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Tag der Rettung



"Ich habe keine Bodenhaftung und nicht nur nicht in dieser Woche" brabbelte Mohamed vor sich hin, legte das Horoskop von der "Vogue" weg und wandte sich wieder seinem Rapido-Spiel zu. Er kreuzte acht willkürlich gewählte Nummern am oberen Feld und einen Buchstaben im unteren an, starrte zum TV-Bildschirm in der Bar, verglich alle fünf Minuten die Ziehung der Zahlen, hakte die richtigen ab, umkreiste die falschen und hoffte, dass er nicht gewinnen würde, denn den Spielschein abgeben, das verbot ihm seine Religion, ausserdem fehlte ihm auch das Geld dazu. In jedem Spiel setzte er den Höchsteinsatz von 250,-Euro, in zweieinhalb Stunden macht das glatte 7500,- Euro, die er nicht ausgegeben hatte, und die er nur hätte gewinnen können, wenn er wenigstens einmal alle acht Kreuze richtig gesetzt hätte. Er fühlte sich so ebenfalls als Gewinner und konnte damit mühelos einen halben Tag rumbringen. "Zeit ist Geld", nahm er den Kritikern den Wind aus den Segeln. Jetzt spielte er die Datumsrunde: 3. März, also alle Dreien, alle Zahlen, die durch drei teilbar sind, die letzten beiden blind angekreuzt: vier Richtige! Freude kam bei ihm auf, denn bei vollem Einsatz hätte er fünf Euro gewonnen und 245,- verloren. Er streckte die Beine aus, räkelte sich wohlig auf dem Stuhl und genoss die erste Frühlingssonne, die ihm endlich nach langen Wintermonaten seinen Platz auf der Terrasse des "Le Parisien" bescherte. Das Innere der Bar war Weissen vorbehalten, meist gut verdienende Geschäftsleute aus Saargemünd, die "unter sich" sein wollten und "andere" herb nach draussen drängten, bedrohten, beschimpften oder die Gendarmerie riefen mit der Behauptung, sie selber seien als rassistisch verunglimpft worden. Draussen waren Schwarze geduldet, mehr aber nicht. Sie konnten mit einem Getränk lange sitzen bleiben, der Fernseher und der Rapido-Bildschirm waren sichtbar, bestellen mussten sie in der Tür stehend, auf die Toilette liess man sie aus hygienischen Gründen nicht, denn "wer mit beiden Beinen auf den Klodeckel springt und dann von oben alles verscheisst, der soll gefälligst zum nächsten öffentlichen WC um die Ecke gehen", auch oder gerade weil es dort fünfzig Cents kostete. Mohamed löste sein Pinkelproblem in der schmalen Gasse hinter der gegenüberliegenden Kirche, wo man von Weitem hören konnte, wenn sich jemand näherte. Dorthin hätte er schon seit einiger Zeit gehen müssen, doch der Barbesitzer Jean-Pierre würde dann sein Glas wegräumen und ihn bei der Rückkehr mit Gesten und Blicken drängen, ein neues Getränk zu bestellen. Zu "Jean-Pi", wie ihn seine Freunde nannten, hatte er ein indifferentes Verhältnis, denn einmal war er freundlich, grosszügig und gesprächig, ein anderes Mal sah man an seinem grimmigen Gesicht und an der sehr langen Falte zwischen den Augen, dass man ihn jetzt lieber in Ruhe lassen müsse. Im vergangenen Winter hatte er nochmals ordentlich Gewicht zugelegt; er trug meist das T-Shirt der Karlsberg-Brauerei, immer das selbe, welches nun weit über dem Nabel spannte, und die Wampe quoll und wabbelte weit über den tiefer gerutschten Hosenbund. "Ich gehe mit der Mode, die Frauen tragen heute ja auch bauchfrei!". Wohl war ihm bei solchen Zweckscherzen jedoch nie, denn er spürte, dass sein kaputtes Knie, das er sich im Suff bei einem Sturz aus der Geisterbahn zertrümmert hatte, je länger, je weniger belastbar wurde und er sich je länger, je weniger bewegen konnte. Dazu kam die Unfähigkeit "non" zu sagen zu all den alkoholischen Versuchungen, die ihn schon am frühen Morgen beim Putzen der verspiegelten Ablagen gleich paarweise angrinsten. "Der ist sein bester Kunde", dachte Mohamed und beobachtete ihn weiter mit der Melancholie, die typisch für Afrikaner ist, wenn sie ahnen, dass ein menschliches Schicksal unabwendbar negativ verlaufen wird. "Oh Gott, du gibst Menschen Souveränität, du nimmst sie aber auch", zitierte er leise eine Sure aus dem Koran. "Tja, auswendig gelernt ist auswendig gelernt und hält offensichtlich ein ganzes Leben." Er begann auszurechnen, dass er vor ziemlich genau zwanzig Jahren die III.Sure gepaukt haben müsste, nie mehr repetiert hatte, und jetzt plötzlich, aus heiterem Himmel, fiel sie ihm an passender Stelle wieder ein. "Gott ist unsichtbar, Gott ist immer da", erklärte er sich seinen Rückfall in die Kindheit.
Pinkeln oder nicht pinkeln? Die Antwort gab ein Deus ex machina, wie er auf einer Stadttheater-Bühne nicht besser hätte inszeniert sein können. Ein abgetakelter alter R4 kam quietschend und ächzend langsam den Berg herunter; er wusste sofort, dass hier Gefahr im Anzug war, die Geräusche uralter, ständig an der Grenze der Fahrtüchtigkeit geflickter Autos kannte er zu Genüge aus seiner Zeit in Bamako. Jetzt sagte ihm sein Instinkt, dass es gleich zu einem Ereignis kommen werde, das durch den Propheten schon lange vorhergesagt worden war. "Mon Dieu, der Prophet bin ja ich, wenn’s jetzt passiert!" Und es begab sich schrecklicher, als er in kühnsten Phantasien hätte weissagen können. Der R4 schlingerte über das Kopfsteinpflaster, kam ins Rutschen und knallte mit dem linken Vorderrad so stark an einen Begrenzungspfosten, dass das Auto wie eine lahme Ente einknickte, ruckartig stehen blieb und sofort in Brand geriet. Nun begann die wichtigste Viertelstunde in Mohameds Leben. Er hechtete zum Feuerlöscher unter dem TV-Gerät, riss ihn aus der Wandhalterung und wusste dank stundenlanger Betrachtung bei seinen häufigen Terrassenbesuchen, wie er ihn zu bedienen hatte: Druck auf den Hebel am unteren Teil, Druck auf den Hebel am Führungsschlauch, und noch bevor er am brennenden Auto ankam, schoss der weisse Strahl aufs Trottoir. Seine Hände zitterten, als er zielgenau unter dem Kotflügel den Brandherd innerhalb weniger Sekunden ausschoss. Jean-Pierre war ihm mit einem mit Wasser gefüllten Sektkübel nachgehumpelt, kippte diesen ohne jegliche Wirkung planlos über die Motorhaube, riss Mohamed den Feuerlöscher aus der Hand und schrie mit seiner weibisch hohen Stimme: "Du kannst laufen, rette die Leute drin!" Mohamed sträubte sich anfänglich, doch das Argument leuchtete ihm ein. Er suchte durch die Windschutzscheibe den Fahrer und konnte niemanden sehen, riss die Fahrertür auf und schrie "Allah, Allah, ich sehe dich!" und sah, was er in endlosen, sexuell bestimmten Nächten lange und mühsam in kühnsten Gedanken erschaffen konnte: Das ideale Abbild des Urtraumes aller afrikanischer Männer, die je Kontakt mit Weissen gehabt haben und wussten, dass sie nie auch nur die geringste, milliardenwinzigste Chance bekommen würden, diesem Ur-Alptraum eines Engels näher kommen zu können. Er hatte ihn bei Prostituierten gesucht, aber wenige entsprachen nur annähernd seinem inneren Bild, ihre emotionale Kälte liess ihn in allen Fällen zurückschrecken; er hatte Menschenansammlungen in der Stadt gesucht und im Gedränge absichtlich junge Frauen angerempelt, um wenigstens den Bruchteil eines Kolibriflügelschlages in ihren Dunstkreis zu gelangen; er hatte sich auf Jahrmärkten in Achterbahnen unhöflich vorgedrängt, um solche unerreichbare Wesen in bösen Kurven und Abgründen absichtlich berühren zu können. Und jetzt, ("Allah! Allah!"), lag auf den beiden Vordersitzen –("sie ist tot, nein, ohnmächtig, sie muss leben! Sie muss, muss, muss!") - das Abbild seiner Urträume und gleichzeitig aller Urängste ("so eine werde ich nie halten können!") lag auf dem Rücken, Jeans, weisse Bluse, schwarze Weste, ("sie wird leben müssen!") ein kleines, zartes, engelsgleiches Gesicht, ("Allah! Allah!") mit rotblonden Haaren, die sich wie der Ansatz eines Heiligenscheines um ihren Kopf gelegt hatten, ("ich muss sie leben machen!"). Er tippte ihr auf die Schulter, keine Reaktion, zog behutsam an einer Haarsträhne und wünschte sich, dass er sich eine abschneiden dürfe, wenn sie wirklich tot wäre. "Engel, wach auf!" Nichts. Er nahm seine ganzen Energien zusammen, "darf ich sie überhaupt anfassen?" griff ihr schnell unter Rücken und Beine, "Allah, ich danke dir!", genoss für eine Sekunde die Erfüllung eines Traumes. "Allah, gib mir jetzt Souveränität!", hob sie äusserst behutsam über die Sitze aufs Trottoir und erwachte brutal aus seinem doppelten Traum: "Sofort das Opfer an uns übergeben!" schrie in ähnlicher Stimmlage wie Jean-Pierre der Notarzt, "sofort und ganz langsam ... behutsam ... gut so. Wegtreten, hau ab! Kopf höher legen!" Mohamed zog blitzartig seine Lederjacke aus und überreichte sie untertänig mit einem dennoch fordernden "Voilà" dem Arzt, der sie zu seiner Überraschung unter ihren Kopf legte, "es funktioniert immer und überall: Nigger sei untertänig, dann akzeptiert man dich auch."
Rotierendes Blaulicht, näher kommende Sirenen, zwei Polizisten versuchten mit einem rotweissen Band in blauer Beschriftung "Police" die Gaffer zurückzudrängen: "Hinter die Linie zurücktreten!", was ihnen aber nicht gelang, denn, wenn ein Franzose sich sicher ist, dass er seine Pflicht gegenüber einer Autorität bereits erfüllt hat, beharrt er auf seiner Position, unumstösslich.
"Wo ist meine Souveränität? Wo ist sie bloss?" Er spürte es körperlich und war deshalb über sich selbst enttäuscht, dass er sich so gewaltig hatte verwirren lassen. In Videos hatte er Tausende von ähnlichen Situationen mitgelebt, er glaubte, sich hart gemacht zu haben, kein unvorhergesehenes Ereignis hätte ihn nur einen Hauch von seinem sicheren Gefühl der Unerschütterlichkeit abbringen dürfen. Und jetzt stand er da mit einem flauen Gefühl im Magen und nicht zu erfassender Realität im Kopf. "Ich muss mich setzen; 28 Jahre und schon so was!", er nahm alle Kräfte zusammen und zwang seine Glieder, ihm zu gehorchen, es gelang ihm angesichts der zahlreicher werdenden Zuschauer "immerhin in der ersten Reihe", "die Bodenhaftung ist nun da", "und da sage einer, Afrikaner hätten keinen Humor, wenn es ihnen schlecht geht", "gleich bin ich über`n Berg". Er war es nicht. Schwindel überfiel ihn, er stützte den Kopf in die Hände, kämpfte gegen Übelkeit und Erbrechen, seine Beine wollten ihn im Stich lassen, er registrierte die nächsten Minuten in seiner Umgebung wie einen Videofilm, über dem er eingeschlafen war und nun im Halbschlaf nur die extremsten Szenen mitverfolgte.
Nach dem SAMU-Rettungswagen folgten zwei Feuerwehrautos, die Gendarmerie und noch ein Notarzt, alle mit aufwendigem Sirenengeheul und Gelb-und Blaulichtern, die am Unfallort nicht abgestellt wurden und den kleinen Platz vor der Bar in ein beängstigendes Lichtermeer hüllten, ein Reporter des "Républicain Lorrain" blitzte, und die antiken hochglänzenden Metallhelme der Pompiers spiegelten und reflektierten diese Zufalls-Licht-Kunstwerke in ihren eigenen kleinen Welten. Laute, herbe Kommandos verschärften diese Situation; wer gerade erst zum Gaffen eintraf, konnte glauben, dass hier mindestens ein schwerer Bombenanschlag der ETA stattgefunden hatte.
"Ist sie tot?" Mohamed fand nun erstaunlich schnell wieder in die Normalität seines Körpers zurück. "Ich hatte einen Schock", diagnostizierte er sich selbst auf Grund seiner Kenntnisse aus einer Medizin-Sendung, "alles Blut zieht sich dabei aus den Gliedmassen in die Herzgegend zurück, dem Gehirn fehlt Sauerstoff. ... Glück gehabt, dass ich nicht umgekippt bin ... ist sie tot? ... Engel sterben nie ... wo ist sie?" Er versuchte sie in dem Heer von Helfern zu finden; nichts, der Rettungswagen war offen, hell von innen beleuchtet, die Feuerwehr beschoss den längst gelöschten R4 aus zwei Rohren mit Wasser, der Notarzt versuchte, sich mit seiner Sirene eine Durchfahrt durch die Menge zu bahnen.
"Da ist der Afrikaner!" Jean-Pi schob den Pressefotografen vor sich her und zeigte auf ihn. "Bleib so, Junge, bleib so!" Mehrere Blitze donnerten über ihn, er wollte sich wehren und Aufnahmen im Stehen und in grosser Pose verlangen, so wie er es von seinen Familienfotos gewohnt war, doch der Reporter war so schnell verschwunden wie er gekommen war. Mohamed stand auf, wollte ihm nach und ihn bitten, ob er nicht Abzüge kaufen könne, doch der Presse-Smart hoppelte auf dem Kopfsteinpflaster schon den Berg hinauf.
"Zurücktreten!Verdammt noch mal! Zurück aufs Trottoir habe ich gesagt, das gilt auch für Nigger!" schrie ihn ein teiluniformierter Feuerwehrmann an.
"Ich bin wie du ein vollwertiger Bürger von Sarreguemines!"
"Man sieht’s, Ali! Gott sei Dank wohne ich in Rouhling!"
"Typisch Hilfskraft, wahrscheinlich arbeitslos und jetzt muss er halt Macht demonstrieren", dachte Mohamed und wand sich um zwei Kinderwagen herum näher an den dampfenden R4. An den Blicken der Leute erkannte er, dass neben dem Seiteneingang zur Bar etwas Besonderes stattfinden müsse; er zwängte sich durch die Menge und sah endlich die Bahre mit der Fahrerin, die immer noch in einem Zustand zwischen Leben und Tod schien, bewegungslos die Arme nach unten hängend, ihr weisses Gesicht auf die Seite gedreht. Ein Sanitäter sprach sie mehrmals an. Keine Reaktion. Er hob sie leicht hoch und massierte ihren Rücken. Nichts. Er beugte sich über sie, versuchte ihren Atem zu spüren. Zweifel. "Spritze!" Seine Helferin riss den Notkoffer auf, nahm sie heraus, zog routiniert die Schutzhülle ab, drückte einen kleinen Spritzer gen Himmel und rammte sie durch den Stoff der Kleidung in den linken Oberschenkel. Zwei Frauen schrien spitz auf. "Zurücktreten sollt ihr - oder noch besser: heimgehen! Die Show ist zu Ende!" herrschte der Hilfsfeuerwehrmann die Menge an.
"Mohamed, du trägst meinen Namen weiter in die Ewigkeit, ich werde weiterleben in dir, du wirst mein Nachfolger. Ich werde sehr bald dem Licht Allahs folgen. Du sollst mein Nachfolger sein. Tu es wie ich im Sinne Gottes. Inch Allah!" Er wusste, dass seine Gedanken diese Szene am Totenbett seines Grossvaters unbremsbar über-nehmen werden. Seine Kindheit war damals auf einen Schlag vorbei; bisher hatte er die elf Schafe unbekümmert am Strassenrand gehütet, sie manchmal tagelang am Niger entlang oder in die weite Steppe getrieben, er hatte bei ihnen geschlafen und war stolz, wenn sie jährlich ein paar magere Lämmer zur Welt gebracht hatten. Sein Grossvater hatte den Tod geahnt, kein Wort mehr gesprochen, alle Nahrung verweigert und war am übernächsten Morgen still bei Allah.
Als ältester Enkel musste und wollte er laut mit den Klageweibern weinen, weniger wegen des toten alten Mannes, vor dem er mehr Angst als Respekt gehabt hatte, weil er immer so laut und herrisch seine Befehle und Wünsche äusserte, denen man bedingungslos und diskussionslos folgen musste. Es war mehr diese Furcht und die Ahnung des Versagens vor dem ersten eigenhändigen Töten des grössten Schafes für die Beerdigungsfeierlichkeiten. Vor dem Abziehen der Haut und dem Heraus-schneiden der bluttriefenden Eingeweide, dem Ausdrücken des Darms oder den letzten Zuckungen der Muskelfasern war ihm nicht bange, er hatte es schon oft zusammen mit den Frauen gemacht, und der erste Schluck von körperwarmem Blut war immer eine Art Delikatesse, die seltsame Kräfte auf Stunden hin frei setzte. Doch die Entscheidung, einem lebendigen Wesen auf eine vorher bestimmte Minute aus dem Grunde einer Feier bewusst die Kehle durchzuschneiden, hatte ihm schon beim Zuschauen Schauer über den Rücken gejagt. Und mit neun Jahren glaubt man sich noch unendlich viel zu jung zum Töten. Mit anderen durfte man nicht, auch nicht andeutungsweise, darüber reden, sonst hätten sie ein ganzes Leben darüber gelästert. Zudem hatte er kurz zuvor beim Schlachten einer Ziege geholfen, die von vier Männern festgehalten werden musste und die sich vor dem Schnitt laut schreiend gewehrt hatte. Schafe sind dümmer oder vertrauensvoller oder zahmer, sie legen sich widerstandslos in den Arm des Schlächters, freuen sich sichtlich über ein letztes Streicheln am Hals und ...
"Sie lebt! Sie lebt!" Mohamed beherrschte sich, einen Freudentanz aufzuführen wie Fussballer nach einem erfolgreichen Torschuss an der Eckfahne. Die Fahrerin hatte sich dank der Spritze ins Leben zurückgemeldet mit einem klassischen "Wo bin ich?". Kurz danach schlug sie die Augen auf, schnüffelte nach links und nach rechts: "Hier stinkt es nach Ziege!" - "Das ist meine teure Jacke, beste afrikanische Qualität!" - "Hätte ich nicht sagen sollen." Der Notarzt warf sie ihm verächtlich, nur mit zwei Fingern haltend, zu, ersetzte sie durch ein Kissen aus Plastik und begann sanft und zielbewusst das Kontrollgespräch:
"Sie heissen?" - "Tschumakoff"
"Pardon, wie?" - "Tschu-ma-koff"
"Aha. Vorname?" - "Eva Tschumakoff"
"Tschumakoff Eva" - "Eva Tschumakoff”
"Wie geht es Ihnen?” - "Danke gut, warum fragen Sie?"
Barsch befahl der Arzt den herumstehenden rauchenden Feuerwehrmännern: "Trage hoch ins Auto!". Widerwillig gehorchten sie und trugen sie polternd und schwankend in den dezent-blau abgedunkelten Spezialtransporter. "Fort ist sie, in die Tiefen des Alls, gleich schliessen sie die Türen des Raumschiffs und sie ist Lichtjahre weg ... weg ..., hoffentlich behandeln sie die Ausserirdischen gut ... leb wohl, Eva. Eva. Eva ist nicht gut ... Eva ... Ewa ...Ewaeva ...a - a ... Aïcha, jaaah, Aïcha, Aïcha, meine Aïcha!” Er musste sich wieder setzen. "Aïcha."
Niemand mehr nahm ihn wahr, der Platz leerte sich zügig, die Feuerwehr nahm geschlossen einen Aperitif, die meisten einen Pastis, zwei jüngere einen Whisky, schliesslich musste die erste Grosstat des Tages gebührend gefeiert werden. Ein Funkspruch quäkte, der Kommandant nahm ihn missmutig an, trank ruhig sein Glas leer: "Männer, auf geht’s, internationaler Einsatz, Industriebrand in Hanweiler." Locker abgezählte Münzen wurden auf den Tisch geknallt, kein Tropfen stehen gelassen, Helme aufgestülpt, Gürtel umgeschnallt, Koppel mit metallischem Klicken geschlossen und wohltrainiert ins Auto gesprungen, die beiden letzten Männer schlossen im Anfahren die Hintertür. Die Sirenen veranstalteten zusammen mit der ebenfalls ausrückenden Polizei ein schräges Konzert der technischen Notwendigkeit, an das man gewöhnt ist und bei dem man in Gedanken zu orten versucht, wo die Einsatzwagen genau durchfahren, aus nächster Nähe aber wirkt es elementar aufwühlend, grosse Gefahr der unbekannten Art signalisierend.
Leere. Stille auf dem Platz.
Der R4 stand bemitleidenswert eingeknickt da, überzogen mit Schaum wie frischgeschlagene Sahne, die ganz langsam im Rinnstein ein paar Meter nach unten schwebte und blasenschlagend im Gully versickerte. "Und am Wehr beim "Vieux Moulin" sehen wir uns schäumend wieder." Mohamed schwebte wieder in unbodenständigen Gedanken und stellte sich den Weg des weissen Schaums durch die schwarze Unterwelt von Saargemünd vor, wie durch das starke Gefälle Luftblasen entstehen, Ratten dadurch erschreckt werden, sich nach oben retten und in Gärten Kinder zum Schreien bringen; wie die Saar im Abendlicht seltsam hüpfende Schemen hervorbringt, Geister, Schamanen, Magie. "Mohamed, du bist nicht am Niger", er holte sich in die Realität zurück. Und Jean-Pi tat das Seinige dazu, er fluchte und schimpfte auf die betrügerischen Saufnasen der Feuerwehr, die "nix leisten, die den ganzen Tag mit Kreuzworträtseln rumhocken, unnötig Steuergelder an schon längst gelöschten Autos verspritzen und überhaupt überheblich und arrogant sind: 16 Pastis und 4 Whisky haben sie runtergekippt, macht 20 Getränke, na, schätz mal, wie viel sie bezahlt haben? Na, wie viel wohl, schätz ganz tief!"
"Soll ich schätzen?"
"Sitzt hier sonst noch jemand rum? Afrikaner, du sollst gedanklich arbeiten, wie viel - na?" Sein "Wie viel!" kam so herrisch und gleichzeitig so emotionsgeladen heraus, dass Mohamed es nicht wagte, nicht zu schätzen.
"Ich sage mal ... vielleicht ... doch, doch ... 18 Stück"
"Falsch, falsch, tiefer, tiefer!"
"Dann 15"
"Nein, falsch, auch bei uns gibt es viel zu viele Leute, die bescheissen. Tiefer!" Da war er wieder, dieser vermaledeite indirekte, wahrscheinlich sogar ungewollte Rassismus, in Kurzform die alte nie geschriebene oder ausdiskutierte Formel: "Alle Neger bescheissen."
"Ich habe keine Lust mehr zu schätzen."
"Noch ein Versuch; wenn du es triffst, spendiere ich dir ein Cola, schätz tief!"
"Also von mir aus; 11 sind bezahlt."
"Merde, jetzt kommt noch ein Cola dazu, du hast gewonnen, gewonnen, gewonnen!" Er tänzelte so gut es ging mit seinem verletzten Knie in den Innenraum, raunzte seiner Frau an: "Zehn Getränke minus - es lebe die Feuerwehr!", kam mit einem Tablett zurück, servierte comme il faut zwei Cola und zwei übergrosse Gläser Whisky: "Ich bin der Jean-Pi, das weisst du ja"
"Mohamed"
"Wie alle! Zum Wohl!"
"Danke für’s Cola, ich darf keinen Alkohol trinken."
"Ha, hi, hi, das sagt ihr alle, heimlich trinkt ihr aber doch."
"Ich nicht."
"Dann machen wir mit dir den Trick, den mir Louis erzählt hat, drei Jahre Algerien. Ich halte das Tablett über dich, dann sieht es Allah nicht." Er tat es wirklich und irritierte Mohamed damit so stark, dass er das Whiskyglas zögernd in die Hand nahm und es gleich abrupt weg schob. "Macht nix, dann trinke ich halt zwei, Verlust muss ausgeglichen werden" und kippte beide Gläser hinunter. Mangels Glas nuckelte Mohamed an der Flasche, Jean-Pi übersah es, denn für ein Extraglas nochmals zurückzulaufen, zumal alles gratis war, fiel ihm vorsichtshalber gar nicht erst ein.
Die Beiden sassen nun stumm nebeneinander, betrachteten das Autowrack und begannen über dessen Weiterverwendung zu spekulieren: "Totalschaden, Achsenbruch!"
"Ist zu reparieren!"
"In Afrika vielleicht, hier nicht."
"Auch hier würde es sich noch lohnen."
"Vergiss es, die Achse plus Kotflügel plus Reifen plus Lackieren plus Lohn - mindestens 2500,-Euro, vorher war die Karre keine 1800,- wert."
"Wenn man es mit Occasionsteilen selber macht, dann werden es höchstens 800,-." Sie fachsimpelten weiter über Sinn und Unsinn von Autofriedhöfen, deren halbkrimineller Besitzer, die Machenschaften der Versicherungen bis zu Reparaturdetails eigener Unfälle.
Mohamed fühlte sich zum ersten Mal wohl auf dieser Terrasse, Jean-Pi hatte ihn offensichtlich als Copain akzeptiert. Sie halfen dem Abschleppdienst der Garage Schwindt beim Aufladen, tadelten den Fahrer, dass er noch mehr Beulen an den Seitenrand in den R4 drückte: "Der ist hin, machen wir Blechsalat draus!" und zerrieb mit beiden Händen symbolisch den Wagen. "Wo kommt er hin?" - "Auf den schönsten Friedhof der Welt mit Blick über ganz Lothringen; dort kommt dann der Versicherungsmensch hin, erklärt ihn für tot, und dann, aah dann, dann zerpflücke ich ihn in seine Einzelteil, erst das Herz, dann die Eingeweide, dann das Glas, dann das Kupfer, 25 Minuten brauche ich, maximal", wischte sich die Hände an der Hose ab, sprang winkend in die Fahrerkabine, liess den schweren Motor an und fuhr los mit einem derart grossen Schwall Abgas, dass der Platz für ein paar Sekunden vernebelt wurde und Jean-Pi sich in die Bar rettete, mit einem weiteren Whisky und einem Cola mit Glas zurückkam: "Auf die Beerdigung eines R4’s!" "Danke für das Cola."
"Gern geschehen".
"Wenn Sie wüssten, was mir Coca-Cola als Kind bedeutet hat!"
"Weiss ich, es ist die Milch des Kapitalismus - hi, ha, ha."
"Pro Woche gab es für die ganze Familie vielleicht mal eine oder zwei Flaschen, wir waren zu sechzehnt, ein Schlückchen, das war’s, der Rest war einmal geseihtes Nigerwasser aus dem Hausbrunnen ..."
"Na immerhin, man weiss ja nie, was in so einer Flasche an unnötiger Chemie drinsteckt ..."

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wolf Buchinger
Bildmaterialien: Wolf Buchinger
Lektorat: Inga Buchinger
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0056-7

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