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Das rationierte Fahrrad

In den fünfziger Jahren waren Fahrräder Mangelware. Wer eines besaß benutzte es zur Arbeit oder den täglichen Einkäufen.

 

Ein Fahrrad für uns Kinder, einfach nur „ zum Spaß „ gab es damals nicht, jedenfalls nicht bei uns.

 

Deshalb entwickelte ich geradezu eine Affinität zum Rollschuh laufen. Was habe ich für viele Strafen über mich ergehen lassen müssen, wenn mal wieder die Strümpfe zerrissen waren und die Knie viele Blessuren aufwiesen. Heute kann ich meine Mutter verstehen, da nur nicht meine, sondern auch die Strümpfe der anderen Familienmitglieder gestopft werden mussten. Eine zeitraubende Arbeit und heute überhaupt nicht mehr vorstellbar.

 

Im Lauf meiner Kinderjahre habe ich dann drei Paar Rollschuhe abgenutzt und das zum Leidwesen meiner Mutter.

 

Ein Fahrrad habe ich daher nie vermisst. Bis meine Klassenkameradin und Freundin Doris eines Tages mit einem sehr alten Rad – wir nannten das früher eine alte Scheese – auf unserer Straße stand. Ihr Opa hatte das Rad auf einem Schrottplatz gefunden, notdürftig geflickt und repariert.

 

Jetzt ging das Gerangel unter den Kindern richtig los, da jeder unbedingt fahren wollte, nur keiner – auch meine Freundin Doris- konnte Fahrrad fahren. Es wurde sich beschimpft, geboxt und auch Schläge ausgeteilt. Nachdem meine Freundin genug von dem ganzen Ärger hatte, verkündete sie den für uns gängigen Abzählreim... eene meene Muh und raus bist du ….

 

Es kehrte Ruhe ein, und mit dem ersten Kind begann dann die Fahrradübung. Einem zweiten Kind wurde befohlen, Hilfestellung beim Aufstieg zu geben, und während des Tretens der Pedale den Sattel rückwärtig festzuhalten. Jetzt hieß es: mitlaufen. Das Szenario wiederholte sich viele Male, bis auch das letzte Kind keine Lust mehr verspürte Beistand zu leisten.

 

Ich saß am Straßenrand und habe mich über die vielen komischen und lustigen Figuren, den vielen Stürzen schief gelacht, da ich ja nicht mit dem Rad fahren wollte. Das Lachen hätte ich wohl besser unterdrückt.

 

Meine Freundin kam zu mir mit der Bemerkung:“ Was lachst du so blöde, wenn du es besser kannst, dann fahre du doch, oder bist du zu feige?“ Also Feigheit wollte ich mir nun nicht nachsagen lassen und stieg mit einem gewissen Unbehagen auf das Rad.

Doris hielt den Sattel und erklärte mir, dass ich nur treten müsste und wenn ich absteigen wollte, denn eben die Bremse betätigen müsste. Also rauf aufs Rad und es ging los, bis ich merkte, dass meine Freundin den Sattel losgelassen hatte und ich nun alleine radelte. Da unsere Straße etwas abschüssig war, ging die Fahrt immer schneller und schneller. Alle Kinder schrien: „ Du musst bremsen.“ Voller Panik betätigte ich die Handbremse, die aber nicht funktionierte. „ Hilfe, ich kann nicht mehr stoppen,“ schrie ich. Ein Passant der am Straßenrand stand, rief mir zu: „ Du musst die Rücktrittbremse treten.“ Was danach kam, war einem Alptraum gleichzusetzen. Ich trat das Pedal nach hinten und das Fahrrad schoss gegen den Bordstein und ich über das Lenkrad.

 

Der freundliche Passant kam herbeigeeilt und fragte mich nach meinen Verletzungen. Beide Kniee, Schienenbeine, Hand- und Nasenrücken waren voller stark blutender Schürfwunden. Aus der Ferne hatten alle Kinder meinen Sturz mit erlebt und kamen ebenfalls gelaufen, nicht ohne vorher meiner Mutter von meinem Sturz zu berichten.

 

Diesmal gab es keine Schelte oder Bestrafung, da meine Freundin Doris ihr gebeichtet hatte, dass der Unfall ihre Schuld gewesen sei. 

Der Arzt wurde gerufen, ich bekam eine Tetanusspritze und diverse Salben für meine lädierten Körperstellen.

 

Eine Woche musste ich das Bett hüten, um einer eventuellen Gehirnerschütterung vorzubeugen.

 

Dieser Unfall hat unsere Freundschaft nie negativ beeinflussen können. Unsere Wege trennten sich jedoch nach der Schulzeit.

 

Ich denke heute, dass dieses Vorkommnis in meinen Kindertagen prägend dafür gewesen ist, dass ich nie gerne mit dem Fahrrad gefahren bin.

Impressum

Texte: Elisabeth Goetzens
Bildmaterialien: Archiv
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2017

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