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Die Kate am Fluss

Die Kate am Fluß

 

Sonntagmorgen, der Beginn eines sicherlich herrlichen Tages. Ich liege noch im Bett und beobachte – zwischen den großen alten Eichenbäumen – das Durchdringen der ersten Sonnenstrahlen aus meinem Fenster. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf, zurück zum gestrigen Tag.

 

Moni, meine – jetzt Exfreundin – und ich, hatten ein langes, intensives und ausführliches Gespräch. Unsere Beziehung ließen wir Revue passieren und stellten dabei fest, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft geben würde. Zu unterschiedlich und differenziert waren und sind unsere Gestaltungsformen von Gemeinsamkeiten des alltäglichen Lebens und Miteinanders.

 

Sie war als Frühaufsteherin immer sehr unrastig. Ihr – vermeintlicher – Erlebnisdrang war schier unendlich. Am Ende ihrer Arbeitswoche erstellte sie einen Wochenendplan und dabei wurde es oft zur Gewohnheit, dass wir am Samstagmorgen bereits um zehn Uhr aufbrachen, um alle ihre Ziele zeitlich ansteuern zu können. Der Trödelmarkt, der Biergarten, der Besuch bei einer Freundin und das abendliche Disco Event waren da keine Seltenheit. Beim sonntäglichen gemeinsamen Frühstück habe ich sie oft nach dem Erlebten gefragt. Hierbei wurde z.B. der Trödelmarkt oder das – für mich jedenfalls – interessante Gespräch mit ihrer Freundin eher als peripher gesehen. Ihr Erlebnisdrang war nicht entdecken, genießen oder gar das Erleben selbst, sondern der schiere Konsum von Vielem ohne Tiefgang.

Damit konnte und wollte ich nicht mehr mitziehen.

Mein Verständnis von Freizeit basiert auf einer gänzlich anderen Ebene. Ein gutes Buch auf der Sonnen beschienen Terrasse, kann mein Wochenende genauso bereichern, wie ein herrlicher Spaziergang an ruhigen Flussauen, um dem stressigen Alltag ein wenig zu entfliehen. Ein Buch, wie auch ein Spaziergang, nehme ich oft als Entdeckungsreise wahr.

 

Vor kurzem hatte mir ein Freund von seiner Wanderung durch Felder, Wiesen und Auen aus einem entlegener Teil unser Stadt erzählt, und als Neubürger erweckte dies mein Interesse.

 

Als die Sonne die Baumkronen erreicht hatte, stand ich auf, bereitete mir das Frühstück, nahm mir dann mein – schändlich vernachlässigtes – Buch und setze mich auf die Terrasse. Mit dem Wissen, ohne Blessuren aus der Freundschaft mit Moni herausgekommen zu sein, kehrte für mich wieder eine Zeit des Friedens und der Ruhe ein.

 

Nein, nicht heute, heute war der Tag eines Neuanfangs, aber am kommenden Sonntag werde ich den Spaziergang unternehmen, von dem mir mein Freund so schwärmerisch erzählt hatte.

 

Die Woche begann erwartungsgemäß hektisch. Als Abteilungsleiter einer großen Versicherungsgesellschaft wurde mein Fachwissen und meine Integrität zum ständigen abrufbaren Faktor. Kunden verlangten meine Präsenz, Mitarbeiter meine Aufmerksamkeit in schwierigen Situationen und die Chefetage steigende Umsatzzahlen. Gratwanderungen, deren Ausmaße oft an die physische Belastungsgrenze gingen. Ich sehnte mich nach einem heißen Bad mit entspannender Musik, aber das Anklopfen meiner Sekretärin riss mich aus meinem Tagtraum und die Realität hatte mich wieder. Sollte es hier widersinnig klingen, aber mein Job macht mir – trotz allem – Spaß, weil mir bewusst, dass ich Feierabende, Wochenenden und den Jahresurlaub immer in mein Berufsleben mit einbezog.

Die Wanderung an dem verschlungenen kleinen Fluss ging mir heute nicht aus dem Kopf. Kurzerhand telefonierte ich mit meinem Freund und kündigte meinen abendlichen Besuch an. Gegen 19 Uhr, bewaffnet mit einer Flasche Rotwein, klingelte ich an seiner Wohnungstüre und wurde – wie immer – von seinem Hund stürmisch begrüßt.

Der Wegplaner lag bereits ausgebreitet auf dem Tisch und herrliche Weingläser dazu. Mein Freund ist nicht nur ein excellenter Weinkenner, die dazugehörenden Gläser sind eine weitere Leidenschaft von ihm. Sein Fachwissen über die ersten Glasmanufakturen in Vorderasien und den römischen Regionen sind einfach enorm.

Hanno ist ein Genussmensch und Ästhet, der mir mit der gleichen Hingabe und Präzision die Wanderstrecke erklärte.Um mein Augenmerk zu schärfen, hatte er besonders sehenswerte und markante Stellen angezeichnet.

Seinen Ausführungen und der Kartendarstellung zufolge, musste dies ein herrlicher Spaziergang werden.

 

Die restliche Arbeitswoche ließ mir leider keinen Raum mehr für Schwärmereien. Moni ließ mich in Ruhe und ich fiel abends wie ein Stein ins Bett.

 

Endlich Freitagabend, und das Wochenende konnte eingeläutet werden. Die nötigen Hausarbeiten erledigte ich am Samstag, um den Sonntag genießen zu können. Die Wetterprognose war nicht sehr günstig, was mich von meinem Spaziergang allerdings nicht abhalten würde. Schlechtes Wetter und schlechte Kleidung sind nun mal nicht kompatibel, dafür aber Regenschirm und Regenjacke.

 

Herrlich, die Sonne schien bereits durch die Baumwipfel, als ich aus dem Bett sprang. Also doch kein Regen, genial.

Der Wecker zeigte 9 Uhr, frühstücken und dann los. Ausgestattet mit Regencape, Fernglas und Fotoapparat, ging es hinaus in die Natur.Der Anfahrtsweg führte mich vorbei an Gehöften, Denkmal geschützten Häusern und alten Alleen. Vor dem Wanderweg befand sich ein ausgewiesener Parkplatz, ich musste also nicht „ wild „ parken.

 

Gott, ist das einzigartig, war mein erster Gedanke. Gewachsene, nicht von Menschenhand gesteuerte Natur.

Ich sah einen Fluss, der durch das Aufstauen von Totholz und damit einhergehender vieler Wasserstufen sehr sauerstoffreich war. Durch die Kanalisierung vieler Flüsse und Bäche konnte ich diese Vielfalt an Flora und Fauna in der freien Natur, nicht mehr bewundern. Bachflohkrebse, genannt auch die Filtrierer und Reiniger der Gewässer, konnte ich in einer Vielzahl beobachten. Wasserschnecken, die auf Uferpflanzen saßen und genüsslich fraßen. Nach wenigen hundert Meter sah ich ein Stockentenpaar, das Nistmaterial sammelte und auf der angrenzenden Feuchtwiese, bemerkte ich einen Graureiher, der sicherlich nach Fröschen Ausschau hielt. Der Wanderweg,entlang des Flusses, wurde von Kopfweiden gesäumt. Ich hatte den Eindruck, da sie durch den Wind in Schwingungen versetzt wurden, dass sie melodisch klangen. Nach der nächsten Wegbiegung sah ich einen recht großen, allerdings verlassenen aufgebäumten Biberbau.

 

Für mich war hier ersichtlich, das Ufervegetation und Organismen noch intakt waren.

 

Bei aller Begeisterung für dieses Kleinod Natur, hätte ich fast ein verfallenes Haus übersehen. Hier mitten im Naturschutzgebiet, fast undenkbar. Bei näherem Hinsehen war es dann eher eine kleine Kate, als ein Haus. Ihrem Zustand nach zu urteilen, war sie sicherlich schon einige Jahre nicht mehr bewohnt worden. Die Natur hatte hier ihr Recht gefordert und sie mit vielen Pflanzen teilweise überwuchert. Einzig der Kamin schien noch intakt zu sein. Auf der rückwärtigen Seite befand sich noch eine kleine Hütte, die , so denke ich, als Unterstand für Haustiere genutzt wurde. Die Fensterverschläge waren vermodert und hingen seitlich herunter. Ich hörte im Inneren Vogelstimmen, die sich dieses Territorium aneignet hatten.Ich war von der Lage der Kate restlos begeistert.

 

Nach meiner Inspektion und zurück auf dem Wanderweg, stand plötzlich ein Spaziergänger vor mir. Ich kam ins Schwärmen ob dieses herrlichen Naturerlebnisses, was er mir sofort bestätigte. Er wohnte im Ort und würde hier regelmäßig seine Runden drehen. Die Gemeinde und auch einige Naturschützer würden intensive Kosten und zeitaufwendige Maßnahmen zum Erhalt dieses Kleinodes unternehmen. Ich fragte ihn nach der Kate und er wusste mir zu berichten, dass dort vor einigen Jahren ein russisches Ehepaar gewohnt hätte, die nach Deutschland ausgewandert waren, und da zum damaligen Zeitpunkt der Gemeinde keine geeignete Unterkunft innerorts zur Verfügung stand, wurde ihnen dieses Haus zugewiesen. Er wusste auch noch die Vornamen: Igor und Olga. Als sie verstarben, vergab die Gemeinde keinen neuen Nutzungsvertrag.

 

Immer noch unter dem Eindruck des Gesehenen und Erlebten machte ich mich auf den Heimweg mit der Intension, diese Kate zu erwerben. Gleich in der kommenden Woche werde ich mich mit der Gemeinde in Verbindung setzen.

 

Jakutsk, die Hauptstadt von Jakutien liegt im Osten von Russland und wird nach Oimjakon als die kälteste bewohnbare Stadt der Welt bezeichnet. Hier am Flusslauf der Lena, leben Igor und Olga. Alle Häuser sind auf Betonstelzen erbaut, damit sie den darunterliegenden Permafrostboden nicht durch Auftauen destabilisieren. Nur wenige Menschen leben hier an der Peripherie von Jakutsk. Ein hartes Leben, vor allem in den langen und sehr kalten Wintermonaten. Mensch und Nutztiere teilten dann ihr Dasein in einem Raum, der von einem alten, großen Kachelofen erwärmt wurde,und gleichzeitig dem Paar als Schlafstätte diente. Die Lethargie dieser Jahreszeit, die Dunkelheit und die Kälte lassen Igor und Olga immer häufiger über eine Auswanderung nachdenken. Igor gerät dann ins Schwärmen, wenn er von einem entfernten Onkel erzählt, der vor vielen Jahren nach Deutschland übergesiedelt ist. Leider ging der Kontakt zu ihm verloren, und somit konnten auch keine Informationen erfragt werden. Im kommenden Sommer wollten sie aber Auskünfte über eine Ausreise einholen. War es Zufall oder Schicksal, dass gerade in diesem Winter deutsche Wissenschaftler in der Nähe ihres Hauses die Beschaffenheiten der Permafrostböden untersuchten.

Die legendäre russische Gastfreundschaft gebot es, sie zu Tee und Borschtsch einzuladen und ihnen von ihrem Vorhaben zu erzählen. Nach ihrem zweimonatigem Aufenthalt versprachen sie, ihnen behilflich zu sein. Danach entstand unter dem Paar ein Wechselbad der Gefühle und die Angst vor einer ungewissen Zukunft.Sollten sie ihre Heimat verlassen, der Kälte und den Entbehrungen entfliehen, wie hoch wäre dann der Preis für diese drastische Veränderung?

 

Vier Monate später. Die deutschen Wissenschaftler waren abgereist, und so recht wollten sie an eine Hilfe der Herren nicht glauben. Bis sie eines Tages einen Brief erhielten, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass einer Auswanderung nach Deutschland nichts im Wege stehen würde. Wird es tatsächlich einen Abschied geben? Ja, er wird es. Sie gaben ein großes Abschiedsfest und die wenigen Nachbarn kamen alle. Sie verkauften das Haus und die Nutztiere an einen Freund.

 

Aufbruch in eine zweifelhafte Zukunft – in ein fremdes Land.

 

Ihre Ängste lösten sich jedoch bald auf, da sie in der Gemeinde, der sie zugewiesen, sehr herzlich empfangen wurden. Sie kleine Kate sollte jetzt ihr zu Hause sein, worüber beide hocherfreut waren. Obwohl ein Naturschutzgebiet ,wurde Ihnen an der rückwärtigen Seite ihres neuen Heimes eine kleinformatige Stallung für ihre Nutztiere genehmigt. Ab sofort nannten die Gemeindemitglieder sie nur noch Igor und Olga aus der Kate am Fluss. Sie waren sehr beliebt und erlernten die deutsche Sprache in recht kurzer Zeit. Viele Jahre lebten sie dort, bis Olga mit 49 Jahren ganz plötzlich verstarb. Igor folgte ihr 5 Jahre später und die Kate verwaist.

 

Ich konnte mein Glück einfach nicht fassen. Nach einer Sitzung der Ratsmitglieder wurde beschieden, das meinem Antrag, die Kate käuflich zu erwerben, statt gegeben wurde.

Durch die Lage im Naturschutzgebiet hatte ich einige Auflagen zu erfüllen, die für mich selbstverständlich waren und kein Hindernis darstellten.

 

Anfang des Sommers – ich hatte meinen Jahresurlaub eingereicht – begann ich mit den diversen Arbeiten. Mein Freund unterstütze mich dabei tatkräftig und zusammen entfernten wir die umfangreichen Grünpflanzen, die sich, nach den vielen Jahren, um das Haus geschlungen hatten.Die morschen Fenster und Fensterläden wurden entsorgt, der Kamin auf seine Tauglichkeit geprüft. Im Inneren der Kate hatten sich so manche Vögel ihre Nester gebaut, die von uns beseitigt werden mussten. Die allgemeine Bausubstanz war noch erstaunlich gut und der Gewölbekeller wies keine feuchten Spuren auf. Bis auf die vier kleinen Holzkisten, war der Raum leer. Ich rief meinen Freund , der sprach schon von einem abgelegten Schatz, als wir die erste Kiste mit einer Stange öffneten. Gleichzeitig sprangen wir zurück, da wir nicht glauben wollten, was wir dort sahen. Das Skelett eines kleinen Kinderkörpers, der in einer schönen Kleidung steckte. Wir hatten eine böse Ahnung, was uns beim Öffnen der verbliebenen Holzkisten erwarten würde. Auch hier lagen Skelette von Kinderkörpern eingehüllt in wundervoller Kleidung. Alle Kinder lagen mit gefalteten Händchen auf einer Kissen ähnlichen Unterlage. Der Schock über das soeben gesehene war so groß, dass ich nach oben rannte und mich an der Hauswand übergab. Mein Freund hatte zwischenzeitlich die örtliche Polizei benachrichtigt, die das Haus weiträumig absperrte, damit die Kriminalpolizei und die Spurensicherung ihre Arbeiten aufnehmen konnten.

Der Fund ging wie ein Lauffeuer durch die Gemeinde, und keiner wollte daran so recht glauben, aber die Tatsachen sprachen nun mal eine andere Sprache.

 

Die Kinderleichen wurden in die Pathologie der Rechtsmedizien verbracht, wo dann festgestellt wurde, dass sie keines natürlichen Todes verstorben waren. Alle Kinder sind kurz nach ihrer Geburt erstickt worden. Ihr guter Erhaltungszustand ließ diese Diagnose einwandfrei zu.

Nach umfangreichen Recherchen in ihrer früheren russischen Heimat wurde bekannt, dass es sich nicht um ein Ehepaar, sondern um Geschwister gehandelt hatte.

Es kann nur gemutmaßt werden, dass sie aus Scham vor einer Entdeckung der falschen Familien Angabe ihre Kinder umgebracht hatten. Auch wenn hier Bruder und Schwester zusammenlebten, war ihr Handeln ungeheuerlich und empörend.

 

Den Kauf der Kate am Fluss habe ich rückgängig gemacht, zu belastend waren für mich, noch lange Zeit danach,die Bilder der toten Kinder.

Der Spaziergänger, der mir seinerzeit begegnete, hätte diesen Teil seiner Erzählung über die Kate besser nicht verschwiegen.

Mein Resümee eines zunächst herrlichen Spazierganges und seiner danach schrecklichen Folgen, hat mich nie mehr ganz losgelassen. 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.01.2018

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