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01

Der Kräutigam

 

Der Geräteschuppen hinter dem Haus trug ein mit spärlichem Licht beleuchtetes Geheimnis in sich. Pflanzenlicht und eine hohe Luftfeuchtigkeit sorgten zusammen mit einem erdigen Geruch für eine etwas makabere Atmosphäre mit botanischer Note. Sie erinnerte Hans immer wieder an das zeitlich begrenzte irdische Dasein, welches er schon bald in Reichtum zu genießen dachte. Sein verdreckter, mit Humus beschmierter Trainingsanzug sorgte für eine gut funktionierende Transpiranz und ließ den dreißigjährigen Hobbygärtner immer schon nach wenigen Minuten Durst verspüren.

Dennoch widmete er sich mit Hingabe und penibler Fürsorge seiner kleinen Pflanzensammlung, die nahezu vollständig aus Hanfpflanzen bestand. Nach außen hin war der alte, baufällige Geräteschuppen im Garten hinter dem Haus ein wackliges Gebilde aus Holzbalken und bröckelnden Ziegelsteinen. Unter dieser Unscheinbarkeit verbarg sich aber ein Geheimnis, dass sich dem Besucher mit einer hellwach machenden Plötzlichkeit offenbaren konnte, wenn er versäumte, den Lichtschalter zu betätigen und sich im schummrigen Halbdunkel vorwärts tastete. Eine steile Treppe mit schmalen Stufen führte in einen unterirdischen Raum von der Größe einer Doppelgarage. Die Wände waren mit Holzbalken versehen worden, die sie zu stützen schienen. Der Boden war zum Teil ein großes bepflanztes Beet, im hinteren Teil dieses Raumes standen die Pflanzen auf riesigen Tischflächen wie in einem richtigen Treibhaus. Die Tageslichtlampen, der ganze Stolz des cannabissigen Hanfflüsterers, verbrauchten nicht ganz so viel Strom, da sie über LEDs verfügten. Es hatte viel Schweiß gekostet, die Elektrik hier unten zu installieren, damit es seine winzigen Zöglinge auch hell und warm hatten.

 

„Wachst nur, meine Lieben!“, begrüßte Hans seine grünen kleinen Freunde, die eben erst ihre ersten zarten Blätter vorsichtig von sich streckten, so, als wollten sie diese Umgebung erstmal ertasten.

„Hey Grasmann? Bist du da?“, ertönte plötzlich eine rauhe Frauenstimme. Der Pflanzen gießende Mann, dem diese Frage galt, verdrehte die Augen, blickte zur Treppe und rief: „Für dich doch immer, Herrin aller Dildos!“ Angesichts seines Scherzes musst er sich ein Lachen verkneifen, ach wie liebte er es, Oma Hilde zu foppen. Eine Sechzigjährige schritt majestätisch die Treppe hinab, es konnte auch sein, dass dieses würdevolle Tempo an ihrer Thrombose lag. Sie war mit einem schwarzen, engen Lederwams, einer Peitsche und hohen schwarzen Lederstiefeln ausgestattet, die merkwürdig wulstig wirkten. Ihre schlohweißen, schulterlangen Haare passten gut zu ihrem Make up, das aus schwarzem Lippenstift und bordeauxrotem Lidschatten bestand. „Wie viel Tonnen Gesichtscreme hast du denn heute wieder verbraucht?“, scherzte Hans bei ihrem Anblick.

„Papperlapapp, du Nichtsnutz. Ich brauche die Ware eher.“ Ihre Stimme klang kühl und sachlich.

 

Er kam näher, sah sie grinsend an und bemerkte, sie habe wohl die Augenbrauen für ihre Lippen gehalten und sich mit dem Wimpernschwärzer die Fresse verziert, oder vielleicht doch nur Briketts gegessen. Hilde strafte ihn mit dem Blick einer Oberschullehrerin.

„Wieviel?“ ,wollte er schließlich wissen.

„Ein Pfund!“ Ihm war heute albern zumute, deswegen antwortete er provokant: „Ich will nicht wissen, wie viel du zugenommen hast. Also im Ernst, wie viel brauchst du?“

Jetzt trat die Leder-Oma dicht an ihn heran und fauchte: „Pass mal auf, Jungchen. Ich lass dich auffliegen wie einen Schmetterling am Morgen, wenn du hier weiter den Clown spielst. Ein Pfund zu je 100 Gramm, zum selben Preis wie immer. Jetzt und hier!“

„Tss-ss, was du da verlangst! Ich habe es noch nicht vorbereitet. Komm morgen wieder. Morgen war abgesprochen. Heute ist erst Freitag, du schwarze Mamba!“

Hilde schritt mit einem leichten Humpeln an den Pflanzreihen entlang, die Setzlinge mit geringschätzigem Lächeln musternd. Was, wenn ich ihn um ein paar Stauden erleichtere, überlegte sie und verwarf den Gedanken wieder, an den weiteren Verlauf der Geschäftsbeziehung denkend. Stattdessen schnappte sie den erschrockenen Gärtner von hinten, wirbelte ihn an den Schultern herum und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf den vor Erstaunen halb geöffneten Mund. Spielerisch kraulte sie ihm das Kinn und bot ihm an: „Ich könnte Hanna vorbeischicken, in zwei Stunden. Außertariflich, natürlich. Wie du sie bezahlst, überlasse ich dir, tust du es mit der Ware, zahle ich dir zehn Prozent mehr als verabredet. Zahlst du mit Geld, kriegst du für die Ware zwanzig Prozent weniger, Schatzi. Na, ist das kein Anreiz?“ Oma Hilde zwinkerte ihm mit ihren falschen Wimpern zu und humpelte, bemüht lasziv mit den Hüften zu wackeln, der Treppe entgegen.

Hans war das Wort im Munde stecken geblieben, völlig gebannt starrte er der alten Halbtagspuffmutter nach und sah, wie sie sich an der Treppe umwandte.

„Ich bin vielleicht ein Arschloch, aber kein Unmensch. Sagen wir, in drei Stunden, ja?“

„ooh….kay?“, flüsterte Hans geistesabwesend. Was bitte war das denn eben für ein Auftritt gewesen? Steckte Hilde etwa in der Klemme?

 

 

02

 

Er beeilte sich, zurück ins Haus zu kommen, sobald die verrückte Alte aus seinem grünen Gewölbe verschwunden war. Nun hatte er Hanna gleich am Hals, aus der er sich so gar nichts machte. Hätte ihm Hilde nicht ihren gerade volljährigen Enkel Marc anbieten können? Schlanke, sportliche Männer redeten meistens nicht viel, kamen schnell auf den Punkt - und zur Sache.

Hildes Hostessen hingegen waren vollschlank, nur manchmal sportlich, Plappermäuler und teuer.

Junge Männer wie Marc hingegen mit seinem dunklen, exotischen Teint und seinen unschuldigen braunen Rehaugen faszinierten Hans, der ihm jedes Mal mit selbst auferlegter diskreter Neugier hinterherschmachtete, wenn er ihm begegnete.

 

Gerade hatte er die Lieferung für Hilde abgewogen und eingepackt, als jemand an die Außentür klopfte. „Wer ist da?“, rief er. War das etwa schon diese Hanna? „Meinen Namen kann ich Ihnen nicht sagen, er steht zwar in meinem Ausweis, aber ich kann nicht lesen!“, antwortete eine wehrlos klingende Frauenstimme. Dieses unschuldige Wesen hatte Hans allein durch seine Stimme für sich eingenommen, also öffnete er die Tür. Und ich stehe doch auf Frauen, dachte er, überrascht über Hannas Schönheit. Sie war weder vollschlank noch alt. Er erinnerte sich, dass sie als Kinder in unmittelbarer Nachbarschaft einige Jahre in derselben Gasse gewohnt hatten. Sie musste sieben, acht Jahre jünger sein und hatte ihn damals immer ein wenig angehimmelt, wie einen großen Bruder.

Der Deal mit Hilde, dem er eigentlich gar nicht zugestimmt hatte, fiel ihm wieder ein. „Du bist …. ähm groß geworden.“, stammelte er, womit er eher ihre Oberweite meinte, an der sein bewundernder Blick nicht vorbeikam. „Ich kenne dich noch als kleines Mädchen. Wie alt bist du jetzt?“ „Zweiundzwanzig“, lispelte sie mit zuckersüßem Lächeln.

 

Hans bat sie hinein und wollte wissen, wieso sie für Peitschenhilde arbeitete. Sich selbst bedauernd berichtete Hanna, sie brauche Geld fürs Studium, und Oma Hilde zahle gut, bisher seien die Gefälligkeiten auch nicht der Rede wert gewesen, die sie ihr aufzutragen pflegte. Heute allerdings – und dabei schmiegte sie sich an den Pflanzenhans – sei es ihr Wunsch gewesen, ihn, Hans zu besuchen.

 

Hans, der schon immer schlecht nein sagen konnte, ließ sie herein und genoss es zu seiner eigenen Verwunderung, als sie ihm näher kam. Als es hinterher ums Bezahlen ging, zögerte er. Die Entscheidung, ob er ihr Hildes Bestellung mitgeben sollte, fiel ihm schwer. Er vertraute Hilde, die wie manch andere schräge Kreatur in diesem Örtchen zu seinen jahrelangen Stammkunden zählte, das also war es nicht, was ihn beschäftigte.

 

„Ich werde mit dem Unsinn aufhören, bald schon. Ein Immobilieninvestor und angehender Schlossherr hat mich für seinen riesigen Garten und ein paar Hektar Ackerland angeworben“, erklärte er der Glücksbotin Hanna. „Und ich dachte, du bist so ein böser Bube, der Millionär werden will mit seinem florierenden Geschäft“, antwortete sie enttäuscht, erhob sich, stieg aus dem Bett und kleidete sich an. „Du bist auch nur so ein kleines Licht wie alle anderen Lohnsteuerzahler.“

„Meine paar Kunden habe ich längst überversorgt, da ist kaum noch Gewinn für mich drin. Und dann die Zahlungsmoral mancher Schlitzohren … Da fließt das Geld unregelmäßig, aber ich habe Ausgaben.“

„Dann expandiere!“, rief sie entrüstet. Hans schüttelte den Kopf. „Ich werde regelmäßig bezahlt, kriege Unterkunft und Mahlzeiten umsonst und bin der Boss im Freien. Ich habe freie Hand im Garten und auf dem Feld. Mehr als acht Stunden muss ich nicht arbeiten, es sei denn, es ist Erntezeit. Und ich wohne in einem richtigen kleinen Haus im Schlosspark.“

 

„Hilde wird dir das nicht durchgehen lassen. Sie wird dir helfen, zu expandieren, neue Kunden zu gewinnen. Du musst in die Stadt, paar Leuten Joints andrehen und ihnen dann deine Visitenkarte geben. Oder was auch immer in der Art.“

Sein Plan stand fest. In den nächsten Tagen würde Hans alles ernten, was ging und an seinen hochrangigsten Kunden, den Bürgermeister, verhökern.

Er drückte Hanna die Ware in die Hand. „Sag der Lederhilde, ich liebe sie, aber das ist die letzte Lieferung. In zwei Wochen ist hier Sense.“

 

Hanna packte plötzlich einen Stapel Geldscheine auf den Flurtisch. „Meine liebe Chefin zahlt immer pünktlich. Und ihr Bedarf wird wieder steigen, versprochen. Sie hat ein derzeit kleines Klientel, aber du bist ihre Hauptquelle.“

„Ich bin ihre einzige Quelle.“

„Sie ist dran an der Sache. Du kennst doch den zugezogenen Psychofritzen.“

„Den Psychopathen?“

„Ich glaube, das heißt Psychiater. Der braucht etwas für seine Bekloppten.“

Das genügte Hans zuerst nicht, aber er wurde nun nachdenklich. Einige Sekunden schwieg er. „Okay. Eine Woche. Tut sich dann nichts in Sachen Bestellung, fliegen die Kräuter aus dem Boden.“ Just in dem Moment, als er es gesagt hatte, bereute er seine Nachgiebigkeit.

 

In der folgenden Nacht stiefelte er wieder hinab zu seinen Pflanzen, weil er keinen Schlaf fand. Hanna hatte es ihm im Bett besorgt, und sie würde es ihm geschäftlich auch besorgen, das größere Klientel, wie sie es ausdrückte. Der neue Psychiater im Ort, dessen Praxis am Marktplatz zu florieren schien, war in der Tat ein aussichtsreicher Abnehmer. Versonnen betrachtete Hans das Grünzeug. Was sollte er tun? Wie viele Patienten mochte dieser durchgeknallte Strickpulloverträger mit Nickelbrille und Doktortitel wohl so in einer Woche abfertigen? Gedankenversunken beschnitt er einige Pflanzen, als er von oben ein Geräusch wahrnahm. Das schien vom Eingang des Schuppens her zu kommen. Hans näherte sich der Treppe und wurde von einem ihm entgegen polternden maskierten Burschen überrascht, der ihn mit einem Fußtritt ins Gesicht von der Treppe hinunter stieß. „Was soll das? Wer bist du?“

Der schwarz bekleidete Eindringling schwieg und machte sich an den Pflanzen zu schaffen. Hans sprang auf und stürzte sich von hinten auf den Mann, wobei er versuchte, dem Fremden die Skimaske vom Gesicht zu zerren. Deswegen erntete er einige gezielte Faustschläge in Gesicht und Magen, so dass er erneut zusammen sackte.

Als er Minuten später wieder zu sich kam, war er alleine. Unter Schmerzen richtete er sich auf und sah sich die Bescherung an. So an die dreißig Pflanzen waren rausgerissen und zur Beute des Einbrechers geworden, Ein vierstelliger Betrag, rechnete Hans nach. So viel hätten sie ihm eingebracht.

 

Am nächsten Tag besuchte er einen seiner Nachbarn, der Hunde züchtete. Sein Entschluss stand fest: Das Geheimnis des Schuppens war keines mehr, also musste er bewacht werden.

 

 

03

 

Anzeigen konnte und wollte Hans den Einbruch aus verständlichen Gründen nicht. Aber wenn fortan ein mächtiger Kampfhund sein Grundstück bewachte, würde er sicher sein vor diesen Halunken. Er selbst war natürlich keiner, nur weil er im Verborgenen gärtnerte, vielmehr war die Aufzucht und Hege dieser medizinisch wertvollen Pflanzen völlig zu Unrecht illegal. Alkohol und Nikotin, so befand Hans, waren viel mächtigere und zudem legale Drogen, deren Herstellung auch nicht verboten war.

 

Schlimm war nur, dass Hans als Hänschen mal von einem Hund gebissen und bei der Gelegenheit mit einer Hundephobie infiziert wurde, was sein jetziges Vorhaben etwas erschwerte. Respektvoll, die Sinne hellwach und die Nerven zum Zerreißen gespannt näherte er sich dem Grundstück des Hundezüchters.

Wilhelm, ein grummeliger Mittfünfziger, der rumlief als sei er bereits achtzig, erschien grinsend in der Eingangstür, trug eine verbeulte Manchesterhose mit mächtigen Hosenträgern und einen alten Strohhut.

„Was´n los, Kollege Grünfinger?“, rief er dem vor der Gartentür wartenden Besucher zu. „Morgen, Wilhelm. Kannst du mal deine Hunde zurückpfeifen?“

Hans blickte angstvoll auf den Schäferhund und die Dogge, die sich gerade anschickte, mit einem Satz die Pforte zu überwinden. Ein greller Pfiff, und die Hunde verstummten, machten aber keine Anstalten, auch nur einen Schritt zurückzuweichen.

 

„Na komm schon Hansi, geh einfach drauf los. Ganz selbstsicher. Die tun dir nichts.“

„Ich weiß nicht …“

Wilhelm seufzte, setzte sich schlurfend in Bewegung und kam auf den Besucher zu, während die Hunde ihm auf dem Fuße folgten. Er öffnete Hans die Gartenpforte, verwies die Hunde hinter das Haus und wollte wissen, was es denn gäbe. Hans erklärte, er wolle sich einen Hund zulegen und löste so bei Wilhelm einen Lachanfall aus. Der nahm den Strohhut ab und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

 

Wenig später saßen die beiden Nachbarn in der Stube bei einer Flasche Bier. Hans berichtete unter dem Siegel der Verschwiegenheit vom Einbruch und wies auf sein blaues Auge hin.

Wilhelm stand auf und ging mit Hans zu den Hundezwingern. „Es reicht doch, wenn dein Hund gefährlich aussieht. Wenn er dann auch noch knurrt und bellt, werden deine ungebetenen Gäste schon abhauen. Ich habe da was für dich, denke ich. Du musst dich aber trauen, dich mit ihm anzufreunden.“

 

Und Wilhelm öffnete einen Zwinger, in dem einer dieser hässlichen muskulösen Weißwurstkampfratten um einen Spaziergang warb, indem die Kreatur am Gitter Männchen machte, wobei man sah, dass es auch eins war.

„Das ist Tarzan. Tarzan ist ganz in Ordnung für einen Pittbull , er hat mit zwei Jahren alle Zähne verloren, kann also kaum beißen, eher kneift er einen mit dem Mund. Aber ansonsten ist er doch ein stattlicher Bursche, oder?“ Züchterstolz lag in Wilhelms Stimme. Hans, dessen Vorstellung von einem stattlichen Burschen eher so in Marc´s Richtung ging, nickte verhalten und trat einen Schritt zurück. Unter vielem Zureden von Wilhelm und mit einer Handvoll Leckerlis traute er sich schließlich näher an das Tier heran. Der Hund blieb ruhig, zumal sein Herrchen dabei und augenscheinlich ebenfalls entspannt war.

 

Zwei Stunden später, nachdem Hans genaue Tipps und Hinweise zu Tarzans Gewohnheiten erhalten und mit Wilhelms Begleitung den Rückweg angetreten hatte, dachte er fast nicht mehr an seine Angst. Wilhelm hatte sich eine besondere Währung als Bezahlung erbeten, da er wohl merkte, dass Hans ernsthaft über seinen Schatten springen und trotz seines Kindheitstraumas einen Hund haben wollte. Tarzan hatte nichts weiter zu tun, als zu bellen, zu knurren und bedrohlich auszusehen, wann immer unangemeldete Besucher bei Hans auftauchten. Wilhelm überzeugte sich davon, dass sein weißer muskelbepackter Heckenpinkler genug Auslauf und das richtige Fressen bekam, gab Hans ein paar Tipps und bat dann zur Kasse. Grinsend nahm er das Gras und verstaute es in einem Faltbeutel, unter Hundefutter und der Tageszeitung.

„Lass dich nicht erwischen und behalte das bitte für dich!“, beschwor Hans ihn.

„Keine Angst, so sieht es aus, als käme ich vom Einkauf. Und davon“ – er wies auf den Beutel – „davon kriegt gewiss keiner was ab. Dafür bin ich viel zu egoistisch.“ Er gab dem neuen Herrchen von Tarzan die Hand, während der Hund zu den Männern aufsah. Mit dem Gefühl, ein gutes Geschäft gemacht und zudem Nachbarschaftshilfe geleistet zu haben, stapfte Wilhelm zufrieden los.

 

 

04

An diesem Abend, Hans war eben mit dem Füttern des Hundes fertig geworden, fuhr ein alter Ford vor und bremste quietschend vor seinem Haus. Er sah es vom Fenster aus und beobachtete, wie Hildes Enkel Marc ausstieg. Sein Herz schlug schneller, obwohl er sich zugleich fragte, ob wohl Oma Hilde ihn schickte und um was es diesmal ging. Jetzt bewährte sich aber Tarzan das erste mal und kam bedrohlich schnell zur Pforte geschossen, lautstark den Gast anmeldend. Hans beruhigte seinen zahnlosen Wächter und schickte ihn mit einem Leckerli hinter das Haus.

„Entschuldige, man muss heutzutage auf der Hut sein“, begann er und bat Marc herein. „Kommst du von Hilde? Was will sie?“

„Sie hat den Psychiater als Kunden aufgetan. Aber der will nur mit dir verhandeln. Und der Bürgermeister sagt auch, so geht es nicht mehr weiter.“

Hans schob dem Gast seine frisch gebackenen Kekse hin.

„Greif zu. Willst du einen Kaffee?“ Marc überlegte kurz, blickte auf seine Armbanduhr und stimmte schließlich zu.

„Was meint unser Oberster damit, so kann es nicht weitergehen?“, rief Hans aus der Küche, während sein Gast sich bei den Keksen bediente.

„Er braucht auch mehr, will sich bevorraten, um nicht dauernd vergebens zu versuchen, Oma oder dich zu erreichen.“ Hans fuhr herum, denn Marc stand hinter ihm, einen angebissenen Keks in der Hand. „Die sind lecker, wirklich gut.“ „Ich weiß.“ Hans trug das Tablett mit den Tassen in das Wohnzimmer, Marc folgte ihm. Ob er nun etwa alles gleich mitnehmen solle, das ganze Gras, wollte Hans noch wissen.

„Ach wo, gesagt hat Oma nichts dergleichen. Obwohl, wenn du schon was griffbereit hast… Wenn ich so ganz ohne zurückkomme, wird sie wohl auch gnatzig sein.“, überlegte Marc kauend. Du kommst nicht ohne heim, mein Hübscher, dafür ist es zu spät, dachte Hans, als er ihn beherzt von den Keksen abbeißen sah. „Tut mir leid, derzeit habe ich nichts. Ich muss erst wieder schauen, ob ich etwas abernten kann.“ Marc lachte plötzlich los. „Ja klar, abernten, so richtig mit Mähdrescher und so… haha“, prustete er und griff zum nächsten Keks. „Naja, wenn du willst, bleib noch ein wenig hier und hilf mir nachher“, bot der durchtriebene Gastgeber ihm an. Marc, durch eine besondere Zutat in den Keksen nun in Stimmung gekommen, hielt ihm die Hand drauf hin und Hans schlug ein. Amüsiert genoss er den Anblick des kichernden Burschen, der ein paar Kekse für den Hund mitnehmen wollte, die Hans ihm abnahm und in der Hand behielt, als sie die Stube verließen. Im Vorbeigehen deponierte er sie auf einer alten Porzellanschale im Flur, griff nach einer halb zerdrückten Zigarettenschachtel und bot Marc im Hinausgehen eine nach besonderem Verfahren Selbstgedrehte an. Der war in redseliger Stimmung und griff mechanisch zu, ohne die besonderen Glimmstengel eines näheren Blickes zu würdigen. Er erzählte von Oma Hilde und dem Psychiater, wunderte sich, dass Hans keine Angst mehr vor Hunden zu haben schien, da er nun doch so ein dickes Albinovieh habe, bemerkte, dass ihm etwas blümerant wurde vom Rauchen und fiel schließlich lachend im Schuppen die Treppe herunter. Hans stützte den verwirrt dreinschauenden Gast und hievte ihn wieder die Treppe hinauf. Das Hanf konnte warten. Was hatte er nur getan? Was würde passieren, wenn er nun den nächsten Schritt ginge? Versonnen sah er den bekifften Jungen an, wie der so selig schlafend neben ihm auf dem Bett ruhte, bis der sich plötzlich rekelte. Hans erstarrte, als Marc scheinbar ohne wach zu werden nach seiner Hand griff und diese unter seine Wange schob. Jetzt fühlte er sich ertappt. Das aber war es doch, wovon er geträumt hatte! Oder nicht? Welche Wahl hatte er jetzt? Sollte er ihn wecken? Würde Hilde ihren Enkel nicht bereits ungeduldig erwarten?

 

Am nächsten Morgen erwachten Hans und Marc nebeneinander im Doppelbett, und beiden fiel der im Zimmer wie eine Glocke stehende kalte Rauch auf, der vom Sonnenlicht durchflutet wurde, welches durch die alten holzumrahmten Doppelfenster hereinbrach.

 

 

05

 

Marc hatte augenscheinlich mit Kopfschmerzen zu kämpfen, und stirnrunzelnd sah er Hans an. „Musste das sein? Das bleibt unter uns, klar?“ Hans erschrak, und er befürchtete, dass Marc davon sprach, dass es passiert war. Sollte er leugnen? Zustimmen? Von nichts eine Ahnung haben? Fakt war: Er erinnerte sich an nichts, war aber ohne Hose aufgewacht, ebenso wie Marc. Wenigstens waren nirgends irgendwelche verräterischen Flecke auf Laken und Bettdecke. Also stimmte er schnell zu: „ Genau. Es ist ja auch nichts passiert. Spät geworden gestern, sonst nichts.“ Marc fuhr sich durch sein dichtes Haar und zündete sich wie selbstverständlich eine jener besonderen Zigaretten an. Hans registrierte das, war aber zu sehr mit sich beschäftigt, um zu widersprechen. „Morgen rede ich mit dem Psychofritzen“, begann Marc. „Ich sende dir dann zwei Zahlen per SMS. Die erste ist die Menge in Pfund, die zweite der Preis, den er zahlen will.“

 

„Moment mal, ich denke, der will nur mit mir reden?“

„Naja, ich habe ihm angeboten, dich zu fragen. Und nun erwartet er eine Antwort von dir oder mir.“

Um Verluste zu vermeiden, denn Hans war Geschäftsmann durch und durch, hatte er Hanna die Lieferung für Hilde natürlich mitgegeben. Das Mädchen hatte darauf gesetzt und natürlich den entsprechenden Preis zuzüglich eines üppigen Expresslieferzuschlages in großen Scheinen auf den Tisch gepackt. Wenn nun Marc auch noch etwas Zeug mitnehmen sollte, dann wurde es eng für Hans. Er fuhr seinen immer noch leicht weggetretenen heimlichen Lieblingsgast in die Stadt und ließ ihn am Bahnhof aussteigen. So vermied er es, bei und mit Oma Hilde gesehen zu werden, die ihr Lokal in einer Seitengasse betrieb und einige darüber liegende Zimmer zur Übernachtung mit oder ohne diskrete Gesellschaft vermietete. Über ihre weiblichen Angestellten pflegte sie augenzwinkernd zu sagen, es seien keine Nutten, sondern grundanständige Schlampen, die wüssten wo der Frosch die Locken habe und man das Rasiermesser ansetzen müsse. Es ging das Gerücht, sie sei auch mal eine Art Kräuterhexe gewesen und so passte es zu ihr, dass sie nun als Vermittlerin weiterhin in der Heilkräuterkunde eine Art Außendienstjob versah.

 

Die gewiefte Tausendsassarin dachte nicht an Rente und verdiente gern überall ein wenig mit, wo es sich anbot. Hans profitierte von ihrem riesigen Bekanntenkreis und ihrem Netzwerk, sorgte sich aber schon seit einiger Zeit um die wachsende Gefahr, aufzufliegen. Es musste nur einer der Mitwisser sein Maul aufmachen – Hilde, Hanna, Wilhelm, Marc, der Bürgermeister und scheinbar nun auch der neue Psychiater – dann war er geliefert. Natürlich waren sie alle auch Konsumenten, aber das eine schloss das andere nicht aus.

 

Wieder zurück im Dorf, an dessen Rand Hans es sich so richtig ländlich gemütlich gemacht hatte mit seinem Grundstück, seinem alten, schlecht verputzten Haus und dem geheimnisvollen riesigen Geräteschuppen hinter dem Haupthaus, beschloss er, sich den Psychiater mal näher anzusehen und betrat die Praxis. Eine mürrische dicke Kaugummi kauende Frau stand hinter einem Empfangstresen und blätterte gelangweilt in einer „Man´s Health“. Die ist sicher nicht auf der Suche nach Gesundheitstipps für Männer, dachte Hans.

Ohne den eintretenden Besucher eines Blickes zu würdigen, fragte sie fordernd: „Was gibt´s denn?“ „Ich würde gern zum Doktor.“

„Nicht ohne Termin.“ Sie blätterte um und las weiter.

„Dann hätte ich gern einen. Einen für jetzt.“

„Tja, wer nicht?“ Hans ließ sich nicht provozieren. Er trat an den Tresen und setzte nun alles auf eine Karte. „Zigarette?“ Aus seiner Schachtel schaute eine Selbstgedrehte heraus, die auf eine ganz bestimmte Art selbstgedreht worden war.

Die Schnepfe blickte auf die Schachtel, ihr Gesicht wurde freundlich, dann sah sie Hans an und nahm den Joint dankend an.

„Es geht um einen geschäftlichen Termin? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ Und erstaunlich flink huschte sie hinter dem Tresen vor, klopfte kurz in einem bestimmten Rhythmus an die Tür des Sprechzimmers, lächelte Hans etwas schief an und verkündete: „Doktorchen kommt gleich. Ich bin dann mal eine rauchen!“ Damit verschwand sie nach draußen, und noch bevor Hans sich setzen konnte, stand ein schlacksiger Typ mit Nickelbrille und Wollpullover vor ihm. „Sie müssen jener Hans sein, von dem der Bürgermeister sprach.“

„Ich muss nicht, ich bin es gerne.“

„Haha, sehr schlagfertig. Wissen Sie, wie er sie nennt? Kräutigam.“

„Interessant. Ich habe aber nicht vor meine Kräuter zu ehelichen. Aber ich gebe zu, der Name hat was.“ Kräutigam. Das klang besser als Kräuterhexer. Bei der Namensgebung des schlacksigen Psychiaters musste auch etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, denn er stellte sich Hans als Bodo Dickermann vor und war das ganze Gegenteil: Lang wie eine Woche, dünn wie eine Lohntüte.

 

 

06

 

Der Praxisraum war ein relativ dunkles großes Zimmer mit Parkettfußboden. An einer Ecke des Raumes stand ein Schreibtisch mit Rechner und zwei Stühlen davor, einem Chefsessel dahinter. Das Ensemble wurde halb von einem weißen Vorhang verdeckt, der diese Ecke bei Bedarf optisch vom Rest des Raumes trennen konnte. Es drang nur wenig Tageslicht durch die drei vorhandenen schmalen Fenster. Hans sah sich um und fragte: „Keine Sportgeräte hier, keine Bücher? Ich meine so Medizinbälle, dicke Wälzer von Freud und so weiter…“

„Ach, das kommt noch. Ich mache aber keine Physiotherapie, bitte nicht verwechseln. Morgen wird die Patientencouch geliefert.“

Bodo verlor jede Scham, holte einen Fünfziger aus der Tasche, rollte ihn, setzte sich an den Schreibtisch, von welchem Hans zu weit entfernt stand, um das weiße Pulver darauf entdecken zu können, und führte den gerollten Schein zur Nase, während er sich über den Tisch beugte. Offenen Mundes starrte Hans auf den schniefenden Akademiker.

„Sagen Sie mir bitte, dass Sie nur an der Möbelpolitur riechen.“

„Meinetwegen: Ich rieche nur an der Möbelpolitur. War das so richtig?“ Zwei weiß umpuderte Nasenlöcher straften den Arzt Lügen. Hans schüttelte grinsend den Kopf.

„Wir sind hier doch unter uns, mein Freund“, beschwor Bodo Dickermann seinen zukünftigen Lieferanten und bat ihn mit einer Geste, näher zu treten, bevor er sich vergewisserte: „Ähm, nicht wahr: Das bleibt doch unter uns?“ „Das würde mir sowieso keiner schnauben … ähm, glauben.“ , antwortete Hans, völlig irritiert durch die weißen Nasenlöcher. Er deutete mit einer diskreten Kopfbewegung in deren Richtung: „Sie haben da… etwas… von der Möbelpolitur an der Nase.“

Bodo benutzte ein Papiertaschentuch und wechselte das Thema.

„Offiziell mache ich neuerdings Hausbesuche. So kann ich auch bei Ihnen vorbei schauen und wir können uns in gewissen Dingen direkt an Ort und Stelle einigen. Mich interessiert ihr nachhaltiger Anbau außerordentlich.“

„Das bringt mich auf eine Idee, Doktor.“

„Lassen Sie das, ich bin Bodo. Bodo Dickermann. Bin kein Doktor, sehe aber so aus, bin nicht dick, heiße aber so.“

„Hm. Steht das auf Ihrer Visitenkarte?“

„Auf deiner.“

„Was, auf meiner? Achso, Sie meinen, ich soll dich duzen, oder?“

„Genau. Und du bist von Beruf Hobbygärtner?“

„Kann man so sagen, und ich heiße Hans. Also, Bodo, zu meiner Idee: Ich suche einen Nachfolger für mein Geschäft und einen Käufer für mein Haus und Grundstück. Oder auch nur letzteres. Besuch mich gern, und wir quatschen an Ort und Stelle. Diskretion ist Ehrensache, oder?“

Der Arzt rückte seine Brille zurecht, nickte nur und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

 

„Dein Geschäft – wie genau nennt sich das? Heilkräuterhandel?“, scherzte Bodo und staunte, als sein Gegenüber nickte. Er könne es nennen, wie er wolle, es sei Pflanzenzucht und beinhalte den Handel mit Gewächsen aller Art, derzeit vornehmlich Kräutern, erklärte Hans, bemüht seriös und ernst zu klingen. Dieser zugegeben freundliche Nicht-Doktor kam ihm nicht geheuer vor, sein Bauchgefühl riet ihm zur Vorsicht. Er gab sich zu locker und kumpelhaft Hans gegenüber, den er eben erst persönlich kennengelernt hatte; es war, als führe Bodo Dickermann etwas im Schilde.

„Ich habe selten ein so vielseitiges Pflänzchen erlebt wie das, was du züchtest“, schwärmte Bodo und grinste.

„Ja, man kann Tee draus machen, Fluppen, Niespulver oder Salbe.“ Hans war schlagfertig, wenn es um seine Lieblingspflanze, den Hanf ging. „Aber Mohn, also roten Klatschmohn werde ich demnächst wohl eher züchten. Ich sattle um. Naja, immerhin kann man daraus wenigstens Opium gewinnen.“

 

„Wie … du sattelst echt um? Das war kein Witz?“

„Nein. Hab ein gutes Angebot bekommen. Dann wird wohl Schluss sein mit dem Heimlichtun und so halbseidenen Deals.“

Für eine Sekunde oder zwei sah der Psychiater enttäuscht aus, fasste sich aber und zeigte großes Interesse an dem Grundstück, welches Hans dann aufzugeben vorhatte, da er bald umziehen würde. Von dem geheimnisvollen Schuppen mit dem unterirdischen Hanfkeller und den wahnsinnig hohen Stromkosten wegen der vielen Pflanzenleuchten ahnte Bodo Dickermann nichts.

 

„Ich habe auch ein Anwesen erworben“, erzählte er Hans. Er fügte hinzu, es sei ein großes Grundstück, deswegen würde er eigentlich keinen weiteren Bedarf an Grundstücken haben, dennoch sei er neugierig. Auch sei er noch nie auf einer solchen Plantage gewesen. Hans zog die Augenbrauen hoch. Was hatte dieser Dickermann für Vorstellungen von der Größe seiner Zucht? Würde der wirklich dicht halten? Sein Gegenüber war unterdessen gedanklich schon beim nächsten Thema.

„Vermutlich werde ich mein Grundstück nicht allein bewirtschaften können, ich muss wohl jemanden einstellen. Dann könnte ich dir garantieren, dass der sich auch um dein Grundstück und dein Haus kümmert.“ Hans lenkte ein. „Wir werden sehen. Noch ist es nicht soweit.“Woher sollte Hans auch wissen, dass er hier seinem zukünftigen Arbeitgeber und Vermieter gegenübersaß? Auch Bodo Dickermann, der mit seinem Stellengesuch den Bürgermeister beauftragt hatte, ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er Hans bald als Bewerber um jene Stelle vor sich haben würde.

 

Auf dem Heimweg sah Hans dann Hanna in einen Buchladen gehen, bevor er sich bemerkbar machen konnte. Er folgte ihr und registrierte erstaunt, dass sie ihn ernst, beinahe mißbilligend ansah. Sie schien geweint zu haben. Von Wiedersehensfreude keine Spur.

Bevor er etwas sagen konnte, zischte sie ihn an: „Das wird ein Nachspiel haben!“ , und ließ ihn stehen. Hans dachte verzweifelt nach. Sie waren doch im Guten auseinander gegangen,

nach jener Nacht. Sie hatte sich mit einem Kuss von ihm verabschiedet. Was war inzwischen geschehen, das ihre Meinung von ihm ins Gegenteil verkehrt hatte?

 

Hans lenkte sich in seinem Schuppen mit der Arbeit an seinen Pflanzen ab, er erntete, wog ab, verpackte, bis kein Halm mehr aus der Erde schaute.

 

So vergingen ein paar Tage, bis Hans in das kleine Schloss eingeladen wurde zu einem Bewerbungsgespräch bei Kaffee und Kuchen. Als er die verschnörkelte Einladungskarte aus dem Umschlag nahm, fand er auf dieser zwei Unterschriften, die ihm bereits wohlvertraut waren: die des Bürgermeisters, der sich hier als Vermittler betätigt hatte und die des Psychiaters.

 

Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Ging es gar nicht um die Stelle, sondern wieder nur ums Geschäft?

 Er rief den Psychiater an, etwas, was er sonst nie tat, wenn es sich um seine Abnehmer handelte.

 

Nach dem Gespräch war nichts mehr wie vorher. Hans benötigte einen Augenblick, bis er merkte, dass er vor Überraschung noch den Hörer in der Hand hielt. Wer hätte das ahnen sollen? Der Besitzer des kleinen Schlosses, des dazugehörigen Parks und eines Grundstücks mit Wald und Ackerflächen von immerhin zwei Hektar war kein geringerer als – Bodo Dickermann. Bei ihm sollte Hans dann arbeiten, wohnen und unter Vertrag stehen? Er überlegte hin und her, was dieser Dickermann von ihm als seinen Mitarbeiter erwartete. Würde er den Chef oder den feinen Lord raushängen lassen? Oder hatte er es am Ende auf die Hanfzucht abgesehen?

 

Hans sprach nie von Gras, vom Dealen oder Kiffen. So gaukelte er sich und der Welt arglose Unwissenheit vor, spielte den einfältigen, harmlosen Narren und gab sich als gute Seele aus. Natürlich dealte er nicht, er arbeitete im Dienste der Gesundheit und verschaffte seinen Kunden Schmerzlinderung und Wohlbefinden durch sein Wunderkraut.

 

Das kleine Schloss war ein villenförmiges, langgestrecktes Gebäude mit einem prunkvollem Eingang, zwei erkerartigen Türmen auf der rechten und linken Seite des Daches und einer strahlenden sonnengelben Fassade. Beide Türme waren durch Türen und eine begehbare Loggia verbunden, die sich oberhalb des Vordaches über die gesamte obere Etage erstreckte.

Man konnte sie auch durch eine große gläserne Schiebetür in der oberen Etage betreten. Hans vermutete dahinter eins der Schlaf- oder Arbeitszimmer, denn der Blick musste traumhaft sein. Die Fenster ließen die Südsonne herein, wobei allerdings seltsam deplaziert wirkende Stoffrollos den Lichteinfall dämpften. Also Schlafzimmer, vielleicht auch für Gäste, glaubte Hans.

 

Es gab keinerlei Personal, zumindest bemühte sich der Psychiater und Schlossherr höchstselbst, seinen Gast zu empfangen und geleitete ihn nach einem unadeligen freundschaftlichen Schulterklopfer in ein Esszimmer, wo ihn der Bürgermeister am gedeckten Kaffeetisch erwartete.

 

Zur selben Zeit tummelte sich ein Aufgebot an Polizei und Reportern vor jenem Haus, das die Sicht auf den unscheinbaren Geräteschuppen mit dem grünen Geheimnis von der Straße aus verbarg.

 

Beamte durchkämmten den Garten, ohne auf Pflanzen oder Wege zu achten, führten Hunde mit sich und steuerten zielsicher auf den Schuppen zu.

 

Etwas abseits nahm Marc seine Freundin in den Arm und beschwichtigte sie. „Glaub mir , dieser ganze Bohei wäre nicht nötig gewesen! Da war nichts zwischen uns.“

„Ach nein?“, entgegnete sie, den Tränen nah. Sie schnaubte vor Wut.

„Hanna, er hat mich da in gar nichts reingezogen. Und die Fotos von meinem Auto vor seinem Haus beweisen gar nichts. Aber dass du ihn verpfeifst, das … das… ist so…“

„Na? Wie denn? Er kifft, er dealt, er nimmt die Leute aus und du steckst mit ihm unter einer Decke. Ich kann nicht mehr! Warum du? Marc! Warum du? Dieser Hans war schon immer ein Spinner, aber DU doch nicht.“ Hanna schluchzte und dann brach es aus ihr raus. Ihr „Ich liebe dich“ war kaum zu verstehen, so leise hatte sie es gesagt und ihn dabei angesehen.

 

Sie standen neben einem der Streifenwagen und wurden von einem der beamten gebeten, wieder einzusteigen. Hanna saß auf dem Beifahrersitz, Marc hinten. Der Beamte stieg ebenfalls ein und hielt Hanna ein Taschentuch hin. „Nochmal: Wie sind sie an die Fotos von dem Schuppen gekommen? Und ich rede von denen, die drinnen gemacht wurden.“

 

„Ich bin Marc gefolgt. Ich wusste davon, und als ich sah, dass er zu Hans fuhr, wollte ich ihn aufhalten. Wir hatten uns gezofft, aber ich wollte mich entschuldigen und das Kriegsbeil begraben.“

 

Von hintern mischte Marc sich ein: „Und dann hast du die ganze Nacht auf mein Auto gestarrt und gedacht, ich penne bei ihm?“

 

„Ich habe einfach auf dich warten wollen, Ich dachte, du kommst gleich wieder raus. Dann seid ihr Arm in Arm zum Schuppen geschwankt, und ich bin euch gefolgt. Als ihr wieder rauskamt, hat er dich fast getragen!“ Vorwurfsvoll sah sie nach hinten.

Und leise fügte sie nach einem Moment hinzu, wobei sie den Beamten ansah: „Dann ist mir der Kragen geplatzt.“

 

Der Polizist murmelte vor sich hin: „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.“

Die Zentrale meldete sich per Funk, es schnarrte und rauschte. „Zielperson ist scheinbar auf dem Heimweg, kommt aus Richtung Brandwitz, Ankunft in circa fünfzehn Minuten, wenn er keinen Umweg macht.“

„Verstanden Zentrale. Bereiten Festnahme vor.“

 

Um vorerst eine Konfrontation mit dem festzunehmenden Hobbygärtner zu vermeiden, durften Hanna und Marc zunächst gehen, sollten sich aber zur weiteren Verfügung halten.

 

Hanna vor allem war es gewesen, die stundenlang in der Wache gehockt und immer wieder den Beamten erklärt hatte, dass diesem Hans das Handwerk gelegt werden müsse.

 

Marc hingegen bat nun seine Oma Hilde um Hilfe für Hans. Er fand einfach, dass Hanna zu weit gegangen war. Auch, wenn es nicht in Ordnung war, was Hans so trieb, so hätte man ihm diese Flausen doch anders austreiben können. Außerdem wollte der Kräutigam ja solide werden, hatte er Marc erzählt. Mit einem richtigen Job.

 

Hans war im Schloss Brandwitz unterdessen guter Dinge und hatte eine ausgiebige Führung erhalten. Auch sein zukünftiges Zuhause, ein solides Haus aus Ziegeln mit spitzem Dach und einem kleinen Hof mit Garage, lag nicht mehr als einen Kilometer entfernt vom Schloss.

 

Der Bürgermeister und der Psychiater gingen fest von einer Zusage aus, als sie Hans schließlich fragten. Das Vertragliche werde man am Monatsersten gemeinsam regeln, und zwar im Arbeitszimmer des Schlosses, versprachen sie Hans. Unterdessen dämmerte es, als er sich auf den Heimweg begab. Im Vorbeifahren bemerkte er seitlich an einer Straßengabelung einen halbwegs versteckt parkenden Streifenwagen und achtete um so mehr auf die Geschwindigkeit. Jetzt kontrollieren sie schon nachts, dachte er noch.

 

Hanna und Marc hatten sich getrennt auf den Heimweg gemacht. Marc musste nachdenken. Er sah noch, dass Hans ihm mit dem Auto entgegenkam, und er mochte noch etwa zwei Minuten von seinem Haus entfernt sein. Der Junge rief, pfiff und winkte, aber Hans bemerkte ihn wohl auf dem dunklen Weg nicht, hielt jedenfalls nicht an. Das, was gleich passieren würde, fand Marc, hatte Hans nicht verdient.

 

Beim Einbiegen in die kleine Straße zu seinem Grundstück blieb dem dann das Herz stehen. Blaulichter, Scheinwerfer, die sein Haus anstrahlten, Polizisten, Fotografen.

 

Hinter ihm schoss ein Streifenwangen hervor und versperrte den Rückweg. Wo zum Teufel war der plötzlich hergekommen?

 

Hans ahnte, was ihm bevorstand und sah ein, dass es für eine Flucht zu spät war. Drei, nein vier Beamte nebeneinander kamen auf seinen Wagen zu. Zwei hatten eine Pistole im Anschlag.

 

Nur noch zwei verdammte Tage, und ich wäre seriös geworden, ärgerte sich Hans. Noch war er zu aufgewühlt, um pragmatisch zu denken. Dennoch zündete er sich, bevor er mit erhobenen Händen ausstieg nur eben noch eine dieser heilenden Zigaretten an. Das würde die Sache wohl kaum schlimmer machen, aber dafür ein für allemal Klarheit schaffen. Auch in seinem Hirn. Und es würde ihm manche Antwort auf unangenehme Fragen ersparen.

 

Hans gab später zu Protokoll, die Sache mit dem Cannabis und die ganze Hanferei sei aus einer finanziellen Notsituation heraus entstanden.

„Anfangs habe ich nur für den Eigenbedarf angebaut. Na gut, und für den eines guten Freundes. Dann stieg das Interesse irgendwie, ich kann da auch nichts für. Und das Geld konnte ich gebrauchen.“

 

Es dauerte angesichts der eindeutigen Indizienlage nicht allzu lange, bis der Prozess begann, an dessen Ende Hans wegen Geständigkeit und guter Resozialisierungsaussichten durch seinen Job auf dem Gut des Psychiaters mit Bewährung davon kam.

 

Allerdings wollte es mit der auferlegten Entzugstherapie nicht so recht klappen, zumal Bodo Dickermann seinem neuen Gärtner am ersten Tag eine selbstgedrehte Zigarette anbot, deren Aussehen nd Geschmack Hans mehr als vertraut vorkam.

 

„Aus Konkursware gewissermaßen. Und natürlich regionaler Anbau.“, erklärte Dickermann. „Wenn das mein Bewährungshelfer sieht“, lachte Hans und zog genüsslich an dem Joint.

 

„Oh, das tut er.“ Der Psychiater zwinkerte ihm zu. Hans sah sich um. Das konnte nicht sein, sie waren doch alleine hier im Park.

 

 

Impressum

Texte: Dirk Harms
Bildmaterialien: Dirk Harms
Cover: Dirk Harms und pixabay
Lektorat: Autorenbüro13
Korrektorat: Woandersmitesser
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Stammlesern und -leserinnen gewidmet

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