Manche Dinge gehen eben einfach nicht miteinander. Je eher man dies einsieht, desto leichter macht man sich das verbleibende Leben. Wasser und Öl, Oasis und Blur, Gefühl und Verstand, Eisbär und Pinguin.
Oder meine Freundin und Pünktlichkeit.
Es ist nun keineswegs so, dass ihr der Begriff als solches nicht geläufig wäre. Sie hat mehr als nur eine theoretische Kenntnis dessen, was ein bestimmtes Verhalten zu einer festgelegten Zeit bedeutet. Das Einhalten beruflicher Termine beispielsweise macht ihr prinzipiell keine Probleme. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie im Gegensatz zu vielen anderen Menschen auch noch nie ihre Steuererklärung verspätet eingereicht. Das Pünktlichkeitsproblem bezieht sich ganz offensichtlich auf das Erscheinen zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt an einem ebenfalls vorher definierten Ort, um dort auf eine andere Person zum Zweck der gemeinsamen Freizeitgestaltung oder auch zu zweit zu absolvierender Termine zu treffen.
Um noch konkreter zu sein: Diese andere Person bin regelmäßig ich. Diese charakterliche Auffälligkeit entwickelte sich nicht peu a peu, sondern zeigte sich von Anfang an in einer breiten Variabilität: Von kleineren Verspätungen, die nur knapp außerhalb des akademischen Viertels liegen bis zum kompletten Vergessen einer Zusammenkunft reicht ihre Palette. Es war mir auch nicht möglich, irgendein System in ihrem Verhalten auszumachen. Sie ist donnerstags nicht pünktlicher als sonntags.
Es ist auch kein Zusammenhang mit den Mondphasen, ihrem Zyklus, der Kleidung oder dem Essen des Vortages erkennbar. Selbst die naheliegende und kurzfristig von Erfolg gekrönte Annahme, die Intensität ihrer Verspätungen hinge mit ihrer Laune mir gegenüber zusammen, konnte einen Langzeittest nicht erfolgreich bestehen. Sie hat an nahezu jedem elektronischen oder mechanischen Gerät in ihrer Umgebung eine Uhr, besitzt sowohl einen digitalen wie auch einen analogen Terminplaner (für den ich in schöner Regelmäßigkeit die eben gerade nicht passenden Jahreseinlagen besorge) und dennoch ...
Natürlich hatten wir auch schon mehrfach darüber gesprochen. Eine befriedigende Erklärung kam allerdings bisher nicht dabei heraus. Durchaus interessant ist dabei aber folgender Aspekt: eine sehr gute Freundin von ihr, die zufälligerweise auch meine einzige Schwester ist, kann sich nicht daran erinnern, dass sich Madame bei deren Verabredungen schon einmal nennenswert verspätet hätte.
Ihre sehr gute Freundin ist übrigens schuld an unserer Beziehung. Ich rief seinerzeit bei meiner Schwester an, während sie in Vorbereitung einer Ladies Night unter der Dusche stand. Demzufolge ging sie, da anwesend, vertretungsweise an den Apparat, wir kamen ins Gespräch, ich fand schnell Gefallen an ihr und quetschte meine Schwester logischerweise später über sie aus, insbesondere über ihren derzeitigen Beziehungsstand und dies mit für mich erfreulichem Ergebnis. Ich legte zwar Wert darauf, dass meine Schwester ihr zunächst nichts von meinem Interesse erzählte, aber wer eine Schwester hat, wird einsehen, wie fruchtlos ein solches Ansinnen ist. Natürlich hing sie bereits am Telefon, als ich noch nicht mal ihre Eingangstür hinter mir zugezogen hatte.
Das Verhältnis zu meiner – drei Jahren älteren – Schwester ist wie die meisten dieser Art und mit „Hassliebe“ nur unzulänglich beschreibbar. Ich stahl ihr ungewollt einige Zeit ihrer Jugend, die sie mit Babysitten statt Ausgehen verbringen musste und bekam als das Nesthäkchen wie meist die größere Aufmerksamkeit.Im Gegenzug musste ich halt die üblichen Demütigungen und sadistischen Spielchen hinnehmen, die jüngeren Geschwistern vorbehalten sind. Dann wacht man gerne morgens mal auf mit zwei Fingern im Wasserbecher und einem feuchten Gefühl in der Lendengegend oder wird im Supermarkt im Regal mit dem Tierfutter geparkt, was Sinn ergab, da wir derzeit keine Haustiere hatten und unsere Eltern demzufolge dort als letztes nachgesehen hätten.
Mit zunehmendem Alter konnte ich mich besser wehren und begann, dies auch gezielt einzusetzen, während meine beste Waffe in jungen Jahren das Schluchzen-und-zu-den-Eltern-rennen war, das im Erfolgsfall den einen oder anderen Hausarrest für mei-ne Schwester nach sich zog. Irgendwie haben wir es im Laufe unseres um sich greifenden Erwachsenwerdens geschafft, einigermaßen respektvoll miteinander umzugehen. Als sie – kaum volljährig –das Elternhaus zugunsten einer 3-Frauen-WG verließ, war ich nach anfänglicher Freude über den gewonnene Freiraum sogar mitunter ein wenig traurig und begann mich überraschenderweise über ihre gelegentlichen Besuche zu freuen. Natürlich sollte man mir dies nicht anmerken.
Heute würde sie mir ohne zu zögern eine ihrer Nieren spenden, wenn es notwendig wäre. Danach allerdings würde sie kaum eine Gelegenheit auslassen, mir meinen Le-benswandel vorzuhalten und fordern, ich solle nicht so nachlässig mit anderer Leute Organen umgehen, denn noch eine bekäme ich nicht. Ich kann sie im Geiste schon hören... Also eigentlich ein typisches, nicht weiter erwähnenswertes Geschwisterverhältnis. Was hat dies nun mit der nicht so ausgeprägten Pünktlichkeit meiner Freundin mir gegenüber zu tun?
Ich habe nie erfahren, was genau meine Schwester ihr über mich erzählt hat. Mit Sicherheit hat sie dabei aber meine nicht ganz so vorzeigenswerten Seiten nicht ausgelassen, vermutlich sogar ein wenig überbetont. Neben meinem immer wieder auftretenden cholerischen Anfällen, meinem Phlegma, was notwendige Hausarbeiten angeht und meinem Hang zu übermäßigem Geldausgeben was Bücher betrifft, wird sie sicher auch meine geringe Toleranz gegenüber Personen, die verein-barte Termine nicht einhalten, erwähnt haben. Das mag von Außenstehenden möglicherweise als pedantisch bezeichnet werden.
„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“ sagt ein altes Sprichwort. Man muss dazu aber weder König noch Königin sein. Im Gegenteil: Pünktlichkeit ist ein Artikel, den sich jeder leisten kann. Zudem erweist man sich dabei als verlässlich und zeigt dem Anderen, dass man ihn bzw. seine Lebenszeit achtet. Solcherlei Anforderungen stelle ich selbstverständlich auch an mich. Wenn ich Termine ausmache, überlege ich gleich, ob ich sie realistisch geschätzt einhalten kann. Ich handle auch nicht wie ein Touristenhotel in Mallorca, indem ich Mehrfachbuchungen für den selben Termin vornehme, um bei eventuellem Ausfall eines Termins noch einen in petto zu haben. Falls ich Schwierigkeiten z.B. in Form von fehlenden Parkmöglichkeiten vorausahnen kann, plane ich meine Anreise entsprechend großzügig.
Alles in allem meiner Meinung nach nun wirklich kein bemerkenswert exzentrisches Verhalten. Die Kenntnis dieser Tugend traf nun bei meiner Freundin auf eine nicht zu übersehende Bockigkeit gegenüber Dingen, die auch nur den Anschein einer verbindlichen Re-gelung erwecken. Dies ist insbesondere deshalb erstaunlich, da sie in der Rechtsabteilung der deutschen Dependance einer weltweit agierenden Umweltschutzorganiation arbeitet.
Hier könnte nun der Eindruck entstehen, ich wäre mit dieser Beziehung nicht zufrieden. Weit gefehlt! Ich war im Großen und Ganzen immer sehr glücklich. Ich hatte meine Freundin vom ersten Treffen an in mein Herz geschlossen. Das Schicksal oder von mir aus auch der pure Zufall sandte sie zu mir in einer Phase meines Lebens, in der ich sie auch dringend gebrauchen konnte, jedoch nicht einmal im entferntesten erwartet hätte. Ich hatte vorher zwei ziemlich desaströs verlaufene Kurzzeitbeziehungen, die eine Jahreszeit nicht überdauerten und begann mich deshalb schon zu fragen, ob ich womöglich doch zu den eher schwer Vermittelbaren dieser Welt zählen könnte, deren Hauptaugenmerk sich eher nicht auf das Führen von Beziehungen richten sollte, sondern besser aufgehoben sind, wenn sie sich ein zeitfüllendes Hobby wie beispielsweise Ü-Eier-Figurensammeln zulegen.
So absurd ist dieser Gedankengang durchaus nicht. Ich hatte mich beispielsweise auch schon lange damit abgefunden, kein ausgeprägtes Talent für Gartenarbeiten oder Heimwerklerisches zu besitzen. Wer es nicht glaubt, ist gerne eingeladen, sich einige Regale in meiner Wohnung anzuschauen. Hartgesottene können dies, ohne in Tränen auszubrechen. Eventuell fehlt mir auch das Talent, mit dem anderen Geschlecht angemessen umgehen zu können ( und die aufgrund dieser Formulierung naheliegende Schlussfolgerung, mir vielleicht das falsche Geschlecht ausgesucht zu haben, greift hier auch nicht).
In genau dieser Stimmung purzelte sie in mein Dasein und urplötzlich war wieder Wasser in der Wüste, ein Kribbeln lag in der Luft und mein Gang wurde leichter und federnder. Meine Schwester hatte ihr offenbar mehr oder weniger direkt dazu geraten, die Finger von mir zu lassen, aber ich erwähnte ja bereits ihren Widerstandsgeist.
Unser erstes Treffen fand auf dem Weihnachtsmarkt statt und ich konnte mich nicht besser bei ihr einführen als ihren cremefarbenen Mantel mit meinem Glühwein bekannt zu machen. Da ich den ganzen Tag vor lauter gespannter Erwartung kaum etwas gegessen hatte, bat sich am Markt dann die willkommene Gelegenheit, mit Schokolade überzogene Ananasstücke, frittierte Tintenfischringe, Kebab, Pfannkuchen mit Apfelmus sowie diverse Süßigkeiten in mich zu stopfen. Ihr bot sich dafür dann die Gelegenheit, mir dabei zuzuschauen, wie am Ende des Abends mein Vielvölkergemisch im Magen den Rückwärtsgang einlegte. Trotzdem war es ein schöner Abend, bei dem wir erfreulicherweise gegenseitig Gefallen aneinander fanden, uns wieder und wieder trafen, einige gemeinsame Vorlieben entdeckten und erst beim neunten Treffen miteinander schliefen (das vorherige Ge-plänkel konnte man bedenkenlos als Vorspiel abtun).
Für zwei eher verkopfte Menschen wie uns war es erstaunlich, wie problemfrei der körperliche Aspekt unserer Beziehung ablief, und dies von Anfang an. Dies war nun nicht zu erwarten gewesen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass ich sonst stets eine gewisse Zeit und vor allem Geduld der Partnerin benötigte, um mich in allen Aspekten in eine Beziehung fallen lassen zu können. Nicht immer war beides vorhanden. Bei uns beiden allerdings war das Zusammensein von Beginn an von einer großen Selbstverständlichkeit geprägt; Erklärungen waren niemals notwendig, wir verstanden uns nahezu wortlos (was nicht bedeuten soll, dass unser Beisammensein stets schweigsam verlief).
Ich bin zu wenig Biologe (also eigentlich gar nicht), um werthaltige Aussagen in diesen Bereichen machen zu können, aber ich vermute, ein wesentlicher Aspekt für dieses gute Zusammenspiel war der sie umgebende Geruch. Eine Ausstrahlung verschiedenster Aromen, zum Teil hervorgerufen durch ein faszinierend komponiertes Parfüm, aber vor allem, das, was ihr Körper selbst nach außen ließ. Ich bin sowieso ein ziemlich olfaktorisch veranlagter Mensch und habe ein sehr gut ausgeprägtes Geruchsgedächtnis, Was mit mir passiert, wann immer ich eine gewisse Distanz zu ihr unterschreite, passiert auf einer anderen als der bewussten Ebene. Um es ganz kurz zusammenzu-fassen: Es geht mir gut.
Wie in jeder Beziehung, hatten sich nun auch bei uns im Laufe der Zeit kleinere und nicht ganz so kleine Zwistigkeiten blicken lassen. In den über dreieinhalb Jahren unserer Beziehung gab es aber nur eine wirkliche Krise und wer mich kennt, hält dies für einen außerordentlich guten Wert. Sie hatte mit ihrer Abteilung eine Mischung aus Dienstreise und Betriebsausflug in Berlin und lernte dort diesen Mathieu kennen. Er besaß offensichtlich das Talent, genau die richtigen Rezeptoren bei ihr anzusprechen und letztlich landeten sie nach einem reichlich durchzechten Abend (es soll bitte keiner glauben, bei den Ökopaxen arbeiteten nur Wollpullover, welche die Abende mit gemeinsamem Rooibostee trinken verbringen) im selben Hotelzimmer. Ich klammere mich bei der Schilderung der Ereignisse schon gerne an den Umstand, dass Alkohol eine nicht unwesentliche Rolle spielte, da es mir den Umgang damit doch spürbar leichter macht.
Sie beendete das Ganze sehr schnell und erzählte mir erst Wochen später davon nach eigenem Entschluss, weil ihr Gewissen ihr wohl keine Ruhe ließ. Was mich im Nach-hinein außer dem Vorfall als solches belastete, war die Tatsache, dass mir keinerlei Veränderungen bei ihr aufgefallen waren; kein anderer Umgang mit mir, kein anderer Blick, nix. Es war eine der Gelegenheiten, bei denen man gezwungen war, seine grundsätzlichen Einstellungen unter realistischen Bedingungen zu überprüfen. Generell war ich immer der Auffassung, ein Seitensprung zöge weitere nach sich und die Fortsetzung einer solchen Beziehung sei nur empfehlenswert, wenn man diese Neigung zu akzeptieren bereit ist.
Als es passierte, bzw. als ich davon erfuhr, ging mir nach minutenlanger katatonischer Starre zunächst nur der Gedanke „Das war es dann!!!“ durch den Kopf (Ja, ich denke durchaus auch Ausrufezeichen). Aber so einfach macht es einem das blumenkohlartige Gebilde unter der Schädeldecke dann doch nicht. Im Laufe der nächsten Tage, die wir - sofern wir uns sahen - in fast klösterlicher Stille verbrachten, nisteten sich alle möglichen Pros und Cons, Relativierungen, denkbaren Entschuldigungen und andere Abwägungen ein. Über all dem thronte letztendlich der Wunsch, sie unter keinen Umständen aufgeben zu wollen. Wahrscheinlich hätte ich dieses Verlangen sogar dann noch, wenn sie mir mit dem Schlagbohrer einen zweiten Ausgang verpassen würde. Das ist bedenklich und zeugt von reichlich ausgeprägter Zuneigung. Nun, ich habe nie behauptet, der perfekte Mensch zu sein.
Sie hatte unclevererweise ein Bild von ihm gemacht, das sie mir ein paar Tage nach ihrem Geständnis und einer spürbaren Wiederannäherung von meiner Seite aus zeigte. Ich muss ehrlicherweise gestehen: Wäre ich eine Frau, ich wäre wohl mit ihm durch-gebrannt. Die lässige Art, wie er an seiner Maschine lehnt, eine Haartolle keck ins Gesicht ragend und dieser „Ihrkönntmichalle“-Gesichtsausdruck. Überhaupt wirkt er wie ein Bruder des Fußballspielers Luis Figo mit seiner herben, männlichen Ausstrahlung. Verdammt, so wären ich und ca. 90% der anderen Männer auch gerne. Auf so eine Person kann jemand wie ich mit einer eher fusseligen Gesamtausstrahlung einfach nur neidisch sein.
Eine unglaubliche Frechheit des Schicksals, dass es ausgerechnet meiner Freundin so jemanden über den Weg laufen lässt. Trotz meines gewissen Verständnisses für ihr kleines Abenteuer bestand ich, nachdem wir uns wieder umnäselten, darauf, sein Bild in kleine Schnipsel zu zerreißen und die Teilchen anschließend zu verbrennen. Diese gemeinsame rituelle Handlung sollte unsere wieder gefestigte Liebe zueinander nochmals zementieren. Positiv betrachtet demonstrierte die Überwindung dieser Krise uns beiden anschaulich, wie sehr wir uns gegenseitig gern haben und was wir uns wert sind. Sie hatte ohne Not ihr kleines Geheimnis preisgegeben in der Hoffnung, ich würde letztlich bei ihr bleiben; ich hatte mir dadurch bewiesen, was mir unterschwellig sowieso schon bewusst war: Wenn es mir irgendwie möglich ist, wollte ich nicht von ihr lassen, selbst wenn ich meine Maßstäbe ordentlich verbiegen müsste.
Es ist so vieles an ihr, was mich für sie einnimmt. Es ist nicht nur Gefühl, wenn ich in ihren Haaren wühle, das Empfinden, wenn sich ihre Zunge um meine schlingt, das Spiel ihrer Hände undsoweiter. Es ist vor allem der extreme Unterschied der Phasen in denen wir zusammen sind und der, in denen ich sie vermisse und allzu häufig versu-che, wenigstens in Gedanken in ihrer Nähe zu sein. Dabei kann das sich nach ihr sehnen durchaus auch ein angenehmes Gefühl sein, wenn es nicht zu lange dauert. Unter anderem deswegen hatten wir vermutlich auch noch nie eine gemeinsame Wohnung. Das mögen andere als feige empfinden und uns vorwerfen, wir hätten Angst davor, unsere Beziehung könnte einer solchen Dauerattacke auf die Einsamkeit nicht überstehen. Egal, wir beide waren uns in diesem Punkt von vorneherein einig.
Letztlich nimmt aber auch die größte Vorfreude mit zunehmender Dauer der Wartezeit ab, um wieder zum wesentlichen Punkt zu kommen. Vermeidbares Warten, nur weil andere schlecht organisiert sind oder von mir aus auch aus Prinzip, ist für mich schlichtweg verlorene Lebenszeit. Aus diesem Grund reagiere ich auch mit wenig Gelassenheit auf lange Schlangen an Supermarktkassen, vor allem wenn höchstens ein Drittel der potentiell vorhandenen geöffnet ist.
Es gibt ja nicht wenige Ratgeber für ein ausgeglicheneres und glücklicheres Leben, die einem in solchen Situationen dazu raten, die aufgezwungene Wartezeit produktiv zu nutzen, indem man beispielsweise über zu lösende Probleme sinniert oder das Warten als willkommene Pause im Laufrad des täglichen Lebens annimmt. Wenn aber das einzige Problem, das mir in solchen Momenten durch den Kopf geht, das des unnötigen Wartenmüssens ist und ich wenig Möglichkeiten sehe, dies zu beeinflussen, außer hin und wieder diese blöde Klingel zu betätigen, die sich sofort für den Hinweis bedankt und sofortige Abhilfe verspricht, was allerdings selten geschieht, dann bleibt einem nicht viel Platz für anderes im Kopf. Vielleicht fehlt mir dabei einfach auch die nötige Schicksalsergebenheit.
Das Warten kann aber erheblich verkürzt werden, wenn sich das Objekt des Zeitverlusts nur ein wenig mehr bemühte. Das ist möglich. Ich muss an dieser Stelle gestehen: Meine Freundin hatte sich im Laufe der Zeit und nachdem sie vermehrt wahrgenommen hatte, wie sehr dies an meinen Nerven zerrt, zunehmend bemüht, einigermaßen pünktlich zu sein und dies gelegentlich sogar ge-schafft (also sich um weniger als 15 Minuten verspätet, was ich nach ihren Maßstäben als pünktlich zu werten habe). Man kann dies ohne weiteres lernen.
Wenn man sich z.B. am letzten 25.März um 19.00 Uhr vor dem Kino verabredet, geht die Organisation eines zeitgenauen Treffens damit los, dass man seine Arbeitsstätte so rechtzeitig verlässt, um die nahe gelegene U-Bahn-Station spätestens um 18.32 zu erreichen, da eine Minute später eine Bahn in Richtung Hauptbahnhof vorbeikommt. Diese Fahrt dauert nicht so lange und man erreicht bei normalem Fahrtverlauf spätestens um 18.41 das Zwischenziel.
Von dort kann man per Bahnsteigwechsel die andere Bahn erreichen, die einem üblicherweise - bei Abfahrt um 18.49 Uhr - nach nur zwei Stopps rechtzeitig bis fast un-terhalb des Kinos bringt, vor welchem einem zwei sehr erfreute Augen anschauen würden, während der Rest mit Karten wedelnd dasteht.
Wäre dies so, dann stünde an besagtem 25.03. allerdings auch am selben Bahngleis in wohl ca. 50 Metern Entfernung ein etwas verzweifelt aussehender Mann mittleren Alters (47 Jahre wie sich später herausstellen sollte), unrasiert und mit einem weiten Mantel bekleidet. Aus diesem Mantel ragte dann ein kaum wahrnehmbares Kabel, welches zu einem kleinen Kästchen mit einem Knopf in der Mitte führt, dass sich in der linken Hand des Mannes befände. Dieser Knopf in der Mitte des Kästchens würde dann um 18.47 Uhr gedrückt werden.
Verschiedene Medien hatten später in einer Mischung aus pseudopsychologischer Studie und Herzschmerzstory versucht, herauszufinden, was diesen Herren zu solch einer Verzweiflungstat getrieben haben könnte. Es war nicht sehr schwer, dies nach-zuvollziehen: Erst der Verlust des Arbeitsplatzes, kurz darauf verlässt ihn die Ehefrau und schließlich entdeckt der Arzt einen Schatten auf der Lunge. In diesem Moment legte sich offenbar ein kleiner Schalter in seinem Hirn um. Warum er allerdings der Meinung war, andere Menschen, die alle nichts für seinen Zustand konnten, mit hi-neinzuziehen (6 Tote, zwei Dutzend unterschiedlich schwer Verletzte), wird man nie mehr erfahren können.
Der Bahnhof musste natürlich mehrere Tage gesperrt bleiben, es herrschte ein Riesenverkehrschaos, Schlangen von Reportern der nationalen und internationalen Medien drängelten sich vor Ort, um sich vom Grusel packen zu lassen und als man dort wie-der hinkonnte, erlitt eine ältere Dame einen Nervenzusammenbruch, als sie im Gleisbett noch einen abgerissenen Finger entdeckte.
Ich liebe meine Freundin über alles. Seit diesem Tag liebe ich auch ihre Unpünktlichkeit irgendwie...
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2009
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