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»Ein Kind kann sich nicht alleine schützen«



Schweißgebadet schrecke ich aus meinem Schlaf auf. Es ist sehr früh, noch nicht einmal fünf Uhr morgens. Die Nacht war verdammt kurz und unruhig. Schwere, düstere Träume verfolgten mich, raubten mir den Schlaf. Noch einmal schließe ich meine Augen, doch sofort sehe ich die schrecklichen Bilder wieder vor mir: Ein kleines Mädchen, gerademal sechs Jahre alt. Sie sitzt auf einem Felsen, irgendwo in einer Gegend, in der es nichts weiter als vertrocknete Erde, winzige braune Grasbüschel und einige kahle Felsen gibt. Es ist ganz früh am Morgen. Zwei Frauen sind bei dem Mädchen. Die eine Frau sitzt hinter dem Mädchen – wahrscheinlich ihre Mutter. Sie hat die Beine um ihre Tochter geschlungen, hält sie fest, dicht an sich gedrückt.
„Ich bin jetzt ganz alleine mit dir und du weißt, dass ich dich nicht halten kann. Also sei brav, meine Kleine. Sei tapfer, dann hast du es bald hinter dir“
Die andere Frau sitzt direkt vor den gespreizten Beinen des Mädchens. Sie ist alt, viel älter als die Andere. Die Alte holt mit ihren langen Fingern die zerbrochene Rasierklinge aus ihrer Tasche aus Teppichstoff. Eingetrocknetes Blut ist auf der Klinge zu sehen und dann verbindet die Mutter ihrer Tochter auch schon die Augen. Dann hört man plötzlich das Geräusch der stumpfen Klinge, die wieder und wieder in die Haut des Mädchens fährt, ihr die Geschlechtsteile weggeschnitten werden. Die Kleine schreit, schreit durchdringend und will nicht mehr damit aufhören. Es schreit direkt in mich hinein.
Und genau dieser Schrei hat mich immer wieder geweckt. Es ist so, als würde er sogar noch in meinem Zimmer nachhallen. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, blicke nach draußen auf die stille Straße. Ich bin in Berlin, weit weg von dem Ort, in meinem Traum. Trotzdem hört mein Körper nicht auf zu zittern.
Vor zwei Tagen hatte ich mir mit meiner Mutter zusammen den Film ‚Wüstenblume‘ angeschaut gehabt und nun verfolgten mich die Bilder des Filmes bis in meine Träume. Ich atme tief durch und kehre dem Fenster den Rücken zu. Mein Blick fällt auf meinen Schreibtisch, auf dem mein Laptop liegt. Ohne länger darüber nachzudenken schreite ich auf den Tisch zu, schalte meine Schreibtischlampe und den Laptop an. Ich begebe mich auf die Suche nach näheren Informationen zu dem bestimmten Thema was mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will…

»Nur eine beschnitte Frau ist eine anständige Frau «



Grübelnd gleitet mein Blick in den wolkenbehangenen Himmel. Nur selten schafft es ein Sonnenstrahl, sich durch die dichten weißen Wolken zu kämpfen. In meinem Kopf kreisen die Gedanken wirr umher. Zu viele Informationen, die ich in letzter Zeit aus dem Internet gezogen habe. Mittlerweile ist ein ganzer Monat vergangen. Alpträume hatte ich bisher zwar keinen mehr, doch läuft es mir immer noch eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich an dieses Thema denken muss.
Es ist Mittag und ich gehe durch den Park, welcher sich gleich neben meinem Wohnort befindet.
Ich erblicke eine leerstehende Bank und lasse mich wenige Sekunden später auf dieser nieder, lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Bilder jagen durch meinen Kopf, meine innere Stimme gibt die Angaben in meinem Kopf wieder, so als wolle es mich daran hindern, dass ich sie vergesse. Plötzlich höre ich Schritte, die dicht neben mir stehen bleiben. Ich schlage die Augen wieder auf, blicke neben mich.
Ein Mädchen, vielleicht an die siebzehn Jahre - also so alt wie ich - steht vor mir. Scheu schauen ihre braunen Augen auf den Platz neben mich.
„Ist da noch frei?“, fragt sie leise, gerade noch so laut, dass ich es hören kann. Ich nicke kurz und das Mädchen lässt sich auf dem freien Platz nieder. Ich beobachte sie kurz aus dem Augenwinkel. Sie muss wohl aus dem afrikanischen Raum kommen, denn ihre äußerst dunkle Hautfarbe und das kohlrabenschwarze, krause Haar sprechen eindeutig dafür. Sie scheint meinen Blick anscheinend bemerkt zu haben, denn auf einmal hebt sie den Kopf, sieht mich an. Flüchtig, ängstlich und lässt ihre Augen kurz darauf wieder sinken.
Obwohl ich nur sehr schwer Kontakte knüpfen kann, raffe ich all meinen Mut zusammen und lächle das Mädchen an.
„Wie heißt du?“, frage ich sie jetzt direkt, doch die Dunkelhäutige zuckt erschrocken zusammen. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken…“
Stille. Ich habe sogar das Gefühl, sie sei etwas von mir gerückt. „Kannst du mich überhaupt verstehen? Wenn ja: Ich will dir nichts tun. Wirklich!“
Kurz hat sie den Blick noch auf den Boden geheftet, dann, ganz langsam, richtet sie ihren auf meinen.
„Wirklich?“
„Ja, wirklich“, ich nicke und bin im Inneren doch heilfroh darüber, dass sie mich versteht. „Also wie heißt du? Ich bin Nina!“
„Medyna“ antwortet sie dann, diesmal nicht mehr so leise und schenkt mir ein leichtes Lächeln.
Medyna und ich unterhalten uns noch sehr lange. Sie erzählt mir, dass sie aus Somalia stamme und sofort kehren die Bilder vom Film zurück in meinen Kopf. Aber ich lasse mir nichts anmerken, höre ihr weiter zu. Sie erzählt nicht viel über sich selbst, nur dass sie noch einige weitere Geschwister hat und mit ihren Eltern seit knapp sieben Jahren hier lebt. Sie wohnte zuvor in Bonn, ist nun nach Berlin gezogen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir beide da gesessen haben und redeten, doch irgendwann verabschiedeten wir uns und tauschten zuvor noch unsere Nummern aus um den Kontakt nicht abbrechen zu lassen.

»Das hat nichts mit Religion, Tradition oder dem Glauben zu tun«



Mittlerweile sind an die drei Monate vergangen. Medyna und ich sind gute Freunde geworden. Zu ihr nach Hause durfte ich bisher nicht. Meist wechselte sie schnell das Thema oder wich meiner Frage aus, wenn ich sie darauf ansprach. Heute jedoch habe ich das Gefühl, dass sie mir etwas sagen will. Etwas wichtiges, denn sie bat am Telefon, dass ich es niemandem erzählen sollte. Als sie mein Zimmer betritt, erstarrt sie kurz. Sie schaut mit geweiteten Augen auf das Plakat vom Film ‚Wüstenblume‘, welches ich in meinem Zimmer aufgehängt habe. Sie scheint einen Moment zu zögern, dann schließt sie die Tür hinter sich und gleitet leise zum Sofa, auf dem ich bereits sitze. Ich spreche sie erst gar nicht auf das Poster an, begrüße sie mit einem freundlichen „Hallo“, ehe sie sich zu mir setzt. Ihre dunklen Augen huschen nochmals zum Bild, dann wieder zu mir.
„Du hast den Film gesehen?“, fragt sie, ihre Stimme klingt dünn. Ich nicke langsam.
„Ja, du auch?“
Jetzt kommt ein Nicken von ihrer Seite. Sie richtet den Blick nach unten.
„Medyna was ist los?“ Besorgt versuche ich ihre Sicht wieder auf mich zu lenken. Ihr Körper fängt zu zittern an. Sie hebt ihren Kopf, in ihren Augen sind die Tränen nun nicht mehr zu übersehen.
„Du weißt was mit den Mädchen passiert oder?“
„Ja… aber…“
„Dann weißt du auch, was sie mit mir gemacht haben“, ihre Stimme bricht. Für einige Sekunden starre ich sie entsetzt an. Wenige Augenblicke später habe ich sie jedoch in den Arm genommen, streiche ihr beruhigend über den Rücken, während sie ihren Tränen freien Lauf lässt
„Wie? Wann? Und vor allem warum?“, frage ich sie leise, als sie sich etwas beruhigt hat. Sie löst sich mit einem Aufschluchzen von mir, wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, ehe sie anfängt von ihrer Geschichte zu erzählen:
„Ich war acht Jahre alt, als ich beschnitten wurde. Einen Abend zuvor bekam ich eine Extraportion Reis. Meine Mutter sagte mir, dass ich eine Frau werden würde. Sie sagte, ich müsse es tun, damit ich später auch einen Ehemann bekäme und vor allem weil es in unserer Religion so vorgeschrieben sei. Es sei unsere Tradition. Ich freute mich und meine beiden großen Schwestern sagten, dass es mein ‚großer‘ Tag werden würde. Ich glaubte ihnen. Doch am nächsten Morgen verwandelte sich alles zu einem Alptraum. Mehrere Frauen drückten mich zu Boden, verhinderten so, dass ich mich aufrichtete. Meine Mutter verband mir die Augen. Das Einzige was ich danach noch hörte, waren die Geräusche der Klinge, die in meine Haut fuhr. Immer und immer wieder. Ich erinnere mich an das Zittern meiner Beine und daran, wie ich vergeblich versuche mich zu bewegen, um die unerträglichen Schmerzen los zu werden, doch die Frauen waren stark und hielten mich fest auf den Boden gedrückt. Ich weiß noch, wie ich Stoßgebete zum Himmel geschickt habe, bevor ich für kurze Zeit ohnmächtig wurde. Als ich wieder aufwachte, spürte ich, wie die Schlächterin mit Akaziendornen Löcher in meine Haut dort unten stach und dann etwas durchfädelte um mich zuzunähen. Kurz darauf wurden meine Beine taub. Doch die Schmerzen blieben, machten mich wahnsinnig und ich glaube das Einzige, was ich mir in diesem Moment gewünscht hatte war, dass ich auf der Stelle sterben wollte. Diese Schmerzen damals, ich glaube selbst heute kann ich sie immer noch spüren, waren und sind einfach nicht zu beschreiben. Und immer wieder blieben die Worte meiner Mutter in meinem Kopf zurück“ Medyna macht eine ganz kurze Pause, ehe sie noch etwas hinzufügt: „Es war überhaupt ein Wunder, dass ich durch die ganzen Schmerzen überhaupt noch wahrnehmen konnte, wie die Beschneiderinn mich dort unten zugenäht hatte…“
Sie wirkt verzweifelt, kauert sich ins Sofa und starrt mich mit leerem Blick an. Sie macht eine Pause, dann scheint sie wieder an Fassung zu gewinnen. Nun flackert in ihrem Blick etwas Wütendes, Zorniges auf. „Es soll in unserer Religion vorgeschrieben sein! Es soll unsere Tradition sein! Nichts davon ist irgendwo und in irgendeiner Art und Weise vorgeschrieben! Es steht ja noch nicht mal im Koran! Es ist einfach nur grausam! Grausam und unmenschlich!“
Ihr Blick wird plötzlich traurig. „Aber meine Mutter dachte, sie täte das richtige für mich. Immerhin wurde ihr dasselbe angetan, unter der Behauptung ihr nur Gutes tun zu wollen…“
Nun bin ich diejenige, die sie stumm anschaut und nicht weiß, was sie tun soll.
„Es… tut mir so leid“, bringe ich schließlich flüsternd über mich.
Auf Medynas Lippen zuckt ein verständnisvolles Lächeln. „Ist schon okay… Es tut zwar häufig noch weh, aber es tut auch gut, dass ich es endlich mal jemanden anvertrauen konnte. Aber bitte, sag es niemandem, ja?“
Ich nicke heftig. „Na-Natürlich nicht!“
Noch eine kleine Ewigkeit sitzen wir schweigend da, ehe ich nun beginne ihr zu erzählen, wie ich auf das Thema gekommen bin. Interessiert hört sie zu und dann reden wir noch lange über eine bestimmte Person, welche das Ganze erst ins Rollen gebracht hat…

»Es muss aufhören, einfach aufhören«



Unsicher stehe ich vor der Tafel und werfe einen flüchtigen Blick zu Medyna, welche direkt vor mir sitzt. Sie lächelt mich zuversichtlich an, hebt unauffällig ihren Daumen in die Höhe. Ich habe mein Referat gerade beendet, doch in der Klasse ist es totenstill. Noch nicht mal die Volldeppen geben einen Mucks von sich, obwohl sie doch sonst immer so laut sind und man sie nur schwer überhören kann.
Dann – wie aus dem nichts – höre ich, wie jemand in die Hände klatscht. Mein Kopf, und höchstwahrscheinlich auch noch 27 weitere Köpfe drehen sich in Richtung meines Lehrers. Er sitzt da, ein Schmunzeln im Gesicht und klatscht! Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin beginnen auch die anderen zu klatschen und der Beifall, wenn man ihn denn als solches bezeichnen mag, verebbt erst nach wenigen Minuten.
Vollkommen perplex weiß ich zuerst nicht was ich sagen soll, dann kommt nur eine einzige Frage aus meinem Mund: „Habt ihr noch irgendwelche Fragen?“
Ein Lachen geht durch die Menge, dann erneute Stille für einige Sekunden, ehe sich die ersten Hände heben.
Ich nehme den Erstbesten ran.
„Wer ist diese Waris Dirie die du in deinem Referat erwähnt hast?“
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich habe extra nicht gesagt wer sie ist, um auszutesten ob meine liebenswürdigen Mitschüler auch aufgepasst hatten. Anscheinend hatten sie das, denn sofort sinken die restlichen fünf gehobenen Hände – sie hatten wohl dieselbe Frage wie er.
Ich beginne mit einer kurzen Biografie über die Frau aus Somalia und erzähle dann, warum ich gerade ihren Namen in meinem Referat verwendet habe:
„Waris Dirie war die erste Frau, die die Weltöffentlichkeit auf die weibliche Genitalverstümmelung aufmerksam machte, ihnen vom Leid der Opfer und den Folgen solch einer grausamen Tat erzählte. Seitdem wurde weibliche Beschneidung in vielen Ländern offiziell verboten“
„Ein echt tolles Vorbild für die Frauen!“, höre ich plötzlich jemanden aus der Ecke rufen und ich spüre, dass dieser jemand es vollkommen ernst meint. Ich nicke lächelnd.
„Ja, das stimmt wohl. Sie ist ja auch ein recht untypisches Frauenbild…“

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Tag der Veröffentlichung: 14.02.2011

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