sich, winken nach oben, einige springen hoch, wollen der Maschine näherkommen, den Piloten auf sich aufmerksam machen. So muss es hergegangen sein bei der Entdeckung von Schiffbrüchigen, die sich auf eine Insel retten konnten. Die Maschine rast knapp über die Baumwipfel, wackelt nach links, nach rechts, wirft einen dicken Schatten über die Hochzeitsgäste und steigt senkrecht in den Himmel, schraubt sich showmäßig mit einem Looping so weit hoch, dass sie nur noch ein weißer Strich im blauen Himmel ist, fliegt ein paar Sekunden geradeaus und spuckt zwei silberne Punkte aus, die unregelmäßig durch die Luft wirbeln, schnell nach unten fallen und nach langen Sekunden die Fallschirme öffnen. Die Hochzeitsgesellschaft tobt, schreit, umarmt sich, springt noch höher, skandiert, dirigiert von einem kleinen, dicken Südländer, »Candy – Tobi – Candy – Tobi«. Die beiden oben im Himmel ahnen die Begeisterung und bewegen sich wild hin und her, aufeinander zu, voneinander weg; wenn sie aufeinander zuzuprallen scheinen, schreien die Frauen hysterisch hoch, kurz danach erklärendes tiefes Gemurmel der Männer; das Spiel dauert Minuten, selbst die Küchencrew und alle Bedienungen sind nach draußen gekommen, der Buschauffeur hat die Motorhaube aufgeklappt und unterstützt mit seiner rotzigen Hupe rhythmisch genau »Candy – Tobi – Candy – Tobi«. Ein vierzehnjähriger Gymnasiast verlegt sein für Mitternacht geplantes, unerlaubtes Feuerwerk vor und zündet eine Rakete nach der anderen; der Platz wird eingeräuchert, Pulverdampf weht über die Schreienden, einige niesen, johlen, niesen; die Stimmung einer Südkurve der Bundesliga, anstatt »Bayern – Bayern« – »Candy – Tobi – Candy – Tobi« von den Frauen und langsam stärker werdend die Männer »we are the champions«, der Buschauffeur will beiden Rhythmen gerecht werden, hupt mal mit den einen, mal mit den anderen, was beide Gruppen aus dem Takt bringt, und sie gehen nahtlos über in ein unartikuliertes Johlen und Klatschen. Das Hochzeitspaar ist nun klar zu erkennen, es schwebt gekonnt und jede Windbewegung ausnutzend lange in gleicher Höhe, er im schwarzen Anzug, sie tatsächlich in weißem Hochzeitskleid, verschnürt wie ein Rollbraten. Der Vierzehnjährige schießt gezielt eine Rakete in ihre Richtung, trifft beinahe, was zu extrem hohem Geschrei der Frauen mit einem gespielten Ach-ich-kippe-gleich-um-Anfall und einer gewaltigen Ohrfeige seiner Mutter führt, was sofort eine heftige Diskussion mit dem Vater nach sich zieht, der seinen Sohn schützend in den Arm nimmt und gemeinsam mit ihm demonstrativ Geschosse ins Tal abfeuert.
Das Brautpaar versucht eine Synchronlandung auf der benachbarten Wiese, es gelingt beinahe; sie raffen ihre Fallschirme und sind innert Sekunden umringt von der Hochzeitsgesellschaft, die sie mühsam von allen Gurten und Seilen befreit, auf die Schulter nimmt, zum Aperitifplatz trägt, wo der Hoteldirektor mit zwei Pressglaschampagnerflöten die beiden förmlich begrüßt und Vater und Sohn die letzte Rakete in die Luft abfeuern.
Kleider machen auch Hochzeitsleute, die Braut wird von drei besorgten Damen gezupft, zurechtgezogen, hochgebunden, gekämmt, gepudert und kurz nachgeschminkt; ein kleiner Taschenspiegel sagt ihr erst beim vierten kritischen Blick, dass sie halbwegs mit sich zufrieden sein kann, während er in Westernmanier die Hosen mit der Hand ausschlägt, sich schüttelt und in einem Zug den Champagner austrinkt. Beide sind sichtlich der Mittelpunkt der Gesellschaft; sie haben das Unvergessbare erreicht; man wird sich noch in Jahren bei allen möglichen Gelegenheiten von dieser einmaligen Hochzeit erzählen: »Dem Tobi hätte ich es schon zugetraut, er ist ja ein richtiger Draufgänger ohne große Hemmungen, dass die Candy einen Sprung aus dreitausend Metern wagt, das ist etwas, und sie ist gleich schön runtergekommen wie er, mindestens so gewagt. Und wie mutig sie ist, unglaublich dieser Fortschritt in einer Frau; als Sechzehnjährige hat sie sich noch nicht einmal auf einen Schwebebalken getraut. Also ich würde mich noch nicht einmal ins Flugzeug wagen, geschweige denn abspringen. Wenn eine Ehe so spektakulär anfängt, wird sie lange halten, so etwas kittet. Ich beneide die beiden.«
Achtung, jemand ist an der Tür! Es wird also bald losgehen.
»Bist du auch Personal?«
»Ja, so etwa.«
»Ich nicht verstehen ›so etwa‹, bist du auch Personal?«
»Ja, ja, ich bin Personal.«
»Ich bin Personal; Chef sagt immer: du bist Mädchen für alles, jetzt muss ich ihm schreien, wenn Menschen kommen in Saal.«
Fünfundvierzig ist er sicher schon, mager, ausgelaugt, vielleicht auch krank, er hustet oft. Ohne mich anzuschauen, setzt er sich auf einen Stuhl am langen Tisch, ich kann ihn gerade noch daran hindern, eine Zigarette anzuzünden; in blitzschnellen automatischen Bewegungen hat er die Packung und das Gasfeuerzeug aus der linken Hosentasche geholt; er erzählt und erzählt all sein Leid in einem weinerlichen Ton, von dem ich annehme, dass er antrainiert ist, denn so unglaublich jämmerlich kann eine Stimme von Natur aus nicht sein. Der Krieg in Jugoslawien hat ihn fertig gemacht, seine Jugend hat er dem Kommunismus hingegeben, der Kapitalismus ist mindestens genau so schlimm, der Westen muss ihm und seiner Generation eine großzügige Entschädigung zahlen, nichts ist schlimmer als die Frauen, die einen nur finanziell ausnehmen wollen, er muss vierzehn Stunden für einen Hungerlohn arbeiten, der Chef ist der größte Mafioso der Welt, der die Zimmermädchen nach Belieben bumst und die Angestellten unter Tarif bezahlt, sich dafür einen Lamborghini leistet, die EU ist viel zu groß und darf nicht noch größer werden, sein Bruder schuldet ihm einen VW-Polo und hat ihm alles zu verdanken, sagt aber niemals danke, er raucht nur leichte Zigaretten, weil ihm der Arzt, der sowieso keine Ahnung vom richtigen Leben hat, das Rauchen absolut verboten hat. Er stellt mir seine riesige Familie vor, ich sage höflichkeitshalber alle paar Sekunden »ja«, manchmal nur »hm« und bei den vielen dramatischen und negativen Vorfällen »o je«, höre nicht mehr zu, merke aber an seinem Tonfall, was ich von mir geben muss und schaue mir weiterhin das Treiben unten im Hof an: O nein, es wird noch dauern. Eine strahlende Mutter hat ihre zehnjährige Tochter auf einen Stuhl gestellt und lässt sie Geige spielen, Gott sei Dank weht hier oben der Wind das Gekratze weg, das Publikum beachtet die Darbietung nicht, redet und diskutiert weiter. Die Familie scheint für ihren Nachwuchs eine musikalische Karriere zu planen; es warten noch ein Akkordeonspieler und zwei Blockflötenspielerinnen.
»Du schauen weiter durch Fenster?«
»Ja, ja.«
»Dann du mich schreien, wenn Leute hier kommen; ich muss rauchen.«
Er verschwindet nach draußen und hat sofort die Zigarette entzündet; ich kann den Rauch noch riechen, bevor die Tür zuschlägt. Endlich wieder alleine, aber die Ruhe in mir ist weg, es geht bald los, der Beginn zeichnet sich ab, ich spüre die Verantwortlichkeit für das Gelingen des Abends, typisch für mich. Leider.
Draußen immer noch die Familienmusik-Show, wieder dieser Herdentrieb: keiner hat etwas über die miese Qualität gesagt oder angedeutet, alle rücken langsam von der Spielfläche weg, ein Halbkreis mit drei Metern Abstand ist schon entstanden, er wird ganz langsam, aber stetig größer, die ehrgeizige Mutter kann und will es nicht merken und treibt ihre Kinder zu gequälten Leistungen, Angst ums Bestehenmüssen stehen Anerkennungssucht und gesellschaftlichem Mehrseinwollen gegenüber, die Mama durfte, konnte als Kind kein Instrument lernen, es fehlte ihr die Perspektive, als Schlagersängerin eine Karriere zu machen oder im Grand Prix der Volksmusik mit Dirndl und Bernhardiner aufzutreten. Nun wird die Zukunft erzwungen: alle Töchter und Söhne

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wolf Buchinger
Bildmaterialien: Wolf Buchinger
Lektorat: Inga Buchinger
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013
ISBN: 978-3-7309-0616-3

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