Ein Kriegserlebnis
Ein herrliches Winter-Wochenende. Meine Frau war zu einem Seminar aufgebrochen und ich hatte mir deshalb das Wochenende Zeit für meine Tochter eingeplant, die leider oft durch meine berufliche Inanspruchnahme auf mich verzichten musste.
Nach dem ausgedehnten Frühstück ging es raus in den sonnenbeschienen Schnee, vorbei an einem kleinen Flusslauf, der von knorrigen Kopfweiden gesäumt war. Dieses Bild erinnerte mich immer etwas an den ERLKÖNIG. Ausgelassen gab es auch zwischendurch eine Schneeballschlacht, und einem Graureiher zuzusehen, der mit seinen großen Schwingen seine Kreise zog, machte mich unendlich bedürfnislos und glücklich.
Mit dem Lächeln und den strahlenden Augen meiner Tochter, traten wir nach Stunden den Heimweg an. Die wohlige Wärme des Hauses und der Schnee, der mittlerweile fiel, ließen uns mit Kaffee und einem Glas Rotwein vor den knisternden Kamin setzen, wobei meine Tochter ein Fotoalbum in der Hand hielt.
„ Papa „ sagte sie, dieses Album kenne ich noch gar nicht, ich möchte es gerne mit dir anschauen“. Da wir viele Fotoalben im Schrank stehen hatten, wusste ich nicht, welches sie herausgezogen hatte. Also blätterte sie los. Viele Familien- und Urlaubsereignisse waren in Bildern festgehalten worden, die ich ihr erzählen und erklären musste.
Als sie die nächste Seite aufschlug, musste ich inne halten, denn hier war nur ein einziges Bild eingeklebt: ein Junge mit einem langen Strickmantel und einem großen gelben Regenschirm. „ Wer ist das, und weshalb wurde das Foto alleine auf diese Seite eingeklebt?“, wollte sie wissen. Ein Zurück gab es nicht mehr für mich, jetzt musste ich ihr einen Teil meiner Lebensgeschichte erzählen.
Lange, sehr lange ist es her, wir hatten Krieg und mein Vater – also dein Opa – wurde eingezogen und musste an die Front. Tag und Nacht ging der Bombenhagel über die Städte. Das Heulen der Sirenen und das Schreien der Menschen wurde unerträglich, deshalb beschloss meine Mutter – also deine Oma – mit mir und meinem Zwillingsbruder zu fliehen. Ja, du hörst richtig, ich hatte noch einen Zwillingsbruder, über den zu erzählen, mich immer noch zu Boden reißt. Ich werde dir von ihm erzählen, aber nicht heute, „ ist das okay für dich“?. „ Na sicher,“ meinte sie, da sie offensichtlich meine Traurigkeit spüren konnte.
Zurück zur Flucht mit meiner Mutter. Wir schlossen uns einem riesigen Treck an, unsere Nachbarn hatten einen Karren mit zwei Pferden organisiert, so mussten wir unser weniges Hab und Gut nicht tragen. Mein Bruder und ich durften abwechselnd auf dem Wagen steigen, wenn unsere Füße uns nicht mehr tragen wollten.
Viele hatten an ihren Handkarren oder auch Ärmeln weiße Tücher gebunden, um zu signalisieren, dass wir keine Feinde sondern Flüchtlinge mit Kindern, Alten und Kranken waren.
Als wir dann die ersten Tiefflieger hörten, schlug auch schon die erste Bombe unweit des Trecks ein. Der Karren, auf dem mein Bruder saß stürzte um und mit ihm die beiden Pferde. Viele Flüchtlinge sind bei diesem Bombenangriff ums Leben gekommen, auch mein Bruder konnte nicht mehr gerettet werden.Wir mussten weiter und meinen Bruder auf dem Feld zurücklassen. Das laute Weinen meiner Mutter und meine eigene Hilflosigkeit, werde ich niemals vergessen.
Viele Wochen später kamen wir bei Verwandten, die eine kleine Bauernwirtschaft betrieben unter. Der Winter stand vor der Türe und es wurde bitterkalt, Feuerholz war – wie vieles – Mangelware. Meine Mutter fand unter ihren wenigen Habseligkeiten noch eine dicke, rostbraune Strickjacke mit einer Kapuze, die ich nun Tag und Nacht anzog.
Im Schuppen fand ich einen gelben Regenschirm und so ging ich jeden Morgen auf die nahegelegene Wiese klappte den Regenschirm auf und rief den Namen meines Bruders: SÖREN.
Oft blieb ich stundenlang dort stehen und überhörte selbst das Rufen meiner Mutter. Durch Erzählungen weiß ich, dass ich das Monatelang tagtäglich , fast bis zu Erschöpfung getan habe.
Meine Mutter musste mit mir wegziehen und wir fanden eine Einzimmerwohnung in einem durch Bomben, stark beschädigten Haus und hier konnte ich mich auch nicht mehr auf eine Wiese stellen, die es nicht gab. Ich wurde durch vieles abgelenkt, und das Rufen nach meinem Bruder ließ nach.
Noch heute besitze ich diesen rostbraunen Pullover mit dem gelben Regenschirm, Relikte aus einer vergangen Zeit , die ich niemals vergessen werde.
Meine Tochter saß schweigend neben mir und weinte.
Ich holte die rostbraune Jacke und den gelben Regenschirm und legte sie meiner Tochter in den Schoß.
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2017
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