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Es war Sommer und doch war es kalt. Selten sah man den Mond so voll am sternenklaren Himmel stehen. Nicht eine einzige Wolke versperrte die Sicht. Die Sterne funkelten so klar und in einer Vielfalt das man dachte es wäre tief in der Nacht. Wenn man aber der Turmuhr Glauben schenken konnte, war es gerade mal kurz nach 22 Uhr. Eine unerträgliche Stille. Niemand war um diese Uhrzeit noch unterwegs. Sollte man meinen. Eine schwarze Gestalt, eingehüllt in einem Reisemantel, schlich durch ein großes schwarzes Eisentor. Hätte der eine Flügel nicht aufgestanden, so wäre die ganze Straße wohl vom quietschen und knarren auf diese Gestalt aufmerksam geworden, aber so konnte sie ungesehen hindurch huschen. Das Tor gehörte zum städtischen Friedhof von Hangensville. Wenn es hell gewesen wäre, hätte man die uralten aber ehrfürchtigen Grabmäler gesehen. Sie stammten von den ersten Einwohner von Hangensville, große Familiengruften, kleine Gedenktafeln und auch schon zerfallene Grabsteine, auf denen man nicht mal mehr die Inschriften entziffern konnte. Dunkle Nebelwolken waberten durch die alten Bäume und über die Schotterwege. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehn, es war mehr ein tasten als ein gehen. Und doch eilte die dunkle Gestalt durch die Gräber, als wäre es taghell. Er kannte sich aus, das war sicher. Sein Weg war zielstrebig. Geradewegs ging er auf ein Grab zu, dass sich von allen anderen unterschied. Es war kein gewöhnlicher Stein, nein, die Skulptur war ein riesiger Engel, aber mit Klauen von einem Löwen, die Flügel glichen die von einer Fledermaus. Alleine der Korpus ähnelte einem Engel. Der weiße
Marmor strahlte in die dunkle Nacht. Hier war schon lang keiner mehr gewesen. Die Blumen, die vor langer Zeit mal niedergelegt worden waren, waren schon lang verblüht. Und doch kniete die dunkle Gestalt nieder und legte was ab. Was es war konnte man nicht erkennen, aber jeder der es gesehen hätte, wäre sich sicher gewesen, das dies nicht mit rechten Dingen zu ging. Ohne eine weitere Handlung, erhob sie sich und verschwand so schnell wie sie gekommen war. Das einzige was noch anwesend war und unbeirrt weiterkroch, war der kalte feuchte Nebel. Keiner hatte es bemerkt und so erstreckte sich die Nacht weiter und wartete darauf vom neuen Tag abgelöst zu werden.
***
Kimberly konnte es nicht verstehen, immer fragte sie sich, warum, warum ich. Sie war immer eine anständige Frau gewesen, hatte sich nie was zu Schulden kommen lassen und doch wurde sie so in ihrem Leben gestraft. Sie war 24 Jahre, viele andere Frauen in ihrem Alter hatten schon ein Kind. Nur ihr war das Glück verwehrt geblieben. Zweimal hatte sie eine Todgeburt erlitten, kein Arzt konnte ihr erklären warum, sie war kerngesund. Sie war jung und ihr Körper kräftig und doch kamen ihre Kinder nie lebend zu Welt. Sie hatte nie ihre Babys schreien gehört, es kam ohne einen ersten Atem auf die Welt. Ihr Mann nahm sie jedesmal in die Arme und versuchte sie zu trösten. Aber irgendwann halfen keine Worte mehr, irgendwann verfehlten sie ihren Sinn, irgendwann waren sie nicht mehr zu hören. Sie hatte all ihre Hoffnungen verloren. Kimberly hätte so viel Liebe zu vergeben, eine Liebe die nur für Kinder bestimmt war und doch durfte sie nie erfahren, wie es war sie ihren Kindern zu geben. Sie hätte alles dafür gegeben. Ihr Haus, ihr Vermögen, sogar ihre Jugend und Schönheit. Aber solch einen Handel konnte man nicht abschließen, wie auch. Kein Geschäft dieser Welt, bot solch einen Handel. Und so versuchte Kimberly weiter ihren Alltag zu bewältigen und jeden einzelnen Tag hinter sich zu bringen. Keiner fragte sie, woher sie diese Kraft nahm. Sie tat es einfach. Wie jeden Freitag in der Woche ging sie zu dem Grab ihrer Kinder. Sie nahm frische Lilien aus ihrem Garten und legte sie auf die Steinplatte. Zwei kleine Engel in Kindergestalt, wachten auf ihre Babys. Die Hände waren gefaltet, als würden sie beten. Mit Tränen in den Augen kniete sie nieder. Ungehörte Gebete huschten über ihre Lippen und immer wieder strich sie mit ihren zittrigen Händen über das Steingrab. Sie fuhr mit ihren zarten dünnen Finger die Schrift nach, die in den Stein gemeißelt waren. Kein Name, nur die Todestage waren vorhanden. Totgeburten gab man keine Namen sie waren nicht getauft, also Heiden. Aber in ihrem Herzen hatte sie ihre Kinder Namen gegeben. Marie und Sarah, das waren ihre zwei Mädchen. Das erstgeborene hatte blonde Haare, wie der Vater, das zweitgeborene wunderschönes schwarzes Haar, das hatte sie von der Mutter. Sie gab auf jede Seite des Steines ein Handkuss, wischte sich die Tränen weg und erhob sich. Einen Augenblick verharrte sie noch, doch dann ging sie wieder ihres Weges. Ein Weg des Leides. Mit jedem Schritt, ging sie der Gegenwart entgegen. Sie hatte den Friedhof noch nicht verlassen, als sie von einem Glitzern abgelenkt wurde. Die Sonnenstrahlen spielten mit einem Gegenstand der auf eine Grabplatte lag. Merkwürdig, dachte sie, warum ist ihr das vorher nicht aufgefallen. Sie wich von ihrem Weg ab und ging geradewegs auf das Glitzern zu. Jetzt konnte man es erkennen. Es war eine Art Amulett. Zwei ineinander gehende Sterne waren darauf zu sehen. Einer war kleiner als der andere. Kimberly nahm das Amulett in die Hand. Sie konnte nicht anders, es war wie ein Zwang, sie musste es in ihren Händen halten. Sie ließ es durch ihre Finger gleiten und fuhr mit den Fingerspitzen über die Sterne. Wer hatte es hierhin gelegt, oder hatte es jemand sogar verloren. Aber das war eher unwahrscheinlich, merkwürdiger Platz, nein sie war sich sicher, das wurde absichtlich hier abgelegt. Ihr Blick wanderte zum Grabstein. Graf von Medwin war dort hinein gemeißelt. Kein Geburts- oder Todesdatum war vorhanden. Medwin, diesen Namen hatte Kimberly noch nie gehört, also musste das Grab schon sehr alt sein, denn Nachkommen wohnten hier nicht mehr. Sie legte das Amulett wieder an seinen Platz und ging nun ohne Umwege nach Hause, aber vergessen konnte sie das Schmuckstück nicht. Sie hatte die Kraft gespürt, die davon ausging. Sie fragte sich, ob es ein Familienerbstück sein könnte, sowas kostbares ließ man doch nicht einfach so achtlos liegen. Sowas würde man behüten, um den Hals tragen, oder zu mindestens in einer Schmuckschatulle aufbewahren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Die Nacht war ganz frisch, gerade mal angebrochen. Nicht mal die ersten Sterne zeigten sich am Himmel. Alles lag ruhig da, das Dorf Hangensville, der Wald der das kleine, alte Dörfchen umgab. Das einzige was sich hier bewegte, war der alt bekannte Nebel, pünktlich umschloss er alles was sich im in den Weg stellte. Lautlos und in dünne Nebelschwarten zog er durch die Gassen, zog um Häuserecken, vorbei am alten Park, bis hin zum Friedhof. Die alten Eichen, die dort standen, wurden umschlossen und es sah aus, als bekämen sie ein Band aus Seide um den Stamm gelegt. Obwohl es Sommer war, trugen die Eichen kein einziges Blatt mehr. Man könnte meinen, der Tot hätte auch von ihnen Besitz genommen und nur ihre Hüllen würden der Zeit strotzen. Auf einem der Bäume saß eine graue Schleiereule, ihre Augen funkelten gelb in der Nacht. Nichts entging ihrem durchdringenden Blick. Sie neigte ihren Kopf und sah auf das alte Grab herab. Aufgeregt plusterte sie ihr Gefieder auf, schüttelte ihren stolzen Kopf und setzte zum Anflug an. Es ging schon was Unheimliches von diesem Grab aus. Selbst das Unkraut hatte hier keine Chance zu wachsen. Alles war tot. Das einzig Lebende was von diesem Platz ausging, war das Amulett. Aus unerklärlichen Gründen, umgab ein Schein dieses Schmuckstück. Obwohl es still auf dem Fleck lag, hatte man das Gefühl es würde leben, ja man könnte sagen es pulsierte. Wenn man genau hinhörte, ging auch ein summen und sirren davon aus.
***
Kimberly wälzte sich in ihrem Bett. Sie wollte einfach nicht in den Tiefschlaf sinken. Irgendetwas hielt sie davon ab. Es hatte kein Sinn, sie streifte die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Sie war hundemüde, ihr Körper schien schon zu schlafen nur in ihrem Kopf wirbelten noch immer die Gedanken. Und plötzlich hörte sie es, erst ganz leise, es klang wie ein dünnes Flüstern. Je mehr sie sich darauf konzentrierte umso deutlicher konnte sie es hören. Sie zog sich ihren Morgenmantel über und stieg die Treppe herab. Sie öffnete die Tür und ging einfach hinaus. In ihr hegte kein Zweifel, kein Fragen was das sein könnte, nein ihr Körper ging einfach, als wenn er wüsste was zu tun wäre. Sie ging die Straße hinab zum Dorfplatz, ließ das Rathaus links liegen und nahm den direkten Weg zum Friedhof. Sie ging durch das offene Tor und folgte dem Schotterweg geradewegs zu der Grabstätte. Da stand sie nun, ihr Blick auf das Amulett gerichtet. Ihre schmale weiße Hand, ergriff es und streichelte es. Das murmeln, das von ihm ausging verstummte von einem Moment zum anderen und doch hatte Kimberly einen Gesichtsausdruck, als würde sie die stummen Worte immer noch vernehmen. Sie nickte und plötzlich floss je eine Träne aus ihren Augen. Sie knickte ein und sank nieder. Sie legte das Amulett um den Hals, und als es ihre Haut berührte brannten sich die Sterne in die Haut der Frau. Ein ungehörter schriller Schrei entfuhr ihrer Kehle. Instinktiv griff sie sich an die Stelle, an der zuvor die Kette gewesen war. Aber wie war das möglich? Sie war verschwunden, nur das Brandmal und das frische Blut, das aus ihrer sonst so makellosen Haut tropfte konnte sie fühlen. Ohne ein Wort erhob sie sich, drehte sich um und ging mit langsamen Schritten zur Grabstätte ihrer Kinder. Dort brach sie zusammen. Ihr Kopf fiel auf die frischen Lilien, die immer noch wundervoll blühten. Ein kleiner dünner Rinnsal aus Blut, floss an ihrer Kehle, dann am Hals herunter, um in die lockere Erde zu versickern.
***
Am nächsten Morgen wurde sie vom Gezwitscher der Vögel geweckt. Die feinen Sonnenstrahlen kitzelten sie in der Nase. Sie strich sich mit der Handfläche über die Augen und blinzelte in die Sonne. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern wie sie hierher gekommen war. Sie spürte den Schmerz an ihrem Hals und unwillkürlich strich sie mit den Fingerspitzen darüber. Sie schaute sich um und bemerkte erst jetzt, dass sie am Grab ihrer geliebten Kinder lag. Aber irgendwas war anders. Der Friedhof erstrahlte in einem Glanz, den sie nie zuvor hier gesehen hatte. Die Bäume standen in voller Pracht, die Blumen zeigten sich mit ihren vollen Blütenköpfchen, behangen noch mit Morgentau. Kimberly erhob sich langsam und säuberte ihr Kleid vom Schmutz. Sie strich mit ihren Händen den Stoff glatt und schaute dabei auf das Grab ihrer Kinder. Doch wie konnte das möglich sein. Es standen nicht die Namen ihr Lieblinge dort auf dem Stein. Namen ihr total unbekannt, waren in den Stein gemeißelt. Auch waren die Todestage um einiges älter, wie es die von ihren Kindern gewesen waren. Panik
stieg in ihr auf. Die kalte Angst kroch ihr den Nacken hinauf. Kimberly rannte suchend durch die Reihen, innerlich hoffte sie, ja betete sie, sie hätte sich nur in den Reihen geirrt. Ihre Augen flogen nur so über die Inschriften, aber es gab keinen Beweis das sie ihre Lieblinge hier beerdigt hatte. Sie rannte los, ließ den Friedhof hinter sich, stürmte über die Straße hinein in das Gässchen, das zu ihrem Haus führte. Völlig außer Atem stand sie am Gartentor. Die Hand lag zitternd auf dem zierlichen Holztürchen. Sie hatte Angst, Angst ins Haus zu gehen. Was würde sie dort drin erwarten. War sie eigentlich noch die Person die sie dachte zu sein. Zu verwirrend waren die letzten Minuten gewesen. Sie war sich sicher, sie hatte zwei Kinder zur Welt gebracht, die nicht das Recht hatten, zu leben und doch kam es ihr wie ein Traum vor, einem Alptraum der begann, als sie erwachte. Sie schloss das Türchen auf du schob einen Fuß vor den anderen. Sie konnte ihren Ohren keinen Glauben schenken, denn wenn sie es tun würde, müsste sie ihnen Glauben schenken. Denn aus ihrem Haus drangen Kinderstimmen. Fröhliches Kinderlachen. Lachen von zwei Mädchen. Sie öffnete die weiße Haustür und erstarrte. Auf dem Flur liefen zwei kleine lachenden Mädchen von ihrem Vater davon, der sie fröhlich jagte. Das blonde Mädchen hielt inne und schaute zur Tür, auch das schwarzhaarige blieb stehen. Sie beiden strahlten mit ihren wunderschönen Augen ihre Mutter an. Kimberly fiel auf die Knie und Tränen rannen ihren weißen hohen Wangen herunter. Sie konnte sie einfach nicht zurück halten. Wie war es möglich, dass ihre Kinder hier in ihrem Haus
waren. Sie zog ihre Mädchen an sich und jetzt lief sie ihren Gefühlen freien Lauf. Marie streichelte ihre Mama über den Kopf und Sarah schmiegte sich noch fester an ihre Brust. Ihr Mann stand in der Diele und schaute auf sie herab und verstand dieses Schauspiel nicht, wieso weinte seine Frau. Auch Kimberly verstand es nicht, doch das war ihr egal, sie hatte ihre geliebten Kinder endlich im Arm und spürte ihre Wärme, hörte ihren Herzschlag. Doch in einem war sie sicher. Das Amulett. Das Schmuckstück hat ihr Leben verändert. Auch wenn sie das Rätsel vielleicht nie lösen würde, war sie dieser Person dankbar, dankbar das dieses Amulett dort nieder gelegt wurde.

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Tag der Veröffentlichung: 30.11.2008

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