Vor langer Zeit schlüpfte ich an einem kalten Wintermorgen aus der Eischale. Ich musste drücken und zerren, um mich aus der engen Eihülle zu befreien. Erfreut über meine Anstrengungen war ich jedoch nicht, denn ich fiel auf etwas Kaltes und der Raum war furchtbar hell.
Die Bäuerin kam herein und bestaunte nicht nur mich, sondern auch eine ganze Menge anderer kleiner Wesen, die sich aus den Schalen gekämpft hatten. "Schau", sagte sie zu ihrem Sohn Hendrik, "wie viele Küken geschlüpft sind, bald haben wir einen sehr großen Hühnerhof."
Damit wusste ich nun, dass wir Küken genannt wurden, auf einem Hühnerhof lebten und von der freundlichen Frau versorgt wurden. Die Bäuerin nahm mich ganz vorsichtig in ihre warmen großen Hände und setzte mich auf die Erde. Da ich noch immer nass war, fror ich schrecklich. Ich zappelte hin und her und versuchte auf meinen doch recht kleinen und dünnen Beinchen zu stehen. Es hat wohl eine Weile gedauert, bis mir dieses Kunststück gelang. Denn es war wirklich ein Kunststück, sich aufrecht zu halten und nicht immer wieder umzufallen. Aber ich habe es dann geschafft und war mächtig stolz auf mein Können. Das viele Zappeln, Umfallen und wieder Aufstehen hat mich trocken werden lassen und ich konnte auf Entdeckungsreise gehen.
Der Raum war riesig, hoch und hell. Ich fand recht schnell etwas zu trinken und zu fressen. Viele Küken liefen mit mir um die Wette, denn jeder wollte der Erste an der Futterstelle sein. Aber die Bäuerin hatte für alle gesorgt. Keiner musste hungern oder verdursten. Sie war wirklich eine sehr liebe Frau.
Es folgten viele Tage und sogar Wochen mit Schlafen, Essen und Trinken und ich wurde groß und größer. Aus meinem anfänglichen Piepen wurde jetzt ein lautes Gackern. Bis eines Tages die Bäuerin das große Hallentor öffnete und ich etwas Grünes auf der Erde und etwas Weißes am Himmel sehen konnte. Sehr viel später habe ich dann durch Hendrik hören können, dass sie das Grüne mit Gras, und das Weiße am Himmel mit Wolken benennen.
Das Gras war saftig und zart und in der weichen Erde konnte ich herrlich scharren. Dabei erschienen mir auch manchmal kleine Krabbeltiere, die, wenn sie nicht schnell genug wieder in den Boden zurückkriechen konnten, von mir geschnappt wurden. Aber so manches mal musste ich mich tüchtig recken, bekam fast einen langen Hals, weil sie eben so lang und glitschig waren. Trotz aller Mühen, sie waren einfach sehr lecker.
Und so wurde aus mir, dem kleinen Küken, eine große weiße Henne, mit einem kleinen Unterschied zu den anderen Hühnern, die im Garten und auf der Wiese herumliefen; ich hatte eine dunkelblaue Feder. Abends, wenn die Bäuerin alle Hühner in den Stall trieb und wir auf unseren Sitzstangen saßen, hörte ich sie von meiner Besonderheit erzählen. Stolz konnte ich über meine blaue Feder nicht gerade sein, denn viele gackerten über mich.
Dann kam der Tag, an dem ich mit viel Mühe mein erstes Ei gelegt habe. Es war größer als das der anderen Hühner, und die Bäuerin war hierüber entzückt. Sie nahm mich und mein Ei in ihre Hände und trug mich in einen Stall, an dessen Wänden viele Kästen zu sehen waren. In eine dieser Holzboxen setzte sie mich hinein, streichelte nochmal meine Feder und ging fort. Nur etwas veränderte sich, sie kam das von mir gelegte Ei nicht abholen, so wie sie es bei allen anderen Nistplätzen tat.
Der Kasten war in weiches Stroh gebettet und ich döste nun vor mich hin. Nur zum Trinken und Fressen verließ ich mein Bett, ahnte ich doch, dass etwas merkwürdiges passieren würde. So verlief mein Hühnerleben einige Wochen.
Aber dann, an einem recht heißen Sommermorgen bewegte sich das Ei unter mir, die Schale platzte auf ich sah ein Küken, nein mein Küken, mit tiefblauen Federn und einem zitronengelben Schnabel, das auch noch emsig hin und her hüpfte. Mein Schrecken war riesig, hatte ich doch auf dem Hühnerhof eine solche Farbe noch nie gesehen. " Du musst nicht traurig sein, dass ich anders aussehe", sagte es plötzlich, " du sollst wissen, dass du bestimmt warst, mich zur 'Welt zu bringen. Ich bin kein Küken, sondern ein Geist, der hier auf der Erde leben muss. Im Geisterland der Hähne und Hennen werden nur die Stärksten ausgesucht, und auf die Erde geschickt. Ich werde noch heute Nacht von dir wegfliegen, um von einem hohen Berg die Erde betrachten zu können."
"Du kannst bereits fliegen?", wollte ich wissen."Ja, ich bin doch ein Geist und der kann einfach alles." "Hast du vielleicht auch einen Namen", wollte ich wissen. "Im Geisterland nennt man mich
NADO, DEN BLAUEN GEIST!" " und wo liegt das Geisterland", fragte ich weiter." " Das Geisterland ist ein riesiges großes Schloss in dem viele rote Hähne, rote Hennen und rote Küken leben. Nur ich habe blaue Federn. Deshalb habe ich auch besondere Fähigkeiten. In diesem Schloss leben auch noch Elfen, Gnome und ganz kleine hutzelige Zwerge, die sich den ganzen Tag streiten.
Auf den Treppen springen rosafarbene Frösche mit riesigen Augen und lautem Gequake. Im Turmzimmer sitzt ein grüner Schimpanse der ständig von einem Deckenbalken zum anderen springt und in den Kellergewölben rennen hunderte von gelben Spinnen um die Wette. Alle versuchen friedlich miteinander zu leben. Sollte es mir jedoch zu laut und heftig werden, rausche ich über sie hinweg, schlage kräftig mit meinen Flügeln, und schon kehrt wieder Ruhe und Frieden ein."
Über diese Geschichte dachte Henne Berta ängstlich nach und wurde dann noch ängstlicher, als sie in ihrem Nest langsam angehoben wurde, das kleine blaue Küken die Federn spreizte und dabei immer größer und größer wurde. Mit gewaltigen Flügelschlägen hob, das vorher noch sehr kleine blaue Küken, gegen die Stalldecke und verschwand durch die große Luke.
Henne Berta war traurig, als am anderen Morgen die Bäuerin nach ihr schaute, sie aus dem Kasten hob und wieder auf die Wiese trug. Inzwischen liefen hier auch Gänse und Enten, die um die Wette schnatterten. Die Hennen mit ihren zahlreichen Küken kamen herbeigelaufen und gackerten Henne Berta lachend aus. Schließlich war sie alleine und darüber sehr traurig. Sie verkroch sich unter einem Himbeerstrauch und blieb dort sitzen. Selbst die Gänse und Enten kamen jetzt herangewatschelt und wollten sie aus ihrem Versteck vertreiben.
Henne Berta verkroch sich tagelang - immer wieder - in ihre Mulde unter dem Strauch, mochte gar nicht mehr fressen, selbst die Regenwürmer sah sie nicht mehr. Sie wurde dünner und trauriger. Während sie da saß fiel ihr ein, dass vielleicht die blaue Feder Schuld haben könnte. Deshalb packte sie die Feder mit ihrem Schnabel und versuchte sie herauszureißen. Leider vergebens, sie blieb stecken.
Der Gedanke an ihrem Küken, das sie so schnell verlassen hatte, machte sie noch trauriger und auch etwas böse." Warum musstest du mich so schnell verlassen, bin ich dir etwas gleichgültig geworden?"
Dabei bemerkte niemand den großen blauen Vogel, der im oberen Wipfel eines Apfelbaumes saß. Mit gewaltigen Flügelschlägen senkte er sich zur Erde und überflog die erschrockene Gefiederschar. Zuerst ertönte ein lautes Krächzen und dann rief er:
"ich bin NADO, DER BLAUE GEIST
ich habe gesehen und gehört, dass ihr Henne Berta aus eurer Mitte ausgeschlossen habt, weil sie kein Küken mit sich führt und durch ihre blaue Feder anders aussieht. Auch ich sehe durch meine blauen Federn anders aus, würde aber in meinem Geisterschloss, in dem ich lebe, niemanden verstoßen, denn dort lebt eine gemischte bunte Tierschar. Ab sofort werdet ihr Henne Berta wieder in eure Gemeinschaft aufnehmen und friedlich miteinander leben."
Betroffen schüttelte die Gefiederschar ihre Köpfe, gackerten und schnatterten ganz leise und schüchtern und versprachen, Henne Berta wieder in ihre Mitte zu nehmen.
"Ich werde euch immer an dieses Versprechen erinnern", dröhnte NADA, DER BLAUE GEIST, entschwand zwischen den Obstbäumen und erhob sich in die Lüfte.
Seitdem leben alle Hühner, Gänse und Enten friedlich nebeneinander, und wer dies nicht glauben mag, sollte doch mal einen Bauernhof besuchen.
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2016
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