Cover

Maks

 

 

Maks

 

Die Prüfung

 

Die Kali Yuga Saga Band 1

 

 

Von Felix Utharu

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Auflage, 2020/08 Alle Rechte vorbehalten.

©Felix Utharu

Felix Turau

Eibenstraße 9a

31246 Ilsede

 

felixuhtaru@web.de

Illustration: Nimi_Art

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich habe keine Angst vor der Technologie, ich habe nur Angst davor, dass wir lernen, wie sie zu reden.

 

Es gibt nur eine Kraft, die uns davon abhält und uns jeden Tag neuen Aufschwung verleiht.

 

 

Liebe Leser*innen

Mag sein, dass sie das Cover angeschaut haben und grübelten, ob dieses Buch in ihr Regal passt.

Mag sein, dass sie es umsonst auf Bookrix gefunden und einfach mal gerne stöbern.

Ich danke Ihnen dafür, dass sie mein Werk in den Händen halten.

 

Vorneweg möchte ich Ihnen gerne sagen, dass diese Geschichte keine hochgepufferte Science Fiction Saga ist und auch für bewandtere Leser die Fantasyelemente zu kurz kommen. Aber vielleicht verstehen Sie für einen Moment, wieso Maks so denkt, so fühlt und so handelt. Und vielleicht erreiche ich sie wenigstens ein Stück. 

 

Eine Karriere oder die Bestätigung etwas zu können, erschafft sich nicht von heute auf morgen, aber ich würde mir wünschen, wenn Sie mit Kritik oder Verbesserungsvorschlägen mir entgegen kommen können. Denn wie Sie, möchte auch ich die Welt nur ein kleines Stück verändern.


Viel Spaß beim Lesen!

 

Guide to Contents

Inhaltsverzeichnis

0.0_Prolog

0.1_Uhrzeit

0.2_Die erste Begegnung

0.3_Wie Blei

0.4_Schatten

0.6_nichts Neues

0.7_Im Kleid der Schwalben

0.8_Der letzte Tag

0.9_Am Ende ist das immer nur Gerede

0.10_Grauer Mann

0.11_Im Bauch

0.12_Im Schatten

0.13_Ein letzter Atemzug

0.14_Stolz

0.15_Licht

0.16_Wenn nur der Faden hält

0.17_Sie lieben Frieden

0.18_Leben in Übeln

0.19_Die Stichverletzung

0.20_Überprüfung

0.21_Vertrauender Blick

0.22_Heimweh

0.23_Leidenskleid

0.24_Im Bann

0.25_Zerfall

0.26_Aufbruch

 

 

0.0_Prolog

0.0_Prolog

 

Die Entwicklung der Technologie brachte die Syncs zur Welt. Maschinelle Tiere, die den Menschen anfangs noch schützen und helfen sollten. Eine Gruppe von Menschen, den Tüftler, nutzten die Zeit und verwandelten die Syncs in gefährliche Waffen. Bestrebt in immer neuen Technologien wollten sie das Ende des eisernen Zeitalters selbst bestimmen und entfesselten die Mächte die sie erschufen. Doch sie vergaßen, dass Waffen auch immer Krieg bringen.

So brach der erste Yuga-Krieg aus und verwüstete die Landschaften, vergiftete die Seen und Flüsse und spaltete das Land in Uneinigkeit und Zwietracht. Gepeinigt von den Wesen, die sich als neue Herrscher sahen, knickte die letzte Gegenwehr in den Köpfen der Menschen ein und sie beugten sich denen, die die Syncs beherrschten. Die Tüftler genossen ihre neue Macht, die ihr Zeitalter brachte, doch anstatt den Krieg zu beenden, entfachten sie ihn weiter und streuten ihn großflächig über die Ländereien Murias. Sie steckten die Menschen als Knechte in ihre erbauten Fabriken und ließen sie Shanja Stahl erzeugen. Ein Metall, dass dünn wie ein Haar geklopft werden konnte, Tonnen an Belastung aushielt und sich unter elektrischem Strom verformte, bis es wieder zu einer eisernen Festung erhärtete.

Neben der Arbeit in den Ländereien schürte sich die Angst, in den Fabriken brach die Wut aus den Menschen aus. Der Hass ließ keinen Platz mehr für Frieden und die Tüftler sahen die Chance einer neuen Energie, um ihre Wesen noch weiter zu verstärken. Sie ließen die Menschen in den Fabriken schmoren, sperrten sie ein und brachten die Gemüter zum Überkochen, bis die blinde Wut aus den Köpfen brach. In Zellen gesteckt, entrissen sie ihnen Ihr und ließen nichts aus Apathie in den Hüllen zurück.

Die gesammelte Wut und Rachsucht, das Verderben, die Trauer, die Wollust und Gier waren der Grundstein ihrer neusten Erschaffung. Den Übeln.

Sie erschufen acht von Ihnen und ließen sie als Zeichen ihrer Macht über die Welt wandern.

Seria ließ die Reiche kopflos handeln und Kriegen entfachen, wo sie nur neues Chaos brachten. Ambra legte sich wie ein Schatten auf die Überreste, die Dörfer und Gemeinden und fraß das letzte Band des Vertrauens auf. Nachdem sie gesättigt war, gebar sie Loxor aus ihrem Bauch. Im Misstrauen der Köpfe hatte er ein leichtes Spiel und verschleierte ihren Blick weiter; trieb den Keil tiefer. Batak und Gur’u legten ihre Ketten der Lähmung über das Land und erstickten die Aufstände und Rebellionen im Keim, entrissen den letzten Funken Hoffnung aus ihren Köpfen und verbannte ihn in die Finsternis. Miri, die schnellste von Ihnen entwich den Klauen der Tüftler und floh. Sie strich über die Landstriche, auf der Suche nach ihrer großen Schwester, heftete sie sich an die Schatten den die Menschheit, als Spur hinterließ.

Doch der Willen in den Köpfen veränderte sich, die Menschen trieben sich in den Willen die Reiche wieder zu versöhnen, das Land der Natur zurückzugeben und erhoben sich aus den Fabriken. Im Geheimen ließen sie Kaa’sa, die fressende Wut, in ihre Köpfe, nährten sie und lernten sie zu zähmen.

Sechs Jahre später brach sie aus den Fabriken aus und erhob sich in einer graudunklen Schleierwolke über die Gebiete. Ihre Klauen zerstörten alles, was sich auf ihrem Weg befand und zwang die Tüftler in die Defensive.

Sie entwickelten eine Technik die Wut zu versiegeln und die Menschheit wartete auf diesen Augenblick. In einem letzten Aufstand griffen sie die Tüftler an, klauten ihre Technik und nutzten sie auf Muria, um die Übel für immer zu versiegeln und dem Land wieder die Atmung zu schenken. Doch jedes Gefäß bekommt irgendwann Risse und vergessen Menschen das Unheil. Doch Miri verlor die Spur nie.

0.1_Uhrzeit

0.1_Uhrzeit

 

Arian, dieses stinkende Nest. Als würde die pechschwarze Galle aus dem Magen strömen und sie bedecken, gierten die Augen der Menschen hier. Auf das was sie nicht haben, dass was sie nicht besitzen und was sie niemals erreichen. Sie wagten es nach dem Licht zu greifen, stahlen es und hielten es sich als Schutzschild vor die Brust. Bereit das Unheil dieser Welt zu vernichten.

Narren.

„Meinst das schaff ich?“, glubschten Maks Augen durch das Gebüsch, die dornbehafteten Äste schnitten ihm in die knorrigen Finger.

„Finden wir es raus“, schmunzelte ihn Luca von der Seite aus an und steckte den Kopf hinter dem riesigen Baumstamm hervor. Die gepaarten Augen spickten in Richtung des Flussbettes. Oder eher, auf die Beute davor. Mümmelnd streckte ein torfbrauner Hase die Nase zum Boden und rupfte mit den kräftigen Schneidezähnen ein Büschel Gras heraus. Als hätte er längst gesiegt, stieß Luca ein triumphierendes Schnaufen aus. Er steckte die Hand in die Tasche und kramte in ihr herum. Fixiert auf die Jagd, zog er sie wieder hervor. Die spitze Klinge eines Dolches blitzte in seiner Handfläche auf. Der Schaft gebunden in abgewetztem grauen Leder.

„Ich zeig dir jetzt mal, wie das geht“, sprach er bedacht und hob den Arm über den Kopf hinweg. Ein Zischen, leise wie ein Flügelschlag einer Eule, schnellte die Klinge an Maks Ohren vorbei. Er drehte sich weg und schloss die Augen.

„Ja!“, tönte es siegreich durch den Wald. Maks atmete tief ein, wagte den Blick durch die Schlitze der Finger und starrte am Flussbett entlang. Eine blutende Lache am Rand des Ufers, ein letztes Zucken, trübte der Hase den seichten Strom weinrot.

„So geleite ihn hinaus.“, nuschelte Maks sich in die Handflächen, leise, sodass ihn Luca nicht hörte, doch so laut, dass der warme Atem gegen die Nase schlug. Seine Eltern brachten ihm diesen Spruch bei. Er war sechs, gemeinsam standen sie vor dem Grab seines Opas und nuschelten die Worte.

„Schau dir das an!“, beendete Luca das Farbenspiel des Flusses. Er starrte lange auf ihn und wartete auf eine Regung, verloren im Gedanken starrte er zu Boden.

„Nun komm schon!“, schrie Luca lauter und durchbrach die Paralyse.

„Ich komm ja“, stolperte Maks den Abhang herunter in das modrige Gras des Ufers.

„Guck mal, der hat sogar kaum eine Wunde.“, drehte er den Kadaver auf die Seite und legte die Einstichstelle des Dolches frei. Im Hals thronte ein münzgroßes Loch. Die schwarzglänzenden Augen wichen einem trüben Schleier. Und so wie das Funkeln erlosch, verließ auch Maks der Stolz, den er eben noch spürte und räumte den Platz der Demut.

„Alles klar bei dir?“, legte Luca die Hand auf seine Schulter und schüttelte den Oberkörper.

„Ja“, starrten Maks glänzende Augen weiter auf den Hasen.

„Na dann lass uns los oder willst du den ganzen Tag hier verbringen?“

„Nein“, schmunzelte er und rüttelte sich selbst aus dem Delirium heraus.

„Dann steh nicht so dumm rum“, fädelte Luca die Hinterläufe durch eine Metallschlaufe am Gürtel. Er zog den Hasen nach unten und überprüfte die Spannung.

Ein lautes Grunzen ertönte von der gegenüberliegenden Seite des Flusses.

„Was ist das?“, schwenkte Maks den Kopf zu Luca und suchte eine Antwort auf seinen Lippen. Doch er hielt den Blick starr auf das Innere des Waldes gerichtet.

„Nider!“, dämpfte er die Stimme, ein huschendes Lächeln. „Komm! Ich will die mal sehen!“
„Wir dürfen nicht auf die andere Seite des Flusses! Wir dürften nicht einmal hier sein! Hast du Hagame nie zugehört?“, zeterte Maks.

„Hagame“, sprach er den Namen spöttisch nach und zuckte mit den Schultern, „Der steht genauso unter dem Seraphen wie die Anderen auch. Das da!“, zeigte er in die Tiefe des Waldes, „Ist ihre erschaffene Realität! Willst du sie nicht sehen?“

„Was sind das eigentlich? Nider.“, kribbelte die Neugier in seinem Bauch.

„Riesige mechanische Wildschweine! Mein Opa hat mir mal erzählt, dass sie mit ihren Hauern in der Lage waren ganze Legionen von Menschen zu erledigen!“

„Und wir wollen freiwillig zu ihnen?“

„Warum nicht.“, grinste Luca und suchte am Rande der Böschung nach einer Erkenntnis. Die Bäume über ihm waren zu kurz, um herüberzuklettern, die Sura, die sich vor ihnen erstreckte, zu tief, um nicht im Strom zu ertrinken.

„Helf mir mal!“, begann er die größeren Steine aus dem moorigen Boden zu pulen und in den Fluss hinein aufzureihen.

„Du willst das wirklich?“, beunruhigte Maks das schlechte Gewissen.

„Klar.“; grinste Luca vom Boden auf, „Du bist doch meine Art Glücksbringer, was soll schon passieren.“, schlug er mit der Handfläche gegen die Metallschlaufe und versetzte dem regungslosen Körper Bewegung.

Maks kniete sich nieder. Wohl war ihm nicht bei dem Gedanken gegen die Regeln des Dorfes zu verstoßen. Die Verderbtheit spürend, zuckte sein Auge. Die stumpfen Fingernägel bohrten sich in den Schlamm und versuchten die Steine herauszudrehen. Doch auf der glitschigen Oberfläche fand Maks keinen Halt. Er stemmte die Beine tiefer in den Morast, spannte seine Arme an und löste den Stein Zentimeter für Zentimeter.

„Flup!“

Überraschte ihn das Gewicht und zog ihn zu Boden. Luca schaute vom Fluss auf und verkniff sich sein Lachen. Grummelnd stemmte sich Maks auf und packte den nassen Stein, er hievte ihn zum Fluss und ließ ihn auf das Ufer platschen.

„Die müssen wir ein bisschen auseinanderziehen“, ließ Luca ihn den Ablageplatz korrigieren. „Wir sind ja keine Biber“, lachte er über seinen eigenen Witz und trennte die Sura in tausend kleine Bäche. Sie bahnten den Weg.

„Rupf sie aber leise ab!“, knickte Luca ein paar Äste zu Seite, drehte sie zu einem Bund und legte sie auf die Steine. Ihr gebauter Steg imponierte ihnen, ein stoischer Blick zu Maks, „Schaffen wir das?“

„Klar“, schmunzelte er, scharrte mit den Füßen, nahm Anlauf und sprang ab.

0.2_Die erste Begegnung

0.2_Die erste Begegnung

 

Der matschige Boden quoll durch Maks Hände, die Beine durchnässt. Neben ihm hockte Luca, der Stoff der Hose kaum verfärbt.

„Das hätte ich dir gar nicht zugetraut“, streckte er ihm die Hand entgegen und zog ihn daran hoch.

„Ich hör sie noch. Aber sie wandern“, lauschte er in den Wald hinein. Ein schmunzelndes Grinsen überflog seine Lippen.

„Wer sie als Erstes findet!“, rannte er in die Richtung, aus der er die Geräusche positionierte. Maks blieb stehen, der nässende Stoff der grauen Stoffhose klebte am Schenkel und hinderte ihn daran Luca hinter her zu stürmen. Zumindest redete er es sich ein.

Er drehte sich noch einmal um, beobachtete ihre „Brücke“ und wie das Wasser in tausend Ströme zersprang, sich seinen Weg hindurch bahnte und die Steine niederriss.

„Sucher!“, schoss es ihm in die Gedanken und ließ ihn dem Geräusch der raschelnden Büsche folgen. Der harte Waldboden unter Maks Füßen formte sich wabbeliger, als würde die Sura sich unterhalb erstrecken, nur bedeckt von Moos. Der matschige Boden ließ die Schritte zäher und Lucas Geräusche leiser werden. Die Nider, hörte er schon lange nicht mehr.

Hinter einem Baumstamm spähend fand er ihn wieder. Er starrte auf graue Schatten, die sich an den Bäumen rieben. Gestalten, die ihre kräftigen Hauer in den Erdboden rammten und das Moos wie Schnee über ihre Köpfe rieseln ließen. Aus den Konturen wurden Formen, Maks zählte sie durch.

Zehn.

Die starren rostbraunen Borsten schrubbten sich an der Rinde. Aus ihren Kiefern ragten gewaltige Knochen heraus und über ihren Körper zog sich ein Geflecht aus Leylinien. Schwach blau pulsierend, wie ein Käfig zog er sich durch die Haut und verscheuchte das Fell.

„Was machen die hier?“, flüsterte Maks, wandte den Blick nicht ab von den Wesen.

„Weiß nicht. Vielleicht sucht das Dorf jemanden.“

„Du meinst Sucher sind in der Nähe?“, hielt sich Maks selbst zurück und unterdrückte den Aufschrei in der Kehle, den er schon vorhin verspürte.

„Nein“, schüttelte Luca den Kopf, „Wären sie hier, würden sie keine Nider in diesem Gebiet aussetzen.“

Verwundert starrte ihn Maks an, er bemerkte den fragenden Blick.

„Nider sind die Sucher unter den Sync. Sie durchstreifen das Land, durchforsten es, immer jemanden folgend oder etwas.“

„Was meinst du, was sie suchen?“

Luca zog die Lippen schäbig nach oben.

„Wir werden es sehen!“, presste er die Finger zusammen und stieß einen lauten Pfiff aus. Wie aktiviert, begannen die Linien auf ihren Körpern schneller zu pumpen, ihre Farbe zu wandeln, lila zu himmelblau und wieder zurück, pulsierten sie auf. Die Schönheit in einer Sekunde, bis Maks die stämmigen Hufe sah, die sich in den matschigen Waldboden drückten und die Erde unter ihren Füßen in ein tosendes Meer verwandelten. Die riesigen Hauer stürmten in ihre Richtung.

„Dreh dich weg!“, schnellte Lucas‘ Hand nach vorne und zog Maks Oberkörper hinter den Baumstamm. Mit einem aufschreienden Grunzen verkeilten sich die ersten kräftigen Hauer in der Rinde.

„Wach auf!“, hallte das Echo Luca seiner Stimme in Maks Kopf nach. „Wach auf!“, wieder und wieder, setzten sich die Buchstaben zusammen, doch in den Ohren ertönte noch immer der Schrei der Nider. Klarer, heller, drückte es sich in die Ohrmuschel. Fast wie ein Chor singend.

„Man!“, riss ihn Luca am Unterarm ein Stück hinter sich her. Der Ton zersprang, Maks starrte in die weit aufgerissenen Augen Lucas‘, in die peitschende Horde.

Lauf!

Sie versuchten den wabbeligen Boden, so gut es ging, zu verdrängen, die klatschenden Hiebe der Äste die sich im Gesicht verfingen, zu ignorieren. Das grunzende Geheule der Bestien in den Ohren zu überdecken. Am Fluss sprangen sie hastig in Richtung ihres Steinvorsprunges. Luca landete als Erster. Neben ihr. Maks Beine zerstörten sie beim Aufprall und mit ihr die zehntausend Bäche, die durch sie flossen. Keuchend blickten sie sich an.

„Die können nicht schwimmen oder?“, fragte Maks. Luca ließ sich auf den Boden fallen, „Ich hoffe nicht.“, schnappte er nach Luft. Das Getrappel folgte ihnen, schnaufend kamen die Nider dem Fluss näher, ehe sie sich in einer drohenden Geste vor sie aufstellten. Ein warnender Schrei in ihre Richtung.

Maks sah sie an, ihre Blicke wirkten düster, so leer und schwarz wie die Galle, die sich durch die Menschen zog, als hätte es nie Leben in ihnen gegeben.

 

Das Glockengeheul des Dorfes schallte durch den Wald. Es klang aufgeregter, schneller, als Maks es bisher kannte.

„Die Viecher haben Alarm ausgelöst wir müssen hier weg!“, sprang Luca panisch auf, als er die Töne vernahm. Er starrte zu den Nider, gesammelt verließen sie das Ufer und kehrten in den Wald zurück.

„Die Sucher sind schon unterwegs.“, flüsterte er leiser, schenkte Maks einen hastigen Blick, „Weg hier!“

Der Atem versiegte einen Augenblick, bis Luca aufsprang und die Flucht ergriff. Maks hetzte ihm hinterher, sprang über alles, was den Weg kreuzte und schob die aufkeimenden Äste vor ihm auseinander. Er drehte den Kopf zur Seite, ein Fiepen im Ohr, ließ seine Aufmerksamkeit einen Wimpernschlag verschwinden. Die Hindernisse vor ihm verzerrt, als würden sie größer werden, mächtiger.

„Konzentrier dich“, flüsterte Luca ihm zu, als er die tollpatschiger werdenden Füße über den Waldboden bemerkte. Maks biss sich auf die Zähne, knirschend presste sich die Backen zusammen. Erst auf dem abgelegenen Trampelpfad zum Dorf beruhigten sich ihre Schritte.

„Wohin wollen wir?“, fragte Maks japsend nach.

„Pssst! Nicht so laut man.“, spähte er durch den Wald, „Zurück in das Dorf, dort werden sie sicher nicht suchen. Aber sei leise, falls sie einen Windjin dabei haben.“

„Ok.“, folgte er ihm leisen Trittes am Palisadenzaun entlang. Vor einer morschen Holzplanke stoppten sie. Luca steckte seine Hände an der Planke vorbei und drückte sie mit den Fingern zur Seite. Sie schlüpften durch den Eingang in das Dorf.

Zwischen den blechernen Baracken mit einem rostigen Anstrich fanden sie sich wieder.

„Was machst du jetzt mit ihm?“, zeigte Maks mit dem Finger auf den Hasen.

„Mitnehmen und Zuhause was daraus kochen wieso?“, zuckte er mit den Schultern, zog seinen Pullover nach oben und ließ ihn darunter verschwinden.

„Besser wir trennen uns. Die Straßen werden von Wachen wimmeln.“, sah er stoisch zu ihr herüber.

Maks schaute auf, er grinste, doch das kalte Zittern in den Adern, dass der schrille Schrei mit sich brachte, ließ ihn nicht mehr los.

„Selbe Zeit, selber Ort!“, nickte Luca ihm noch einmal zu, bevor er sich auf die Straße wagte.

Maks sah ihm nach, wie er um die Ecke bog und zwischen den anderen Menschen verschwand, die in ihre Häuser flüchteten. Die blechernen Wände verengten die Sicht und ließen die Gasse wie ein Foto erscheinen.

„Das ist ein Alarm Junge! Sieh zu, dass du nach Hause kommst!“, packte ihn eine Wache am Oberarm und zerrte ihn Richtung Straße. Auf ihr, ließ er ihn los. Maks fand sich wieder zwischen lautem Geschrei, Getrampel und Missmut. Die Menschen in dieser Gegend Arians ächteten einander, verschmähten gegenseitige Blicke, weil in ihnen nur noch der Neid blieb.

„Geh mir aus dem Weg.“, drängelte sich eine ältere Frau an ihm vorbei, sie verschwand auf einem Hofeingang und knallte die grüne Haustür in das Schloss. Maks senkte den Kopf, er wollte die Blicke der Menschen um ihn herum nicht sehen, doch schloss er die Augen, starrten ihn die kalten Augen der Nider an, auf den Pflastersteinen, ergriff ihn der verlorene Glanz des Hasen.

Die Wachen scheuchten die letzten Menschen in ihre Häuser. Maks verließ die gepflasterten Steine, Tschoschka Weg, zeigte ihm ein kleines Schild den schlammigen Grund nachhause. Morsches Holz und verwehte Reetdächer zierten die Häuser in der Straße. Die wackelige Holztreppe führte ihn nach oben über den Korridor. Er seine himmelblaue Tür. Der Lack platzte von den verwitterten Stellen ab, er spürte auf der Handfläche den wärmeren Zug von innen, strich über den spröden Anstrich, bis er die Türklinke fest in seiner Hand hielt.

Ein beißender Geruch trieb ihn beim Öffnen in die Nase. Die Milchverpackung in der Küche dehnte sich weiter aus. Er griff nach ihr, schraubte den Deckel ab und ließ das Gas entweichen. Er schaute sich um, in den Ecken sammelten sich dreckige Wäsche, das Besteck rostete auf der Spüle, die gelborangenen Wände schürten die Unruhe in ihm. Nur die Rohre aus dem Badezimmer klapperten ihm wie Beifall entgegen. Er setzte sich an das Fensterbrett neben dem Bett und starrte auf die leer gefegte Gasse hinter dem Haus. Dann in den Himmel, auf die dichten Rauchwolken der Fabrik, wie sie das Weiß in ein Grau färbten. Die Wachen schritten durch das Dorf, sie kontrollierten jede Gasse, jede Ecke, als wäre ein Schatz vergraben.

Maks schlüpfte aus der Hose, legte den Pullover neben sein Bett und zog sich die Decke an das Kinn. Er schloss die Augen, verdrängte die Gedanken, die seinen Kopf heimsuchten. Versuchte es, bis die Müdigkeit ihn übermannte.

0.3_Wie Blei

0.3_Wie Blei

 

Ein lautes Poltern ließ Maks aus dem Bett aufschrecken. Er starrte in Richtung Tür.

„Nun mach schon auf!“, hämmerte Lucas‘ Hand und Stimme durch das klapprige Holz.

„Oh man“, schmiss Maks die Bettdecke zur Seite und stapfte zur Tür. Er drückte die Klinke herunter, als Luca bereits seinen Körper gegen das Türblatt lehnte und ihn wieder in die Wohnung schob.

„Ich muss auf Toilette!“, schubste er ihn beiseite und bog rechts hinter der Tür ab. Er knallte die Tür in das Schloss. Maks blickte nach draußen, zumindest, auf die hölzerne Balkone der Nachbar, die verwittert im Wind knarzten. Eine Sekunde der Stille dazwischen.

„Ihh“, stieß Luca durch die Badezimmertür heraus, bevor er begann zu lachen und die Tür wieder öffnete. In seiner Hand hielt er ein nasses Handtuch, von den Ecken tropfte das Wasser herunter und bildete auf dem Boden eine Pfütze. Maks legte es an das Fenster, es fing den Wind auf und so wie es aussah, auch den Regen der Nacht.

„Gib das her!“, riss er es ihm erzürnt aus der Hand und legte es auf den Wäscheberg auf der anderen Seite des Raumes.

„Du könntest hier echt mal aufräumen, das sieht aus, als würde ein Monster hier wohnen.“

„Was willst du?“, wütete Maks Stimme dumpfer, bockiger.

„Mit dir auf die Jagd gehen. Der Seraph hat heute den ganzen Tag eine Besprechung, das heißt, es sind keine Wachen im Dorf.“

„Keine?“

„Naja.“, korrigierte er mit einem Blick, „Ein paar vielleicht. Aber uns rausschleichen war nie einfacher als heute.“

„Ich weiß nicht.“, drehte sich Maks zur Küche, er starrte auf die Milchverpackung, wie sie erneut aufblähte. Ein verachtender Blick auf das Regal, das Bett, auf sich selbst.

„Ich zieh mir nur was an.“, verschwand er im Badezimmer und schmiss die Tür hinter sich zu. Aus dem Wäscheberg, der sich neben seiner Toilette fand, suchte er sich passende Klamotten. Er roch an ihnen. Mit einem grauen Pullover und einer schwarzen Hose gerüstet, öffnete er wieder die Tür.

„Hast du es endlich geschafft?“, lehnte sich Luca genervt gegen die Wohnungstür, Maks nickte.

„Dann los“, riss er sie auf und sprang über die Schwelle in den Flur. Das morsche Holz unter seinen Beinen knarzte. Über den modrigen Pfad führte sie ihr Weg an den Palisadenzaun. Eschen verschleierten die Sicht auf diesen Bereich. Luca drückte das lockere Holzbrett zur Seite und quetschte sich durch den Durchgang, Maks folgte ihm.

„Warum hat der Seraph heute eine Besprechung?“, fragte Maks und erntete von Luca nur ein kräftiges Schulterzucken als Antwort.

„Keine Ahnung. Ich bin ja hier und nicht bei denen.“, lachte er schelmisch.

„Aber irgendwann wirst du doch sicher ein Teil des Dorfes sein oder?“

„Ich weiß noch nicht.“

„Wie du weißt nicht. Die Abschlussprüfungen sind in einem Jahr und du weißt noch nicht, ob du ein Sucher oder ein Jäger sein willst?“

„Nee ich muss mal schauen.“, klang die Stimme genervter. Maks bemerkte den ausweichenden Blick, die lange Zeit, die er brauchte, um die richtige Antwort zu finden. Er senkte den Blick zu Boden, beobachtete die Gräser und das Moos, das sich unter seinen Füßen erstreckte. Und schwieg.

„Aber ich glaube, du wirst sicher ein guter Sucher“, sprach Luca, nachdem die Stille des Waldes sie einnahm. Maks schaute auf, er lächelte kurz auf.

 

Ihr Weg führte sie zurück an das Flussufer. Spähend und schleichend drangen sie tiefer in den Wald ein. Bis ein Knacken ihre Aufmerksamkeit erregte. Versteckt zwischen Zweigen, Gebüsch und Ästen mümmelte ein Hase das Moos vom Boden.

„Das ist deine Chance.“, flüsterte Luca und schob die Hand in die Hosentasche. Er zog den kleinen Dolch hervor, reichte ihn Maks. Das Gewicht legte sich spürbar in seine Handfläche. Leichter als ein Stein und doch schwerer als alles, was er je berührte, kippte er die Klinge zur Seite. Mit dem Daumen strich er über die Schneide, sie war scharf, so scharf, dass er sich in die trockene Haut ritzte und mit einem ratschenden Geräusch ein Stück von ihr löste. Maks balancierte die Klinge aus, richtete die Spitze nach vorne und zielte. Luca griff ihm dazwischen.

„Du musst aufpassen“, drehte er die Spitze auf Maks Brustkorb, „Du hast die Schneide beim Werfen in der Hand, das sorgt für einen lautlosen Anflug.“, korrigierte ihn Luca.

Maks sah abwechselnd auf den mümmelnden Hasen, seiner Beute und dem tödlichen Stahl, der sie treffen sollte. Das ruppige Leder fühlte sich warm an den Fingern an. Er erdrückte die Spitze, führte die Hand nach hinten, visierte ein letztes Mal an und schmiss es in die Richtung.

„Tack!“

Schlug das Messer mit der Spitze in den Baum vor ihm ein und blieb stecken. Der Hase spähte auf, er sah die Gefahr und ergriff die Flucht, noch ehe Maks realisierte, was geschehen war.

„So wirst du sicher kein guter Sucher.“, lachte Luca auf und zog mit einer Hand den Dolch aus dem Baumstamm heraus. Er wischte die Klinge über sein Hosenbein, reinigte sie, bevor er sie Maks erneut gab.

„Der ist echt komisch geflogen.“

„Der fliegt nicht komisch, du hast nur beschissen geworfen.“, lachte Luca abermals auf. Er nahm die Klinge von der Handfläche herunter, legte sie sich zwischen die Finger, „Siehst du das Astloch da?“, zeigte er gute zehn Meter vor sich. Maks nickte.

„Der Dolch ist aus Shanja Stahl gefertigt, leicht wie ein Regentropfen, kann selbst der Wind die Flugrichtung ändern, also achte auf alles was um dich herum passiert.“ Er holte aus und zielte rechts neben das Astloch. Ein Windstoß zog durch den Wald, gab der Klinge den Effet, den sie brauchte und ließ sie auf ihr Ziel zurasen.

Flop!

Schlug sie über dem Astloch ein und blieb dort stecken. Triumphierend lächelnd bewegte sich Luca auf die Schneide zu. „Du musst dein Ziel immer im Blick haben, aber auch was um dich herum passiert.“, lachte er, zog die Klinge heraus und schob sie sich wieder in die Hosentasche. Gedämpft von der Erwartung, gehindert vom Willen ließ Maks den Blick zu Boden sinken.

„Es ist noch kein Sucher vom Himmel gefallen“, drückte sich Luca seine Hand auf die Schulter und schob ihn tiefer in den Wald. Maks nickte die Worte ab und doch wusste er, dass er den Hasen nicht hätte treffen wollen. Er überlegte.

„Auf was habe ich gezielt?“, verschwand die Erinnerung.

 

Luca führte sie am Flussufer entlang tiefer in den Wald hinein. Bei jedem Geräusch, das aus dem Unterholz ertönte, blieb er stehen, schärfte den Blick, bevor er mit leisem Schritt den Weg fortsetzte.

Der Wald formte sich trüber, dunkler. Das Moos unter ihren Füßen versank im Morast. Die Luftfeuchtigkeit nahm zu und erschwerte das Atmen mit jedem Zug.

„Wir sind ganz schön tief im Wald“, bemerkte Maks den aufsteigenden Nebel um ihn herum.

„Hättest du den Hasen getroffen und die restlichen nicht verscheucht, müssten wir nicht hier sein.“, zuckte Luca mit den Schultern und schritt weiter voran.

„Weißt du überhaupt noch, wo wir sind?“

Ruckartig drehte sich Luca nach hinten und hob die Arme wie ein Monster empor, „Im Nebelwald, wenn mich nicht alles täuscht.“

Maks schreckte zurück, „Lass das!“ Er suchte wieder das Gleichgewicht nach vorne und starrte Luca mit einer eisernen Miene an. „Also?“, drückte er die Schuhsohlen in den modrigen Boden.

„Im Nebelwald hab ich doch eben gesagt. Mein Opa hat mir einige Geschichten über diesen Ort erzählt.“

„Welche?“

„Kennst du nicht die Geschichte der verdorbenen Windjin?“

„Der was?“, schüttelte Maks verächtlich den Kopf um die Gruselgeschichten, die er ihm schon in der frühesten Kindheit erzählte, zu verdrängen. Doch mit jedem Ton der aus Luca seinem Mund floss, war es, als würden die Bäume ihr Netz aus Schatten enger um ihn ziehen.

„Die Moraststimmen?“, fragte Luca nach, doch wieder schüttelte Maks nur den Kopf.

„Man erzählt sich, dass die Seelen der abtrünnigen Sucher sich in diesem Teil des Waldes aufhalten.“

„Seelen?“, zog Maks die Augenbrauen weiter auf.

„Tote eben.“, zuckte Luca mit den Schultern.

„Aber was wollen sie hier?“

„Dazu komm ich doch grade.“, lachte er kurz auf, bis seine Lippen nach unten sanken, sein Kopf sich bewegte, als wollte er eine Fliege am Landen hindern. „Wenn der Wind durch das Geäst der morschen Bäume zieht, hört man ihr Flüstern heraus. Sie tun das, was sie Jahre über hinweg für den Seraphen taten, sie lauschten in den Wald hinein. Nach ihrem Verrat bereuten ihre Seelen die Tat und kamen an die Grenzen des Dorfes. Gewillt mit Flüstern das Schweigen zu brechen und ihre Geschichte zu erzählen. Um ihre Ehre zu erhalten.“ Maks schauderte zusammen, er schaute sich um, auf den Morastnebel unter seinen Füßen, die toten Äste, die zwischen den Pfützen ihre Brücke bauten, das verrottete Laub am Boden.

„Aber das sind nur Gruselgeschichten oder?“, tapste Maks hinter Luca her, hielt den Blick starr auf ihn.

„Ich hab bis jetzt zumindest noch keine gehört.“, senkte sich der Ton seiner Stimme, er hockte sich hin. „Dafür sind wir hier!“, flüsterte er zu Maks und zeigte geradeaus. Eine Zibbe fing die dürftigen Sonnenstrahlen zwischen den Ästen ein, um sie herum, ihre Schar von Jungen.

„Du bist dran.“, griff Luca in seine Hosentasche, zog die scharfe Klinge hervor, „Versau es nicht.“, reichte er den Dolch nach hinten.

Maks griff um das Leder, ein kurzes Aufblitzen der Sonne, dass sich in der Schneide spiegelte, blendete ihn. Er drehte die Klinge um, umgriff den Stahl mit den Fingern, er atmete ein, holte aus. Presste die Luft aus seiner Lunge.

Der Dolch schnitt durch die Luft, rupfte die letzten Blätter von den Bäumen und ließ sie zu Boden segeln. Genau wie die Klinge. In einem Bogen landete sie keine zwei Meter vor ihnen auf der Erde. Die Zibbe schreckte auf, ein Fiepen warnte die Jungtiere und ließ sie zusammen zucken. Luca preschte hervor und rannte auf die Hasen zu. Er griff nach unten, packte einen im Nacken und drückte ihn zu Boden, während die Anderen panisch flüchteten.

„Willst du mich verarschen?“, schrie er Maks an. Wütender, als die Windjin jemals klagen könnten. Im Wald zog Stille nach dem Aufschrei ein. Kein Gezwitscher, kein Geraschel, selbst der Wind schwieg für eine Sekunde. Starr lenkte Maks den Blick auf Luca, das zappelnde Tier unter ihm. „Bring mir den Dolch!“, befahl er ihm. Ergriffen von der Starre spürte Maks nichts mehr, nur ein Ziehen in seinen Beinen, das ihm befahl stehen zu bleiben.

„Das Messer!“, schrie Luca erboster auf, doch er löste die Starre nicht. Er stand auf, packte das Hasenjunge fester im Genick und lief auf den Dolch zu.

Maks schloss die Augen, ließ das Blei ihn niederreißen.

0.4_Schatten

0.4_Schatten

 

Wach auf!

Stießen Luca seine erzürnten Augen näher auf Maks zu. Er löste die Paralyse selbst und wich ihm mit einem Schritt nach hinten aus.

„Du willst es nicht!“, schrie Luca ihn weiter an.

„I-ich ...“, stotterte Maks.

„Ach vergiss es!“, wank Luca mit der Hand ab und verstaute den tropfenden Körper an seinem Gürtel. Dann drehte er sich wütend um und stapfte durch den Wald zurück in Richtung Arian.

„Warte doch!“, rannte Maks ihm hinterher und versuchte den Vorsprung aufzuholen.

„Lass mich!“, drehte sich Luca genervt zur Seite, als Maks ihn erreichte. Hastiger Maks vor ihm weg.

„WAS IST?“, verwandelte sich das Brüllen in ein Fiepen. Er starrte in die grünschimmernden Augen von Luca, auf das argwöhnische Grinsen.

„Was ist?“, machte er einen Schritt auf Maks zu, „Was ist, willst du wissen?“. Er lächelte wieder, sah wie die Selbstzweifel sich auf Maks Lippen legte, er den pressenden Klumpen in seinem Hals löste, ihn herunter schluckte und nickte.

„Seit einem Jahr versuche ich, dir das Jagen beizubringen. Du wolltest es nicht, dann konntest du es nicht und jetzt willst du es nicht!“, erhob sich seine Stimme.

„Aber ich ...“

„Ach“, schlug Luca die Hand nach unten, „Geh lieber zu den Arbeitern, dort hast du zumindest eine Überlebenschance!“, zog er mürrisch von dannen. Maks tapste ihm hinterher, er schickte regelmäßig das Knacken eines Astes durch das Unterholz. Luca hielt den Blick auf sein Ziel gerichtet, stoisch, ruhig, als würde er siegreich einen Kampf verlassen.

Maks lärmte durch den Wald. Er nervte Luca mit dem Knacken der Äste, doch die Wut verflog nicht aus dem Gesicht. Maks hatte ihn oft schlecht gelaunt, erzürnt oder böse gesehen. Doch nie galt dieser Hass ihm. Er verschwand durch die Planke.

 

Auf der Straße verlor sich die Sicht auf ihn. Eine ältere Frau fegte den Gehweg, die Borsten wühlten den Staub auf. Auch wenn der Regen nur nachts den Weg durch die dichten Wolken fand, so zog der Boden unter ihnen mehr Wasser, als die Geschichten über die barischen Wüsten. Ein verächtliches Krächzen drang aus ihr, als sie Maks sah. Er wich ihrem Blick aus, starrte der gleißenden Mittagssonne in Richtung Dorfmitte entgegen. Ihr Schein blendete ihn, nur ein Schatten den er am Horizont antraf. Ein auf sich zu bewegender Schatten.

Zur Gestalt mischten sich Fußstapfen. Bis die Strahlen sich in Konturen malten, ein zorniges Gesicht sich ihm rasant näherte. Marek drückte die Hände gegen seine Schulter und stieß ihn zu Boden.

„Du lässt Sika in Ruhe haben wir uns verstanden?“, pumpte das Adrenalin seinen Körper auf und ab. Maks spürte die Schmerzen in den Handflächen, die aufgeschürften Wunden. Er blickte auf.

„I-Ich ...“, drückte er sich ein Stück vom Boden ab.

„Nichts ich! Du sprichst sie nie wieder an verstanden! Abschaum wie du hat in unserer Nähe nichts zu suchen!“, pressten seine starken Oberarme ihn wieder in Richtung Boden, er holte mit der Faust aus, faltete die zornige Falte zwischen den Augenbrauen fester zusammen, als würde er ein Gebirge erschaffen wollen.

„Du lässt ihn lieber in Ruhe.“, mischte sich Luca seine Stimme ein. Aus der Gasse heraus suchten seine Schritte den Weg in das Licht. Marek ließ Maks zu Boden sinken.

„Ach“, zog er ihn bedrohlich nach oben, „Du beschützt ihn?“, lachte er los. Er drehte sich nach hinten, „Jamel! Abel!“, brüllte er die Straße herunter und ließ zwei dürre Jungen auf ihn zu rennen. Sie stellten sich hinter ihn. Triumphierend wand Marek den Blick wieder zur Seite.

„Was ist das denn!“, bemerkte er den Gürtel, ließ Maks zu Boden plumpsen und erhob sich. Er schritt auf Luca zu, griff an seine Taille und zog mit einem Ruck die Vorderläufe unter dem Pullover hervor.

„Du weißt, das Jagen außerhalb der Gemeinschaft nicht erlaubt ist? Ein Verstoß für einen so mickrigen Fang?“, drehte er sein Grinsen zu seinem Gefolge.

Luca trat einen Schritt auf ihn zu, schlug ihn den Hasen aus der Hand und starrte ihn an, „Und das sagt mir der Sohn des Heuchlerpackes?“

Marek griff nach vorne und umklammerte Luca seinen Pullover. „Was hast du gesagt?“, zog er ihn ein Stück heran.

„Heuch...ler...pack“, wiederholte er das Wort noch einmal spitz betont. Marek schlug die Faust nach vorne. In einer raschen Bewegung drehte Luca sich zur Seite, presste ihm den Ellenbogen ins Genick und ließ die Faust in das Leere fliegen. Jamel und Abel regten sich und stürmten auf Luca zu. Doch Marek sein Lachen stoppte sie, stoppte die Kraft die durch Luca floss, stoppte Maks Starre, mit einem Griff an den Hals und einen beschämenden Blick.

„Lass ihn in Frieden!“; sprang er auf und rannte auf Marek zu. Er bohrte beide Fäuste auf seine Brust und legte sein Gewicht hinterher.

„Verpiss dich!“, holte Marek aus und drückte ihm die Kniescheibe in die Rippen. Benommen sank Maks wieder zu Boden, er ächzte.

„Gar nicht schlecht getötet.“, sah Marek, sichtlich erleichtert dem Griff von Luca entronnen zu sein, auf den Hasen am Boden. „Nicht schlecht für einen Sucher.“, ging er ein Stück in die Hocke, fasste das Jungtier an den Hinterläufen und hob es auf. Drehend präsentierte es sich vor den entschlossenen Augen.

„Wer sagt, das ich ein Sucher bin?“, erwiderte Luca.

„Nicht?“, drehte sich Mareks Kopf überrascht zur Seite, „Was hast du denn dann vor? Abhauen?“, lachte er auf und regte Jamel und Abel zum Kichern an. „Dann können wir auch gleich den Wachen Bescheid geben oder?“

Luca seine Wut verflog, er senkte den Kopf, wich dem Blick von Marek eine Sekunde lang aus. „Was willst du?“

„Du zeigst uns, wie man jagt. Dafür sage ich den Wachen nicht, wer heimlich im Wald jagen geht.“

Luca überlegte. Sein Starren formte sich zu einem weichen Blick. Er opferte seine Freiheit für ein Versprechen. „Einverstanden.“

Triumphierend lachte Marek auf, „Wenigstens hast du deinen Verstand behalten und nicht von diesem Dummkopf übernommen.“, richtete sich sein Zorn wieder auf den am Boden kauernden Maks.

„Eine Sache noch“, wandte er das Wort zu Luca, „Was wolltest du mit ihm?“

Luca schwenkte die Augen nach links, weg von Maks seinem Anblick.

„Ihn opfern, wenn ich im Wald von Nidern angefallen werde, was denn sonst.“

Marek lachte auf, „Und was macht man mit Schmutz?“, riss er die Augen weiter auf, gab der Aufforderung Nachdruck. Luca senkte den Kopf, er schritt auf Maks zu.

Wie der Hase im Wald verloren die grünschimmernden Augen ihren Glanz und färbten sich trüber. Er erwiderte den Blick nicht, bis sich die Gedanken wieder in Wut in seinem Kopf umschlagen. Er zog das Bein nach hinten, biss die Lippen zusammen und traf ihn an der Schläfe.

Benommen beobachtete Maks wie Marek die Truppe dem Sonnenschein entgegen lenkte. Noch immer kichernd spielten Jamel und Abel die Bewegungen nach, lachten lauter. Luca schritt hinter ihnen, verschluckt von ihren Schatten, drang die Sonne nicht an seinen Körper.

Maks drehte sich zur Seite. Er öffnete die Augen ein Stück, sah auf die ältere Frau, die sich über den Zaun lehnte.

„Das kommt da aber weg!“, wedelte sie mit dem Finger zeigend um den Hasen herum.

Maks stöhnte auf, ließ sich wieder zu Boden fallen und schloss für einen weiteren Moment die Augen.

 

„Hey du!“, stieß ihn die alte Dame mit dem Ende ihres Besens an und ließ die Augen erschrocken aufreißen. Als hätte sie mit dem Stiel, den dunklen Schleier, der über seinem Kopf kreiste, zerstoßen. Er richtete sich auf und blickte in das eingelaufene Gesicht der alten Frau. Ihre Falten schlugen Falten, die Augen gerändert von den schlaflosen Nächten. Ihr Besenstiel zeigte auf den toten Körper am Boden.

Maks streckte die Hand aus, hob den Hasen an den Hinterläufen empor und versteckte ihn unter seinem Pullover. Das Fell wärmte, gefuttert durch die Sonnenstrahlen, die Haut.

Er strich durch die Gassen, nicht nur die Angst von den Wachen erwischt zu werden quälte ihn. An jeder Kreuzung stoppte er und stierte in die Gossen zwischen den Häusern, bevor er weiterschritt. Wie eine kältere Spur, die ihm folgte, an den Gedanken nagte und für die er keine Lösung hatte.

Zuhause würde der Hase in den nächsten Tagen beginnen zu stinken. Den Gedanken ihn selbst zu kochen, wehrte er im Geiste ab.

„Essen“, sprang es ihm fast jauchzend über die Lippen. Seine Schritte beschleunigten, raus aus dem modrigen Gebieten von Arian, auf die Pflastersteine der Hauptstraße. Er schlängelte sich durch die Menschen auf der Straße, hinein in eine vom Schatten ergriffene Gosse.

„Jägerspfad“, vermerkte ein kleines Schild an der Hausecke. Maks spähte in die eng beinander liegenden Fenster der Häuser. Die bunten Gardinen, die sie verzierten und keinen Blick in das Innerste zuließen. Vor der Tür begrüßte ihn ein altes Holzschild, das an zwei schwarzen Ketten herunterhing. „Zum Astloch“, brannten sich die Buchstaben auf das Holz. Maks duckte sich auf der Stufe, immer. Er überlegte oft, ob es Reaktion oder Angst war, doch definieren konnte er es nie. Also machte er es bei jedem Besuch, bewusst, um den Schleier zu verdrängen. Das gedimmte Licht der Lampen schien auf die groben Holztische, den roten Bezug der Stühle, die ordentlich auf Gäste warteten und dem blitzenden Metall der Töpfe im Schrank. Der Tresen war abgeranzt, fleckig von den unzähligen Bieren die ihren Besitzer wechselten und deren Finger die Ecken rund schliffen. Die Tür in das Hinterzimmer knallte auf.

„Was treibt dich denn her?“, begrüßten ihn die Hamsterbacken eines Mannes. Sein Haar war braun, an den Spitzen färbte es sich in alterndes Grau. Die Müdigkeit rannte ihm aus den Augen. Maks schwieg, er senkte den Kopf, zog den Stuhl nach hinten und ließ sich auf den Hocker fallen.

„Hast du noch offen?“, riss er die Augen auf, doch traute sich nicht, den Kopf zu heben.

„Ich schau mal was ich machen kann.“, lachte der Mann auf und ging zurück in das Hinterzimmer. Mit dem Knall der Tür stierte Maks auf und folgte den noch hörbaren Schritten.

„Ich hab da was gefunden.“, grinste der Mann breiter.

„Ehrlich?“, suchten Maks funkelnde Augen den Blick, „Danke Rob.“, strahlte er. Er bemerkte die Schmarren in Maks Gesicht, die rotbläuliche Wunde am Kopf. Er hielt ein Bund Möhren in der Hand, schlug sie auf die Arbeitsfläche und schnitt gekonnt das Grün von den saftigen Stielen. Das Feuer entfachend stellte er einen Topf darauf und kippte vorsichtig Wasser hinein. Mit einem Kochlöffel schippte er die Möhren vom Brett in das dampfende Bad. Er schnitt Wruken, Lauch und Kräuter, ließ sie säuberlich vom Brett in den Topf gleiten und drehte sich um.

„Also was gibt es Neues bei dir?“, zog er die Mundwinkel nach oben. Maks wich dem Blick in Richtung Boden aus. Seine Hand suchte nach dem Fell, welches die Haut nicht mehr wärmte, sondern eher entzog. Er rang nach Worten.

„Ich hab Mist gebaut.“, senkte er den Kopf und ließ die Schultern nachklappen.

„Was hast du getan?“

„Mist halt Rob.“, zuckte Maks mit den Schultern und riss sich zusammen nicht in Tränen auszubrechen.

„Du sitzt hier noch vor mir. Also lebst du. Und die Wachen haben dich auch nicht erwischt. So schlimm kann es nicht sein.“

„Und was wenn doch!“, löste Maks den Hasen von der Hose und hielt ihn an den Läufen empor. Rob sein freundliches Lächeln verschwand, verwandelte sich in Erstaunen.

„Wie, wo. Hast du den erlegt?“, raunte er über die Lippen. Maks schüttelte den Kopf. „Aber wer war es dann?“, griff er über den Tresen und zog ihn zu sich herüber. „Euch wurde beigebracht, das Jagen im Wald verboten ist oder?“

Die Worte brachten Maks zum Nicken, er starrte auf die zarten Linien des Holzes unter ihm, zog es mit den Fingernägeln nach, bis sie die Nägel wie rostige Sägen verzahnten. Der Drang im Kopf presste sich gegen den Schädel und wollte in einem erlösenden Schrei herausbrechen. Doch die Nachwehen dafür; bohrten sich in den Unterbauch und zogen ihn krampfhaft zusammen.

„Wenn ich mir den ansehe“, drehte Rob den Körper vor den Augen, „Sauberer Stich, kaum Blut und alt“, ließ er den Körper wedeln, „scheint er auch nicht zu sein.“

„Soll ich ihn mit in die Suppe tun?“, hob er fragend seine Augenbrauen. An der Stimme erkannte er Rob seinen Scherz nicht, durch einen Blick auf die Lippen brachte er Maks erst zum Schmunzeln. Er schüttelte den Kopf.

„Du bist glaube ich, auch nicht zum Reden hier.“, klapperte der Deckel des Topfes hinter ihm. Er drehte sich um, hob ihn an, ehe er sich am heißen Stahl an die Finger verbrannte und er ihn hastig zur Seite legte. Die Hände im Waschbecken, unter dem fließenden Wasser, drehte er sich mit einem beschämenden Grinsen zu Maks um. Doch auch dieses Lächeln verstrich rasch aus dem Gesicht.

Rob legte den Hasen in ein Tuch, wusch sich die Hände und griff nach einem Teller aus dem Regal. Er schüttete zwei Keller hinein und stellte ihn Maks vor die Nase. Er legte das Besteck daneben und deckte ein zweites Tuch über den Hasen und verbarg die Augen.

Maks nahm den Löffel in die Hand, zwischen den Fettaugen schwammen wie Glasaal die Kartoffelstreifen herum und schlängelten sich um die Möhren. Der Duft war lieblich süß, wie Thymian. Der erste Löffel beruhigte den Magen, der Zweite löste den Krampf. Der Dritte sänftigte das Meer an Gedanken, schneller schwang er den Löffel.

„Da hat aber einer ordentlich Hunger mitgebracht was?“, griff Rob nach dem leeren Teller und hob ihn auf. „Willst du noch einen Nachschlag?“, grinste er ihn an. Der Hunger im Bauch war versiegt, lahmgelegt die mürben Gedanken und doch, Platz im Magen war noch.

„Ein Éran mehr?“, grinste ihn Maks an und feilschte um den Preis.

„Ich muss ja auch von etwas leben.“; drehte er den Herd herunter und griente ihn an.

„Nein danke.“, schüttelte Maks den Kopf und griff unbemerkt in seine Hosentasche. Er fühlte über den Rand der Münzen und zählte sie ab. Zwei geriffelte Kanten einer Éran, neun glatte Ints.

Wundernd schaute ihn Rob, als er angestrengt das Gesicht verzog, als würde er die Flucht in seinen Kopf sehen, die Suche nach dem Loch in der Tasche.

„Was machen wir jetzt mit ihm?“

„Ihm?“, erstarrte Maks Hand in der Hosentasche und sein Blick schwenkte zu Rob.

„Das ist ein Rammler“, zeigte er auf die Tücher auf dem Boden. Maks schmunzelte und ließ sich tiefer in den Hocker sinken.

„Also?“, drängte ihn Rob auf eine Antwort.

„I-ich weiß nicht“, stotterte Maks.

„Dann hätte ich vielleicht eine Idee.“, zog er sein Grinsen breiter auseinander. Er nahm den Hasen in eine Hand, den Kochlöffel in die Andere, „Komm.!“

Maks folgte ihm durch die Hintertür. Durch einen Seiteneingang kamen sie hinter das Haus. Der Zaun war gespickt mit schwarzen Beeren, darunter Beete mit Kräutern. Der Duft von Thymian stieg in die Luft, mischte sich mit Minze und Kümmel. Er legte den Hasen auf den Boden, schmiss den Kochlöffel daneben und drehte noch einmal um. Mit einem Spaten und einem Ast kam er wieder aus der Tür heraus. Er knotete das Holz an den Kochlöffel, hob den Spaten auf und begann ein kleines Loch neben den Beeren zu graben.

Rob stoppte den Spatenstich, „Würdest du noch eine Kerze aus der Küche holen?“

Maks nickte aufgeregt und rannte durch den Seiteneingang wieder zurück an den Tresen, er griff dahinter und umklammerte eine Kerze. Das gedimmte Licht der Lampe blendete ihn, als wäre es die gleißende Sonne. Ein Blick aus den Fenstern, ließ die Nacht wieder Einkehr halten. Er rannte zu Rob zurück.

„Hier“, drückte er sie ihm in die Hand. Er hob den Hasen dreimal kurz hoch, murmelte still etwas und legte ihn in das Loch.

„Willst du noch was sagen?“, schaute Rob zu ihm herab. Sein Haarausfall in der Mitte des Kopfes spiegelte sich im Mondschein.

„Es tut mir leid, geleite ihn hinaus.“, peitschten die Tränen in Maks Gesicht. Rob begann das Grab zu verschließen, als der Gong der Meilenschmiede durch das Dorf hallte.

 

Nach einer Minute des Schweigens betraten sie wieder das Haus. Das Licht brach in sich in den tränengereicherten Augen, wie ein Kaleidoskop. Scharf, als würde es sich in die Netzhaut schneiden.

„Wenn du es nie wolltest, ist es auch nicht deine Schuld.“, legte er ihm lächelnd die Hand auf die Schulter und schob ihn in das Haus hinein.

„Aber ich hätte ihn aufhalten können!“, rief Maks erbost.

„Dann wirst du es beim nächsten Mal tun.“, lenkten ihn die Arme in Richtung Tür. Rob drückte die Klinke herunter und ließ die kalte Luft der Nacht in den Raum ziehen. Der Wind zog durch Maks dünnen Pullover, kühlte den wärmenden Bauch. Er stieß die Hand in die Hosentasche, zog die Münzen heraus und breitete sie auf seiner Handfläche aus.

„Behalt mal und geh nach Hause. Schaff die Prüfung einfach und revanchiere dich mal.“, winkte er ab und schob die Tür in seinen Rücken.

Maks setzte den Fuß von der Stufe und ließ den Wind seinen Körper umhüllen.

0.5_Katzenaugen

 

Das Licht auf den Straßen war verschwunden. Spärlich blassgelb waren die Fenster auf dem Weg nach Hause erleuchtet. Hinter den Vorhängen huschten Schatten durch die Zimmer. Wütende, traurige, lachende Pantomimen.

Maks senkte den Kopf zu Boden, er grub die Nase dicht in sein blaues Halstuch ein, es roch nach Zuhause, nach Sandelholz. In seine Straße bog er ein, der wackelige Pflasterstein verwandelte sich in trüben Dreck. Aber Dreck, den er wenigstens kannte. Er starrte auf die Hütten aus Blech, auf die Baracken aus Holz. Hinter den Fenstern stierten die Augen der Bewohner wie die von Katzen hervor und verfolgten jede Bewegung, die auf den Straßen schritt, auf denen zu dieser Zeit nur die Wachen noch Zugang hatten.

Doch Maks scherten sie nicht, was sollten sie tun, ihn ermahnen, ein dreckigeres Loch gab es Arian doch nicht. Er scherte sich nicht um die Gesichter hinter den Gardinen. Ein wissender Blick ließ sie wie die Maus den Käse verlassen, doch die Palisaden zogen sich wie ein Käfig um ihre angsterfüllten Augen. Der Hunger ließ sie wieder kommen. Der Himmel war bedeckt vom Nachrauchen der Schornsteine. Maks setzte den ersten Fuß auf die quietschende Diele und stieg die Treppe hinauf, er drehte den Knauf der Tür.

Er stand vor den Bergen aus Wäsche in den Ecken. Müll, der sich in der Küche sammelte und beinahe die Decke berührte und Milchkartons, die zu Platzen drohten. Stille. Nicht einmal die Rohre, die ihn begrüßten, auch kein klappernder Wind, der durch die Ritzen zog.

Er knallte die Tür in das Schloss und griff in den Schrank unter dem Waschbecken. Er zog einen Sack hervor, legte den Arm auf die Küchenzeile und schob den Dreck hinein. Wütender knallten die Knochen auf das harte Holz; wieder und wieder.

Er drehte sich um, schnappte sich eine Handvoll Wäsche und trug sie in das Badezimmer. In der Dusche legte er sie auf den Boden und öffnete den Wasserhahn. Es prasselte herunter, bedeckte den Stoff der Klamotten und ließ ihren Dreck aufsteigen. Er beobachtete wie das Wasser den Abfluss herunter strudelte. Wie es beim Einschlag in den Pfützen zersprang und in kleineren Tröpfchen, wie ein Eisvogel, wieder in das Wasser schoss. Er stand auf, blickte in den Spiegel des Badezimmers. Die müden Augen, die sein Gesicht zierten, das struppige Haar auf dem Kopf, das seit zu langer Zeit nicht mehr geschnitten wurde und auf die Schürfwunden der Handflächen. Das schmutzige Blut färbte die weiße Keramik in ein trostloses Braun, es rannte herunter, fester drückte er auf die Wunden und wusch sie aus. Er biss die Lippen aufeinander.

 

Im Schatten der Nacht drückte sich seine Haustür auf, mit einem Müllsack bewaffnet verließ er die Wohnung. Er spähte in alle Richtungen, kalte Angst kroch ihm in den Nacken. An der Treppe behielt er die Augen auf den Dielen. „Die Zweite von unten.“, murmelten wiederholend seine Gedanken. Er streckte das Bein weit aus, trat auf die erste Stufe und zog das andere hinterher. Der Sack im Rücken entfesselte seine Kraft und drückte ihn schneller in die Tiefe. Er stützte sich am Geländer.

„Ahh“, riss er sich einen Splitter am morschen Holz ein. Der Schmerz ließ ihn mit den Zähnen knirschen. Er ließ sich gegen das Geländer fallen und stabilisierte das Gewicht. Erschöpft schritt er von der letzten Stufe. Der modrige Boden unten seinen Schuhsohlen fühlte sich weich an, leichter Regen setzte ein.

Er schlich um die gestapelten Baracken herum. Die Furcht erhöhte den Herzschlag. Gerichtet der Blick auf die Gasse.

Hinter dem Haus stapelten sich Müllsäcke, doppelt so hoch und dreimal so breit wie er selbst. Er stellte den Sack dazu, das Licht des Mondes reflektierte sich auf der Verpackung und blitzte zurück. Maks wand den Blick ab vom Haufen, presste die Lippen aufeinander, Schande spürend und richtete sich wieder zur Straße.

„Was machst du hier?“, erschien eine flackernde Lichtkugel vor ihm. Eine Wache schwenkte ihm die Lampe vor der Nase herum. In der Frequenz der Schatten erschien sein genervtes Gesicht, seine abfälligen Augen, die braunen Haare.

„I-ich“, rückte das Licht ab von ihm, „Ich musste nur mal pinkeln“, blendete Maks die Lampe mit der Hand ab. Die weißgraue Tracht der Wachen reflektierte es.

„Hier?“, grimmte sich sein Blick. Er leuchtete die Dunkelheit aus. „Naja“, kam der Schein vor der Ecke zum Stehen. Er musterte Maks spärliche Kleidung.

„So riechen tut’s ja. Dann geh mal wieder zurück und pass auf, dass du dich nicht vollpinkelst.“, sprach die Wache und ließ Maks seine Beine in Bewegung setzen. Er huschte an ihr vorbei.

„Ist gefährlich hier nachts!“, wedelte die Wache grimmig mit der Lampe, bevor sie in Gelächter ausbrach und wieder Richtung Straße schritt. Maks spurtete die Treppe empor. Er übersprang die zweite Stufe, drückte seine Haustür auf, schmiss sie zu und lehnte sich dagegen. Sein Herz klopfte nicht nur, es raste. Jeder Atemzug senkte die Frequenz und ließ den Druck im Brustkorb sinken. Maks stützte sich von der Tür ab, rannte in Richtung des Bettes und näherte sich dem Fenster. Er spähte durch das Glas auf die Gasse, auf das Licht der Lampe das sich der Straße wieder näherte und ihr Flackern größer gegen die Metallkäfige schlug.

Die Müllbeutel flimmerten im Mondlicht. Er ließ sich auf das Bett fallen, streifte die Schuhe mit dem Fuß aus und ließ sie zu Boden poltern. Mit einem beherzten Griff an den Hals löste er den Knoten seines Halstuches und legte es neben das Bett. Er drehte sich auf die Seite, spähte auf die grünfleckige Wand und schloss lächelnd die Augen.

„Morgen wird ein besserer Tag.“, murmelte er und ließ sich vom Pochen des Herzens in den Schlaf treiben, mit den Tropfen des Regens, der begann, gegen die Scheibe zu prasseln, erinnerte es ihn dumpf an die Klänge eines Nachtliedes.

0.6_nichts Neues

0.6_nichts Neues

 

Der Gong der Meilenschmiede schepperte durch die Straßen. Verschlafen streckte Maks den Oberkörper auf und richtete sich der aufgehenden Sonne entgegen. Sie trug ihr Licht durch die Baumkronen an das Fenster. Er drückte den Rücken durch, das harte Bett bescherte selten eine erholsame Nacht, geschweige denn gute Träume. Er sprang heraus, putzte sich, bevor er sich die letzten Klamotten aus dem Schrank fischte. Der warme Stoff seiner Weste schmiegte sich an den Körper und wärmte das kalt gewordene Blut der Nacht. Aus dem Hahn ließ er sich ein Glas Wasser ein und schluckte es in einem Rutsch herunter. Er widmete sich der Tür, öffnete sie und griff nach dem Rucksack neben ihr. Geschultert betrat er die Schwelle.

„Mist.“, machte er auf dem Absatz Halt und stürzte in Richtung des Bettes. Er griff nach dem Halstuch, knotete es zu, schritt in Richtung der Tür und drehte sich noch einmal um.

Kein Lärm drang von den Straßen, keine Menschen die schrien und auch kein Geklapper der Maschinen aus der alten Fabrik, dass den Moment der Ruhe zerstören könnte. Er senkte den Blick etwas ab, fing den Duft seines Halstuches ein und schritt auf die Straße zu.

„Aus dem Weg da!“, stieß ihn ein kleiner Junge gegen den Oberschenkel und drückte ihn in die Gosse zurück, aus der er kam. Zwei weitere Kinder rannten ihm hinterher. Sie lachten, drehten sich feixend beim Laufen um.

„Man das ist nicht fair!“, hechelte ein dicklicher Junge hinter ihnen her. Bibb, er war in seiner Klasse. Er saß drei Reihen vor ihm, war ein Jahr älter als er und dennoch das Opfer der Streiche der Jahrgänge unter ihnen. Sie klauten ihm die Tasche, zogen auf dem Pausenhof unentwegt Grimassen, wenn sie ihn sahen, einmal, verstreuten sie Krumen eines Brotes auf dem Weg zur Schule und lockten ihn wie eine Taube über den Weg. Ihr hämisches Lachen klang erneut in Maks Ohren.

„Ich krieg euch!“, hechelte er an Maks vorbei, sein schweißtriefendes Gesicht verweigerte einen Schwenk nach rechts. Im Schatten der Gasse blieb Maks vor ihm unerkannt, ungesehen, als würde er selbst nur ein Abbild der Dunkelheit sein.

 

Er schüttelte den Kopf und weckte sich aus seinem Kreis der Gedanken, mit der Fußspitze löste er einen Stein aus dem Schlammpfad und schoss ihn ein paar Meter die Straße entlang. Arbeiter waren um diese Uhrzeit keine mehr auf den Straßen, mit dem ersten Gong begann ihre Schicht, außerhalb der Augen derer, die nicht dazu berufen waren. Er trieb die Kinder aus den Federn, wechselte die Schicht der Wachen und ließ die Händler aus ihren Häusern kriechen. Maks erreichte den Pflasterstein des Dorfes. Das Lied der Glocke ertönte ein zweites Mal. Die Augen weiteten sich, wie in Schockstarre, rechnete er die Zeit nach, überlegte wo er trödelte. Oder hatte er verschlafen?

Seine Füße trieben ihn schneller über den steinigen Weg, vor einem zinnfarbenen Gebäudekomplex kam er zum Stehen. Zwei Etagen mit großen Fenstern und gläsernen Gängen erstreckte sich vor ihm. Einige der Fenster waren getrübt, andere ließen die Sonne zurück auf die Straße scheinen. Die rotbraunen Holztüren knackten im Wind, der durch die Wege hauchte. Er griff an den kupfernen Knauf und bahnte sich den Weg in das Innere. Die steinerne Ornamentik im Flur ließ seine Schritte lauter hallen. Er verlangsamte sie, bog nach links, vorbei an der großen Treppe, die in den zweiten Stock führte. Wie eine Elster, wissend über ihren Trug der glitzernden Münze, schlich er durch den Gang. An den Türen der anderen Klassenzimmer duckte er sich, die gläsernen Scheiben könnten ihn sonst verraten. Vor einer braunen Tür mit einem grünen Beschlag blieb er stehen. Er drückte das Ohr an die Tür und lauschte den Stimmen im Innern.

Von drinnen drang das Getuschel und Gemurmel der anderen Kinder. Er spähte auf, durch die Scheibe hindurch auf den Lehrertisch. Er war leer, also nahm Maks den Mut zusammen und drückte die Tür einen Spalt auf, schob den Körper hinein.

In der vordersten Reihe tratschten Luna und Malie miteinander, sie kicherten verlegen in ihre Hände. Sika legte den Kopf auf die Handrücken und stierte in ein Buch vor sich. „Grinnels Lehren des Alltages“, prangte der Titel dick über jeder Seite. Jamel und Abel spielten in der vorletzten Reihe „Mausern“, Abel siegte. Bibb klammerte sich um seinen Rucksack und lehnte sich noch immer keuchend im Stuhl zurück und an der Fensterfront, saß Marek.

Er starrte ihn an. Beobachtete, jede Bewegung die seinen Körper durchzog, jedem Huschen der Pupillen. Maks biss sich auf die Innenseite der Lippe, so, dass es niemand bemerkte, fester, und ging den ersten Schritt. Er zog sich seinen Rucksack herunter, schlich durch den Gang und näherte sich Marek. Neben ihm bog er ein, bis ein kräftiger Stoß ihn wieder zurück katapultierte.

„Du hast mir noch keine Antwort gegeben.“, blaffte er ihn an. Maks presste den Bauch gegen den Arm, sammelte die Kraft in den Beinen und versuchte ihn wegzuschieben. Doch Mareks Kraft bezwang er nicht, er spannte den Arm an und schob ihn wieder zurück an die Stelle. „Bist du jetzt noch taub oder was?“, rückte sein Stuhl nach hinten.

Was!

Zog sich sein letztes Wort in seinen Gehörgang und erzeugte einen dumpfen Schrei. Er isolierte die Außenwelt, hörte ihr sie nur noch gedrungen.

„Man ich red mit dir!“, griff Marek ihm an die Weste, stoppte das Pendeln der Pupillen, den Schrei in den Ohren und löste den Biss auf die Lippe.

„Ich hab dir nichts zu sagen!“, umklammerte Maks die Faust an der Weste. Doch die Kraft reichte nicht aus, er schob ihm den rechten Arm in das Gesicht, drückte ihn zurück.

Marek wand sich stöhnend heraus. Er holte mit der anderen Hand aus, „Schmutz“ schrie er und ließ sie auf ihn niederprasseln.

„HEY!“, stoppte die zweite Faust gegen die Schläfe. Ein wütend dreinblickender Hagame betrat das Zimmer. Er schulterte sich die braune Tasche herunter und stellte sie auf den Lehrertisch. Das Getuschel verschwand, das Geraschel, die Blicke, die sich von den Streithähnen wegschoben. Nur nicht die Wut aus Mareks Augen. Ächtend schob er die Lippen auseinander, bevor er sich auf seinen Platz setzte.

Hagame holte ein bronzenes Namensschild aus der Tasche und präsentierte es an der Spitze des Tisches.

Ln. Hagame, pressten sich die Buchstaben in ihr blechernes Kleid. Stolz schaute er es an, bevor er Marek und Maks mit einem Blick strafte, der stärker in den Adern zog als der Biss jeder Giftschlange.

„Syncologie steht heute auf dem Lehrplan! Schlag dazu bitte das Buch auf Seite 171 auf“, sprach er mit ernster Miene und starrte vereinzelt auf die Kinder, wie sie in ihren Taschen kramten und vergeblich suchten, einige fanden es, während andere es längst in den Händen hielten. Er nickte Sika freundlich zu, als er in ihr aufmerksames Gesicht blickte. Mit einem erleichterten Jauchzen legte Luna ihr Buch auf den Tisch und grinste Hagame entgegen. Das Rascheln verschwand, bis auch Maks das Werk auf den Tisch sinken ließ. Das Zittern der Knochen lähmte die Bewegung. Die Schrift auf den Seiten verschwamm zu Brei, er folgte den Überschriften, die schnörkelig am Rand prangten.

„Ortskunde...spielend Jagen...listig Suchen“, brabbelte er sie, bis die Buchstaben den Sinn ergaben, den er suchte. „Syncologie“; fand er sie und plapperte sie gedanklich wie ein Professor nach.

„Ließt du bitte den ersten Abschnitt Luna?“, ertönte Herr Hagames Stimme durch den Raum.

„Mit den Suchern und Jägern kam eine weitere Macht in das Land. Die Tüftler. Aus den Arbeiterkreisen heraus entwickelten sie sich, schufen Kreaturen aus Blech und Stahl und präsentierten ihre Kunststücke auf den Straßen. Schnell fanden sie Anklang, unter den Kindern verteilten sie winzige Maschinen, wie Vögel, Hamster, Katzen, um den Menschen die Scheu zu nehmen. Doch mit der Akzeptanz stieß auch die Gier in den hungrigen Mäulern auf. Sie entwickelten sie weiter, verfeinerten die Drähte, schliffen den Stahl auf die Dicke eines Haares und gaben ihnen Fähigkeiten, mit denen kein Tier es aufnehmen konnte. Doch den Maschinen fehlte es an Kraft, nach Stunden sank die Leistung, nach Tagen brach der Stahl und nach Wochen füllte der Schrott halbe Wälder.“

„Sehr gut und flüssig.“, belohnte Herr Hagame Luna mit einem zufriedenen Kopfnicken. Sie schüttelte ihr braunes Haar nach vorne und griemte über die Wangen hinweg.

„Sika machst du bitte weiter.“, richtete er die Handfläche auf das blonde Mädchen aus der ersten Reihe. Sie rückte sich ihre Brille zurecht und ließ den Kopf über das Buch steigen.

„Sie erschufen die Syncs. Mächtige Maschinen, die in den Wäldern lebten und Fremde erkennen konnten. So brachten die Tüftler ihren Nutzen in die Menschheit und forschten mit dem Geld der Einwohner. Sie erschufen mächtige Kreaturen wie den Lizaren oder den Ramot, doch mit den Syncs verschwanden die Tiere um das Dorf herum, die Wälder wurden karger und der Boden ärmer. Die Menschen leugneten es, bis sie die Dürre in den Kehlen spürten und die Bäume des Waldes sie nicht mehr schützten. Missgunst stieg über die Tüftler, doch ließ ihre Neugier nicht abreißen.“

„Schön.“, drehte sich Herr Hagame zur Tafel um und malte einen großen Kreis mit dem Stift. Er setzte einen Kleineren davor, malte eine Art Schnabel und zog zwei Stelzen nach unten.

„Das hier ist also ein Vogel.“, tippte er auf die Tafel. „Aber was wenn das eine Maschine ist?“

Sika schnippte mit dem Finger und meldete sich, der Rest der Klasse versuchte, hinter den Büchern zu verschwinden.

„Dann nennen wir es Sync!“, erlöste Hagame Sika.

Er malte den Namen über den Kopf der Skizze. Zufrieden setzte er den Stift tiefer an und drehte den Kopf in die Klasse. „Welche Energien benutzt er, um zu überleben?“

„Sonne!“, rief Sika dazwischen und raubte Luna, die ihren Arm vorsichtig in die Höhe streckte, die Sprache.

„Willst du was ergänzen Luna?“, sah Hagame sie an.

„Licht generell.“, sprach sie launisch und starrte zu Sika. Hagame drehte sich zur Tafel und malte über den Kopf des Vogels einen Mond und eine Sonne, ahmte die Strahlen ihrer nach. Auf den Körper der Zeichnung zog er feine Linien ein. „Über die Leylinien nehmen sie Licht aus den Quellen auf. Was noch?“, ließ er den Stift schlaff in der Hand hängen und äugte durch die Klasse. Bibb meldete sich.

„Durch Bewegungsenergie.“, nickte Bibb ihm fröhlich zu, sein Oberkörper wippte im Gewicht mit.

„Richtig“, malte Hagame zwei kleine Zahnräder um die Beine herum. „Die feine Konstruktion im Inneren ermöglicht es, selbst den geringsten Kraftaufwand in einen Neuen umzuwandeln.“

„Wie ein Perpetuum mobile?“, ächzte Sika ihre Stimme dazwischen.

„Nein.“, schüttelte Hagame grinsend den Kopf, „Aber das bringt uns zum letzten Punkt. Was fehlt?“, tippte er auf den Schnabel des Wesens.

„Futter.“, warf Marek ein. Sika lachte ihn von der Seite an. Er wartete auf den einschüchternden Blick von Hagame und hielt ihm stand.

„Durch Nahrung die sie in der Natur finden.“, zeichnete er einen Wurm um den Schnabel herum und malte ihm zwei Augen.

„Kacken die also auch?“, kicherte Abel wie eine Hyäne durch das Klassenzimmer.

„Gute Frage.“, grinste ihn Hagame an, „Sie scheiden über die Öffnung, die sie einnahm, die Nahrung auch wieder aus.“

„Ist ja widerlich.“, zuckte Abel angeekelt zusammen. Die Klasse schaute angebiedert weg, nur Maks der streng dem Blick von Marek verfolgte und auf jede seiner Bewegung achtete. Hagame unterbrach das Gemurmel.

„Maks was ist seine Fähigkeit?“

„Maks?“, wiederholte er den Namen eindringlicher und schaffte sich Platz in seinem Gehör.

„Was?“, stieß er auf.

„Die Fähigkeiten.“, klopfte Hagame mit dem Stift auf die Tafel. Maks haderte, er überflog den Text vor sich, stolperte über jedes zweite Wort.

„Ü-über die Sonne?“, rang er sich eine Antwort heraus und hielt hoffend den Blick auf Hagame. Er schüttelte seicht den Kopf und spannte die Mundwinkel an. Maks kannte dieses Gesicht, den enttäuschten Blick.

„Das hatten wir schon“, tippte er in die rechte obere Ecke und zeigte mit dem Stift auf Sika.

„Sie hören unglaublich gut, sehen dafür aber schlechter“, begann sie ihren Satz. Jamel fuhr ihr in das Wort.

„Und dann explodieren die!“, ahmte er mit den Händen einen riesigen Feuerball nach. Die Schüler kicherten, Sika ihre Wangen färbten sich in einem seichten Rouge, sie schwieg. Jamel drehte sich zur Seite, er suchte die Bestätigung Mareks. Doch erntete nur einen stummen Blick, der auch ihm das Lachen aus dem Gesicht wusch.

„Jamel übertreibt etwas, aber er hat Recht.“, begann Hagame einen kleinen Kreis in den Bauch des Vogels zu zeichnen und beruhigte die Klasse.

„Sie sind die Sucher Syncs. Sie sitzen im Wald, lauernd und spähend scharen sie sich zu Massen in den Baumkronen und warten nur auf ein Geräusch, das eine fremde Anwesenheit signalisiert.“, ermahnte Hagame.

„Hä, ja und dann?“, unterbrach ihn Abel.

„Jamel erklärst du es deinem Bruder?“, suchte Hagame den Blick nach links.

„Man sie explodieren du Trottel.“, verschmähte Abel den Blickkontakt zu seinem Bruder.

 

„Und wie ...“, fuhr Hagame seinen Satz fort, bis ihn das Klingeln des Stundenendes unterbrach. Aufgeregt rutschten die Kinder mit den Stühlen nach hinten und quietschten über den Boden. Sie griffen sich ihre Rucksäcke und Taschen, ihr Spielzeug und rannten aus dem Raum heraus. Hagame drückte die Kappe auf den Stift und steckte ihn zurück in die Tasche. Er schaute auf. Sah auf die einzig beiden Schüler, die noch saßen. Marek, der verfangen in Gedanken aus dem Fenster starrte und den Wolken, die über dem Himmel fortglitten, nachsah. Und Maks, der den Blick fürchtend auf ihm behielt.

„Nun raus.“, rief Hagame durch das Klassenzimmer und weckte Marek aus seiner Trance. Er rutschte mit dem Stuhl nach hinten und stellte sich auf. Stoisch drehte er sich um.

Sachte hob Maks den Stuhl nach oben und schob ihn zurück. Seine Finger pressten sich gegen den kalten roten Stahl, sie taten weh vom Druck, bis er Stand, spürte er wie das Pochen im Herzen sich beschleunigte. Er steckte das Buch zurück in den Rucksack, der aufgerissene Buchdeckel kratze am gewebten Stoff. Maks schluckte, schulterte das Gewicht und schritt durch den Gang. Marek stand noch immer an seinem Platz. Der Kloß im Hals wurde dicker. Maks richtete die Augen auf den Boden, einige Steinkacheln im Boden hatten Risse. Ein kalter Schauer huschte er an Marek vorbei und bog rechts in Richtung Tür. Das Schaben seiner Füße hörend, hielt er den Blick auf dem Lehrertisch, auf die kunstvoll gearbeiteten Beine, auf denen ein Affe auf einem Baum saß. Auf die sieben Kerben, die in die Banane eingeritzt waren.

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte Hagame Marek, als er an ihm vorbei ging. Maks beschleunigte den Schritt, als ihn eine Berührung an der Schulter packte. Mareks Finger trommelten auf ihr.

„Wir? Ganz sicher nicht.“, zog er die Schulter zurück und drehte Maks sein Gesicht zur Seite.

Er starrte an ihm vorbei, an die pissgelbe Wand, die sich vor ihm erstreckte und wich auch Hagames suchenden Blick aus. Spürte sie dennoch auf der Haut.

„Nein, nichts Neues Herr Hagame“, lächelte Maks ihm gezwungen zu, riss sich die Hand von der Schulter und setzte seinen Gang fort. Er schritt über die Schwelle der Tür und schloss die Augen für einen Wimpernschlag.

0.7_Im Kleid der Schwalben

0.7_Im Kleid der Schwalben

 

Die Tür knallte lautstark in das Schloss. Der scheppernde Aufprall dröhnte durch den Korridor und schreckte Maks seinen schleichenden Gang auf. Er blieb stehen. Hinter ihm hallten Schritte. Für Hagame waren sie zu leichtfüßig, ein tiefes Schnaufen, das auf Maks zuraste.

„Denkst du, du kannst weglaufen?“, packte ihn Marek mit der Hand um den Hals und drückte ihn gegen das Treppengeländer.

„Ich werde dich finden, jeden Tag, jede Pause aufs Neue!“, erhöhte er den Druck.

Maks Brustkorb drückte sich gegen die Wand, seine Rippen quetschten sich und zogen einen stechenden Schmerz durch den Körper.

„Ich...hab...dir...nichts...getan!“, röchelte er nach Atem.

„Und wirst es auch nicht mehr!“, holte er mit der Faust aus und vergrub sie in seinem Bauch. Gezerrt vom Schmerz sackte Maks zusammen und kauerte die Knie gegen das kühle Geländer. Mareks Schritte entfernten sich von ihm, hallten blechern in seinem Kopf nach. Die Tür zum Schulhof knarzte beim Öffnen, die hölzernen Planken schoben einen Luftzug bei jedem Schwung durch den Korridor. Er wehte Maks in das Gesicht. Sein Atem stockte beim Einatmen, er konzentrierte sich und lehnte den Kopf an die Wand. Dumpf prallte der Hinterkopf ab, federte, bevor er zur Ruhe kam. Maks schloss die Augen, einen Bruchteil länger mit jedem Wimpernschlag.

Das Ziehen in den Rippen verstärkte sich, als würde ein riesiges Loch in seinem Inneren entstehen, ihn aussaugen wollend.

Gib mir die Kraft!

„Ruft einen Arzt!“, pochte Hagames Stimme wieder und wieder gegen Maks Stirn. Benommen öffnete er die Augen. Er lächelte, versuchend und schloss sie wieder.

 

„Er ist nur ohnmächtig geworden“, wedelte eine Frau mit ihrer Hand, bevor sie den Gummihandschuh herunter zog.

„Da bin ich erstmal erleichtert.“, seufzte Hagame und biss ein Stück seines Pausenbrotes ab. Er schaute auf Maks. Die Wangen bekamen wieder Farbe, die Augen wieder Licht.

„Ausruhen sollte er sich trotzdem.“, wedelte ihr kastanienbraunes Haar vor ihm.

„Das ist die letzte Stunde gleich.“, schob sich Hagame das letzte Stück Rinde in den Rachen. „Mikal, danke dir.“

„Nicht dafür.“, lehnte sie sich unter Maks seine Schulter und drückte ihn empor. Die Beine suchten wackelig den Halt auf den Boden, sie knickten zu den Seiten um, als könnten sie das Gewicht des Körpers nicht mehr tragen, zumindest fühlte es sich für ihn so an. Er stiefelte aus dem Zimmer, stützte sich am Türrahmen, ehe er sich im Hausflur umdrehte. Hagame stand noch in der Tür, er verweilte den Blick länger im Raum. Bis er sich wieder Maks widmete.

„Geh raus, ein bisschen frische Luft schnappen. Das tut dir gut.“, lächelte er ihn mitleidsvoll an. Maks folgte dem Stoß, den er seiner Schulter versetzte und steuerte auf die Hoftür zu. Die Scharniere der Türen klapperten, er schloss die Augen, sie klangen wie heidnische Gesänge. Hagame verschwand in das Klassenzimmer.

Maks strahlte die Sonne in das Gesicht. Er richtete den Blick nach oben, auf die kupferne Sonnenuhr über der Tür. Ranken und Schlangen krochen silberscheinend am Gerüst entlang. Die Sonne pendelte zwischen drei goldenen Beschlägen. Eine Ratte, die am Anfang stand, eine Eule in der Mitte und dem Abbild eines Affen mit riesigen Augen im Vergleich zum Körper. Maks schätzte die Zeit, schritt an der Traube seiner Klasse die sich neben dem Eingang sammelte vorbei. Ihre Blicke stachen. Er konzentrierte sich auf die Atmung.

Hinter einer brüchigen Wand aus Beton fand er Ruhe. Zumindest in den Zeiten, in denen die spielenden Kinder nicht von der anderen Seite mit einem Ball dagegen schossen. Maks lehnte den Kopf nach hinten. Die Birke neben ihm ließ die Blätter vom Wind streicheln, er spürte, wie ihre wehenden Schatten seine Haut berührten.

„Hast du vielleicht Hunger?“, erschrak ihn eine Stimme und ließ ihn zusammen zucken. Luna stand vor ihm, ihren Rucksack trug sie tief auf ihrem Rücken, die Sonne kitzelte die Spitze ihrer Nase und blendete ihre tiefblauen Augen. „Schokolade hilft, hab ich mal gehört.“ Sie legte ihren Rucksack ab, wühlte darin und holte eine halb aufgegessene Schokoladentafel hervor. Sie ließ sich zu Boden. Maks zuckte zusammen, rutschte weichend nach links aus. Unbeirrt brach sie ein Stück heraus und reichte es ihm. Er nahm es, ließ die Sonnenstrahlen die Oberfläche berühren, bevor er es zartschmelzend auf die Schneidezähne legte. Sie schaute ihn an.

 

Das Klingeln der Pause unterbrach ihren Blick, die Scharniere der Tür klackerten unentwegt. Luna huschte auf, sie schwang sich ihren Rucksack wieder um und stand wartend vor Maks. Doch er ließ keine Regung zu.

„Wir müssen rein“, zeigte sie mit dem Finger in Richtung der Eingangstür und starrte ihn auffordernder an.

„Nah, dann nicht.“, rollte sie mit den Augen und verschwand hinter der Betonmauer. Die Eingangstür ruhte sich mit jeder Sekunde mehr aus. Maks stemmte sich auf, schnappte nach dem Rucksack und trug ihn hinein.

 

„Aus dem Weg! Aus dem Weg! Aus dem Weg!“, schob sich eine tattrige Frau mit einem Schubwagen bewaffnet den Weg durch den Korridor. Schüler, die nicht rechtzeitig ihrem Kurs auswichen, rollte sie über den Fuß. Maks blickte ihr hinterher, dann betrat er das Klassenzimmer.

„Mach die Tür bitte zu.“, sah ihn Hagame an, er schloss sie, „Du bist zu spät.“

„Ich war nur noch auf Toilette.“, senkte er den Blick und suchte sich den Weg in seine Reihe. Es klopfte. Dann öffnete sich die Tür erneut. Luca trat ein. Die Kapuze seines schwarzen Pullovers hing ihm tief im Gesicht.

„Du kommst uns auch besuchen?“, begrüßte Hagame sein Erscheinen. Er beobachtete wie Luca die Tafel musterte. „Schattenwächter?“, zeigte er mit dem Finger zu ihr. Hagame zog den Stift und ein kleines schwarzes Buch aus der Tasche. Er notierte etwas, richtete den Blick wieder zur Tür und nickte ihm bestätigend zu.

„Dann komm ich sogar noch zu früh.“; fläzte er sich auf den ersten Stuhl neben der Tür.

„Wie Luca bereits sagte, kommen wir damit zum letzten Punkt. Ihr eigentlicher Name ist REN Sync 643, aber gemeinüblich heißen sie Schattenwächter.“, ergänzte Hagame und schrieb die Namen mit einem Strich getrennt über die Zeichnung. Luca lehnte sich im Stuhl nach hinten.

„Und was wurde uns beigebracht, aus was sie bestehen?“, schob er fragend die Augenbrauen nach oben.

„Aus dünn geschliffenen Drähten, einer feinen Mechanik und Leylinien.“, seufzte Sika auf, „Wärst du in der ersten Stunde da gewesen, wüsstest du das!“, schob sie pampig hinterher.

„Darauf will ich nicht hinaus. Welche Quelle brauchen Sie Hagame?“, richtete Luca den Blick starr nach vorne.

„Einen Anima.“, schwenkten Hagames Augen beantwortend durch die Klasse. Die Hälfte beendete ihren fragenden Blick, bei den Anderen zog er sich länger.

„Luca hat Recht. Wie bereits erwähnt arbeiten drei Systeme für den Erhalt eines Sync, aber die Urkraft fehlt. Ein Anima, eine lebende Seele. In unserem Beispiel wäre das eine?“, blickte er fragend in die Runde.

Sika meldete sich, sie schaute sich nach einem weiteren Finger um, als sie keinen sah, posaunte sie ihre Antwort heraus. „Nachtschwalben, weil sie bei jeder Gefahr aufschrecken!“, zog sie ein triumphierendes Grinsen auf ihre Lippen.

„Und damit kommen wir auch zu ihrem Schwachpunkt ...“; ein Würgen unterbrach Hagame. Er starrte in die vorletzte Reihe. Das saugende Loch in Maks seinem Inneren verschluckte die Wärme in ihm, hinterließ nur eisigen Frost, der sich durch die Adern fraß. Sein Magen rebellierte, krampfte und ließ ihn Würgen. Eilig rutschte er mit dem Stuhl nach hinten und rannte aus dem Zimmer heraus. Durch die offene Tür hallte das Gelächter der Klasse ihm nach. Er flitzte auf die Toilette.

 

Als er heraus kam, fing ihn Mikal ab, sie kniete sich in die Hocke, „Du gehst jetzt besser nach Hause, ich sage Hagame Bescheid.“, legte sie eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte nach hinten, doch ihr Griff ließ nicht ab. Nickend stimmte er ihr zu. Ihre Hand führte ihn über den Korridor, vor die Tür seines Klassenzimmers. Mikal öffnete sie, schaute Hagame verlegen an. „Ich nehm einen deiner Schüler raus, gibst du mir seinen Rucksack?“

Hagame machte einen hastigen Schritt nach vorne, fing sich und schritt gemächlich in die vorletzte Reihe. Unter dem Tisch zog er den Rucksack hervor und begab sich wieder auf den Weg zu Mikal. An der Tür lehnte er sich ein Stück nach draußen und öffneten den Blick auf Maks. Hämisch grinsend stierten Mareks Augen durch das Zimmer zu ihm. Dann schloss sich die Tür.

„Nun hopp“, schmiss Mikal Maks den Rucksack entgegen. Herausgerissen aus seinem Traum riss er die Arme nach oben und fing das fliegende Geschoss kurz vor dem Gesicht auf. Als er die Hände senkte; war Mikal bereits verschwunden. Er ging nach Hause. Lernte an diesem Tag das Schweigen kennen.

0.8_Der letzte Tag

0.8_Der letzte Tag

 

Der Herbst hielt Einzug in die Straßen Arians. Eisige Winde die sich mit jedem Tag mehr durch die lichter werdenden Wälder zogen und durch die Gassen und Straßen des Dorfes pfiffen. Mit dem Fall der Blätter, änderten sich auch die Menschen, zumindest kam es Maks immer so vor. Distanziert, kühler, als würden sie nur im Licht der Sonne ihren Körper kontrollieren können. Missgunst stieg in den Köpfen ein. Die schlechte Ernte würde die meisten Menschen nur bis in die Wintermonate ernähren, die Tiere, die einst in den Wäldern lebten entfernten sich weiter vom Dorf. Nur ihre Schreie, die durch die frühwerdenden Nächte hallte, erinnerte an manchen Abenden an sie.

 

Mit dem Winter stieg der Hunger in den Mägen. Im regen Gedränge auf dem Marktplatz versuchten die Menschen unter Getose das beste Angebot zu erhaschen, am Preis zu feilschen, ihren Nachbarn zu überbieten, um den eigenen Keller zu füllen. Die Gesichter an Maks Fenster zogen ausgemerzter an ihm vorbei und verschwanden hinter den Toren der Fabrik und den Türen der Häuser.

Der Frühling setzte wieder die Saat der Hoffnung in die Köpfe der Menschen. Wie geschundenes Licht suchten Sie den Weg aus der Dunkelheit. Doch wenn sich Missgunst erst einmal legt, ist ihm die Gier auf den Fersen. Die Narben, die der Schnee in den Menschen hinterließ, verblasste nicht. Das Geschrei auf dem Marktplatz wurde aggressiver, lauter, mit jedem neuen Jahr, als würde die Stille an diesem Ort nicht mehr existieren. Maks drehte sich im Spiegel. Außer einem Wachstumsschub und der hinterlassenen Narbe an der Schläfe veränderte sich nichts. Nur die Zeit die immer schneller, wie ein Metronom im Kopf tickte.

Er zog sich an, streifte sich seinen ausgeleierten grauen Pullover über und schritt aus der Tür heraus. Er trat auf die knarzende Stufe der Treppe und trieb das Quietschen wie einen Schrei durch den Hausflur. Auf der Straße schwenkte er den Blick überprüfend zu den Seiten. Die Fabrikarbeiter kamen aus ihren Häuser und besetzten sie. Müde Schritte, die sich ihren Weg an die Dorfgrenze bahnten. Maks schritt durch sie hindurch, in die andere Richtung, zu den Wegen mit den Pflastersteinen. Grimmige Blicke, die sie ihm zuwarfen. Durch seine Größe schien er einer von Ihnen zu sein. Die Haut, die sich eng an die Knochen legte, bestätigte den Eindruck. Und doch schritt er gegen den Strom.

 

Ein tiefer Atemzug, erhob er den Blick. Konzentriert als würde er durch die Köpfe der Menschen schauen können. Siebzehn Tage bis zu den Prüfungen. Siebzehn und mit jedem Tag schürte sich eine lähmende Angst dichter um den Körper und raubte ihm die Kraft, stieg wie loderndes Feuer durch die Venen. Mit der Angst kroch die Furcht in die Blutbahn. Die Furcht vor Marek, er vermied den Kontakt und streifte seit dem letzten Jahr früher in die Schule. Doch die Arbeiter sahen nicht den Grund, nur einen von Ihnen, der sie nie auf ihrem Weg begleitete. Zusammenhalt nutzten sie als Standbein ihres Glaubens. Achteten auf die linke Tasche und klauten aus der Rechten.

Die aufgehenden Sonnenstrahlen am wolkenlosen Himmel wärmten seine Haut auf. Er legte einen Schritt zu. Watschelte durch die Menschenmengen, bis er den Pflasterstein unter den Beinen sah und ihre Anwesenheit verschwand. Niemand der Arbeiter wohnte im Dorfzentrum, vertrieben in hölzerne Baracken und blecherne Hütten, lebten sie wie Maks, abgeschieden von der Sprache.

 

Die Eingangstür der Schule war noch verschlossen. Maks streifte den Rucksack herunter, ging zur Betonmauer und setzte sich vor ihr hin. Im oberen Stockwerk der Schule brannte Licht. Zwei Schatten schimmerten durch die trübgläsernen Scheiben zu ihm herunter. Ihre Handbewegungen, die Stille dazwischen, als würden sie sich unterhalten. Eine Wache lenkte in Richtung Schule. Ohne ihn zu beachten, schritt er auf die Eingangstür zu und löste einen Schlüsselbund vom Gürtel. Er öffnete die Türen, bevor er sich umdrehte und weiter in Richtung Dorfmitte lief.

Maks stand auf und drückte zaghaft die Türen des Korridores auf. Die Stille im Korridor fühlte sich nicht wie Stille an, erdrückend, beengend, formten sich die sonst hallenden Geräusche im Kopf zu einem dumpfen Pochen.

Im Klassenraum setzte er sich auf seinen Stuhl. Aus seiner Tasche kramte er das Lehrbuch hervor. Der zerfledderte graubraune Buchdeckel klappte zur Seite.

„Lehren der Inku“ von Damian Jane, titelte auf der ersten Seite. Er blätterte weiter und schlug das erste Kapitel auf, Ortskunde.

Maks hatte nie im Buch gelesen. Die Unterlagen, die er im Unterricht fertigte, fanden sich Zuhause zerknüllt im Rucksack wieder. Kritzeleien am Rand, bemalte Kästchen, die seine Aufmerksamkeit eher auf sich zogen, als die Informationen, die durch den Raum flossen. Aus den zerknülltem Papier wurde Müll, die Schrift, die darauf stand, verschwomm und verstreute sich wie Sand im Meer. Und mit jedem Tag, der vor ihm verstrich, die erdrückende Angst und Erkenntnis, die Prüfung nie bestehen zu können. Genervt vom Gedankenkarussell blätterte er weiter im Buch, 91 Seiten gehörten zum Kapitel. Gefüllt mit Geschichte, Erinnerungen, Orten und dem Leben, das hier einst blühte. Verträumt starrte er auf die Buchstaben. Sie begannen zu zittern, zu vibrieren, bis sie unter einem grauen Schleier verschwanden.

„Nun reiß dich zusammen!“, ballte er die Faust auf dem Tisch und presste die Zähne aufeinander. Der Druck verschob sie, er schmerzte im Kiefer, er konnte sie überdecken, doch die Angst riss nie ab. Mit dem Daumen streichelte er sich über den Zeigefinger und beruhigte sich. Versuchte es zumindest.

„Was suchst du denn hier?“, zog Hagame die Tür des Zimmers auf. Mit einer dampfenden Tasse bewaffnet schaute er ihn mit großen Augen an. Gehemmt suchte Maks den Blick.

„Ihr sollt euch doch heute draußen treffen. Ihr macht eine Exkursion.“, deutete er mit einer Augenbewegung in Richtung des Haupteinganges. Maks schob das Buch in den Rucksack, erhob sich und lief an ihm vorbei. An der Schwelle stoppte ihn seine Hand.

„Du musst an dich glauben weißt du.“, mit einer weichen Stimme suchte Hagame den Augenkontakt. Maks verwehrte, er presste die Lippen aufeinander.

„Du hast die letzten Tage vor dir Maks. Du musst dich entscheiden wohin du im Leben gehen möchtest. Nur du hast es in der Hand.“

„Nur du.“, hallten die Worte im Kopf nach, „Nur du.“ Wie oft hatte er sich die Gedanken eingeredet es am nächsten Tag besser zu machen, wie oft es vergessen und denselben Fehler wieder gemacht.

„Kennen Sie das Gefühl, wenn sich ihre Knochen schwer anfühlen? So als wenn eine strahlende Kälte auf ihnen liegt?“, nahm Maks all seinen Mut zusammen und schaute hoch.

„Ich weiß wie es sich anfühlt alleine zu sein und erwachsen zu werden.“, erwiderte Hagame schmunzelnd den Blick, „Und ich weiß, dass man nur selbst etwas daran ändern kann.“

„Aber die Anderen wollen mich gar nicht!“, kochte die Wut in Maks auf.

„Die Anderen können dir in siebzehn Tagen egal sein, denn ab da gehörst du zu unserem Dorf, egal was sie sagen. Aber du musst lernen es zu akzeptieren, weißt du?“

„Danke.“, schmunzelte Maks seit Tagen zum ersten Mal, er rückte den Rucksack zurecht, trat von der Schwelle und drehte sich noch einmal zu Hagame um, eher den Korridor entlang lief.

 

Vor dem Schulgebäude sammelte sich die Klasse. Frau Hamen, eine alte Frau mit Schieferbrille, die sie oft, mit den Fingerspitzen wieder an ihre Position schob, versuchte mit winkenden Handbewegungen die Schüler unter Kontrolle zu halten.

„Jetzt beruhigt euch. Beruhigt euch!“, rief sie durch die aufgebrachte Menge. Das Getuschel wurde lauter mit jedem Schritt, den sich Maks ihr näherte. Er suchte den herausstechenden Kopf von Marek, stellte sich auf die andere Seite.

„Was die Alte wohl vor hat?“, tuschelten die Kinder untereinander.

„Wir gehen jetzt in die Richtung und zählen einmal durch bitte!“, stieß sie Luna ein Stück nach vorne. Einen nach dem Anderen klopfte sie auf die Schulter, rückte die Brille zurecht und zählte gedanklich mit.

„Nun komm!“, zog sie Maks an der Hand in Richtung Straße.

„Elf!“, tönte sie heraus, als sie Maks die Hand eher in das Gesicht als auf die Schulter schlug.

„Zwölf“, streifte Luca um die Ecke des Zaunes. Er stellte sich zu Marek und seinen Schergen.

„Mit dir hatte ich heute nicht gerechnet.“, ermahnte ihn Frau Hamen. Sie brachte ihn zum Schmunzeln. Er schob die Kapuze des Pullovers nach hinten und ließ die zerzausten Haare in die Luft steigen.

„So eine Unterrichtsstunde mit Ihnen lass ich mir sicher nicht entgehen.“, spottete er.

„Wie dem auch sei“, zeterte Frau Hamen, bevor sie sich an die Spitze des Trupps setzte.

„Wohin gehen wir eigentlich?“, drängte sich Sika aus der zweiten Reihe nach vorne.

„Eine sehr gute Frage. Schließlich sollte man ja wissen wo sein Ziel ist.“, höhnte sie, „Wir machen uns heute auf den Weg zum Genkerstein. Dem ältesten Artefakt unseres Dorfes.“

„Wissen wir schon.“, murrte Luca durch die Schlange aus Schülern und stoppte ihre ansetzende Geschichte. Träge in den Ohren drehte sie sich um, „Wie? Was?“, starrte sie über die Ränder ihrer Brille durch die Reihen, „Egal.“, schob sie ihren Zeigefinger über den Nasenrücken und verdrängte die Schmach.

Gut betuchte Menschen waren auf den Straßen unterwegs. Sie schlenderten über das Kopfsteinpflaster, tasteten die feinen Stoffe der Händler auf dem Dorfplatz ab oder probierten das frisch geerntete Gemüse. Nur flüchtig schwenkten ihre Blicke auf die Klasse. Maks beobachtete, wie Luna einer älteren Dame zu wank, verlegen erfreut wedelte sie mit ihrer kleinen Hand zurück durch ihren Weidenkorb.

Die Klasse hielt vor einem riesigen Trümmerstein. Schwarz schimmernd wie Granit ragte ein Felsbrocken vor ihnen aus dem Boden. Die Kinder staunten auf die fünf Meter hohe Spitze. Um den Felsen zog sich ein Beet, Blumen ranken sich am Gestein hinauf und sonnten sich, am Rand erstreckten sich Kräuter, mit ihren schmalen weißen Blüten wehten sie im Wind.

„Das Kinder, ist der Genkerstein. Ein hundert Jahre altes Relikt, welches unsere Vorfahren uns hinterlassen haben. Geht ruhig näher heran und seht selbst.“, kuschte sie die Gruppe wie eine Schar Hühner an den Stein. Maks legte die Handfläche auf die warme Oberfläche und strich über den staubbehangenen Felsen. Unter dem Schmutz verborg sich eine Inschrift. Hunderte kleiner Namen waren auf ihm eingraviert. Samel, Fisch, Hanschen oder Ramen; las er die Namen gedanklich vor.

„Wooow“, lenkte sich die Aufmerksamkeit der Gruppe auf Devin. Eine Traube sammelte sich um ihn. Staunen kam aus ihren offenen Mündern.

„Frau Hamen ich hab Nicolai Ramer gefunden!“, drehte er sich grinsend um und suchte ihr nickendes Gesicht. Wieder richtete sie ihre Brille und trat durch die Traube hindurch.

„Sehr gut Devin. Findet ihr auch den Namen des zweiten Seraphen?“, schaute sie in die Gruppe. „Hopp Hopp“, klatschte sie in die Hände. Die Kinder stürzten sich auf die Knie und befreiten den Stein von seiner Schicht aus Schmutz mit den Fingern. Maks ging um den Stein herum, auf der anderen Seite setzte er sich in die Hocke, schob ein Bein nach unten und strich über den Staub. Einen Namen nach dem Anderen befreite er vom Dreck. Doch wusste nicht einmal nach welchem, er überhaupt suchen sollte.

„Thierre, Sariak, Ridak, Beltz.“, nuschelte er die Namen vor sich hin.

„Was ist?“, riss ihn Marek seine dumpfe Stimme aus der Trance, „Denkst du, du findest hier die Namen deiner Eltern drauf?“, lachte er auf. „Dann sieh mal genauer hin!“, preschte er die Handfläche nach vorne, patschte in Maks Gesicht und presste es gegen den harten Stein. Die Haut schürfte über die Kanten auf, die Knochen quetschen.

Jetzt reichts!

„Jetzt reichts!“, ballte Maks die Kraft in der Lunge und schrie ihn an. Er presste die Hand gegen seinen Kiefer, drückte die Kraft ein Stück zurück. Mit einem Grinsen schob Marek ihn wieder in Richtung des Steines. Maks blickte auf die Hand vor ihm, die Schmerzen im Körper wie vergessen, wand er sich heraus und presste die Zähne in das Fleisch seines Unterarmes. Schmerzerfüllt schrie er auf und schreckte zurück. „Du hast mich gebissen!“, unterwanderte Zorn die staunenden Augen. Rasender schritt er auf Maks zu. Er grub die Hände in die buschige Mähne und presste den Kopf an den Stein. Maks pustete den Staub vom Gestein herunter, trocken schob er sich in den Mund und verpestete die Lunge.

„Findest. Du. Deine. Eltern. Hier?“, verstärkte er bei jedem Wort den Druck auf den Schädel. Maks sank zusammen, das Blut in seinen Adern strömte durch seinen Körper, riss die Kälte von den Knochen und trieb sie in die Blutlaufbahn. Er spürte, wie seine Zehen froren, die Gelenke schwerfällig mürber wurden.

„Sie sind Schmutz! Genau wie du!“, löste er den Griff und ließ den kalten Körper zu Boden sinken. Maks Atmung setzte flacher ein. Die Sicht um ihn herum verschwommen, die Augen, die einen schwarzen Schleier trugen, die Ohren wie von Blechtrommeln besetzt.

„Was ist hier schon wieder los.“, trottete Frau Hamen aufgeschreckt vom Lärm hinter dem Stein hervor.

„Was ist mit dir?“, kniete sie sich beschwerlich nieder und klatschte die Handfläche auf Maks Wange. Der schwarze Nebel zog sich an den Augen vorbei, wanderte wieder in das Innere zurück. Das Herz begann stärker zu pumpen. Er richtete sich auf, sah, wie die Schüler begannen zu schmunzeln, zu lächeln, bis sie lautstark über den Dorfplatz lachten. Und Maks spürte sie zum ersten Mal; Scham.

0.9_Am Ende ist das immer nur Gerede

0.9_Am Ende ist das immer nur Gerede

 

Maks stützte den Kopf nach unten und presste den Blick auf die Steine im Boden, so sehr, als wenn er sie zerspringen lassen könnte.

„Was willst du jetzt machen hä?“, stieß ihn Marek die Hand an die Schulter, doch das Gewicht in Maks Beinen war zu schwer. Er schwankte kein Stück und richtete den Blick auf. Er zielte auf Marek und ballte die Faust. Er erkannte die drohende Bewegung, grinste hämisch und versetzte den linken Fuß nach hinten. Bereit für eine Abwehr. Der schwarze Schleier legte sich wieder auf seine Augen und trübte die Sicht. Ein fiepender Ton im Kopf, wie Schall setzte er sich zwischen die Ohren und dämpfte die Koordination. Schwankend trat er einen Schritt zurück. Er drehte sich nach hinten, die lärmende Masse hinter ihm mischte sich in den Klang, die wütende Stimme von Frau Hamen und wieder diese Angst, die sich auf die Knochen legte und ihn frieren ließ.

„Ach lasst mich doch in Ruhe!“, rannte er auf die stehende Masse zu, seine Ellenbogen drückten sich einen Weg an den Rippen vorbei, quetschend pressten sich ihre Schultern an seinen Körper. Die Füße rannten, weg von diesem Ort, weg vom Klang, nur fliehen vor der Angst.

 

Rennend zog der Dorfplatz an ihm vorbei. Zurück auf die Straßen, die er kannte, seine Straße, wo die Füße den Geist aufgaben. Auf den Stufen der Treppe blieb er stehen. Die zittrigen Beine hielten sich am Geländer fest. Der Duft von Sandelholz stieg ihm in die Nase. Fester umklammerte er das Holz. Verdrückte die Träne die in die Augenlider schoss und die Sicht verschleierte. Vom zittrigen Herzen fiel die Scham und die Angst. Was blieb, waren die Strahlen der Sonne, die sich auf die Haut legten.

„Was machst du denn!“, hörte er Luna ihre Stimme, dann ihre Schritte wie sie schneller auf ihn zurasten. Vor ihm blieb sie stehen, sie stützte sich auf ihr Knie, lächelte nach oben.

„Du kannst doch nicht einfach abhauen!“, setzte sie ihre Predigt an.

„Was interessiert es dich denn!“

„Wir sind in einer Klasse und kurz vor der Prüfung!“, erhob sie wie er seine Stimme.

Maks schluchzte die letzten Reste des verrotzten Gesichts hoch und schluckte die bahnenden Tränen herunter. Er schmunzelte, „Ich weiß und deswegen geh ich ja jetzt auch trainieren!“

„Wo denn?“, staunte sie unter ihrem rossbraunen Haar hervor.

„Das darf ...“, schoss es ihm in den Kopf. Er wusste nicht einmal, ob dieses Loch noch existierte, ob es überhaupt noch ihr Geheimnis war, ihr Schatz. Sicher hatte Luca, Marek und seine Schergen seit letztem Jahr unzählige Male in den Wald geführt. Ihnen gezeigt wie man jagt, ihnen gezeigt wie man sich an den Wachen vorbei schummeln konnte. Er haderte.

„Das darf ich dir nicht sagen.“, presste er die Lippen aufeinander und drehte sich entschlossen um. Luna verwarf ihren fragenden Blick durch Enttäuschung. Sie beobachtete wie er über den matschigen Pfad in das dunkle Waldstück hinter den Baracken verschwand.

 

An der Mauer tastete Maks an den alten Palisaden. Das Wetter setzte dem Holz zu, süffig trüb klebte der Regen der letzten Tage in den Fasern. Er legte die Finger darauf, berührte sie sanft mit den Knöcheln und hörte die verwesende Morschheit, als wäre sie auch ihm eingezogen. Vor der Diele blieb er stehen. Unverändert hielt ein Nagel sie an der Stelle, machte den Schleichweg unsichtbar. Er drückte es ein Stück zur Seite und öffnete den Durchgang. Das nässende Laub raschelte unter seinen Füßen, als er sich tiefer in den Wald wagte. Das Unbehagen stieg. Mit jedem Knacken, jedem Klopfen und jedem Rascheln zuckte er ein Stück mehr zusammen. An der Sura angekommen, spähte er in den Nebelwald. Lauschend hockte er sich auf den kiesigen Boden. Als hätten ihn die Nider erst gestern gejagt, betrachtete er die Steine, die der Strom nicht bewegen konnte. Er stand auf, trat ihr Bauwerk weiter in das Wasser und beobachtete wie ein Stein im Strom des Flusses wanderte, bis er ihn aus den Augen verlor.

Geraschel lenkte seine Aufmerksamkeit hinter sich. Er drehte sich um, schlich in die Richtung des Geräusches und spähte durch die Sträucher und Hecken. Auf dem Waldboden sitzend erspähte er einen Hasen. Mit den Pfoten drückte er das Laub zur Seite und mümmelte an den Grashalmen, die darunter zu wachsen begannen. Zierlich gedrungen schleppte sich sein Körper über den Boden, alt konnte er noch nicht sein. Maks grinste. Luca hatte ihm einst erzählt, das junge Hasen nicht flüchten, sondern erstarren. Aber was wenn er ihn gefangen hat? Sollte er ihm den Hals umdrehen? Den Körper auf einen Stein in der Nähe schlagen? Oder es einfach nicht tun. Er senkte den Kopf, richtete ihn wieder auf. „Werd schnell groß kleiner Hase“ sprach er laut. Schnuppernd drehte der Hase die Nase im Wind und hoppelte weiter. Das Gedränge wie verschwunden, das Geschrei verblasst, sein Traum, wie ein Bild an einem stumpfen Nagel heruntergefallen. Die Schatten des Waldes zogen sich größer um ihn, engten ihn ein und legten den Griff an die Kehle, zumindest fühlte es sich für ihn so an. Er trat auf einen Ast, der im Weg lag, zerbrach ihn schallernd und ließ ihn bersten.

Vom Geräusch aufgeschreckt, floh eine Schar Vögel aus den Baumwipfeln in Richtung Norden. Lautlos, nur ihr Flügelschlag, der sie verriet. Maks schaute den gabelförmigen Schwänzen hinterher, wie sie koordiniert die Macht über den Himmel ergriffen. Er sank in die Knie und legte die Handfläche auf den nässenden Waldboden.

„Tschiep“, lenkten sich die Augen in die Baumkronen. Zwischen den wachsenden Blättern und den verzweigten Ästen bemerkte er ein kleines Nest, das mit Laub und Schlamm zusammengehalten wurde. Aus dem Inneren drang das Geräusch wieder, und wieder. Ein Vogel kehrte zum Nest zurück, die Krallen setzten sich auf die Mauer der Brutstätte, aufgeregter fiepten die Jungen aus dem Inneren, doch der Vogel fokussierte nur Maks. Den Kopf schwenkend fixierten ihn die schwarzen Augen. Der gelbschwarze Schnabel, das dunkle Federkleid mit den grausilbernen Streifen. „Nachtschwalben“, erkannte er sie. Sein Blick strich durch die Baumkronen, suchend nach weiteren ihrer Art. Die ausgebüchste Vogelschar kam zurück und setzte sich auf ihre Nester. Kuschelig warm drückte sich die Daunen an die ungeschlüpften Eier und schützte die nahenden Küken. Vielleicht war der Traum ein Inku zu werden zu hoch gegriffen, das Ziel wie die Sterne die den Nachthimmel bedeckten zu weit entfernt. Die Wut auf sich selbst stieg in seinem Bauch auf und hinderte ihn daran die Chance zu sehen, auf die man doch gewartet hatte, als wäre am Ende immer nur der Zweitplatzierte Verlierer. Zürnte sie weiter in ihm und durchbrach die Kälte im Fleisch. Er fokussierte die Äste und Nester. Er setzte einen Schritt nach vorn, schwenkte den Blick rasch in die Wipfel. Wie Statuen schauten die Augenpaare von den Bäumen auf das Geschehen. Maks setzte den zweiten Fuß an, senkte ihn lautlos auf dem Waldboden ab. Er erhöhte das Tempo, drei. Vier. War der Schritt zu laut und ließ die Vögel Reißaus nehmen. Wütend presste Maks die Lippen aufeinander, doch ließ keinen Ton über sie kommen, er schluckte die Wut herunter, staute sie in seinem Bauch und legte sie zum Schweigen. Er ging in die Hocke und wartete auf ihre Rückkehr. Als sie sich wieder in die Bäume setzten, versuchte er es erneut.

Vierzehn Versuche und die Erkenntnis, dass die Vögel länger zum Anfliegen des Nestes brauchten, ließ ihn der Tag sechs lautlose Schritte verrichten. Die Nacht kehrte in den Wald ein. Mehr und mehr zogen sich die Bäume zurück in das Schattenreich. Maks spähte in Richtung des Dorfes, wie der Rauch aus der Fabrik blies. Er kehrte den Rückweg an, quetschte sich durch das Loch und schob das Brett unter den rostigen Nagel. Die Straßen des Randdorfes leer, hinter den Fenstern und Gardinen konnte man das letzte Leben beobachten, wie es sich langsam auf die Nacht vorbereitete. Der Hunger trieb Maks weiter in die Dorfmitte. Vor dem Astloch blieb er stehen, im Inneren brannte das Licht gedimmt durch die weißen Gardinen auf die Straße. Menschen im Innern unterhielten sich angeregt mit den Händen und hielten ihre Gläser fest. Maks drückte die Tür auf. Rob stand mit einem Mann, in einem grauen zerklüfteten Umhang, am Tresen.

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“, zuckte Rob mit den Schultern und schüttelte den Kopf verneinend.

„Wart ab. Wart ab.“, lachte die zerrüttete Stimme. Maks trat an die Seite des Mannes, unter dem Umhang spähte eine Nase wie die einer Krähe, hervor.

„Maks! Was treibt dich denn her!“, bemerkte ihn Rob.

„Setz dich. Ich hab einen fantastischen Eintopf gemacht heute.“, zeigte er mit der Handfläche auf den Stuhl neben dem Mann. Er drehte sich um, schnappte sich einen Teller aus dem Regal und füllte ihn randvoll aus dem brodelnden Topf.

„Amira-Wruken“, stellte er den dampfenden Teller ab und legte einen Löffel dazu. Der alte Mann runzelte die Nase und drehte sich, sein Glas greifend, zur Seite. Maks tauchte den Löffel in die Brühe hinab und pustete. Salzig süß legte sich der Geschmack auf seiner Zunge nieder und kroch wohltuend die Speiseröhre herab. Hastiger aß er auf und setzte den Teller zum Schlürfen am Rand an.

„Scheint dir geschmeckt zu haben?“, hielt ihn Rob stirnrunzelnd auf und schaute bedacht durch den Laden. Maks ließ den Teller wieder auf den Tresen sinken.

„Die Leute sollen hier drin vergessen, in welchem Saustall sie leben.“, hatte ihn Rob einmal ermahnt, als er, damit zwei Gäste am Tresen verscheuchte.

„Das war superlecker!“, strahlte Maks und legte den Löffel klirrend auf dem Teller ab.

„Noch einen Nachschlag?“, griff Rob nach dem Teller und drehte sich zum Topf zurück, Maks nickte.

Langsamer leerte er den Zweiten, die Gäste um ihn herum verschwanden aus der Tür heraus. Gesättigt legte Maks den Löffel an den Tellerrand und lehnte sich ein Stück nach hinten.

„Weißt du schon in welche Abteilung du willst?“, hob Rob den Teller an und wischte mit einem Lappen das Holz darunter ab. Maks zog die Hände nach oben, wich dem wedelnden Lappen aus.

„Sucher glaube ich.“, gab er kleinlaut zu.

„Glaubst du?“, runzelte Rob fragend die Stirn.

„Ich weiß nichtmal, ob ich eines davon kann.“, zuckte er verlegen mit den Schultern.

„Was weißt du denn?“, lehnte sich Rob gegen den Tresen.

„Ich hab nicht die Kraft für die Jäger wie Marek und bin nicht leise genug für die Sucher.“, schnaufte er aus der Nase.

„Der aus dem Ridak Clan? An dem brauchst du dich nicht messen. Sie sind auserkoren, kämpfen ihr ganzes Leben für einen Platz in den oberen Reihen des Seraphen und ein Scheitern wird erst recht nicht geduldet. Miese Quote bei den Prüfungen, da weiß man eh was rauskommt.“, wank Rob mit der Hand ab.

Doch die abwertende Handbewegung verwässerte nur die Worte in Maks Ohren. Ridak. Samuel Ridak, las er den Namen in Gedanken noch einmal vom Genkerstein ab.

„Aber was soll ich dann machen?“, quengelte Maks und schlug die Arme übereinander.

„Üben“, lächelte ihn Rob an, „In siebzehn Tagen hast du die Möglichkeit deinem Leben zu begegnen und ihm eine Richtung zu geben. Wer du bist, ändert sich nicht, nur deine Aufgabe. Außerdem.“, räusperte er sich, „Ich brauch ja auch mal jemanden, der den Laden übernehmen will oder?“, zwinkerte er mit beiden Augen. Maks schmunzelte, löste den Griff an die Arme und legte sie locker nach vorne.

Es klopfte an der Scheibe, eine Wache streckte ihren Kopf in das Lokal. „Es läutet gleich Rob.“

„Danke Tame“, nickte er ihm zu und ließ die Tür wieder in das Schloss fallen. Maks schob die Hand in die Hosentasche, holte seine Münzen hervor und legte sie auf den Tresen.

„Einmal voll, einmal halb?“, schaute er Rob fragend an und schwang sich vom Stuhl herunter.

„Passt schon.“, schmunzelte Rob und fegte das Geld in seine Handfläche. Maks bewegte sich zur Tür und drückte die Klinke herunter.

„Ach und Maks“, rief ihm Rob nach, „Mit den Ridaks“, wieder machte er die abfällige Handbewegung. „Die labern viel. Am Ende ist das alles nur Gerede. Geschichten werden immer größer gemacht, als sie eigentlich waren.“

Maks bedankte sich mit einem Augenaufschlag und schloss die Tür.

Gong! Gong! Gong!

Führten in seine Schritte unter dem Glockengeheul nach Hause.

0.10_Grauer Mann

0.10_Grauer Mann

 

Die nächsten vierzehn Tage verbrachte Maks im Wald. Er schwänzte die Schule, das Wissen würde ihn nicht weiterbringen, nur die Fähigkeit des Gelernten, redete er sich ein. Jeden Morgen schlich er sich hinaus, setzte behutsamer Schritt vor Schritt, bis er tapferer in den Bewegungen wurden. Am fünfzehnten Tag erreichte er sein Ziel. Er überquerte die Lichtung, ohne die Vögel aufzuschrecken. Triumphierend legte er die Hand auf die alte Rinde der Eiche und strich über ihre kratzige Hülle. Er schlich wieder auf die andere Seite, vertraute den Schritten auf dem moosigen Boden, der sich anfangs wie ein wabbeliges Meer anfühlte und fester wurde wie bei einem See aus Eis. Jeder Schritt bedacht, als wäre es sein Letzter.

Maks schaffte die Strecke dreimal, beim Vierten bemerkte er seine Unkonzentriertheit, er drückte die Verse tief in den Morast und ließ das Wasser an den Seiten des Schuhes emporquellen. Aufgeschreckt flüchteten die Nachtschwalben. Maks schaute gegen die Sonne. Ihren Zenit hatte sie vor langer Zeit verlassen. Die Vögel hatte er zu lange an diesem Ort geärgert. Triumphierend grinsend schritt er in Richtung des Dorfes und öffnete die Luke in das Innere. Er schlüpfte hindurch und lief auf die Straße. Er fixierte die Mundwinkel, wollte sich die Freude nicht anmerken lassen, sie mit niemanden teilen. Wen würde sie schon interessieren?

 

Über die Straße erreichte Maks sein Zuhause. Der Mief der letzten anstrengenden Tage verblieb in der Luft und mischte sich süß stechend in der Nase. Die aufgegorene Milchpackung mischte sich ein. Er nahm sie vom Tresen und schmiss sie aus dem Fenster heraus. Dann öffnete er den Kühlschrank, außer einem Stück Butter mit gelbem Rand und einer halbvollen Milch fand er nichts. Ein Fach höher, starrte er in das Gefrierfach. Eine Schale mit Erbsen lag bedeckt vom Eis in der hinteren Ecke. Er fischte sie heraus, wärmte sie unter dem lauwarmen Wasser der Spüle und kippte sie in eine Schale. Aus dem Kühlschrank gab er einen Schuss Milch hinein und rührte die Pampe mit dem Löffel um. Er schob sie sich in den Mund. Die gefrorenen Erbsen breiteten sich im Mundraum aus und betäubten die Zähne, schmerzhaft zog er sie zusammen. Er zerdrückte die Erbsen, pürierte alles zu einem dichten Brei. Er probierte noch einen Löffel, kippte es hinab in den Ausfluss. Zusammen mit seinem Siegerlächeln.

Er starrte aus dem Fenster heraus. Noch vernahm er nicht das Schallen der Glocke. Er drehte um, griff aus der Schale im Flur einen Schlüssel und verschwand aus der Haustür. Am Eingang seines Hauses drehte er nach links. Kleine Holzkästen mit Schlitzen und eingebrannte Namen im Holz. Er wählte die Zweite von unten, steckte den Schlüssel in das Schloss und öffnete den Kasten. Er zog einen gelblichen Umschlag hervor, riss ihn an der Seite auf und kontrollierte noch einmal seinen Namen.

„Maks Thubai“, ließ er die Münzen aus dem Inneren in seine Handfläche fallen. Ein kleiner Zettel schob sich mit heraus.

„Monatsgabe. Mai. Thubai. 15 Éran.“ Er steckte alles in die Hosentasche und schritt in Richtung des Dorfplatzes. In Tüchern gewickelt brachten die Menschen ihre Waren nach Hause. Niemand sollte sehen, was sie sich leisteten, zumindest niemand in diesem Viertel. Mit dem Pflasterstein änderte sich das Aussehen der Bewohner. Imposanter die Kleider, feiner die Stoffe, edler der Duft, der sie umgab. Sie präsentierten sich, stolzierten über den Dorfplatz oder beschwerten sich bei den Händlern über die Preise. Maks schaute durch die Schilder der Verkäufer. Zwischen Stoffen und dem Getrampel der Menschen verlor er die Übersicht. Seine Beine zwangen ihm zum Reißaus, weg von diesem lauten Ort, den ewig währenden Geschrei, doch sein Magen befahl ihn zum Bleiben. Er folgte den Duft, der in der Straße lag, weiter auf den Marktplatz. Vor einem silberfarben behangenen Mann kam er zum Stehen. Eine feine Goldnaht zierte die Ränder und legte den Umhang näher an seinen Körper heran. Maks blickte nach oben über ihn weg. „Brimgels Brot und Schlabbereien“, stand auf einem Holzschild mit weißer Farbe.

„Zwei Quibbels bitte“, tippte der Mann auf die rechte Scheibe des Standes.

„Ich empfehle Hülsenfrucht heute!“, grinste ihn der Verkäufer breit an.

„Dann davon einen und einen mit Apfel.“
„Gerne der Herr“, stieß der Verkäufer einen Holzstab in die Teigklumpen und spießte sie auf. „Das macht dann drei Éran der Herr.“, reichte er ihm den Spieß über die Theke.

„Drei?“, zeterte der Mann grummelnd und ließ die Münzen in die Hand des Verkäufers fallen.

„Das sind die Besten westlich der Sura Herr.“, nickte er ihm bestätigend zu und lenkte den Blick auf Maks. „Der Nächste“, bat er den Mann, zur Seite zu treten.

„Was ist das?“, tippte Maks an die gleiche Stelle wie der Herr eben.

„Quibbels. Gefüllte Teigbällchen mit Amira, Hülsenstrich, Honig oder Apfel. Eine Köstlichkeit aus den fernen Reichen Noziak. Einer für zwei Éran, zwei für drei und wenn du gleich zehn nimmst, dann geb ich sie dir für unglaubliche 9 Éran!“, sprach der Verkäufer begeistert mehr zur Masse als zu Maks und ließ ihren Blick für eine Sekunde zu ihm schwenken.

„Ich hätte gern ein Brot.“, überlegte Maks kurz, bis er das Gewicht der Münzen wieder in seinen Taschen fühlte.

„Ein Brot?“, zuckte der Mann die Augenbrauen nach oben und drehte sich auf die andere Seite.

„Roggen?“

„Bitte.“, lächelte Maks ihm zu. Der Mann griff eine Reihe tiefer, schnappte sich eines der Brote und reichte es über die Theke.

„8 Ints“, streckte der Mann die Hand über den Tresen. Maks pulte eine Münze aus der Tasche, legte sie dem Mann in die Handfläche.

„Dankeschön! Bitte der Nächste!“, rief der Verkäufer und ließ eine gierige Frau sich nach vorne drängeln.

„I-ich“, stotterte Maks und versuchte sich gegen die Kraft zu wehren.

„Ich würde Zehn nehmen! Mischen sie einfach alles!“, lachte die Frau dem Verkäufer zu.

„Sehr gerne“, begann er die Holzspieße zu füllen. Maks senkte den Kopf und starrte auf den Pflasterstein. Das Brot drückte er fester an den Körper heran, umklammerte es und vergaß das Wechselgeld.

 

„Maks? Maks!“, hörte er eine Stimme in der Nähe. Luna erschien aus der Masse heraus. In der Hand trug sie einen Weidenkorb, gefüllt mit Obst, einem Brot und einer Wildschweinwurst.

„Warst du krank die letzten Wochen?“, lächelte sie ihn verlegen an. Maks räusperte sich.

„Ja da hab ich mir im Training wohl was weggeholt.“, lächelte er bescheiden.

„Da bin ich ja beruhigt.“, verstärkte sich ihr Lächeln, „Komm morgen aber bitte wieder zur Schule. Hagame hat eine Riesenüberraschung für uns.“, grinste sie ihm entgegen.

„Eine Überraschung?“

„Ich weiß auch nicht, worum es geht, aber es muss was mit der Prüfung zu tun haben!“, stieg die Vorfreude in ihrem Gesicht.

„Luna!“, schrie eine dumpfere Stimme durch den Schwall der Menschen.

„Ich muss dann auch wieder.“, grinste sie und beugte die Beine, wie bei einem Knicks, ein Stück zusammen. Sie lief zurück zu ihrem Vater. Rauchend mit grauen Haaren, blies er den Rauch der Tabakstange in die Luft. Maks drückte das Brot wieder an seinen Körper, an einem Stand, den ein kleiner Junge betrieb, kaufte er sich für 2 Int einen Aufstrich aus gequollenen Hülsenfrüchten, dann ging er nach Hause.

 

Er schmierte sich zwei Brote und biss in die harte Kruste. Zäh zog er den Happen heraus und schluckte ihn herunter. Er konzentrierte sich auf seine Atmung, achtend, nicht mehr das Gleichgewicht zu verlieren. Die Schlaflosigkeit hielt ihn eine Weile wach, er starrte gegen die Spiegelung des Fensters, wie der Mond sein Licht brechend in den Raum streute und lauschte, den Geräuschen den die anbrechende Nacht mit sich brachte. Dem Pfeifen des Windes, dem Geschrei aus den Baracken und dem Nachtlied des Waldes. Bis sein bester Freund, die Schlaflosigkeit, ihn verließ.

 

Gong

Schallte es durch das Dorf und weckte Maks. Er sprang aus dem Bett und schlüpfte in seine Klamotten. Bereit für den letzten Schultag. Vor den anderen Kindern erreichte er die Schule, die Angst Marek über den Weg zu laufen, schürte ihm noch immer den Atem, doch diesen Weg durfte er nie wieder gehen. Vor der Betonmauer wartete er auf die Wache, die die Türen aufschloss, dann trat er ein. Das Klassenzimmer war leer, leerer als sonst. Die Stühle waren säuberlich unter die Tische geschoben, die Tafel geputzt, ihre Zeichnungen, die sie in den ersten Jahren anfertigen mussten, abgenommen von den Wänden. Maks zog seinen Stuhl zurück. Er setzte sich, legte die Arme auf den Tisch und vergrub seine Stirn dazwischen.

„Was treibt dich denn her?“, pampte Sika ihn an, als sie den Raum betrat. Er schaute aus der Beuge auf, richtete den Blick wieder nach unten.

„Lass mich in Ruhe“, nuschelte er.

„Ist ja nicht mein Problem, wenn du die Prüfung nicht schaffst. Ich an deiner Stelle wäre die letzten Tage lieber hier gewesen, als“, wedelte sie mit dem Finger in der Luft, „Wo auch immer du warst.“, schaute sie angebiedert weg und setzte sich auf ihren Platz.

„Du bist da!“, strahlte Luna, als sie den Raum betrat und in das schlaftrunkene Gesicht blickte. Maks schaute auf, grinste und legte den Kopf wieder nieder. Der Raum füllte sich mit den letzten Schülern, Maks hielt den Blick spähend durch die Schlitze der Armbeuge auf die Fensterfront gerichtet. Dumpfe Schritte näherten sich seinem Tisch, er wusste, von wem sie stammen. Majestätisch stoisch betrat Marek den Raum, er griff um die Tischplatte und schwang sich auf seinen Stuhl. Verstohlen suchte er den Blick zur Seite.

„Heute also mal vollzählig?“, betrat Hagame den Raum und begrüßte die Schüler.

„Vollzählig?“, rückte Maks seinen Kopf nach oben und sah auf Lucas‘ Platz. Ein schwarzer Kapuzenpullover nahm den Stuhl ein. Atmend hob sich der dunkle Stoff. Die Stunde begann.

Hagame stellte sich hinter den Tisch und verschränkte die Arme auf dem Rücken.

„Kinder, acht Jahre lang hab ich euch gelehrt und ihr auch mich. Für den heutigen Tag habe ich eine kleine Überraschung vorbereitet. Frau Hamen will euch, auch in ihrem letzten Jahr, noch ein paar liebe Worte sagen“, winkte er mit der Handfläche in Richtung Tür. Sie sprang auf und eine aufgeregte Frau Hamen betrat den Raum.

„Ich hab nicht nur eine Überraschung für euch, sondern gleich zwei!“, stellte sie eine Pappschachtel auf dem Tisch ab. Sie öffnete den Deckel und kramte einen Stapel kleinerer Zettel heraus.

„Könnt ihr euch noch an euer erstes Jahr erinnern? Ich habe euch gebeten eure Träume aufzuschreiben, das, an was ihr glaubt.“, ein diebisches Lächeln zog sich über ihre Lippen, „Und natürlich hab ich die Zettel nicht einfach weggeschmissen! Sondern sie für diesen Moment aufbewahrt.“ Mit der Schachtel bewaffnet, strich sie durch die Reihen und legte vor jedem Schüler einen ab. Maks starrte auf die geknickten Ränder des vergilbten Papieres. Er schob die Fingerkuppen in die Zwischenräume.

„Und weil eine Prüfung auch immer ein Abschied ist, habe ich jedem den Zettel eines Anderen gegeben, sodass er beurteilt, ob ihr diesen Traum schafft.“

Ein Raunen ging durch die Klasse. „Was?“, schoss es Maks durch den Kopf, er entfaltete den Zettel, las den Namen in der Überschrift.

„Sika Tyren“, in krakeliger Schrift malte sie darunter ein Herz, „Retter“, stand im Inneren. Frau Hamen ergriff wieder das Wort.

„Kinder ich weiß, auch wenn euch die Prüfung Angst macht und ihr nicht wisst, ob ihr sie besteht, möchte ich euch mit den Worten des grauen Mannes verabschieden.“

 

Geh! Geh! Grauer Mann!

Komm nicht mehr zurück, von der Jugend verachtet.

Geächtet vom Glück.

Geh! Grauer Mann geh, seh bitte nicht mehr zurück.

 

Die Schüler schwiegen und starrten nach vorne. In den Jahren der Schule gewannen sie die Erkenntnis, dass nicht jeder in den Kreis des Seraphen aufgenommen werden kann. Fokussiert auf das was er die letzten Tage gelernt hatte, wippte Maks mit dem Kopf. Ein lautes Lachen unterbrach das Schweigen.

„Du willst ein Inku werden?“, lachte Marek lauthals los und zeigte mit dem Finger in Maks Richtung.

„Bitte nicht schon wieder.“, wandte sich Frau Hamen hilfesuchend zu Hagame.

„Du wärst es nichtmal wert als Fußabtreter in der Fabrik!“, schallte es aus Mareks Mund, bevor Hagame die Situation kontrollieren konnte. Er warf Marek einen scharfen Blick zu, „Willst du es am letzten Tag riskieren?“, zog er das Buch aus seiner Tasche heraus und legte es auf dem Tisch ab.

„Nein, Herr Hagame.“, sprach Marek kleinlaut.

„Gut“, stoppte er auch das letzte Lachen der Mitschüler. Maks schämte sich. Scham einen Wunsch gehabt zu haben, von dem er wusste, er würde wie der Rauch der Fabrik in den Wolken verschwinden, als würde er nie existieren. Scham diesen Wunsch geschrieben zu haben und Schande ihn nie so ehrgeizig wie Marek verfolgt zu haben.

„Die zweite Überraschung des Tages ist ein Ausflug zur Meilenschmiede“, grinste Hagame in die Klasse, „Ich werde heute mit euch trainieren.“, sprangen die verlegenen Gesichter über, in grinsende Mäuler. Nur Maks der in den Gedanken weiter versumpfte. Im Leben läuft es nie wie geplant.

0.11_Im Bauch

0.11_Im Bauch

 

Die quietschenden Stühle und klappernden Rucksäcke dröhnten in Maks seinen Ohren. Er schaute unter den Tisch, einen Rucksack hatte er heute Morgen nicht einmal mitgenommen. Hagame versammelte die Klasse vor der Tür. Verlegen schaute Frau Hamen ihn an.

„Darf ich ein letztes Mal?“, entlockte sie ihm ein Lächeln.

„Sicher.“, grinste er. Mit der Handfläche schlug Frau Hamen auf jede Schulter der Schüler und zählte laut mit.

„Zwölf, vollständig.“, nickte sie Hagame bestätigend zu. Die Klasse verschwand über den Korridor, vorneweg, gab Hagame das Schritttempo an. Wie eine Horde trottender Schafe folgte die Klasse ihm über den Dorfplatz, am Genkerstein vorbei, zielstrebig auf die Brücke dahinter. Vor ihr, kamen sie zum Stehen. Riesige Schluchten zogen sich in die Tiefe und offenbarten beinahe den Kern der Erde. Die Brücke führte hinauf zur Meilenschmiede, einem riesig runden Gebäude mit meterhochen Steinmauern, die Tribünen für hunderte Menschen bereit hielt. Das Geländer der Brücke war geschmückt mit Steinverzierungen, Mosaiken und Statuen, die wie kleine Augen aussahen und jede Bewegung beobachteten. Den Eingang zur Meilenschmiede versperrte ein riesiges Metalltor, dass seine scharfen Zinken in den Steinboden rammte. Hagame drehte sich nach links und schaute in eine Einbuchtung in der Mauer. Die Köpfe der Kinder schoben sich wie Giraffen streckend, nach vorne, um hineinzusehen. Maks drängelte sich an die Spitze, versuchend unauffällig in die Nische zu sehen.

„Ruhige Schicht heute erwischt?“, lehnte sich Hagame auf den schmalen Vorsprung und streckte den Kopf in die Vertiefung. Im Inneren saß eine gelangweilt dreinblickende Wache, die ihre Hand an die Schläfe legte. Maks trat einen Schritt nach vorne und folgte dem wenigen Licht, das in das Kassenhäuschen schien.

„Kommt drauf an.“, grummelte es aus dem Inneren.

„Machst du uns auf?“, fragte Hagame nach.

„Hast du denn einen Schein?“, zog die Wache die Augenbrauen nach oben.

„Das Training ist mit dem Seraphen abgestimmt worden heute morgen!“, setzte der freundliche Ton in Hagames Stimme aus und Erzürnen legte sich auf seine Stimmbänder.

„Dann hätte dir der Seraph ja gleich einen Schein mitgeben können. Ohne Schein, nix rein.“, ließ er den Finger, wie das verschlossene Tor, abknicken.

Hagame schob sich ein Stück näher heran und verdeckte den schmalen Lichtstrahl, „Tame du kennst mich, meinst du, ich lüg dich hier an oder was?“

„Befehl ist Befehl.“, zuckte Tame nur mit den Schultern. Die Worte ließen Hagame seine Faust auf dem Sims ballen. Er drehte sich lippenpressend zur Klasse um, „Tut mir Leid Kinder, die Genehmigung fehlt uns, wir müssen das leider absagen.“

„Kann ich helfen?“, schob sich ein braunhaariger Strich an der Gruppe vorbei. Maks schaute dem Schatten nach, unter einer weißen Robe erstrahle das kastanienbraune Haar von Mikal.

„Das wär toll.“, strahlte Hagame sie an. Mikal machte einen Schritt auf das Fenster zu und beugte sich herunter. Sie ballte die Faust und klopfte mit den Knöcheln gegen das Gitter.

„Hey Faulpelz, aufmachen!“, befahl sie und mit einem Knacken, schob sich das Tor nach oben.

„Begleitest du uns?“, erschrak Hagame sie, als sie sich wieder umdrehte, eine Schrecksekunde, dann brachte sie sein breites Lächeln zum Grinsen.

„Ich schau nur zu.“, verabschiedete sie sich, schritt durch das Tor und nahm die Treppe rechts, zu den Tribünen. Er sah ihr einen Augenblick, bis er sich wieder fasste.

„Das Kinder, ist die Meilenschmiede. Das Tor ist recht klapprig, aber es hängt auch seit guten 14 Jahren hier.“, betrat Hagame armausgebreitet den Torbogen. Staunend folgten ihm die Kinder. Die Mauern wirkten imposanter, je näher man den Steinen aus Kalkstein kam. Jeder Ziegel mit einem Muster bemalt, Zeichnungen von Tieren, Ornamente und Formen, als wären sie durch tausende Hände gegangen.

„Hier links, wird es morgen für euch zu den Vorbereitungsräumen gehen.“, zeigte Hagame einen Kellergang herunter. Schwach beleuchtet erkannte man einen langen Flur.

„Hier rechts, geht es zu den Tribünen, ab nächstes Jahr könnt ihr den Prüfungen, auch als Zuschauer beiwohnen. Und hier“, drehte er sich zur Seite und öffnete den Blick auf einen weiten Korridor. Der Tunnel war bemalt mit blauer Farbe, lumineszierend erleuchtete sie den Gang.

„Da wir heute ja zum Training hergekommen sind, werden wir auch diesen Weg nehmen.“, setzte Hagame den ersten Fuß voraus. Mit jedem Schritt leuchteten die Farben an den Wänden heller, fahler und erhellten den nächsten Schritt. Vor einem riesigen Steintor kamen sie zum Stehen. Maks sah eine Eingravierung auf der Fläche, verwittert oder von den unzähligen Händen, die sie berührten, verwaschen. Hagame legte die Handfläche auf den Stein. Die graue Inschrift erleuchtete, durch die umstehenden Wände, Maks las die letzte Zeile, „Die Hoffnung nie ferner kann wehen.“.

Mit einem kratzigen Geräusch, als würde er den Stein schneiden, schob er die Handfläche über das Tor. Einen Halbkreis, in der Mitte einen Punkt. „Das ist mein Munja Kinder.“, sprach er stolz.

 

 

 

In einem strahlenden Blau überdeckte es die Lampen an den Wänden. Der Boden begann zu rumpeln, ein mechanisches Klicken, dann öffnete sich das Tor.

„Wir sind jetzt im Herz der Meilenschmiede.“, schritt Hagame durch das geöffnete Tor hindurch. Maks huschte an Marek vorbei, er knurrte kurz bemerkend auf, doch ließ ihn passieren. Im Inneren der Meilenschmiede erstreckte sich eine metallisch schwarze Plattform, wie eine Schleuse waren die Segmente aneinander angerichtet. Hagames Schritte hallten dumpf nach. Das Metall endete an den Wänden aus Kalkstein. Doch diese waren nicht verziert wie die draußen, eher verwüstet, beschädigt und versehen mit kleinen Löchern, als hätten einhundert Kriege hier gewütet. An den Seiten waren Gatter eingezogen. Breiter als Bibb und höher als Hagame, zogen sich die Stahlstäbe in den Boden. Die Decke hüllte eine Kuppel ein. Es färbte das eintreffende Licht gelber, schummriger, als würde sie dem Tageslicht den Glanz klauen.

Maks starrte durch die Kuppel über die Tribünen. Über zehn Reihen, zogen sich höher in die Luft empor und hielten sich an den Wänden fest. Nördlich der Meilenschmiede, ausgeschmückt mit Stühlen aus Edelholz, verziert mit Fahnen und Stoffen. Der Sitzplatz des Seraphen.

„Folgt mir“, wank Hagame die Kinder hinter sich her. Maks Füße betraten die metallene Plattform. Dicht rotteten sich die Schüler aneinander.

„Wir fangen mit den Jägern an.“, sprach Hagame gegen das Dach der Kuppel. Er richtete den Blick noch einmal in die Runde und bemerkte Maks seinen abwesenden Blick.

„Übung Jäger!“, schrie Hagame durch die Meilenschmiede. Die Steine rumorten an den Wänden. Aus den Löchern schoben sich Kameralinsen heraus, sie begannen rot zu pulsieren.

„Übung_Jäger“, wiederholte das System den Befehl und setzte die Mechanik der Meilenschmiede in Gang. Die Segmente unter ihren Beinen schoben sich wie eine Schleuse auseinander und ließen eine tiefe Schlucht zurück. Maks traute sich nicht, dem Abgrund entgegenzublicken, streng richtete er den Blick auf die leuchtenden Lampen. Er hörte ein Klicken, ein Knarren und Ketten, die sich in Bewegung setzten. Aus dem Untergrund schob sich eine Landschaft hervor, ein braches Feld, das sich vor ihnen erstreckte. Einzelne Grasnarben zierten den Boden, Steine, größer als Menschen, verstreuten sich auf dem Acker. Die metallene Plattform um die Kinder blieb, wie sie war. Wie der letzte sichere Rückzugsort.

„Wenn ihr den Boden berührt, beginnt die Prüfung.“, sprach Hagame mit einem ernsten Ton, „Die Kameras an den Seiten scannen den Raum in einem dreidimensionalen Gitter aus und verfolgen jede Bewegung. Jeder Versuch, zu täuschen, wird vom System erkannt und mit Scheitern bewertet. Also, wer will anfangen?“

Marek setzte den Fuß von der Plattform, die pulsierenden Kameras wechselten ihr Licht zu einem starren Blinken.

„Zerstöre ein Hindernis.“, sprach Hagame, als er in Marek sein entschlossenes Gesicht schaute. Marek schmunzelte. Er ballte die Faust und legte sie eng an den Körper an. Mit einem Aufschrei rannte er auf einen der Steine los, im letzten Moment riss er die Faust nach vorne und versenkte sie mit einem berstenden Knall im Gestein. Ein Knacken, ein Riss, dann zerbrach der Fels in zwei Hälften.

„Übung_bestanden“, kommentierte das System und ließ den Sieger zurück auf die Plattform steigen. Die Mädchen himmelten ihn an. Die Jungs fürchteten die Kraft, die in ihm steckte. Mürrisch trotzig drehte sich Maks zur Seite, keines Blickes würde er ihn würdigen. Doch Marek bemerkte ihn nicht einmal.

„Sehr gut, der Nächste?“, schlich Hagames Blick durch die Reihe und suchte die nächsten aufmerksamen Augen. Luca trat einen Schritt nach vorne.

„Dann bin ich wohl dran.“, verließ er die Plattform.

„Übung_Jäger“, registrierte das System die Bewegung und initialisierte die Sequenz. Luca ballte die Faust und rannte auf einen der Steine zu. Er schlug auf das harte Gestein, ein Rumsen, das durch den Raum hallte.

„Übung_gescheitert“, rief ihm das System entgegen. Luca drückte die Faust härter gegen den Fels und schürfte sich die Haut auf den Knöcheln auf, als er sie versenkend drehte.

„Versagt?“, drehte er sich schreiend um, „Diese Prüfung ist lächerlich!“

„Luca! Benimm dich!“, schrie Hagame ihm von der Plattform aus an.

„Hm“, stieß er höhnend aus, löste die Faust aus dem Stein und drehte sich zur Gruppe um, „Der Seraph denkt er erkennt die Schwachen, aber er sortiert die Stärksten aus!“

„System_Aussetzen!“, schrie Hagame der Kuppel entgegen und ließ die roten Lampen erlöschen, er trat von der Plattform und schritt auf Luca zu. „Was ist dein Problem Luca?“

„Mein Problem? Wir sollen für einen Menschen kämpfen der uns auf zwei Arten beurteilt, uns aussortiert und über unser Leben entscheiden will!“, stieg der Zorn in Luca auf.

„Nicht er entscheidet über euer Leben.“, besänftigte ihn Hagame.

„Sondern WIR?“, beendete er spöttisch den Satz. „Der Seraph benutzt uns, er quält uns, für ihn sind wir nur fleischgewordene Syncs!“

„Das ist Unsinn Luca, der Seraph beschützt uns!“

„Hat er das? Er bringt Qual über das Land, ihr seid nur zu blind das zu sehen.“

„Noch ein Wort.“, mahnte ihn Hagame an und atmete tiefer ein. Er erntete von Luca ein spöttisches Lachen. Er lief an der Plattform vorbei.

„Nun beruhig dich mal.“, legte Marek die Hand auf seine Schulter, als er in Reichweite war. Luca drehte den Kopf und schob das aschschwarze Haar unter der Kapuze hervor.

„Hast du dich jemals gefragt, wer deinen Vater in den Tod geschickt hat?“, stahl Luca die Entschlossenheit aus Mareks Augen. Durch den Korridor verschwand Luca, der Pflasterstein ließ seine Schritte nachhallen, schneller werdend. Der berührte Stein brach auseinander.

„Machen wir weiter!“, ließ Hagame die Köpfe der Schüler wieder in seine Richtung gucken. „System_Weiter“, betrat er die Plattform und setzte die Simulation fort, „Sika, du bitte.“, richtete er den Blick kurz auf sie, bevor er wieder auf die gegenüberliegenden Wände starrte.

„Ich?“, tippte sie sich auf die Brust, bevor sie die Plattform verließ. Das System registrierte sie, sie schloss die Augen, konzentrierte sich und nahm Anlauf. Kurz vor dem Stein rammte sie ihre Beine in den Boden, schob die Faust nach vorne und rutschte die letzten Meter auf das Gestein zu. Die Faust drückte sich gegen den Fels. Ein Knacken, sprang der Stein auseinander.

Die Leistung brachte Hagame zum Schmunzeln, für einen Moment war die Enttäuschung aus seinem Kopf verbannt. „Mit einer chirurgischen Präzision, wie deine Mutter.“, verbarg er das Lächeln nicht. Stolz stolzierte Sika zurück in die Gruppe und stellte sich näher an Marek heran. Sie schaute nach oben, hoffend auf einen stolzen Blick, doch Marek sah noch immer aus den Augenwinkeln heraus den Korridor herunter.

„Übung_bestanden“

„Möchte noch jemand?“, fragte Hagame durch die Reihe, „Dann fahren wir fort.“, bemerkte er die schüchternen Blicke.

„Übung_Sucher!“, schrie er der Kuppel entgegen und ließ die marode Landschaft vor ihren Augen in den Abgrund hinabsinken. Bäume schoben sich heraus und verdunkelten das eindringende Licht. Ein Abbild eines Waldes erschien um sie herum. Zwischen den Baumstämmen sah man das rote Licht der Kameras verschwommen. Die Segmente verankerten sich.

„Luna wärst du so lieb?“, suchte Hagame ihren Blick. Staunend ließ sie ihre Augen noch einmal durch den Abschnitt des Waldes gleiten, „Sicher“, nickte sie ihm zu und verließ die Plattform.

„W-Was ...“, drehte sie sich noch einmal um.

„Findet das Licht, das nicht im Takt scheint und berührt es.“, verschränkte Hagame die Arme und schmunzelte.

„Ok“, widmete sich Luna wieder ihrer Aufgabe. Sie drehte sich im Kreis, nickte jede Lampe mit einer Kopfbewegung ab, als würde sie den Takt verinnerlichen. Ihre Füße setzten sich in Bewegung, sie sprintete auf eines der Lichter zu, lautlos, als würde sie schweben, glitten ihre Füße über den modrigen Boden. Sie streckte die Hand aus, berührte das Licht.

„Übung_bestanden“, setzten die übrigen Kameras ihr Leuchten aus.

„Das war Wahnsinn!“, freute sich Hagame und zog ein breites Lächeln über die Lippen, „Du hast vieles gelernt von deinen Brüdern.“ Beschämt schaute sie nach unten und verbarg die rosigen Wangen.

„Bibb?“, rief er ihn aus der Gruppe heraus und ließ ihn den Rand der Plattform betreten. Bibb zögerte, dann setzte er den ersten Fuß auf das Moos.

„Übung_Sucher“, reagierte das System. Bibb wand den Kopf hektisch in die Runde. Nach vorne, nach hinten, die Lichter flackerten alle unterschiedlich für ihn. Er schritt auf eines zu, verlangsamte die Bewegung, als würde er seine Entscheidung bedenken. Er drehte um, steuerte ein anderes an. Ein hastiger Schritt in die Richtung, ließ das Moos unter ihm tief einsinken.

„Übung_gescheitert“, hallten die Lautsprecher durch die Meilenschmiede. Bibb sank auf die Knie, er legte den Blick nach unten und starrte auf den nässenden Untergrund. Eine Träne löste sich von seiner Nasenspitze. Wie ein Schwamm sog das Moos die Träne in sich auf, als wäre sie nie gefallen.

Maks schluckte beim Anblick. Am liebsten wäre er von der Plattform herunter gestürmt, ihn umarmt und getröstet.

„Bibb das tut mir Leid, komm bitte wieder zurück.“, befahl ihm Hagame und presste demütig die Lippen aufeinander. Bibb stand auf, er wich den Blicken der anderen Klassenkameraden aus und fokussierte den Boden.

„War ja klar“, stieß Abel kichernd Marek seinen Ellenbogen in die Rippen. Herablassend zog er die Lippen nach unten und schmunzelte dem weinenden Versager entgegen.

Maks lenkte den Blick weg von Bibb und Marek, weg von Sika, nach vorne auf die Stellen, wo die Lichter blinkten.

„Maks!“, schreckte ihn Hagame auf. Er starrte in seine Richtung. „Bist du bereit?“

Maks schluckte, seine Kehle fühlte sich trocken an, sein Magen leer, der Kopf, als würde man ihn metertief unter Wasser drücken. Ein betäubendes Geräusch drückte auf die Ohren und ließ ihn wanken, herunter von der Plattform.

„Übung_Sucher“, bestätigte das System seine Ankunft. Maks schwang den Kopf, versuchte das Geräusch aus den Ohren zu schütteln. Er atmete tief ein, leckte sich über die Lippen, sammelte den Speichel im Mund, bis er einen Schluck ansammelte und herunterschluckte. Doch das Ziehen im Bauch, blieb.

Er richtete den Blick auf die Lampen, zählte sie. „Sieben“, nuschelte er nur für sich verständlich. Er starrte jede einen Wimpernschlag lang an. Verinnerlichte ihren Ton, wie der Anschlag der Klaviertasten und malte ihr Blinken, wie Noten, im Kopf nach. Als würde der Ton eine Oktave tiefer springen, leuchtete Lampe Vier länger nach. Maks grinste, schritt auf sie zu. Behutsam setzte er einen Schritt vor den Anderen, nicht so schnell wie Luna und dennoch kam er weiter voran als Bibb. Er streckte die Hände aus, stabilisierte sein Gleichgewicht an den Rinden der Bäume und schlängelte sich weiter. Ein Augenaufschlag, änderte die Lampe das Muster. Hektisch drehte Maks sich um, er starrte durch die Runde. Beobachtete wieder jedes Blinken, doch erkannte ihren Ton nicht mehr. Er kniff die Augen zusammen, starrte auf die Vier.

Sieben

Hauchte eine Stimme in sein Ohr und riss seinen Kopf herum, er wunderte sich, starrte auf das siebte Licht. Ihr Pulsschlag war langsamer. Er lief nach vorne, hastiger, bevor sie ihren Rhythmus wieder änderten. Die Hast wurde zum Sprint, Maks gewann das Vertrauen in sich selbst, in jeden Schritt, den er tat.

„Ah!“, schrie er auf und kippte zur Seite. Ein Loch schluckte sein linkes Bein und schlug ihn aus dem Gleichgewicht. Er fiel zu Boden, hob schützend die Arme vor das Gesicht.

„Übung_gescheitert“, hallten die Worte des Systems im Ohr. Das Wasser des nässenden Mooses wanderte in seine Schuhe und Hose, der Stoff klebte sich auf die Haut. Maks presste den Kopf auf die Arme, als könnte er sich in die Erde pressen. Das glitschige Gefühl des Wassers breitete sich weiter aus, er zog das Bein aus dem Loch heraus und zog es dicht zum Oberkörper. Sein Arm griff nach dem Knie. Er konzentrierte sich, atmete, ein Gefühl der lähmenden Kälte das sich in ihm ausbreitete, die Gedanken erfror und den Bauch besetzte.

0.12_Im Schatten

0.12_Im Schatten

 

„Da hat unser Inku wohl versagt!“, lachte Marek los und zeigte mit dem Finger auf den kümmerlichen Körper. Jamel und Abel setzten ein, dann der Rest der Klasse. Maks drückte sich auf, er unterdrückte das tränende Auge und den schwummrig werdenden Blick.

„Lasst mich in Ruhe“, nuschelte er über die bibbernden Lippen, „Lasst mich in Ruhe!“, erhob er die Stimme mit jeder Wiederholung.

„Jetzt fängst du noch an zu heulen oder was?“, trat Marek lachend vor die Gruppe, er setzte einen weiteren Schritt voran.

„Nicht!“, stoppte ihn Hagame, den Fuß auf den Boden zu setzen. Der Schrei zog sich durch sein Mark und ließ ihn verwundert, wütend, zu Hagame schauen. Die drohenden Augen betrachtend, zog er das Bein zurück und setzte es auf die Plattform, ehe es den Boden berührte. Maks stand. Er pumpte den Sauerstoff durch den Körper, jeder Atemzug drang tiefer in den Brustkorb ein und ließ das Blut schneller durch die Adern kriechen. Doch die Muskeln blähten sich nicht auf, nur der Kopf, nur die Gedanken, die zu wachsen schienen.

Töte Sie!

„Töte sie?“, nuschelte er den Gedanken wiederholend. Er senkte den Kopf nach unten, roch den Geruch des Sandelholzes und verweigerte die weiteren Notionen.

„Schau mal! Der pinkelt sich gleich ein!“, stieß Abel seinem Bruder in die Rippe, er wippte zur Seite und suchte Halt an Mareks Schulter. Er drehte sich weg und löste den Griff.

Maks fokussierte den Eingang, dann rannte er los. Die watschende Hose trieb die Masse weiter an und ließ ihr Lachen in die Höhe schlagen, doch Maks wollte nur weg. Er wagte keinen Blick nach links oder rechts, nur geradeaus, geradewegs hindurch durch den Korridor. Der Schatten schluckte ihn.

„Maks!“, verfolgte ihn Hagames Stimme durch den Tunnel, doch auch sie trieb die Füße nur weiter an. Über den Dorfplatz hinweg, unter merkwürdig dreinblickenden Augen, hastete er zum einzigen Ort, den er kannte. Seinem Zuhause.

Er riss die Tür auf und schmiss sich auf das Bett. Die nässende Hose tropfte auf den Fußboden. Maks griff sich an den Hals und zog sein Halstuch herunter. Er warf es in die Ecke. Er schluchzte, doch unterdrückte die Träne die sich im Augenlid sammelte.

Die kalte Luft, die durch die Ritzen zog, trocknete die Augen. Maks verkroch sich unter der Bettdecke, streifte die nasse Hose aus und drehte sich auf die Seite. Die Holzplanken versperrten ihm den Weg nach draußen, doch ein kühler Windhauch zog durch die Bretter hindurch. Er atmete die Freiheit für einen Moment, ließ sich in die Ecke drängen von ihr und erhielt ihre Fesseln. Sie sperrte die Hoffnung in der Finsternis ein. Maks schlief unruhig in der Nacht. Die Gedanken rissen ihn schweißgebadet aus dem Schlaf, beunruhigter schloss er nach jedem Traum die Augen. Sich immer wieder erinnernd, ob er die Stimme wirklich hörte.

0.13_Ein letzter Atemzug

0.13_Ein letzter Atemzug

 

„Gong“

Hallte das Glockengeschall vom Tränenturm durch die Haustür. Maks riss die Augen auf. Er erschrak beim Gedanken eines neuen Alptraumes, aber die verklebten Lider und das eisige Zittern am Körper überzeugten ihn von der Realität. Er legte sich auf den Rücken. Ein tiefer Atemzug, stieß er die Luft langsam aus der Nase aus. Er rückte die Bettdecke zur Seite und schritt in das Badezimmer. Am verrosteten Wasserhahn klebte der Schlick der letzten Tage. Maks wusch sich, trocknete sich ab und sah suchend auf den Wäschehaufen. Er zerpflückte ihn, während er an jedem Kleidungsstück roch, es verwarf und es über seiner Schulter landete. Ein weißes Shirt, die Brust bedeckte ein Fleck, zog er es sich über und schritt in das Schlafzimmer. Er hob die Hose vom Boden auf, schaute nach unten und bemerkte den trübdunklen Fleck darunter. Er stieg in die feuchten Hosenbeine und band sie zu. Ein Blick zurück in das Zimmer, ein stetes Klopfen im Herzen.

Er schmunzelte, der Tag war gekommen. Der Tag, an dem das Kind im Zimmer blieb. Die Klinke schob sich nach unten, er öffnete die Tür und schritt aus der Haustür heraus.

Auf der Straße spähte er in beide Richtungen. Neben den Vandalen lebten nur Arbeiter aus den Fabriken in den Baracken und die Glocke begann nur den Tag, beendete aber nicht die Schicht.

Dreimal würde sie heute schlagen, das erste Mal lockte es die Menschen aus ihren Häusern und Hütten, sie begannen den Dorfplatz zu schmücken und eröffneten den Tag. Das zweite Mal beendet sie die Schicht der Arbeiter und ließ sie in ihr Zuhause einkehren, die Wachen bezogen ihre Positionen und die Meilenschmiede öffnete die Tore. Der dritte Gong ließ die Münze fallen.

Maks schlich weiter zum Dorfplatz. Die Menschen lärmten, hängten ihre Girlanden auf, von alten Stoffresten, die von den Reetdächern hingen, bis zu festlichen Laternen in lila, gelb, grün, rot. Auf dem Dorfplatz herrschte reger Trubel. Die Menschen zogen feine Garnseile zwischen den Häusern und spannten Decken, Regenschirme und Jacken dazwischen. Sie verdunkelten den Platz. Die Laternen warfen ihr schattenfrohes Spiel an die Wände und formten aus den hundert Menschen eintausend. Beängstigt griff sich Maks auf den Handrücken, sein Daumen streichelte die Innenseite seiner Handfläche, es beruhigte ihn.

„Waah!“, erschien eine schwarze Maske vor seinem Gesicht, Maks schreckte nach hinten und starrte auf die Öffnung, aus der feixendes Gelächter trat. Die Maske zierte eine rote Magnolie auf schwarzem Grund, die die Lippen bedeckte. Das Zeichen der Inku. Der Elitetruppe des Dorfes und die engsten Krieger des Seraphen. „Sind ihre Augen das Erste, was du von ihnen siehst, sei dir sicher, dass der Tod dir in das Ohr haucht.“, zitierte Maks in den Gedanken Hagame aus einer Unterrichtsstunde. Die Maske schob sich weg von seinem Gesicht und richtete sich auf. Der Mann war mindestens drei Meter groß, der klapprige Gang verriet die Stelzen, als er weiter über den Dorfplatz schlenderte. Maks schmunzelte, er schielte zur Brücke, das Tor der Meilenschmiede klaffte herunter. Er wandte sich ab und schritt auf den Jägerspfad, rüber zum Astloch. Vor der Tür blieb er stehen, er legte das Ohr an die Tür und lauschte. Aus dem Inneren hörte er Stimmen, Gemurmel und Gelall. Er drückte die Tür auf. Am Tresen saßen vier Männer, an den Tischen drei Weitere. Sie quatschten und erhoben ihr Gläser. Setzend auf die ersten Wetten. Maks schritt auf sie zu und drängelte sich durch, an den Schultern vorbei. Grimmig grunzte einer der Männer auf, schlug einen grunzenden Ton an.

„Das ist er ja!“, begrüßte ihn Rob armehebend und lachte. „Was treibt dich denn her am großen Tag?“

„Eigentlich würde ich gerne etwas Essen.“, schmunzelte er verlegen.

„Heute gibts was Köstliches!“, grinste er und schippte einen Teller voll mit Suppe, „Alles drin was dich stark macht für heute!“, stellte er den Teller vor ihm ab und legte einen Löffel daneben.

„Hey Shamu, geh mal zur Seite, der Tresen kann auch zum Essen benutzt werden.“, scheuchte er den grimmigen Mann auf. Er grunze beim Aufstehen und verzog sich, an einen der anderen Tische. Maks rührte den Löffel in der Suppe, ihre rote Farbe wirkte wässrig, Tomatenklumpen und Kartoffelscheiben tauchten zwischen den Fettaugen auf und ab. Er legte den Löffel auf den Mund, die Wärme der Suppe breitete sich aus, doch jeder Biss schwer, als würden Steine zwischen den Zähnen liegen. Die Männer um ihn herum tranken weiter, schluckten gierig ein Glas nach dem Anderen. In der Ecke hinter ihm, in der, der Grunzer einen neuen Platz gefunden hatte, schrien sich zwei Männer an und beleidigten sich. Rob stürzte herbei und zog die beiden auseinander. Die anderen Gäste kamen, packten sie an den Sachen und zogen sie in Richtung Tür. „Klärt das draußen.“, landeten ihre Körper auf der Straße und die Tür fiel wieder in das Schloss. Rob hetzte hinter den Tresen, rührte die Suppe um und schloss das Ventil des überlaufenden Bieres.

„An solchen Tagen hat man keine Ruhe“, lachte er Maks entgegen und stellte das schaumbedeckte Glas zur Seite. Er spähte auf den Teller, „Schmeckt nicht oder was?“, zapfte er ein Neues.

„Doch, schmeckt super.“, lächelte Maks gezwungen. Rob zapfte das Bier zu Ende und reichte es dem wartenden Gast. „Was ist los? Ich denk, heute ist dein Tag.“

Maks stieß spöttisch auf, im Takt, mit dem anklopfenden Herz.

„Ich glaub, du brauchst nichts Deftiges eher was Süßes!“, drehte er sich um und stellte die Pfanne auf den Herd. Aus einer Schale fischte er vier teigige Klumpen und schmiss sie in das siedende Öl. Ihr frittierter Duft stieg Maks in die Nase. Rob hob sie aus der Pfanne, platzierte sie auf einem Teller und stellte sie anstatt der Suppe vor ihm hin. Maks drückte mit dem Finger auf den goldbraunen Klumpen. Aus dem Inneren drang ein süßer Duft.

„Quibbels gefüllt mit Schokolade, Beeren oder Apfel.“, grinste Rob ihn an, „Das soll der Trend sein.“ Maks steckte sich eines der Gebilde in den Mund, das heiße Innere strömte heraus und verbrannte ihm die Zunge. „Ah!“, spuckte er den Klumpen zurück auf den Teller. Doch der süße Geschmack blieb haften. Er pustete sie kalt, spähte in Robs freudiges Gesicht und schlang sich einen nach dem Anderen herunter.

„Die sind verdammt lecker!“, leckte sich Maks die Schokolade aus dem Mundwinkel.

„Schön wenn ich dich aufheitern konnte.“, lächelte er.

„Gong. Gong.“

Schaltete sich das Gerede beim Geheul der Glocken stumm.

„Was bekommst du?“, schwang sich Maks vom Stuhl herunter und griff sich in die Tasche. Er wühlte nach den Münzen, fühlte das Loch in der Hosentasche. Er unterdrückte den Reiz die Augen zu quellen. „Kann ich das später bezahlen Rob?“

„Du? Heute? Nein gar nicht. Zeig denen, was du kannst.“, lächelte er ihm entgegen und ließ Maks tief durchatmen. Er stand auf und öffnete die Tür.

 

Der Dorfplatz füllte sich mit Menschen, sie tanzten um den Genkerstein herum. Zwei Warteschlangen füllten die Brücke zur Meilenschmiede. Dicht drängten sich die Besucher auf ihr und spähten Richtung Eingang. Maks schritt aus der Dunkelheit heraus, in das Licht der Sonne. Er richtete den Blick auf den Abgrund, schaute dann nach vorne und guckte an den Köpfen vorbei. Zwei Schilder hingen fett beschrieben unter dem Torbogen.

„Teilnehmer Gäste“, trennte sie die Schlangen. Maks stellte sich links an, ein Junge mit einer schwarzen Robe stand vor ihm. Sein Kopf bedeckt, die Schultern tief gezogen, war selbst Maks Schatten größer als er.

„Du bist ein bisschen spät!“, tippte ihn ein Finger auf die Schulter, er drehte sich nach hinten und starrte in Sikas Gesicht.

„Du bist auch nicht früher.“, wand er den Blick wieder ab von ihr.

„Und du stinkst. Wo warst du denn gewesen?“, schubste ihn Sika sich die Nase zuhaltend nach vorne, als der Windhauch ihr Gesicht streichelte.

Maks rempelte den Jungen vor ihm an. Barsch blickte er unter der Robe hervor. Ein stechendes Beißen lag in seinem silberfarbenen Blick. Als wäre die Dunkelheit in die Augen gekrochen, sie umschmeichelt hätte mit dem Schleier, der die Kälte ihm brachte. Rasch drehte er sich wieder in Reihe. Sie trabte nach vorne.

Maks ließ den Blick durch die Schlange nach hinten wandern. Statt sich zu leeren, füllte sie sich weiter die Straßen herunter. Genervt stellten sich die letzten in die Reihe.

„Name?“

„Du bist dran!“, drückte Sika Maks Körper wieder nach vorne. Er spähte durch die Luke. Als hätte sich der Mann nicht bewegt, saß Tame in der kleinen Nische, nur die Augenringe, die größer zu werden schienen. Ein Grinsen huschte Maks über die Lippen, als er ihn erkannte.

„Name?“, zog Tame die Augen weiter auseinander und starrte ihn eindringlicher an. Sein schmales Gesicht zog sich wie eine Birne.

„Thubai“, stotterte er heraus, „Maks Thubai“, korrigierte er sich selbst und schaute ihn mit aufgerissenen Augen an, als würde er einen Beifall verdienen. Tame hob eine Augenbraue, setzte er einen Strich auf der Liste vor ihm und stierte auf die Schlange hinter Maks.

„Name?“, streckte er den Kopf nach vorne und schaute Sika an. Sie stieß ihn in den Rücken und schob ihn weiter hinein. Eine Wache trennte die Schlangen und signalisierte ihnen den Weg. Massen an Menschen schoben sich rechts auf die Tribünen, Maks blickte nach links, den Kellergang hinab. Er setzte den ersten Fuß auf die steinerne Treppe.

Auf der rechten Seite war der Gang versehen mit Türen, auf der linken waren Nischen und Löcher in den Stein geschlagen. Sie ließen Licht und Wind an diesen Ort. Maks Blick wandte sich nach rechts. An den Türen klebten auf kleinen Fitzeln Papier die Namen.

„A. Fletschman. J. Fletschman. Ridak“, fletschte er die Zähne, „Thubai“, las er den seinen laut vor und öffnete die Tür.

Ein kühler Kellerraum begrüßte ihn. Alte Leinensäcke lagen auf einem Bettgestell. Ein hölzerner Tisch mit einem Stuhl davor und eine handgroße Lampe dekorierten das Zimmer. Maks trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er setzte sich auf das Bett, es federte ihn wieder nach oben. Schritte hallten vom Gang in den Raum, liefen an der Tür vorbei, bis neue einsetzten. Maks schloss die Augen. Ein letzter Atemzug.

0.14_Stolz

0.14_Stolz

 

Gong! Gong! Gong!

Weckte der Schlag der Meilenschmiede Maks. Sein Herz pochte schneller und drückte sich gegen den Schmerz von außen. Er schloss die Augen, wie ein frierender Strom, der sich durch seinen Körper zog und die Fingerknöchel verrosten ließ. Maks lehnte sich nach hinten und drückte die Hände gegen die Wand.

Eine tiefe Stimme räusperte sich in der Meilenschmiede, die Lautsprecher dröhnten dumpf über die Tribüne.

„Meine verehrten Gäste, Reisende und Arbeiter. Einen besonderen Dank, dem Seraphen.“, unterbrach ihn die Masse mit Applaus. „Ich heiße sie Willkommen zum 16. Jahr der Lichtprüfung!“

Tosender setzte der Beifall ein.

„Doch genug der Worte.“, beruhigte sich die Masse, „Die Regeln sind klar? Regel 1, während der Prüfung herrscht Stille, wir wollen die Teilnehmer doch nicht ablenken oder? Zweitens, die Zeit, Wetten anzunehmen wäre hiermit vorbei! Jede weitere Zuwiderhandlung lehnt sich an Regel Drei: Bei Toten halten sie ihren Kindern bitte die Augen zu. Und nun viel Spaß!“, erlosch das Surren in den Lautsprechern, die Menschen brachten die Wände zum Beben.

„von Nidas“, riefen die Lautsprecher einen Namen aus. Maks war er unbekannt. Es knallte und eine Explosion ließ die Wände in den Stuben zittern. Dann setzte kreischender Applaus ein.

„J. Fletschman“, setzte die Stimme des Moderators wieder ein. Stille kehrte in Maks Zimmer, der Applaus der Menschen blieb aus, nur das frequente Surren, das die Ruhe durchbrach. Maks löste die Hände vom Stein der Mauer, der Druck im Ohr erhöhte sich, er legte die Hände wieder auf. Als würde er die Worte besser verstehen, wenn er die Vibration ihrer Stimme in seinen Händen fühlte. Klarer das Genuschel, lauter das Geklatsche, eine Frau weinte.

„Ridak“, schlugen die Lautsprecher den nächsten Kandidaten an. Keine dreißig Sekunden später schlug Maks tosendes Gebrüll in die Ohren. Angestachelt klatschten die Menschen immer lauter. Maks hörte die Schritte auf dem Flur, wie sie seiner Tür näher kamen. Er schluckte, wollte den Druck aus den Ohren verdrängen, doch er dröhnte weiter im Kopf. Die Hände auf dem Oberschenkel ballten sich zur Faust. „Ich schaff das“, murmelte er vor sich hin und ließ den Druck entweichen. Maks stand auf und ging auf die Tür zu, bereit dafür, dass die Klinke sich jeden Moment nach unten drückt und es seine Zeit war.

„Bauma!“, setzte ein mechanisches Surren aus der Meilenschmiede ein, ein Klicken, als wäre das Terrain gewechselt worden. Die Schritte huschten eilig wieder an seiner Tür vorbei und stiegen die Kellertreppe hinauf. Maks setzte sich zurück auf das Bett, er schloss die Augen und drückte eine Handfläche wieder gegen die Wand. Die Stille im Außen, die Stille im Inneren, ließ keinen Platz mehr für Zweifel. Kräftig setzte der Applaus von den Rängen ein. Maks starrte auf den Boden und schwieg, stolz huschte ihn ein Lächeln über die Lippen.

„Gut gemacht Luna.“

Auf den Stufen hallten erneut Schritte. Die Klinke seiner Tür drückte sich nach unten.

„Du bist.“, öffnete Tame die Tür ein Stück und spähte hinein. Maks schaute auf, richtete sich und schritt mit ihm aus der Tür heraus. Über die steinernen Stufen gelangen sie an das Tor.

„Da lang“, schob Tames Hand Maks in Richtung des Korridores. Er drehte den Kopf noch einmal um, suchte den Blick von Tame, doch er wandte ihm bereits den Rücken zu und starrte stoisch zum Dorfplatz herunter. Links neben ihm standen zwei Männer, gierig tauschten sie einen braunen Sack gegen ein Stück Papier. Unter der kruden Nase formte sich ein egoistisches Lächeln, es spähte Maks hinterher. Doch er ließ den Unmut, die der Blick auslöste nicht seinen Körper ergreifen, er drehte sich um und trat die ersten Schritte durch den Korridor. Die Schuhe klackerten auf dem Boden unter ihm. Er konzentrierte sich, die Farben an den Wänden erhellten sich mit jeder Bewegung.

„Hey Maks“, pfiff Tame durch den Korridor, er riss den Kopf zurück und starrte auf die zerzottelten Haare, die braunen Augen. „Ich soll dir von Hagame sagen: Versuch es doch jetzt schon.“, grinste er kurz auf, bevor er seinen Posten wieder einnahm.

„Was probieren?“, stutzte Maks und schritt weiter den Korridor entlang.

„Das Klackern!“, schoss es ihm in die Gedanken. Sanftmütiger setzte er den nächsten Fuß auf, dann den Nächsten, bis Stille diesen Ort heimsuchte. Hagames Munja leuchtete bläulich am Steintor auf, die Türen drückten sich auseinander und gewährten Maks den Eintritt. Er lief in die Kuppel und schwenkte den Blick über die Tribüne. Gespannt und gierig richteten sich die Augen der Menschen auf den Mittelpunkt. Er machte einen Schritt nach vorne. Als wäre er Beute verfolgten ihn die Blicke und registrierten jeden Schritt. Maks griff sich an den Hals, er suchte nach dem Halstuch, suchte nach einem Stückchen Sicherheit. Der Griff in das Leere.

Mit einem aufstapfenden Schritt betrat er die Plattform, er schloss die Augen, ignorierte das Pochen des Herzens und atmete tief ein, dann aus.

„Prüfung Sucher!“, sprach er der Kuppel entgegen. Um ihn herum bildete sich das Geflecht aus Bäumen, Sträuchern und moorig nassen Waldboden das er aus der Übung kannte. Die Lichter begannen an den Wänden zu leuchten. Schwach pulsierend, drückten sie ihr Licht stärker durch den Schatten hindurch. Maks konzentrierte sich, Lampe für Lampe suchte er den falschen Takt in ihrem Kreis, der sich enger um ihn schlang. Hinter ihm bemerkte er das aussetzende Flackern. Er schritt auf das Licht zu, schneller werdend in der Bewegung, erreichte er es lautlos. Grinsend drückte er auf das Licht und wartete auf die Meldung des Systems. Doch nichts passierte. Maks starrte auf die Lampe, ihr rotes Licht schien durch eine Linse zu kommen. Er schwenkte den Blick und spähte durch die Baumkronen aus der Kuppel heraus. Über ihn waren sieben Bildschirme, die an den Tribünen befestigt waren. Jeder zeigte eine andere Aufnahme, Maks schaute sich selbst zu, wie er das Auge näher an die Linse heran drückte. Die Menschen auf den Rängen hielten die Hände vor ihr Gesicht, versuchten, ihr Kichern und Lachen zu unterdrücken, es zu verweigern, wohlwissend über die Strafe, die sie erwartete, und dennoch gafften sie auf die Monitore.

„Das war also nicht die Prüfung“, las er an ihren Gesichtern ab. Er drehte sich wieder um und spähte durch den Wald. Jeder Strauch und jede Astgabelung betrachtete er genauer, doch erkannte nichts. Eine Wolkendecke schob sich über das Dach der Meilenschmiede und verdunkelte das Terrain weiter. Die Sicht noch schlechter. Der Durchbruch der Sonnenstrahlen ließ etwas metallisch zwischen zwei Ästen aufblitzen. Eine stählerne Kugel mit rotpulsierenden Linien hing inmitten eines Baumes.

„Das muss es sein!“; grinste er und bewegte sich in Richtung des Glitzerns. Vor dem Baum starrte er in die Höhe. Aus dem Schatten des Laubes sahen ihn Augen an. Klein, schwarz, fokussiert, richteten sie den Blick auf ihn. Er dachte an Nachtschwalben, doch der fehlende Glanz verriet sie, das wären keine Tiere. Das waren Syncs. Deutlicher erkannte er ihr schwarz stählernes Federkleid, die grauen Linien, die sich über den Körper zogen, die spitz glitzernden Schnäbel und die glanzlosen Augen. Maks schwenkte den Blick durch die restlichen Bäume, das waren nicht nur ein paar Syncs, es waren Scharen, die sich in die Wipfel setzten und jede Bewegung registrierten. Maks schaute auf die rotleuchtende Kugel. Lautlos laufen, hatte er trainiert, lautlos klettern, daran hatte er nicht einmal gedacht. Er bohrte die Fingerkuppen in die Rinde und versuchte seinen Körper hinaufzuziehen. Die Schuhe ratschten über den Stamm, das Geräusch hallte durch die Kuppel, panisch schaute er nach oben in die kalten Augen, dann drehte er sich um. Auch die Augen in den hintersten Kronen beobachteten ihn jetzt und folgten mit ihren Schnäbeln jeder Regung. Maks griff nach oben um einen Ast herum, er klammerte sich fest und zog sich vorsichtig hinauf. An einer Astgabelung fand er Halt, er drückte sich weiter hoch und näherte sich der Kugel. Er streckte den Arm aus, ein paar Zentimeter fehlten. Das Bein gegen den Baum stemmend, schob er sich näher an die pulsierende Beute. Er hörte ein Surren über ihn, leise und verschwommen drang es in sein Ohr, als müsste es sich durch ein Meer aus Rauch kämpfen. Maks drehte den Kopf vorsichtig nach oben, gefasst der Blick, rechnend mit dem Schlimmsten. Der Kopf eines Schattenwächters drehte sich auf dem Ast über ihn, die Augen bekamen Tiefe, als würde er ihn neu fokussieren. Das blitzende Schwarz riss den Schnabel auf. Die Flügel schnellten wie die eines Skarabäus aus dem Federkleid hervor und trugen ihn in die Lüfte. Ein anmutiger Flügelschlag, der sich mit jeder Sekunde beschleunigte.

Maks Knochen wirkten träge und hielten an der Stelle fest. Er presste sich gegen die Rinde, spürte, wollte spürten, wie er sich bewegt. Doch die Gelenke wie von Blockaden belegt.

Reihum scherten vereinzelte Schattenwächter aus den Wipfeln unter das Dach der Kuppel. Sie rotteten sich zusammen und erschufen einen schwarzen Himmel über Maks. Dunkler als die staubbedeckten Nächte, die mit jedem Jahr mehr über Arian schwebten. Sie formierten sich und bildeten, durch eine Flügelweite getrennt, einzelne Geschwader.

Maks spürte die bohrende Rinde im Rücken, die Paralyse ergriff ihn und zog die rostigen Ketten fester. Ein Augenaufschlag, füllte sich der Boden unter ihm mit der Dunkelheit. Doch sein Körper wirkte hier leichter. Er versuchte, die Augen zu öffnen, streichelnd fuhren die Lider über die Pupille, jedem Aufschlag bewusst und doch verschwand das erdrückende Schwarz nicht um ihn. Er hielt sie geschlossen und ergab sich.

Licht!

Riss sich aus dem Schleier über ihn ein Fetzen heraus und ließ die Strahlen der Sonne hindurchscheinen. Schützend zog sich Maks Oberkörper zusammen, stierend richtete er den Blick nach oben. Aus einem Geschwader schoss eine Staffel in seine Richtung.

Hastig atmete er aus und drehte sich auf den Bauch, streckte die Hand aus und griff zur Kette. Er schwenkte den Blick nach rechts. Umklammerte die Trophäe und ließ sich vom Baum zu Boden fallen. Wie ein Nagel klopften die Schnäbel der Schattenwächter an die Stelle, an der Maks eben noch hing. Das Surren setzte wieder ein. Es war schriller und zog sich wie eine Welle von der rechten, auf die linke Seite der Schar. Maks blickte sich um. Bangend, hoffend auf die Erlösung aus den Lautsprechern, doch das dumpfe Dröhnen übertönte nicht den Gesang der Schattenwächter. Eine neue Staffel löste sich, eine Zweite schoss ihnen hinterher. Maks starrte auf die pulsierende Kugel in der Hand, rammte die Füße in den Boden und suchte Schutz hinter einem der Bäume. Die Schnäbel der Schattenwächter klapperten gegen den Stein, klopften auf das Holz. Maks beobachtete wie sie sich tief in den Stein bohrten, wie fliegende Klingen. Ihr Körper zersprang nach dem Aufprall und ließ die Trümmerteile zu Boden sinken. Sein Herz schlug laut und ließ den getrübten Schleier vor den Augen verschwinden. Erschöpft senkte er das Kinn zur Brust. Er vermisste den Geruch nach Sandelholz.

 

Wie bei einem Windzug raschelten die Blätter über ihm. Aus dem dichten Laub schossen die Schnäbel heraus, Maks sah auf und duckte sich herunter. Sechs stachen in den Boden ein, zählte sein Kopf, als ein stechender Schmerz über den Rücken hereinbrach. Mit einer brachialen Gewalt bohrten sich die Schnäbel in die Schulter, die Rippen und Lende. Die Spitzen waren an den Kanten scharf geschliffen, sie drückten die Knochen auf ihrem Weg auseinander und ließen sie bersten. Der Schmerz drückte die Luft aus Maks Lunge und ließ den Körper zu Boden sinken. Der Gesang der Schattenwächter setzte wieder ein, der Windzug in den Blättern. Maks fiel hinab in die Kälte. Der Schmerz verlagerte sich, drängte sich in die Mitte des Brustkorbes. Er versuchte die Hand zu heben und den schmerzenden Punkt zu berühren. Doch die Starre hinderte ihn. Er legte den Kopf auf die Seite, schloss die Augen und ließ die Schatten ihn ergreifen.

0.15_Licht

0.15_Licht

 

Ein furchterregendes Grölen, das durch Maks Körper ging, ließ ihn aufschrecken. Er richtete den Oberkörper auf und zog den Arm schmerzend zur Seite.

„Da hast du uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt.“, lächelte ihm Hagame durch die Schlitze seiner Augen entgegen. Das Licht brannte in der Iris. Die gelbweißen Vorhänge, die am Fenster wehten, das weiße Regal, das mit einer Blume geschmückt war, der Tisch mit einem Tablett versehen. Und Hagames betrübtes Gesicht, erkannte er mehr mit jedem Versuch, die Augen zu öffnen. Er lag in einem Bett, sein Körper war in Bandagen gepackt.

„Was ist passiert?“, verzog Maks schmerzverzerrt das Gesicht.

„Du kannst dich an nichts erinnern?“, sah ihn Hagame mit starrer Miene an. Maks schüttelte den Kopf.

„Nein, hab ich ...“, gerieten seine Worte ins Stocken.

„Bestanden?“, beendete Hagame den Satz und ließ die Mundwinkel nach unten sinken. Maks las ihm die Antwort an den Lippen ab.

„Weißt du Maks. Im Leben ist das manchmal so wie auf einem Hochseil. Du hast Angst zu taumeln, wenn du darauf stehst und doch wird dich der Mut zur Neugier immer einen Schritt weiter gehen lassen. Bis du irgendwann auf der anderen Seite stehst. Du darfst nur eines nicht vergessen, du musst dich konzentrieren und die Neugier in Mut verwandeln und immer weiter laufen.“ Hagame lehnte sich auf das Bett, er hob den Arm und legte die Hand auf seiner Schulter ab. Maks zuckte zurück.

„Was ist wenn die Angst größer ist?“, schaute Maks ihm, selbst erschrocken über die Reaktion, in die Augen.

„Dann musst du damit leben, was du hast.“

„Ist das denn schlimm?“, verwuschelten die Worte in Maks Kopf.

„Willst du es denn?“

„Nein.“, schüttelte Maks den Kopf und dachte an die Träume, die er doch noch erleben wollte. Die Prüfung, seine Eltern und sein Zuhause. Er schmunzelte. „Nein“, wiederholte er sich selbst lauter und ballte die Faust.
„Wenn du es nicht vor hast“, lächelte Hagame und griff in die Tasche seiner Weste, er zog die Hand wieder raus, „dann hast du hiermit eine Chance.“, ließ er die Kugel in Maks Handflächen fallen. Ihr Stahlgehäuse war warm, nicht nur aus dem Innenleben der Tasche, es wärmte von sich aus. Das rote Licht war einem Gelbem gewichen. Es pulsierte stetig, mal heller, mal intensiver, wie eine Miniatur der Sonne.

„Ist das die Trophäe? Warum leuchtet sie denn gelb?“

„Das hast du gemacht.“, lächelte er ihn an.

„Die Kugel ist aus Shanja Stahl gefertigt, einem Stahl, der elektrische Energie speichern kann. Die Farbe zeigt den Zerfall an. Rot bedeutet, er ist schwach, gelb, er hat noch Kapazitäten und grün eine volle Einsatzbereitschaft. Es scheint, als hättest du den Stahl geladen.“

„Aber wieso ist er nicht grün?“

„Du bist immer noch nur ein Schüler“, wuschelte Hagame ihm durch die Haare. Die Hand drückte fest auf seinen Schädel und ließ ein unangenehmes Rascheln in sein Ohr. „Wichtig ist, du hast es überhaupt geschafft. Damit bist du der Erste seit acht Jahren.“

„Der Erste? Mit was der Erste?“

„Shanja Stahl zu laden.“, sprach Hagame ernst.

Maks Grinsen zog sich über das Gesicht. In Gedanken blätterte er durch die Seiten des Geschichtsbuches bei Frau Hamen. Nicolai Ramer, der erste Seraph des Dorfes besaß diese Fähigkeit ebenfalls, erinnerte er sich. Er nutzte sie, um die Fabrik zu erschaffen, die ersten Haushalte mit Strom zu versorgen und dem Leben in Arian wieder Hoffnung zu geben. War er etwa genauso gut wie ein Seraph?

„Das heißt, ich bin ein Sucher?“, riss sich Maks aus dem Bett heraus, er ignorierte den Schmerz und starrte Hagame mit aufgerissen Augen an.

„Nein du bist wenn dann erst einmal ein Ami, ein Lernender, aber ganz so einfach ist es nicht.“

„Nicht so leicht?“, verschwand die Aufregung aus Maks Gesicht.

„Der Seraph möchte einen technischen Defekt oder eine andere Störquelle ausschließen. Du wirst die Prüfung noch einmal wiederholen müssen.“, sprach Hagame entschlossen.

„Wann?“, stieg die Furcht in Maks auf, die Angst. Er erinnerte sich an die niederschießenden Schnäbel der Schattenwächter. An die Kälte die seinen Körper durchströmte.

„Wenn du erholt bist.“, nickte Hagame ihm zu. Er stand auf, ging auf den Tisch mit dem Tablett zu, schnappte es sich und stellte es neben Maks ab. Er hob den Deckel an. Auf dem Teller lagen zwei Scheiben Brot, ein paar gekochte Kartoffelscheiben und eine Schale mit Linsenaufstrich. Der penetrante Duft stieg ihm in die Nase. Angewidert schaute er wieder zu Hagame.

„Mir war ...“, riss die Türklinke herunter und Mikal betrat mit einer Schwester zusammen den Raum. Sie war beleibt, ihr blondes Haar streng zu einem Dutt gesteckt. Mikal griff nach dem Bildschirm in ihrer Hand und riss es ihr aus den Fingern.

„Gehen wir mal durch.“, betrachtete sie Maks Krankenakte, „Die Vitalwerte sehen soweit ganz gut aus.“, legte sie die Akte wieder zurück in die Hände der Schwester und schritt auf das Bett zu.

„Würdest du dich bitte mal aufrichten, damit ich deinen Körper ansehen kann?“, sprach sie streng. Maks suchte den Blick zu Hagame, vertrauensvoll nickte er ihm zu. Er stemmte sich empor und ließ Mikal die Bettdecke und seinen Kittel hochheben. Die kalte Luft strömte gegen die gewärmte Haut.

„Das sieht gut aus soweit“, drehte sie seinen Rücken mehr zu sich, bevor sie ihn wieder mit dem abschirmenden Stoff bedeckte.

„Kann ich dich draußen sprechen?“, sah sie Hagame an. Er nickte und erhob sich vom Bett. Er sah nochmal zu Maks zurück, lächelte ihn an und folgte dann Mikal auf den Korridor. Die Tür flog in das Schloss.

Die Krankenschwester blieb im Zimmer stehen und starrte ihn weiter an. „A. Grayborn“, stand auf dem Schild ihrer Bluse. Mit strengem Blick stapfte sie auf Maks zu.

„Noch einen Tee? Oder ein Wasser?“, sah sie ihn mit großen Augen an.

„Er kann sich an nichts erinnern.“, hörte er Hagames Stimme durch die geschlossene Tür hindurch, Frau Grayborn starrte ihn, noch immer auf eine Antwort wartend, an.

„Die Wunden sind auch so gut wie verheilt. Er hatte tiefe Stichwunden und Frakturen!“, hörte er Mikal bedacht leiser sprechen, nur wie ein Flüstern kam ihre Stimme bei ihm an.
„Tee oder Wasser?“, rief Frau Grayborn lauter. Maks starrte sie mit verschreckten Augen an.

„Tee“, gab er ihrem launischen Gesicht eine rasche Antwort.

„Das man immer zweimal fragen muss“, meckerte sie und stapfte aus dem Krankenzimmer. Sie riss die Tür auf und öffnete den Blick auf Mikal und Hagame. Sie verstummten und starrten in das Zimmer.

„Geh und sag es dem Seraph“, flüsterte Mikal ihm zu. Er nickte, lenkte den Blick lächelnd zu Maks. Ihre Stimme klang lauter, als hätten die Tür nur die Dezibel geschluckt, doch nicht den Ton verzerrt. Sie wandte sich um und ging.

Hagame blieb stehen, schaute wechselschauend zu Maks und in die andere Richtung des Flures. Er wank mit der Hand und wartete. Neben ihm tauchte Sika auf. An der Schulter schob er sie in das Zimmer hinein.

„Hier möchte dich noch jemand sehen.“, ging sie in den Raum. „Wenn du etwas brauchst Maks, sag bitte den Schwestern Bescheid, ich muss noch einmal zum Seraphen. Erhol dich!“, schloss er die Tür, als Sika über die Schwelle trat.

Schüchtern schritt sie auf die Fensterbank zu und begann mit den Fingern über die Blätter der Pflanze zu streicheln. Maks beobachtete jede Handbewegung von ihr.

„Ich freu mich, dass es dir besser geht.“, sah sie ihn nicht an, sondern fokussierte weiter das Blatt.

„Was willst du?“, pampte Maks sie an.

„Ich wollt mich entschuldigen für die Aktion an der Brücke, ich wollte dir eigentlich viel Glück wünschen.“, stoppte sie die Streichelbewegung auf dem Blatt. Maks lehnte sich nach hinten und ließ sich in das Bett fallen.

„Ist schon okay. Hast du bestanden?“

„Natürlich.“, drehte sie sich stolz zu ihm um. Er schmunzelte über die Freude in ihren Augen, das Funkeln. „Und du auch, so viel wie ich gehört habe?“

„Ich muss nochmal zur Prüfung, hat Hagame gesagt.“

„Warum?“, sah sie ihn verdutzt an.

„Um einen Defekt auszuschließen, oder so, hat er gesagt.“

„Das würde erklären, wieso sie von dir abgelassen haben als du am Boden lagst.“, hob Sika den Zeigefinger ein Stück in die Höhe. Maks trieb die Schamesröte in das Gesicht, seine Ohren erhitzten sich, „Du hast es gesehen?“

„Wie denn du Dummerchen, ich war doch selbst in der Prüfung, aber ich hab es gehört.“, sah sie ihn schräg lächelnd an. Maks schnaufte durch und spürte wie die Röte, wieder der Blässe wich.

„Das waren Schattenwächter richtig?“, suchte Maks ihren Blick.

„Schwache ja. Normalerweise setzen sie beim Aufprall ein Pheromon frei, welches den Anderen den Weg auf das Ziel weist. Bei dir haben sie wohl nicht getan, wodurch sie dich nach deinem Zusammenbruch nicht mehr orten konnten und ihren Angriff aufgaben.“

„Woher weißt du das?“, starrte Maks sie mit großen Augen an.

„Mein Papa hat es mir beigebracht, außerdem hatte Hagame das Thema seit zwei Wochen in der Schule. Was du wüsstest, wenn du dagewesen wärst.“, verschärfte sich ihr Ton zum Ende. Maks senkte beschämt den Blick. Er hörte, wie sie einen Schritt näher trat und das Geländer des Bettes umgriff. Ihr Ring an der linken Hand klapperte gegen das Gestell.

„Du bist ein Ami jetzt oder?“

„Jap, bin ich“, lächelte sie stolz, „Die Teams werden in den nächsten Tagen zusammen gestellt und dann werden wir endlich mit der richtigen Ausbildung beginnen.“

„Gong Gong Gong“

Schlug das Echo der Glocke gegen die Scheiben des Krankenhauses. Sika starrte aus dem Fenster heraus.

„Ich muss dann auch mal. Erhol dich bitte gut.“, sprintete sie aus dem Zimmer.

„Du auch“, sprach Maks ihr nach, doch die zugeschlagene Tür verschluckte seine Stimme. Er starrte aus dem Fenster heraus, wie die anbrechende Nacht ihr Schleierkleid über den Horizont legte, es näher an Arian schob und sich wie eine Decke um ein Kind wickelte. Maks schmunzelte, er richtete den Blick auf die Einrichtung. Die gelben Wände strahlten kühl, der hölzerne Tisch war an die Wand geschraubt, der Stuhl liederlich davor gestellt. Neben dem Tisch prangten zwei Bilder an der Wand. Eines mit goldenem Rahmen, dass die einstigen Landschaften in ihrem unendlichen Grün und braun zeichnete, eines mit abstrakten Strichen die wirr durch das Bild flogen, wie ein Schmetterling, kombinierte Maks sie. Es wirkte freundlich, sollte es, doch Maks vermisste das Chaos seiner Wohnung um ihn herum. Die abgestandene Wäsche, den kalten Zug, der durch die Fenster kroch, die Heizung, die klapperte, wenn sie den letzten Funken Wärme durch den Raum trug. Selbst den Milchkarton; und sein Halstuch.

„Dein Tee“, riss Frau Grayborn die Tür auf und stellte die Tasse samt Teller auf den Tisch.

„Danke“, nuschelte Maks und beobachtete wie sie herrisch den Raum verließ und wie der Dampf aus der Tasse stieg. Er drehte sich auf die Seite, richtete die Augen noch einmal auf den Horizont und schlief ein.

 

Doch die Erinnerungen an den Tag ließen ihn nicht in Frieden. Jede Stunde erwachte er aus einem Alptraum, mit jedem Mal die Angst größer die Augen wieder zu schließen. Er stand auf, ging in Richtung des Waschbeckens und betrachtete sein dreckiges Gesicht im Spiegel. Verkrustetes Blut und modriger Schlamm bedeckten es. Er öffnete den Wasserhahn und streckte den Kopf unter ihn. Die Kühle zog sich durch seine Haare und perlte das Gesicht herunter. Unter Wasser, verschwand der Druck in den Ohren, das unaufhörliche Pfeifen, das er vernahm, das frequente Säuseln. Er fing das Wasser in den Handflächen auf, schüttete es sich ins Gesicht und rieb sich den Dreck herunter. Ein Blick in den Spiegel, liefen nur noch verschmutzte Tropfen an den Haaren ab. Er legte sich zurück in das Bett, versuchte, wieder den Schlaf durch die Nacht zu finden. Seine Augen wehrten sich, bis sie nachgaben.


„Frühstück!“, öffnete eine Krankenschwester lautstark die Zimmertür und trat ein. In ihrer Hand hielt sie ein Tablett. Maks drehte sich aufgeschreckt um. Sie schaute auf das Abendbrot von gestern. Die beiden Brotscheiben, den unangetasteten Linsenstrich und die grün gewordenen Kartoffelscheiben. Genervt hob sie das Tablett hoch und ließ das Neue auf den Tisch fallen.

„Kann weg?“, hob sie die Tasse mit dem kalten Tee hoch.

„Nein“, schüttelte Maks den Kopf, „Den trink ich noch“, richtete er sich auf und tapste aus dem Bett heraus. Er stellte sich neben die Krankenschwester, schlang den Tee mit einem Schluck herunter und spuckte den Teebeutel wieder zurück in die Tasse. Angewidert nahm sie, sie entgegen.

„Einen Neuen?“, drehte sie sich fragend in der Tür um.

„Das wäre lieb.“, sah er ihr hinterher und hörte, wie die Tür zuschlug. Maks hob den Deckel des Tabletts an. Zwei Scheiben Brot und Gurken und ein Schälchen mit Linsenaufstrich stand auf ihm bereit. Er lächelte müde, griff zum Messer und bestrich die harte Kante des Brotes mit dem Linsenstrich. Die Gurke legte er auf die restliche Stulle. Der fade Geschmack spannte sich auf seine Zunge, am liebsten hätte er sie wieder ausgespuckt, doch der Hunger trieb ihn hinein. Gierig stopfte er sich die beiden Scheiben in den Rachen und schluckte sie herunter.

Die Krankenschwester öffnete wieder die Tür und trug die neue Tasse herein. Der Dampf schlug in Maks Gesicht.

„Jetzt kam erst der Hunger?“, sah sie ihn an. Er nickte, fühlte noch die letzten Brotreste, die sich in den Backen verfingen. Lächelnd hob sie das Tablett hoch und trug es aus dem Raum heraus. Sie stellte es zurück in den Essenswagen auf dem Korridor, kam zurück und griff an die Türklinke.

„Wann komm ich denn raus?“, stoppte Maks ihre Bewegung. Sie öffnete die Tür einen Spalt und streckte genervt den Kopf in den Raum. „Heute Nachmittag.“, schloss sie die Tür und ließ die Rollen des Wagens weiter über den Gang fahren.

„Heute Nachmittag.“, wiederholte Maks nachäffend ihre Worte. Er wollte nicht warten, wollte raus, jetzt! Es allen endlich zeigen. Doch der gelbe Käfig zog sich um ihn herum und schluckte die Zeit herunter. Er drückte die Tür auf und spähte über den Korridor, er war schwach beleuchtet, Türen reihten sich aneinander, auf der anderen Seite waren Wartebänke platziert. Die Wände waren im gleichen Ton wie die Zimmer gestrichen, ein weißer Strich in der Mitte dekorierte sie. Doch der Korridor war leer gefegt. Keine Schritte, die hallten, keine Stimmen die tuschelten, nur Stille.

Er schlich durch die Gänge, haderte, eine der Türen zu öffnen, doch die Angst hinderte ihn. Er schlenderte zurück in das Zimmer. Die Warterei zermürbte ihn, was wenn er nicht das Zeug zum Inku hatte, geschweige denn zum Sucher. Was wenn er die Zweite, wie die erste Prüfung, nicht besteht. War es nur Glück, wie es Sika nannte?

Maks starrte aus dem Fenster, die Schornsteine der Fabrik erstreckten sich vor ihm, er beobachtete den Rauch, der aus ihnen stieg. Die Straßen, verdeckt von den Häuserdächern, sah er nicht. Er legte sich zurück auf das Bett und starrte in die Wolken, den Rauch. Im Kopf bildete er ihre Gebilde nach. Einen Vogel, einen Drachen, wie aus den alten Märchen, ein Hund der nach einem Knochen biss, ein Mann mit einem großen Stab.

Mikal öffnete die Tür des Zimmers und trat ein. Maks sah sie begeistert an, drehte sich zur Seite und richtete den Oberkörper auf.

„Ich fühl mich schon viel besser!“, grinste er ihr entgegen.

„Hallo Maks, das freut mich. Lässt du mich deine Wunden noch einmal sehen?“, trat sie ein Stück näher, vernahm sie sein Nicken und schob den Kittel nach oben. Sie drückte auf seinem Fleisch herum, presste auf die Knochen und sah unter die Bandagen.

„Fühlst du dich seit Neustem anders? Kraftvoller vielleicht?“, schob sie den Kittel wieder herunter und inspizierte seine Zehen.

„Nein. Ich würd nur gern los, weil ich doch zu der zweiten Prüfung muss.“, drängelte er.

„Zur Elohim, ja dahin wirst du gehen, aber erst wenn ich das entschieden habe.“

„Entschieden? Wie entschieden?“, fragte Maks nach.

Mikal griff an seinen kleinen Zeh, drückte auf ihm herum, „Du hattest Rippenprellungen, Stichwunden und dein kleiner Zeh war gebrochen.“

„Er schmerzt auch ein bisschen.“, versuchte Maks ihn mit den anderen zusammenzudrücken.

„Das ist es ja.“, presste sie die Lippen aufeinander und schob die Hand in die Tasche ihres Umhanges. Sie zog ein Thermometer hervor und hielt es Maks an die Stirn. Sie wartete auf das Piepen, zog es weg und runzelte die Stirn, „36,7“.

„Hier dann unterschreib das hier bitte und du bist entlassen.“, griff sie auf den Tisch hinter ihr und legte Maks den Bildschirm auf die Oberschenkel. Er griff danach, zeichnete mit dem Finger hastig seinen Nachnamen ein und schwang sich aus dem Bett. Er zog die Schuhe darunter hervor, stülpte in die Hose, dann in sie.

„Willst du noch etwas essen, bevor du gehst?“

„Nein, danke“, grinste er ihr entgegen und griff nach seinem Shirt und der Weste.

„Dann lass bitte den Kittel hier.“, zeigte Mikal mit dem Finger an seinem Körper auf und ab.

„Oh!“, stülpte Maks den Kittel ab und zog sich sein Shirt und die Weste an.

„Wann ist denn jetzt diese Eloham?“

„Elohim“, korrigierte sie ihn, „die Prüfung der Engel.“

„Der Engel? Wieso denn der Engel?“, stutzte Maks.

„Man nennt sie nur so.“, schmunzelte sie verlegen, als wüsste sie die Antwort selber nicht.

„Ok.“, nickte Maks ihre Worte ab und rannte in Richtung der Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und sah in Mikals grünbraune Augen.

„Darf ich dann los?“, sah er sie mit aufgerissenen Blick an. Sie nickte. Schelmisch grinsend zog er die Tür in das Schloss.

 

Er folgte dem schmalen Korridor in die Haupthalle hinein. An der Rezeption stützte ein Mann seinen Kopf und starrte auf den Bildschirm vor ihm. Maks trat fester auf und ließ die Schritte lauter durch den Empfang hallen. Vor dem Tresen räusperte er sich, „Entschuldigung muss ich mich noch abmelden oder so?“, erregte Maks die Aufmerksamkeit des Mannes. Er schwenkte den Blick über seine Brille am Nasenrücken vorbei.

„Für was?“, sprach er mit starrer Miene.

„Weil ich doch entlassen werd.“, schaute er ihn fragend an.

„Hast du die Erklärung unterschrieben?“, rückte sich der Mann mit dem Mittelfinger die Brille hoch.

„Ich hab“, mit dem Finger zeigte Maks in den Korridor, aus dem er kam „da was unterschrieben, ja.“

„War das die Erklärung?“, rutschte die Brille des Mannes bei jedem Wort wieder ein Stück tiefer. Maks wollte heraus aus der Situation, weg von dem Mann, weg von seinen Fragen. Er drehte den Fuß zur Seite.

„Ich weiß nicht!“, sprach er entschlossen und stapfte in Richtung der Tür, horchte dem Mann noch zu.

„Dann kann ich dir auch nicht helfen.“, hörte man das Quietschen des Stuhles. Maks drückte die Türen auf. Die Sonnenstrahlen stellten die Haare an den Armen zur Gänsehaut auf. Ihre Wärme vertrieb die Kälte aus dem Körper. Er spähte über die Straße, ihm gegenüber, stand eine alte Frau, kopfstützend lehnte sie sich auf den Besenstiel und starrte ihm hinterher. „Thiess“, stand auf einem Schild vor dem Gatter in roter Schrift.

Maks wich ihren Blicken aus und drehte links ab in Richtung des Waldes.

„Wo gehts denn hin Jungchen?“, brach ihre krächzende Stimme, wie ein Rabenschwarm durch die Luft. Maks drehte sich um, dreckig zog sie ihr Grinsen auseinander und zeigte ihre kaputten Zähne. Maks drehte ab, er rannte los und verschwand in eine der Gassen.

„Nah“, schrubbte sie den Besen wieder über den Boden. Maks atmete auf und schritt auf die Palisaden zu. Er drückte den Nagel zur Seite, schob das Brett weg und kroch durch das Loch aus dem Dorf heraus. Er schritt durch den Wald, folgte den Trampelpfad, bis er die Lichtung mit den Nachtschwalben erblickte. Behutsamer näherte er sich dem Licht. Er spähte durch die Äste, suchte ihre Schnäbel, ihr Gefieder, ihre glänzend schwarzen Augen. Auf einem Baum fand er ein Nest. Er schmunzelte und verlangsamte den Schritt weiter. Er schlich über die Lichtung hinaus, drehte um und ging wieder in die andere Richtung. Er rannte zurück und grinste breiter mit jedem Schritt. Ditschend gegen den Baum suchte er wieder die andere Richtung und sprintete. „Krah!“, schreckte eine Nachtschwalbe über ihm auf, als der Fuß zu tief im Morast versank und warnte den Schwarm. Zu hunderten scherten sie aus den Wipfeln aus und ergriffen die Flucht. Enttäuscht sah Maks ihnen hinterher. Er ging zum Baum und lehnte sich an ihm an. Lauschend richtete er die Ohren in den Wald, drehte sie zu den Baumwipfeln hinauf. Doch das Gekrächze der Jungen blieb aus. Er fand Daunenfedern die den Waldboden unter ihm bedeckten. Maks bückte sich, hob eine auf, drehte sie in den Fingern und schaute den Schwalben nach. Eine Stunde verging, ehe Maks sich aufstemmte und eines der Nester fixierte. Er kletterte auf den Baum, versuchte, möglichst leise zu sein, doch die Sohlen seiner Schuhe schabten über das Holz. Er drückte den Kopf an der Astgabelung hoch und spähte in das Nest. Außer Federn und zugeschissenen Eierschalen fand er nichts darin, was auf eine Wiederkehr deuten ließ. Maks senkte den Blick und presste die Schuhsohle wieder gegen die Rinde.

Ein grünes Blitzen leuchtete in der Ferne. Keine fünfzig Meter, Maks ließ sich zu Boden fallen und versteckte sich hinter dem Baum. Er lauschte. Ein Astknacken hallte durch den Wald, aber der Klang zu hell, um von schwerer Natur zu sein. Dann wieder Stille.

Maks spähte um den Stamm herum. Das Blitzen war verschwunden und die Ruhe legte sich wieder über den Wald. Er trat einen Schritt vor und schob die Gebüsche auf dem Weg, so leise es ging, zur Seite. Die Dornen des Amirabusches schnitt in sein Fleisch. Er bemerkte die Wunden nicht und schritt neugierig weiter.

„Knack“, ließ es seine Knochen ersteifen. Das Geräusch war näher gekommen. Maks drückte den Busch vor ihm auseinander und versuchte durch den Spalt zu schmulen. Auf der Lichtung tanzte ein braunhaariger Fuchs einem Schmetterling nach. Er sprang in die Luft, schlug nach dem Käfer und landete wieder auf allen Vieren.

„Knack!“

Landete er erneut auf einem Ast. Maks schmunzelte und behielt den Blick auf ihn. Die Stöcker des Strauches bohrten sich tiefer in die Wunden.
„Mist!“, nuschelte er und ließ die Hände zusammenklappen. Die Handflächen waren vom Blut getränkt. Es spülte den Schmutz herunter, bevor es weinrot eintrocknete. Maks spähte am Gebüsch vorbei auf den Fleck, an dem eben der Fuchs sprang. Sitzend starrte er ihn an. Über die braune Schnauze schlängelten sich zwei weiße Linien den Hals zur Brust entlang. Starr richteten sich die gelben Augen auf Maks. Gelähmt wie der Hase vor dem Jäger blieb er stehen. Ein Zucken huschte durch seine Beine und schlug die Schienbeine nach vorne. Er bückte sich, umgriff sie und stoppte sie vor der eigenen Bewegung. Er schaute auf, doch der Fuchs war verschwunden. Maks presste die Lippen aufeinander.

 

Die Sonne stand tief über den Baumkronen, sie ließ den Wind durch den Wald peitschen. Ein kalter Zug am Rücken fröstelte Maks. Er zog das Shirt nach vorne, schaute auf die Löcher, die sich durch den Stoff zogen. Geläutet hatte es noch nicht, die Geschäfte waren noch offen, sann es ihm. Er rannte in Richtung des Dorfes, drückte die Luke zur Seite und kroch zur Straße. Er schritt die Treppen empor und öffnete seine Haustür. Vom Haken schnappte er sich eine Weste und zog sie über. Im Badezimmer schrubbte er sich den Dreck von den Händen und verließ eilig die Wohnung. Er bog nach rechts und rannte in Richtung des Dorfplatzes. Schwenkend den Blick zwischen den schöner werdenden Fassaden auf die Schilder, die die Händler markierten. Über den Dorfplatz hinweg in Richtung des Tränenturmes. Die Tafeln wurden verspielter, edler ihr Material.

„Delikatessen. Mode. Schmuck. Schneider!“, blieb er vor einem Geschäft stehen. Eine gläserne Front verhangen von beigen Stoffen. Schwach schimmerte Licht aus dem Inneren. „Winklers Stoffe“, stand goldbemalen auf der Scheibe der Tür. Die Klinke war warm. Er drückte sie herunter und ließ einen Strom aus erwärmter Luft und Zitronenmelisse aus dem Raum heraus. In ihm stand ein Mann auf einem Schemel. Ein Umhang aus hellem Grau schmückte seinen Körper. Eine goldene Naht verzierte den Saum.

„Das sieht doch fabelhaft aus!“, schritt ein jüngerer Mann aus dem Hinterzimmer heraus. In seiner Hand hielt er einen schwarzen Gürtel. „Und dazu das hier. Ein edles Stück. Ein geschliffener Rosenquarzeinsatz an jedem Loch“, tippte er sie mit dem Finger ab. Sichtlich erfreut gackerte der Mann. Sein Lachen klang verschleimt und flach. Er legte sich den Gürtel um, drehte sich im Spiegel. „Die nehm ich!“, lachte er noch einmal leiser und unverkrampfter.

„Dann müssen wir das noch abmessen hier.“, holte der Mann ein Maßband heraus und legte es an seinem Körper an.

„Hm.“, notierte er nickend die Seitenlänge.

Maks räusperte sich, „Hallo, Entschuldigung?“, blieb der Mann unbeeindruckt und maß die Innenlänge zu Ende. Er richtete sich auf und schaute zur Stimme.

„Kommen Sie bitte hier entlang.“, hielt er dem Mann die Hand entgegen.

„Oh sicher.“, griff er nach ihr und ließ sich von ihr in das Hinterzimmer führen. Die grau gefärbten Haare verdeckten nicht seine rot gewordenen Schläfen.

„Hallo. Ich wollte mal fragen, ob sie vielleicht“, zog Maks sich die Weste herunter und zog sein Shirt nach vorne, „das hier flicken könnten oder wie das heißt.“

Der Mann schmunzelte. Er krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes weiter nach oben und schlich um Maks herum.

„Ich glaube nicht, dass du meinem Klientel angehörst.“, schlängelte sich die Worte über seine Zunge.

„Aber ich“, stockte Maks.

„Nein! Nein! Nichts aber. Ich habe zu tun. Gehen sie bitte.“, schwang er die Hand elegant nach hinten und schritt in Richtung des Hinterzimmers.

„Machen wir weiter.“, klatschten seine Hände zusammen.

Maks drehte sich um, „effotS srelkniW“, las er die durchdrückenden Buchstaben noch einmal vor, bevor er durch sie verschwand. Er spähte in Richtung der Meilenschmiede auf die Sonne, die hinter ihr wanderte und die Nacht brachte. Wartete auf den Nachtgong. Die Hände in die Tasche steckend, schritt er über den Dorfplatz. An der Brücke zur Meilenschmiede stoppte ihn eine Stimme.

„Hey Maks du bist ja schon wieder draußen.“, kam Luna aufgeregt angerannt.

„Ich hatte nicht so viel.“, grinste er ihr entgegen.

„Das freut mich! Was treibt dich her?“, suchte sie seine Hände ab und legte das Gewicht ihres Korbes in beide Arme.

„Ich dachte eigentlich ich könnte mein Shirt nähen lassen.“

„Wo warst du denn? Aber nicht bei Winklers oder? Der Typ stinkt nach Geld, hat mein Papa mal gesagt!“, lächelte sie verlegen und entlockte ihm ein Schmunzeln. „Zeig mal her.“, stellte sie den Korb an den Rand der Brücke.

„Das muss nicht ...“, zog Maks wehrend die Hände nach oben.

„Ich will doch nur helfen.“, griff Luna an seine Weste und zog sie herunter. Maks trieb es die Scham in die Ohren. „Das ist schnell gemacht!“, ließ sie den Stoff los und kramte aus ihrem Korb eine Nadel und einen Faden.

„Stillhalten.“, nuschelte sie und setzte zum ersten Stich an. Maks hielt still, hielt ihrem Zotteln stand und ihrem Fluchen.

„So fertig! Nicht perfekt, aber wenigstens winddicht.“, biss sie das Ende des Fadens ab und steckte beides zurück in den Korb.

„Danke“, lächelte Maks und zog sich die Weste wieder über. „Ich muss dann auch mal los, trainieren.“, durchbrach er die einkehrende Stille.

„Sicher. Ich will dich nicht aufhalten.“, lächelte sie ihm verbissen nach, schnappte sich ihren Korb und verschwand über den Dorfplatz aus seinem Sichtfeld.

0.16_Wenn nur der Faden hält

0.16_Wenn nur der Faden hält

 

Maks zog sich die Weste enger an den Körper und strich über den dunklen Dorfplatz. Die Händler packten zusammen und die Dorfbewohner räumten das Feld. Er schlich über den Platz. Die Blicke der Menschen schienen verärgert, als wären sie wütend. Auf ihn.

Er hielt Einzug im Astloch. Dumpf drang das Licht durch die Scheibe. Von drinnen hörte man Gelächter. Maks drückte die Tür auf.

„Goldenes Blut sag ich dir. Goldenes Blut!“, lachte eine verschleimte Stimme durch den Raum. Am Tresen saß ein Mann in einem verwitterten schwarzen Mantel.

„Da ist er ja!“, bemerkte Rob die offene Tür. Der Mann drehte sich ebenfalls um, unter seinem Mantel schob sich eine krude Nase. Sie kam ihm bekannt vor.

„Setz dich. Setz dich!“, legte der Mann die Hand auf den Hocker neben sich.

„Hallo“, trat Maks zögerlich an seine Seite und nahm den Platz an.

„Hast du noch Hunger?“, grinste ihn Rob an, er schüttelte den Kopf.

„Willst du etwa sagen, im Krankenhaus schmeckt es dir besser als bei mir?“, hob er bedrohlich den Kochlöffel.

„Nein“, schmunzelte Maks verlegen, doch das Lächeln auf den Lippen hielt nicht lange. „Wieso hallt es heute nicht?“

„Zur Feier“, grinste Rob hämisch, „der Seraph hat die Wachen verstärkt und die Sperrstunde aufgehoben.“

„Wieso wirken die Gesichter dann nicht glücklich?“
„Wie meinst du das?“, lehnte sich Rob zu Maks.

„Ich hab das Gefühl, die Menschen schauen mich heute böse an. Als hätte ich das Dorf verraten.“, zuckte Maks mit den Schultern.

Gackernd setzte der alte Mann ein und schob den Umhang nach hinten. Die gierig grünen Augen, die spitze Nase, das verschleimte Lachen. Er erkannte den Mann.

„Neben dir sitzt jemand, der nicht sauer ist.“, klopfte er ihm fest auf die Schulter. Verängstigt lächelte Maks ihm zu.

„Rob machst du mir die Rechnung?“, stand er von seinem Hocker auf. Rob zählte zusammen, „4 Éran und zwei Int bitte.“

Der Mann legte fünf goldene Érans auf den Tresen, „Für deine Dienste.“, hob er feixend die Hand und verabschiedete sich. Maks blieb sitzen.

Vom Hocker aus starrte er auf die Töpfe, die Teller, den Herd und wie spiegelblank sie nicht geputzt waren. Er spähte auf die Tür in das Hinterzimmer.

„Und deswegen hast du schlechte Laune?“, suchte Rob wieder das Gespräch.

„Ich hab keine schlechte Laune, ich bin deshalb nur traurig.“

„Weil sie keine Freude mehr empfinden? Du hast gestern ganz schönes Glück gehabt Maks. Und ähnlich wie dir, ging es den Menschen im Dorf, die auf dich gewettet hatten. Einige hatten Glück, anderen blieb nur der Neid darauf, das Andere nun ihren Besitz hatten. Warte zwei Tage ab, dann renkt sich das sich wieder ein.“, winkte er mit der Handfläche ab.

„Hm.“, stimmte Maks ein.

„Und du bist sicher, dass du keinen Hunger hast?“ Grinste er ihn an und drehte sich zum Herd. Er kippte den Schalter und drehte ihn aus.

„Einen Happen vielleicht.“, gab er kleinlaut zu.

„Das wollt ich doch hören!“, zog sich Robs Grinsen breiter über sein Gesicht. Er drehte den Herd wieder auf und brachte das Öl in einer Pfanne zum Brutzeln. Er schichtete Kartoffeln und Wruken übereinander, bestrich sie mit einer Marinade aus Linsen und ließ sie weiter im kochenden Öl schmoren. Er servierte den dampfenden Teller vor ihm. Hungrig gierte Maks auf das Essen, doch verzog das Gesicht, als er die zerquetschen Linsen sah.

„Nun probier erst mal, danach kannst du immer noch meckern.“, legte ihm Rob einen Löffel hin. Maks stocherte das Essen auseinander und schob es sich in den Mund. Es schmeckte, aber die Wärme im Bauch breitete sich nicht mehr aus. Jeder Bissen brauchte länger, bis er im Mundraum verschwunden war. Rob wusch das Geschirr ab und räumte es in die Regale, die Pfanne und den Topf brachte er in das Hinterzimmer.

„Weißt du“, bemerkte er Maks zögerliches Essen, „Ich seh dich seit drei Jahren hierher kommen. Am Anfang erzähltest du noch von deinem Freund. Oscar oder wie der hieß.“

„Luca“, korrigierte Maks ihn nuschelnd.

„Was ist mit euch eigentlich passiert?“, bohrte Rob tiefer in der Wunde. Maks senkte den Kopf weiter nach unten, als könnte er ihn im Teller verschwinden lassen.

„Wir haben uns gestritten“, ließ er den Löffel einsinken.

„Gestritten haben sich auch schon andere.“, beruhigte sein sanfter Klang Maks zittrige Stimme.

„Aber wir reden seit einem Jahr nicht miteinander.“

„Ihr habt euch nicht einmal zur Prüfung gratuliert?“, stutzte Rob.

„Ich weiß nicht einmal, ob er sie bestanden hat.“, verzog Maks die Mundwinkel.

„Dann wird es doch Zeit, das herauszufinden, oder? Weißt du dein Lehrer, Hagame und ich, haben uns in der Jugend auch oft gestritten. Beim Sport, beim Training, um Mädchen, aber irgendwie haben wir es immer wieder zueinander geschafft. Gut meistens haben wir uns geprügelt, aber nach dem Treffer“, schlug er in die Faust in die Luft, „haben wir wieder miteinander gelacht.“

Maks nahm den Löffel aus dem Teller heraus und schob ihn sich in den Mund.

„Dann kam der Tag der Prüfung und wir haben uns ein Jahr nicht mehr gesehen. Am Tag der nächsten Prüfung lief ich einer jungen Frau in die Arme und verstreute ihre Einkäufe über den gesamten Dorfplatz. Unter dem Andrang der Besucher zermatschten die Äpfel und das Brot. Ich sah sie mitleidig an und entschuldigte mich. Doch sie erhob den Finger und hielt mir eine Standpauke über den gesamten Dorfplatz hinweg, lauter als es dieser Jammerkastenspieler eines Moderators überhaupt könnte. Ich stand auf und fragte sie nach einem Treffen. Da erschien Hagame hinter ihr.“

Die Hälfte des Tellers verschwand in Maks Bauch.

„Sie hatten ihr erstes Treffen und ich hab es ihm versaut. Ich traf mich mit ihr, Hagame bekam davon Wind und sprach vier weitere Jahre nicht mit mir. Dann vor sieben Jahren, klopfte es an meiner Tür. Ich öffnete sie und Hagame stand davor, er zögerte nicht und schlug mir mit der Faust in das Gesicht. Dann sah er mir tief in die Augen, „Sei still“, sagte er und zerrte mich an Arm über die Straßen. Wir blieben vor diesem Laden stehen, er drückte mir einen Sack voll Münzen in die Hand und klopfte mir auf die Schulter.“

Maks ließ den Löffel auf den Tellerrand gleiten und lenkte die Augen wieder zu Rob. „Also soll ich ihn verprügeln?“

„Nein“, lächelte Rob, „Verzeihen. Außerdem hab ich dich seit zum Aufessen gebracht.“, rubbelte er das letzte Glas trocken.

„Danke Rob“, lächelte Maks und schob den Hocker nach hinten. Mit einem eleganten Schwung landete er auf dem Boden. „Dann muss ich jetzt nur noch die Elohim bestehen!“, ballte er die Faust und blickte energisch auf das Spiegelbild in den Töpfen. Robs Miene verzog sich, wich einem Anflug aus Schuld.

„Ich wünsch es dir.“, sprach er Maks nach, als er den Laden verließ. Rob hob den Teller hoch, spähte auf die Münzen, die darunter lagen, dann flog die Tür in das Schloss.

 

Auf den Straßen kreuzten noch einige Menschen seinem Weg, einige wirkten eingeschüchtert, andere gehetzt, ein Großteil lief torkelnd lallend über die Pflastersteine hinweg. Maks erreichte sein Zuhause über die modrige Treppe und drückte die Tür auf. Ein frischer Duft stieg ihm in die Nase. Er wusch sich, legte sich in das Bett und starrte an die zu hohe Decke. Seine Augen fielen vor Erschöpfung in den Schlaf. Doch die Angst lässt die Augen nur für Stunden zu, drei quälende Alpträume später, richtete sich Maks auf und setzte sich an den Rand des Bettes. Er starrte aus dem Fenster heraus. Beobachtend wie der Mond seinen Kreis in der Umlaufbahn zog. Gefangen in den Regeln, genau wie er.

„Klopf! Klopf!“, hämmerte es gegen die Scheibe und ließ Maks rücklings auf das Bett fallen. Er schloss die Augen, atmete tief, vom Schreck gejagt, ein.

„Klopf! Klopf! Klopf!“, „Nun mach schon auf du Idiot.“, hallte es durch die Glasscheibe. Diese Stimme, „Luca!“, klang es in seinem Gedächtnis.

Sie klang tiefer, erfahrener, aber doch hatte sie noch immer dieses Kratzen. Er schob die Fensterscheibe nach oben und ließ die Nacht und Luca Einkehr in sein Schlafzimmer halten. Maks wurde nervöser. Sein Körper begann kalt zu schwitzen, sein Herz, den Schlag zu erhöhen.

„Was willst du hier?“, platzte es aus ihm heraus.

„Sei nicht so laut!“, besänftigte er die Stimme und brachte sekundenlanges Schweigen. „Ich brauche deine Hilfe.“, durchbrach er sie.

„Frag doch Marek und seine Gang“, formte sich Maks Blick wütender.

„Vergiss die. Die hab ich nach drei Tagen abserviert, weil sie dachten, mit Stöcken auf Kröten am Fluss zu schlagen, heißt jagen. Nein ich brauch dein Talent.“, grinste er.

„Mein Talent?“, stutzte Maks und ließ die Wut aus den Poren quellen.

„Ja“, schmunzelte Luca und sah ihn mit den grünschimmernden Augen an, „Ich weiß nicht wieso ich damals so wütend auf dich war. Wahrscheinlich wurde mir der Druck zu viel oder ich war selber enttäuscht. Aber ich hab dich immer als meinen Glücksbringer gesehen.“

Maks rang mit sich. Er rang mit der Einsamkeit, die er im letzten Jahr spürte, mit der Angst die hinter jeder Ecke lauerte und mit der Hoffnung, die den Glanz aus den Augen wischte.

„Verzeihen.“, sprach Maks das Wort von Rob in derselben Tonlage nach. Er überraschte Luca, seine Augen rissen erstaunt auf. „Wobei brauchst du meine Hilfe?“

Das Demütige aus Lucas‘ Augen verschwand, spitz formten sie sich wieder, ließen die Lippe emporschnellen. „Wir müssen etwas besorgen aus dem Tränenturm.“

„Spinnst du? Jetzt soll ich noch beim Seraphen einbrechen?“, entrüstete sich Maks.

„Wir brechen nicht ein. Wir holen nur etwas heraus.“

„Das ist stehlen!“

Luca schmunzelte. Maks kannte es. Dieses Lächeln gepaart mit dem abfälligen Blick. Einem Blick, der die Würde raubte, er sah ihn nach jedem Fehlversuch im Wald so an. „Für dich springt da auch was raus oder glaubst du, du wirst die Elohim ohne fremde Hilfe schaffen?“

„Natürlich werde ich das!“, ließ er die Dunkelheit nicht in den Körper.

„Mach dich nicht lächerlich. Du hast die Erste mit Ach und Krach bestanden und Prüfungen werden nie einfacher!“

Die Worte lösten in Maks etwas aus. Die Zweifel brachen wie aus der brennenden Hölle wieder über seinen Körper ein. Die Scham züngelte spitz ihre Lippen, die Wut flüsterte ihm leise ins Ohr.

Maks resignierte.

„Haltet das Maul da oben!“, schrie eine zornige Stimme aus dem Parterre des Haues durch das offene Fenster. Luca schmunzelte. Maks ruhte die Stille inne. Er schlich in das Badezimmer und zog sich die alten Sachen an. Er ging an das Fenster und zog es herunter, dann schritt er zur Tür.

„Wir müssen da gleich lang“, zeigte Luca mit dem Daumen auf das geschlossene Fenster und öffnete es wieder.

„Wieso denn dort?“

„Weil wir in den Tränenturm einbrechen und uns sicher niemand sehen soll. Komm, ich kenn einen Weg.“, stieg er auf das Fensterbrett. Er presste den Körper gegen die Hauswand und ließ sich zu Boden fallen. Ein dumpfer Aufprall, landete er auf den Müllsäcken. Maks zögerte einen Augenblick und setzte den ersten Fuß auf das Fensterbrett. Er zog den Zweiten hinterher. Seine Fingerkuppen bohrten sich in das Holz der Wände.

„Nun mach schon!“, flüsterte Luca und spähte um die Ecke. Maks sah den Rauch der Fabrik vor den Augen aufgehen. Er löste den Griff um das Holz und ließ sich fallen.

„Au!“, schlug sein Körper auf den Müllsäcken auf. Er stützte die Hände auf und rammte sich Scherben eines kaputten Glases in die Handflächen. Das Blut rann die Haut herunter. Mit einem Zittern in den Beinen streckte er den Körper empor.

„Sei leise und komm.“, hetzte ihn Luca und triezte ihn um die Ecke. Auf den Straßen schien trübe das Licht.

„Die Glocken schallen heute nicht. Was ist wenn wir jemanden begegnen?“, zog Maks ihn wieder hinter die Ecke.

„Dann sind wir geliefert, aber dafür hab ich doch meinen Glücksbringer oder?“, blickte er verschmitzt und brachte Maks zum Schmunzeln.

„Hier lang.“; flüsterte er ihm zu. Sie schlichen durch die einzelnen Gassen, neben den Häusern, in einer Schlangenlinie in Richtung Dorfplatz. Er schien hell beleuchtet. Stimmen waren auf den Straßen zu hören. Geschnatter, Gelall und Gelächter.

„Da kommen wir nie vorbei.“, zuckte Maks vor der nächsten Bewegung zurück und hielt Luca am Ärmel.

„Wir müssen es nur wollen“, blitzten seine Augen in Richtung der Brücke, „Da lang!“, führte er sie näher an die Schlucht heran. Luca schob sich über das Geländer an den Rand des Abhanges und balancierte auf den schmalen Steinen. Maks zog nach, plump kippte er über die Mauer. Luca drückte ihn mit einem kräftigen Stoß an die Wand und balancierte ihn aus.

„Danke.“, keuchte er auf, als er in die zehn Meter tiefe Schlucht blickte.

„Konzentrier dich.“; huschten sie über die Steine hinweg am Dorfplatz vorbei. Ruckartig blieb Luca stehen, er zwang Maks in die Hocke und legte den Finger auf den Mund.

„Und dann fängt sie heute Morgen den gleichen Streit wieder an.“, klimperten die Schwerter der Wachen am Gürtel. Sie näherten sich der Brücke. Auf ihr, hielten sie an.

„Da weiß ich nicht mehr, was ich machen soll.“, klagte eine von Ihnen.

„Du musst da viel mehr die Fassung behalten, glaub ich.“, lachte die andere auf und klopfte ihre Hand gegen schweren Stoff. Ihre Stimmen verzogen sich wieder in Richtung Tränenturm.

Luca und Maks schlichen unter der Brücke hindurch und liefen auf die westliche Seite des Dorfes. Als die Boutiquen und feinen Läden aufhörten und ein Stück aus gepflanztem Wald den Weg erstreckte, kletterten sie in die schützenden Schatten der Bäume.

Vor ihnen lag kein Kopfsteinpflaster, keine feinen Goldziegel, nur Matsch, wie Maks ihn von seiner Tür hatte. Die Schritte der Wachen watschten über den Schlamm.

„Da vorne.“, zeigte Luca auf eine steinerne Mauer, die den Tränenturm umrand. Ein hölzernes Tor versperrte ihnen den Eingang, daneben ein kleiner Turm aus Stein, aus dem Inneren drang Licht nach außen. Die Schritte kamen näher.

„Psst!“, drückte Maks Luca gegen die Baumrinde.

„W...“, stieß er auf, als er die Schuhsohlen hörte. Sie zwängten sich in die Dunkelheit. Die Schritte zogen an ihnen vorbei.

„Hey Kawi!“, brüllte die klagende Wache den Turm hinauf. Das Fenster knarzte und schob sich auf.

„Was ist?“, brüllte jemand heraus.

„Ruhige Schicht bis jetzt?“, dröhnte die Frage durch den Wald.

Kawis Antwort brauchte länger, „Ja“, rief er in einem genervten Unterton.

„Weißt du, wieso der Seraph noch eine Besprechung hat?“, brüllte die Wache durch die Nacht.

„Dann wär ich Seraph und müsste nicht in dieser Kammer sitzen oder?“, schlug er genervt das Fenster in den Rahmen, das Glas klirrte.

„Muss man denn gleich so mit einem reden?“, drehten die Wachen um und schritten wieder in Richtung Dorfplatz. „Versteh ich auch nicht.“, antwortete die Andere.

Luca zog Maks am Arm und drang ihm zum weiter gehen. Maks spähte auf den Turm, das Licht wich einem Schatten. Er setzte den ersten Fuß voran. Zwanzig Meter schlichen sie zur Mauer. Luca schlug die Äste der Büsche zurück, Maks fing sie mit den zerschnittenen Händen auf, jeder Schlag wie ein Peitschenhieb auf der Haut. Er presste die Lippen aufeinander, verweigerte den Schrei, der ihm innewohnte.

Mit jeder Sekunde fühlten sich die Knochen schwerer an, die Gelenke mürber. Die Angst machte sich in ihm breit. Die Angst vor der Kälte reichte bereits, um die Wut aus dem Bauch brechen zu lassen.

Maks presste die Hände auf Lucas‘ Schulterblätter und drückte ihn gegen den kalten Stein. „Was machen wir hier?“, näherte er sich seinem Ohr und verstärkte den Druck in den Händen. Lucas‘ Gesicht rutschte über den maroden Stein und ließ den Mörtel das Fleisch zerschneiden.

Luca buckelte den Rücken und verschaffte sich Abstand, er griff nach hinten, drückte Maks in die Seite und ließ ihn sich drehen. „Nun beruhig dich mal!“, packte er ihn an der Weste.

„Was machen wir hier!“, sprach er ihm atemloser, doch noch immer energisch entgegen und zog sich mit seinen Händen wieder näher. Luca spähte nach oben, auf den Mond und suchte auf dem Boden die Stelle, an der sein Licht greller schien. Er griff in seine Tasche und holte ein paar Zettel heraus. Einen nach dem Anderen faltete er auseinander und setzte das Puzzlestück zusammen. Er tippte auf die schwarze Zeichnung, die ihm Mondlicht schimmerte, „Das hier.“

 

 

 

 

 

„Wir brauchen ein Schriftstück, ein Buch oder eine Art Skizze davon, mit diesem Siegel.“, tippte er auf die Zettel und schob sie breiter auseinander, zerstörte das Puzzle.

„Wo finden wir es?“, beruhigte sich Maks Stimme.

„Im Tränenturm.“, verzog sich Lucas‘ Gesicht, er fischte die Schnipsel vom Boden und steckte sie sich in die Hosentasche. Dann richtete er den Blick wieder auf die Wand und tastete mit den Fingern über sie, als würde er etwas suchen, einen Stein, einen Spalt; einen Ort.

Ein triumphierendes Aufstoßen verriet seinen Erfolg. Hastiger tippten die Finger über den Stein, er streckte den Kopf zurück und hielt ihn kurz in das Mondlicht. Als würde er es wie eine Echse speichern. Mit den Nägeln malte er ein Symbol über den Stein; Hagames Munja.

 

 

 

 

 

Die Steine vor ihnen begann sich in der Mitte zu teilen. Sie schoben sich nach unten und oben weg und öffneten einen metergroßen Eingang.

„Was... Wie“, staunte Maks, doch erhielt von Luca nur ein hämisches Stöhnen.

„Meinst du, der Seraph hat dieses Dorf alleine gebaut?“, verschwand er im Durchgang.

„Beeil dich, die bleibt nicht ewig offen!“, flüsterte Luca von der anderen Seite. Maks setzte den Fuß nach vorne, zog ihn wieder zurück. Würde er hindurchgehen, käme er nur noch als Dieb von diesem Ort zurück, wenn nicht, wäre ein Leben als Verstoßener nicht weiter entfernt, als sein jetziges. Er trat hindurch, die Steine schoben sich blitzartig wieder zusammen. Eine Kraft hielt ihn von Luca entfernt, seine Weste klemmte ein.

„Hab ich dir doch gesagt“, sprach Luca mürrisch und kam auf ihn zu. Er packte den Stoff, Maks führte die Hand auf den Rücken und spürte das eingeklemmte Shirt, den Stoff, wie es spannte. Luca riss einmal kräftig und befreite das dichte Gewebe der Weste aus dem Spalt. Ein Fetzen blieb hängen. Maks spürte wie der Windzug über den Rücken strich, er fühlte das wieder aufgerissene Loch im Shirt und pulte einen gerissenen Faden heraus. Er hielt ihn in der Handfläche, betrachtete ihn im Mondlicht. Sie nahm schwarzes Garn.

„Aufwachen!“, wedelte Lucas‘ Hand vor seinem Gesicht.

0.17_Sie lieben Frieden

0.17_Sie lieben Frieden

 

Maks realisierte die wedelnde Handbewegung vor den Augen. Sie verschärfte sich, als würde sich der Blick fokussieren und ihn wieder in die Realität holen. Er schaute hinter sich, schaute auf. Sie hatten die Mauern des Tränenturmes überwunden, doch jetzt erstreckte sich vor ihnen ein riesiger Turm aus Stahl und Stein. Nach zehn Metern zogen sich die Etagen mit Brüstungen massiver werdend nach oben. Im Dachgeschoss brannte, die Fensterscheiben trübend, das Licht und Schatten sprangen im Innern. Als würde der Boden eine Träne Richtung Himmel weinen. Maks tastete über den rauen Stein des Gebäudes. Dichter Mörtel hielt die Fugen sicher vor dem Regen, Stahl schlang sich verrostend, wie Efeu um den Turm herum.

„Wie kommen wir da jetzt rauf?“, schaute er auf die erste Fensterreihe auf fünf Metern Höhe.

„Damit sollte es klappen“, griff Luca in die linke und rechte Seitentasche seiner Hose und zog vier Baghnakhs heraus, „Du steckst die Finger hier durch“, zeigte er auf die Ringe, „so dass die Klingen unten sind.“, zog er mit einem zusätzlichen Lederriemen das Metall fest um seinen Arm.

Maks drehte die schweren Metallteile in der Handfläche, bis er die Finger durch die kalten Ringe steckte. Die Klingen waren wie Klauen auf der Handfläche befestigt. Krumm wie Dornen bogen sie sich nach unten. Sie glänzten schwarz, ein metallisch silbernes Funkeln blitzte auf, wenn man sie im Mondschein drehte. Maks fuhr mit den Fingern über sie, scharf geschliffen, wie die Fänge einer Katze schnitten sie die Haut.

Luca stellte sich an die Wand und schlug die erste Handfläche in den Stein hinein, dann die Zweite. Mit einer krächzenden Armbewegung hob er den Körper an der Steinwand hinauf. Maks sah ihm nach.


Dann rammte er die Handfläche in Richtung des Gesteins, klirrend sprang sie von ihr zurück und ließ den Körper zittern. Luca starrte grimmig nach unten, schüttelte den Kopf und setzte zur nächsten Bewegung an.

Maks schaute empor, er achtete auf seine Finger, wie sie sich bei der Aufwärtsbewegung schützend auf das Ende des Klingenrückens legten. Ein suchender Blick, der die Klingen in den Mörtel drücken ließ, ein beherzter Absprung mit dem Bein ließ ihn höher hinauf steigen.

Maks beobachtete die Fugen vor ihm, wie ein Muster, das sich vor ihm erstreckte. Er trat einen Schritt näher an die Mauer heran. Hob die Hand und hakte die Schneiden in die Zwischenräume. Es hielt. Er streckte sich, rammte die andere Hand höher hinein, zog die Erste heraus und stemmte den Körper empor. Mit jeder Bewegung verschwand die Angst in ihm, entschlossener, bissiger, wurden die Eindrücke im Mörtel. Doch die Entscheidung kostete Kraft, erst die Arme, die in die Schultern spannten, dann in den Rücken und jeder Bewegung mehr abverlangte. Sein Atem wich einem Keuchen. Er blickte nach oben, Luca war längst in einem der Fenster verschwunden, ihn trennten sicherlich noch zwei Meter. Er stützte die Beine an die Mauer und hievte sich weiter hoch. Noch einen halben Meter und die Kraft längst am Ende.

Ein stechender Schmerz schnitt ihn in den Oberarm. Er verkrampfte, der Muskel zuckte elektrisiert auf und ließ die Hand von der Mauer wandern. Die anderen Finger hielten der neuen Belastung nicht stand, er rutschte ab.

Drei Zentimeter tiefer spürte er noch keine Angst in sich. Fast wie Erlösung, als würde man an einem Sommertag in das Meer springen. Doch eine ruckartige Bewegung beendete die Trance. Luca hielt seinen Unterarm fest, ächzte aus dem Fenster heraus und hatte Mühen, dem Gewicht standzuhalten. Maks sah auf.

„Du schaffst das!“, rief er ihm angestrengt zu. Maks erwachte vollständig aus dem Traum, er stoppte das Zittern, schwang sich nach vorne und presste die Klinge in den Stein. Mit Lucas Hilfe zog er sich weiter hinauf. Bis er mit einem reißenden Geräusch über den Fenstersims rutschte. Er keuchte am Boden liegend.

„Danke“, hechelte er zu Luca.

„Ke-ein Problem“, war auch er sichtlich erschöpft.

Maks hob die Weste in das einscheinende Mondlicht und betrachtete den neuen Riss auf dem Brustkorb. Dann drehte er sich in den Raum. Ein hölzernes Bett zierte es, ein kleiner Tisch. Auf ihm, ein Stapel aus weißen Laken ordentlich und sauber gefaltet.

„Wo sind wir hier?“, flüsterte Maks.

„Das sieht aus wie ein Janna Zimmer.“, sah Luca sich um.

„Ein Was?“

„Eine Janna du Hohlbirne. Bedienstete des Seraphen. Sie sind meistens Verstoßene, Krüppel oder Vandalen. Man nahm sie im Dorf auf unter der Voraussetzung, sie würden nie mehr reden.“

„Das heißt, sie sind ungefährlich?“, fragte Maks.

„Sie werden schon Alarm schlagen wenn sie uns sehen, aber sie selbst dürfen sich nur außerhalb des Sichtfeldes der Inku und des Seraphen bewegen.“

„Das heißt es bleiben nur Wachen.“, kombinierte Maks.

„Genau.“, nickte Luca, „Und wie ich sie kenne, werden sie wahrscheinlich in irgendeinem Raum sitzen und trinken.“, schmunzelte er und schritt auf die Tür zu. Er drückte die Klinke herunter und spähte auf die hölzerne Brüstung. Er schlich weiter auf den Korridor. Maks folgte ihm, er legte die Tür an das Schloss und watschelte ihm hinterher. Wie ein Affe setzte Luca die Hände auf den Boden beim Schleichen. Er bewegte die Hüfte elegant zur Seite und brachte Maks zum Grinsen.

„Das sieht absolut dämlich aus.“, griente er nach vorne.

„Wir haben keine Zeit für Späße außerdem siehst du auch nicht besser aus.“, zeigte er abwertend mit einem Finger auf Maks Entengang. Er nahm ihm die Freude aus dem Gesicht, „Jaa.“, ächzte er und schlich weiter.

An einer Treppe stoppten sie, der Korridor darüber wirkte heller erleuchtet. Luca setzte den ersten Fuß auf die metallene Treppe. Kupferverzierungen in Kreisen, Ranken und Blüten schmückten den Absatz. Das Metall schwang nach und klang in der Umgebung. Maks schnellte die Hand nach vorne, griff Luca am Kragen und riss ihn zurück in die Dunkelheit.

„Pssst!“, machte er Lucas Handbewegung vom Abhang nach und starrte ihn grimmig an. Schritte schwangen auf dem Metallgerüst über ihnen. Leise, wie ein zweiter Herzschlag. Sie warteten, bis der Schatten an ihnen vorüber zog.

„Wir müssen da hoch.“, drehte sich Luca flüsternd zu Maks um.

„Ich weiß.“, rollte Maks mit den Augen, stützte die Hände auf seine Hüfte und schob ihn hinauf. Der schmale Gang des Korridores erstreckte sich kreisrund um die erste Plattform. Drei Menschen hätten hier Platz nebeneinander. „C1, C2, C3...“, stand großflächig aufgemalt auf den Türen.

„Ich glaube wir müssen noch eine höher.“, kroch Luca dichter an Maks Ohr heran. Spindelförmig erhob sich eine Treppe am Ende. Sie schlichen weiter, erreichten die zweite Etage. Der Korridor wurde breiter. Sicherlich fünf Leute, die hier Platz hatten. Die Schilder auf dieser Etage waren rot, gestampft mit goldener Schrift stand auf ihnen, „Ältestenrat, Konferenzraum, Wachraum.“, sie verlangsamten ihre Schritte beim Lesen. Aus dem Inneren hörte man Gerede, Neckereien und laute Lacher.

„Weiter.“, schlich Maks an Luca vorbei den Korridor herunter. Grinsend blieb er vor einer Tür stehen. „Bibliothek“, nuschelten die Worte über seine Lippen und aus dem findigen Grinsen formte sich ein triumphierendes Lächeln. Er drückte die Klinke der Tür herunter. Sie öffnete sich.

 

Ein dunkler Raum begrüßte sie. Das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite spendete etwas Licht im Raum. Maks und Luca traten ein. Die Augen gewöhnten sich an die Finsternis, das Licht unterstützte sie. Staunend wandten sie den Blick durch das Zimmer. Regale voller Bücher und antiker Schriften, Gemälde reichlich verziert mit goldenen Rahmen und Glasvitrinen, die an der Wand abschlossen.

Luca ging zu den Bücherregalen und strich mit dem Finger über die Buchrücken. Maks sah auf den Fenstersims. Ein kleiner Schatten hopste darauf umher, der Mond schien auf das Gefieder. Herrisch blickend drehte sich Luca zu Maks um und schenkte ihm einen bösen Blick, erst dann nahm er den Seinen wahr. Er sah auf den Sims, die schwarzen Augen eines Schattenwächters fokussierten sie in der Dunkelheit.

Maks und Luca nickten sich zu. Luca schlich näher an die Bücherregale heran und fing an, einzelne herauszuziehen, bedacht still blätterte er durch sie hindurch, ehe er sie wieder in das Regal schob. Maks drehte sich um und legte das Schloss leise an die Tür, dann stand er auf und blickte in die Vitrinen. Er starrte auf eine gelbstichige Zeichnung einer Ratte, aber ihre Klauen waren ungewöhnlich lang. Um sie herum, wie ein Anatomieaufbau ihres Körpers. Das Herz des Tieres, die Augen und die Beine waren zu einem Pfeil verbunden.

„Entziehung der Anima“, prangte in dicken Buchstaben darunter. Daneben lag die Zeichnung einer mechanischen Ratte, neben ihrem Körper prangte ein Feld mit den Eigenschaften. Material, Anteile der einzelnen Metalle, Schmelzpunkt. Aufgabe stand darunter geschrieben, „Jäger, Lauerstellung, Sepula Sync.“

Maks schwenkte den Blick über die nächste Vitrine. Eingebunden in schwarzem Leder lag ein schmales Buch, kaum dicker als vierzig Seiten, vor ihm. Er kniff die Augen zusammen. Auf den Einband war etwas hineingepresst. Er drehte den Kopf in das Licht, blickte auf die Schatten, die das Relief schlug. Ein Strich nach oben, einer zur Seite, ein Dreieck darüber.

Innerlich lachte er auf, sich der Gefahr bewusst, ließ er den Ausdruck nicht über seine Lippen. Er drehte sich zu Luca um und tippte ihn auf die Schulter. Er erschrak, ließ beinahe das Buch zu Boden fallen und revanchierte sich mit einem Blick, der mehr sagte als nur „Lass mich in Ruhe.“

Maks presste die Lippen aufeinander, deutete mit den Augen auf die Vitrine. Luca ließ das Buch zurück in das Regal gleiten und machte sich mit ihm auf den Weg an die gläserne Scheibe. Er schlug Maks auf die Schulter, fast stolz, blickte er ihn an, bevor die Gier seine Augen überrollte. Wie besessen schaute er auf Maks, sein Blick formte sich grimmiger mit jeder Sekunde, die verging. Er zuckte mit den Augen in Richtung des Buches. Maks verstand nicht, schüttelte argwöhnisch den Kopf. Luca legte die Hand auf die Vitrine, ballte sie zu einer Faust. Er spitzte die Lippen und formte die Worte nach.

„DAS BUCH!“, quetschte er die Augen aus den Höhlen heraus. Maks suchte an der Seite der Vitrine nach einer Öffnung, einem Hebel oder einem Schalter. Doch ein Schloss versperrte ihm den weiteren Zutritt.

„Nun mach schon!“, erhob sich Lucas‘ Hand und schmetterte auf das Glas herab. Es zersprang in der Luft und legte sich über das Buch. Er zog die blutbeschmierte Faust aus dem Loch, sein Blick unverändert. Maks griff schnell hinein, die herausgebrochenen Spitzen drückten auf die geschundene Haut, doch durchbohrten sie nicht. Der Einband fühlte sich warm an. Wärmer zumindest, als die Kälte in diesem Raum.

Kreischend erhob sich der Schattenwächter vom Fenster, schlug die Flügel auf und schoss auf sie los.

„Runter!“, drückte Luca, Maks Kopf nach unten und bewahrte ihm vor dem drohenden Einschlag. Der Schattenwächter flog über ihren Kopf hinweg und knallte in die hölzerne Tür. Ein grünlicher Funke, der dem Sync entsprang, verwandelte sich die Dunkelheit in ein grelles Scheinen und blendete sie. Die Druckwelle schob sie tiefer in den Raum hinein.

Der Staub legte sich. Zerborstenes Holz an der Stelle aus der eben noch das Funkeln kam. Über den Korridor hallten Schreie, eine Tür schlug auf.

„Wir müssen hier raus!“, suchte Luca nach einem Weg und verweigerte den Gang auf den Korridor. Doch die Wände zogen sich massiv um die Schätze des Dorfes. Er visierte das Fenster an, schaute aus ihm heraus. Maks spähte ihm über die Schulter.

„Hast du einen Plan?“, klang Maks Stimme panisch, als die Schritte lauter auf dem Korridor hallten.

„Springen“, starrte er aus dem Fenster.

„Springen? Das sind mehr als vier Meter bis über die Mauer!“, verneinte Maks die Idee. Die Schritte hallten die Treppen empor.

„Fünf. Wir müssen in den Bäumen landen, ansonsten können wir uns den Wachen gleich ausliefern.“, rannte er an das Ende des Raumes.

„Beweg dich oder stirb!“, sprintete Luca auf das Fenster zu, sprang davor ab und platzierte den Fuß auf den Sims. Er schleuderte sich hoch in die Luft.

Maks blieb stehen, er beobachtete die Flugbahn, doch es flog nicht nur etwas in den Wald hinein.

Ein Scheinen drang aus den Baumkronen, es vermehrte sich, wie glänzende Kirschen, die in der Sonne an einem Baum hingen, streckten sich Dutzende Schnäbel durch das Blattwerk. Sie stiegen in die Luft empor, formierten sich und schossen in Richtung des Fensters.

„Da ist er!“, erreichte eine Wache die Tür und sah Maks an. Maks duckte sich, er blickte nach hinten auf die bräunlichen Haare der Wache, ihren panischen Gesichtsausdruck, als sie die drohende Gefahr niederschießen sah. Die Schattenwächter bohrten sich klirrend in den Stein, die Tür zerfetzte weiter. Ihr Funkeln erstrahlte.

Maks rannte los, er sprang auf den Fenstersims, drückte das Bein auf dem letzten Zentimeter des Steines ab und flog.

 

Die Äste peitschten in sein Gesicht, auf einem dicken Ast schlug sein Oberkörper auf und federte den Sturz heftig ab. Das Blattwerk raschelte beim Fall um ihn herum. Aus dem Fenster drang dichter Nebel, eine Wache wedelte sich Luft zu und spähte aus dem Turm heraus.

Doch Maks Fall konnte niemand mehr stoppen, schmaler wurden die Äste, die ihn peitschten, kürzer das Rascheln des Blattwerkes. Ein dumpfer Aufprall ebbte sein knorriger Körper in den Waldboden ein.

Schmerzverzerrt hob er den Kopf, vor ihm stand Luca, er drückte die Fäuste in den Boden und saß, wie ein Frosch, in der Hocke. Sein Blick wirkte triumphierend starr, argwöhnisch, als würde er auf Maks niederblicken. Seine Augen ergriffen die Panik.

„Wo ist das Buch?“, schwank er den Blick hektisch an Maks Körper rauf und runter.

„Wo ist das Buch!“, wurde die Stimme aggressiver, er drückte Maks auf den Bauch, suchte den Platz unter ihm ab, doch auch dort fand sich nichts. Maks stemmte sich auf, ächzend, lahmten seine Schritte auf der linken Körperseite. Gedrungen der Schmerz in den Rippen. Er spähte durch den Wald, entdeckte die blassen Seiten aufgeschlagen nahe der Mauer. Er schleppte sich rüber, stand vor den mondscheinbeleuchteten Seiten und schaute die Zeichnung an.

Wie ein Luchs zogen sich die Ohren des Syncs in die Länge, sein Körper schwarz, als würde er aus einzelnen Waben bestehen, stählern und mächtig gewebt. Die Augen scharf, die Iris geformt wie die Sichel des Mondes. „Was machst du da!“, rannte Luca auf ihm zu und versperrte ihm die Sicht. Er schnappte sich das Buch und presste es näher an den Körper heran. Maks schreckte auf und starrte ihn an.

„Komm, wir müssen hier verschwinden!“, scheuchte Luca ihn tiefer in den Wald hinein.

Die Glocken der Meilenschmiede schallten durch die Gassen des Dorfes, über die Mauer hinweg, dicht an ihre Ohren. Er kannte diesen Klang. So schnell, so unruhig.

Lucas‘ Schritte wurden hektischer, das Knacken der Äste unter ihm lauter. Maks hechelte hinterher. Der Boden siffte vor Nässe und zog die Schuhe tiefer in den Morast.

„Beeil dich!“, riss Luca ihm am Arm nach vorne. Er verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Wieder griff Lucas Hand um sein Handgelenk und lenkte die REM-Schlaf Augen starr auf sich.

„Konzentrier dich. Bis jetzt machst du deinen Job doch ganz gut.“, schmunzelte er ihm zu und zog ihn in seine Richtung. Maks nickte.

Luca führte sie auf eine Anhöhe. Der Boden war fester um sie herum, aber auch sandiger. Mit dem Schuh zog Luca einen Kreis über den Boden und legte eine eiserne Kette frei. Er grinste, bückte sich und griff nach ihr. Sand, Laub und Schmutz, der sich auf sie legte, fiel von den einzelnen Gliedern zu Boden.

„Hilf mir mal.“, sprach Luca.

„Sicher“, griff Maks staunend nach der Kette.

„Hau ...“, stimmte Luca an und die Klappe fiel mit einem Scheppern zu Boden. „Unser Fluchtweg.“; starrte er in die Tiefe hinab.

An der Seite war eine Leiter befestigt. Luca stieg sie als Erstes herunter, Maks drehte sich noch einmal um und wagte den Blick durch den Wald. Nicht die Angst, die ihn trieb, eher der Wunsch erwischt zu werden.

„Nun komm!“, schrie Luca herauf, Maks presste die Lippen zusammen, stieg auf die erste Stufe und kletterte die Leiter nach unten.

„Vergiss die Klappe nicht.“, schickte Luca seinen suchenden Blick auf die Erde, wieder in den Himmel.

„So ein Mist.“, nuschelte er vor sich hin und stieg die zwei Meter empor. Er griff nach der Kette, zog sie in das Loch hinein und klemmte sie sich fest um das Handgelenk. Er stieg wieder hinab, der Druck auf der Kette mit jeder Sprosse größer, das zerquetschende Gefühl in der Hand. Mit jeder Stufe ließ er sein Gewicht mehr in die Kette sinken.

Achtundfünfzig Kilogramm ließen die Klappe zuschlagen. Maks befreite sich aus den Gliedern und stieg hastig zitternd ab. Auf dem Boden betrachtete er seine Handflächen, das rostige Metall legte sich um die Wunden. Es verschmierte, als er es zerrieb, wie Farbe, die man mit einem Pinsel malte. Lucas‘ Schritte führten in weiter den Korridor entlang. Marode Mauern aus Erde, gehalten von morschen Holzbalken, zuckte ab und an ein Licht durch den Tunnel. Maks folgte den Lauten der Schritte und holte sie auf, bis er neben Luca stolzierte. Er schenkte ihm ein breites Grinsen, bevor er die Kapuze in sein Gesicht zog.

„Was machen wir jetzt mit dem Buch?“, fragte Maks nach.

„Wir bringen es weg von hier.“, verzog sich das anfängliche Lächeln auf seinem Gesicht.

„Wohin?“

„Das hat dich nicht zu interessieren!“, kommentierte Luca und schritt schneller voran.

„Nicht zu interessieren?“, packte Maks die Wut und er schleuderte Luca gegen die Wand. Das Buch fiel aus seiner Handfläche auf den Boden.

„Rede doch mit mir!“

„Rede doch mit mir“, schwankten Lucas Augen zwischen Entsetzen und Leid.
„Wir bringen das zu meinem Opa.“, löste er die klammernden Fäuste, „Er lebt außerhalb der Stadt.“

„Wie weit außerhalb?“

„Kannst du dich noch an den Trampelpfad im Wald erinnern?“, Maks nickte, „Von dort gehen wir weiter.“

Maks lenkte den Blick zu Boden. Er hoffte auf eine Antwort, eine Frage, einen Satz, ein Wort und doch schwiegen die Wände mit ihm gemeinsam.

 

Das Klappern der Luke hallte durch den Tunnel, ein dumpfer Aufschlag, setzte sich eine heftige Detonation frei und brachte die Wände des Korridores zum Beben. Sie drehten sich um und starrten auf das grelle Licht, das ihnen entgegenschlug. Luca rannte los, Maks folgte ihm auf Schritt.

„Links!“; wechselten sie an der Gabelung die Spur in den Gang ohne Laternen. Lucas‘ Schritte verlangsamten sich, Holzbalken lagen auf dem Boden verteilt, mit den Händen tasteten sie sich im Gang entlang. Bis eingestürzte Erde ihnen den Weg verschloss.

„Das muss hier doch sein. Wo ist es“, züngelte Luca zornig heraus, während er mit den Händen über die Wände tastete.

„Gefunden!“, zog er sein Munja in die Erde. Sie schob sich auseinander, als würde sie zu einer weichen Masse schmelzen und die Tore öffnen.

„Rein da!“, stieß Luca ihn in den Raum. Die Schritte der Wachen hallten auf dem matschigen Boden. Die Tür schloss sich wieder und ließ sie in absoluter Finsternis zurück.

„Du warst ein guter Glücksbringer. Du kannst stolz auf dich sein.“, flüsterte Luca Maks ins Ohr. Doch Stolz war da nicht mehr in seinem Körper, nur noch ein dumpfes Gefühl, ein Grummeln, dass den Magen zersetzte.

Er streckte die Hand auf den Rücken und tastete nach einem der Löcher im Shirt. Wie die Fäden es dürftig zusammen hielten, als gäbe es so eine Art Frieden doch.

0.18_Leben in Übeln

0.18_Leben in Übeln

 

Lucas Hände schürften über die harte Erde an den Wänden. Wie ein Maulwurf versuchte er, sich tiefer in den Raum hinein zu graben. Auch er hörte die Schritte, die unaufhörlich näher an ihr Ohr drangen.

„Ihr sucht da drüben!“, trennten sich die Wachen. „Tack-Tack“, hallten vier Füße in ihrer Nähe.

„Hier können sie nicht sein.“; drehten sie um, als sie vor dem verschütteten Gang standen.

Maks Herz begann heftig zu pochen, er drückte die Handflächen auf seine Brust und versuchte es zu stoppen. Doch es klopfte stärker, als würde es herausbrechen wollen.

„Das ist zu dunkel hier. Gehen wir zu den Anderen.“; befahl eine Stimme und die Schritte und Laute drehten ab in Richtung der Gabelung. Das Pochen beruhigte sich. Lucas Hände begannen sich wieder in die Erde zu graben.

„Psst“, legte Maks seine Hand auf die Schulter und stoppte die flinken Finger. Sie lauschten. Ein Klappern drückte sich durch den Korridor. Wieder. Als wenn ein Ast von einem Baum herunterbricht und auf den matschigen Waldboden schlug. Das Klappern kam näher, unter ihm waren Schritte versteckt. Behutsame, ruhige, sie rannten nicht wie die der Wachen, es war, als würde der Wind die Wellen beruhigen. Vor dem Eingang des Tores hörten sie auf. Schwere Atemzüge drangen durch die Wand hindurch an ihre Ohren. Fingernägel kratzen über die Mauer.

„Hab ich euch“, sprach sie eine Stimme an. Das Tor öffnete sich. Vor ihnen stand ein gestandenes markantes Gesicht, eine Narbe zog sich an der Nase entlang und endete über den Lippen. In der Hand hielt er einen großen Stab, an dessen Ende einer Lampe befestigt war. Das eindringende Licht ließ die Pupillen sich schreckhaft zusammenziehen.

„Lauf!“, rief Luca und stürmte auf den Mann zu. Er riss die Hand nach vorne und rieb ihm den abgekratzten Dreck in die Augen. Schreiend taumelte er zurück.

„I-Ihr Mistblagen!“; rieb er sich den Schmutz weiter in die Lider. Luca griff nach Maks Arm und zog ihm aus dem Gang heraus. Durch den dunklen Korridor flüchteten sie zurück zur Leiter. An der Gabelung hörten sie die aufgeregten Schritte der Wachen, wie sie schreiend den Rückweg antraten, um sie zu verfolgen.

Getrieben sprinteten die beiden auf die Leiter zu. Luca ergriff sie als Erstes und kletterte, mit der Schnelligkeit eines Wiesels, die Sprossen empor. Maks griff nach dem Holz und zog den ermüdeten Körper, wie eine geschlagene Antilope, hinauf.

 

Sie erreichten die Oberfläche und starrten auf die geöffnete Luke.

„Schnell!“, zeigte Luca mit den Fingern auf die Kette, dann auf den Baum. Sie griffen nach ihr, schlugen die Luke in das Schloss und zogen die Glieder um den gegenüberliegenden Baum.

„Das wird sie zumindest eine Zeit lang aufhalten.“, stemmte sich Luca mit den Beinen gegen die Rinde und spannte die Kette fester.

„Wir müssen zur Sura.“, orientierte sich Luca am Tränenturm. Korrigierend spähte er zu den Sternen am Nachthimmel. Richtung Südosten, rannten sie in den Wald hinein. Ihre Schritte polterten über den Waldboden, die Geräusche waren egal, die Entfernung entscheidend.

„We-Wer war das in dem Raum?“, keuchte Maks.

„Gemal. Der Leitjäger. Ein altes Urgestein aus dem letzten Yuga-Krieg, seine Knochen scheinen zwar schwach, aber sein Geist ist noch immer fit, wie du gesehen hast.“, japste Luca.

„Wie konnte er uns finden?“

„Mein Opa sagte mir mal, dass die Jäger ihre Sinne trainieren. Sie lernten von den Syncs mehr auf ihre Umgebung zu achten, zu beobachten, zu riechen. Und so entwickelten sie die Fähigkeiten des mächtigsten Räubers, den sie kannten. Des Lizaren.“

„Der Lizar?“, staunte Maks.

„Ein Sync mit dem Körperbau eines Luchses. Ohren, die jedes Fiepen in einhundert Meter hörten. Krallen, die durch den dichtesten Stahl schnitten und Augen die ihre Beute niemals aus den Augen verloren.“

„Das klingt beängstigend.“, räumte Maks ein.

„Das sind nur Ammenmärchen, wenn du mich fragst. Sie sterben. Wie alle anderen Menschen auch.“, sprach Luca. Er trat auf einen Ast, das Knacken hallte lauter als ihre Stimme durch den Wald. Aus den Wipfeln fünfzig Meter entfernt stieg eine Schar Vögel hervor, Nachtschwalben, zeichnete sich ihr gabelförmiges Muster im Mondlicht ab. Sie flohen in Richtung Norden.

„Wieso hast du das damals getan?“, hakte Maks nach langem Hadern mit sich selbst nach.

„Was?“, verzog Luca bissig die Lippen.

„Warum hast du dich Marek angeschlossen?“

Er schmunzelte auf, so als würde er selbst die Antwort verspotten.

„Du warst zu schwach. Wir haben Jahre damit verbracht, das Jagen zu lernen, nur wie viel Beute hattest du geschlagen? Wie oft mich aus der Klemme befreit? Du solltest lernen, wie es ist, auf sich alleine gestellt zu sein!“

„Und dafür lässt man jemanden zurück?“

„Ich habe dich nicht zurückgelassen, sondern getestet.“

„Ein Test? Ein Glücksbringer? Also bin ich nur eine Sache für dich?“, erhob sich Maks Stimme.

„Du warst immer nur der Nutzen.“

„Wir leben für das Dorf!“, stoppte Maks.

„Für das Dorf, das von einem Narren regiert wird. Was hat der Seraph schon für uns getan? Was hat er uns gebracht außer den Hass auf den Straßen und reichen Menschen die ihre Tasche immer weiter füllen! Nichts! Er brachte uns die Prüfung, als Hoffnung für jeden Menschen, sich aus seinem Elend zu befreien. Doch was taten die Menschen, nachdem sie ihr Geld verloren? Sie mussten in den Fabriken arbeiten gehen, um ihre Familie zu ernähren, sich dem Willen des Seraphen beugen, der ihnen jeden Morgen immer etwas Besseres versprach und sein Wort nie hielt.“, erzürnte Luca.

„Hast du die Prüfung bestanden?“

„Nein“, schüttelte er schmunzelnd den Kopf, „Ich habe etwas Besseres gemacht. Ich habe dich beobachtet.“

„M-mich?“, stotterte Maks.

„Deine miserable Leistung im Ring. Dein Blick in die Kameras erheiterte das Publikum. Sie wussten, die Wette würden sie gewinnen und setzten dein Leben. Du wolltest es doch selbst nie schaffen ein Teil des Dorfes zu sein! Nicht weil du es nicht wolltest, weil du zu schwach warst und noch immer bist!“

Maks versteinerte. Der Glauben an den Seraph, die Gerechtigkeit der Inku, die Hoffnung Hagames, alles zersplitterte, wie zerbrochenes Glas und doch hatte Luca Recht. Das Töten der Tiere verachtete er, ebenso wie die Bedingungen der Fabrik. Der Seraph verschwieg die Armut, die in den Gassen hauste, heuchelte sie und erzählte nur von den schönen Dingen. Die Läden schlossen weiter, bis nur noch die Händler auf dem Dorfplatz und die feinen Boutiquen in diesem Land übrig blieben. Dinge, die er sich nicht leisten konnte, nicht leisten wollte. Zumindest redete er es sich ein.

Wie der Tunnel unter dem ausgebeuteten Boden Arians stand Maks vor einer Gabelung. Der Traum ein Inku zu werden oder erst einmal in den Kreis der Sucher und Jäger zu kommen, erstreckte sich wie der Horizont beim Aufgang der Sonne. Was ihm blieb, waren die Verletzungen an den Händen, die tiefen Schnitte, die peitschenden Furchen. Das Gefühl im Leben nie genug zu sein, um seinen Preis zu erhalten. Die Bestätigung dass der Missmut in den Augen der Menschen ihre Berechtigung hatte. Maks spürte das drückende Engegefühl im Brustkorb, wie es sein Herz beschlagnahmte und den Puls lenkte. Er atmete tief ein.

„Wie könnt ihr mir helfen die Elohim zu bestehen?“

„Bist du endlich bei Verstand ja?“, raunte ihn Luca an. „Mein Großvater wird dir helfen. Er wird dich schon durch die Prüfung bringen und nun komm!“, nahmen seine Schritte wieder Fahrt auf. Eingeholt von den Flügelschlägen der Schar Nachtschwalben, die über ihre Köpfe hinweg flog.

„Sie sind draußen.“, verschärfte sich Lucas‘ Ton und die Beine sprinteten weiter Richtung Osten. Sie erreichten das Flussbett der Sura. Dichte Wolken zogen sich über ihre Köpfe hinweg und schoben den grauen Dunst der Fabrik in ihre Richtung. Er paarte sich mit dem Regen und plätscherte auf die Haare, durchnässte die Klamotten und klebte sich an die Haut. Sie folgten dem schlangenlinienförmigen Flussbett der Sura, an der Fabrik vorbei, hinter ihr, auf ihren alten Platz im Wald. Maks spähte auf die Stellen, an der sie jagen gingen, spielten und vor den Nidern flüchteten. Zusammen waren sie seitdem nicht mehr hier gewesen.

„Meinst du meine Eltern wären stolz auf mich?“, jagte Maks den rennenden Schritten hinterher.

„Deine Eltern?“, stoppten Lucas Schritte und er drehte sich um, „Sicherlich. Du musst dich nur für die richtige Seite entscheiden.“

An den Grenzen des Nebelwaldes erreichten sie einen grasigen Pfad, als hätten ihn vor Jahren Dutzende Menschen benutzt und ihn dann vergessen, eroberte sich die Natur den Fleck zurück. In der Dunkelheit der Nacht blitzte ein grünliches Licht aus dem Wald auf. Maks schreckte auf und suchte die Nähe zu Luca, „Was war das?“

„Was?“, schüttelte er sich den Ballast wieder von der Seite ab.

„D-das Licht.“

„Da war kein Licht, komm wir sind gleich da.“, führte Luca sie weiter in den Wald hinein. Die Bäume wurden verhangener, beladener mit Laub und schluckten die letzten Fetzen des Mondlichtes in den Kronen. Ein dunkler Umriss färbte sich in der Ferne ab. Mit jedem Schritt wurde er größer, deutlicher.

Eine altes betonenes Gebäude erstreckte sich vor ihnen. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, das Holz an den Geländern morsch und brach. Die Ziegel auf den Dächern trug der Wind Richtung Boden. Sie stapelten sich splitternd unter dem Dach. Luca schritt auf die Wand zu, er griff nach dem Efeu der sich die Häuserwand zurückerkämpfte und riss ihn herunter.

„Das Zeug wächst auch jeden Tag neu!“, schmunzelte er die Pflanzenteile in der Hand betrachtend und schmiss sie in die Ecke. Er legte ein Lüftungsgitter frei, trat gegen das Metallgehäuse und ließ die Klappe herunterfallen.

„Eintreten bitte“, forderte er Maks auf.

Er quetschte sich durch den schmalen Eingang in das Innere des Mauerwerkes und landete auf dem Boden. Vor ihm erstreckte sich eine riesige Halle. Der Belag quietschte künstlich unter seinen Beinen, wie ein Weg, waren zwischendrin Fliesen verlegt. Die Natur brach sie auf und streckte die ersten Keimlinge in die Höhe. Sie suchten das Licht aus den Fenstern, zur Sonne, zum Mond, raus aus der unheimlichen Dunkelheit.

Luca stützte sich hinter ihm auf. Er spähte kurz durch die Halle, bevor seine Füße sich quietschend über den Boden bewegten. Am Ende der Halle schob er eine Tür zur Seite und öffnete einen Weg in den Keller.

„Was war das hier?“, folgte Maks ihm.

„Die alte Tüftlerfabrik. Hier entstanden die ersten Syncs, die das Dorf zum Schutz erbauen ließ.“, stieg Luca genervt die Treppe herunter.

„Und was ist dann passiert?“

„Der Krieg brach ein und mit ihm die Abscheu auf sie. Sie wurden aus den Ländereien verbannt, man schob ihnen das Unheil zu und verachteten ihre Namen.“

„Aber wer baut sie dann für das Dorf?“

„Was denkst du was in der Fabrik passiert?“, schmunzelte er auf, „Die erzeugen da nicht nur Strom, um das Dorf zu versorgen. Nach den alten Bauplänen schmieden sie ihre Armee im Untergrund.“

„Und was machen wir hier?“, beengte Maks die Leere des Kellerganges.

„Was wohl“, zuckte er mit den Schultern, „Wir gehen nach Hause.“

0.19_Die Stichverletzung

0.19_Die Stichverletzung

 

Durch den schmalen Kellergang hallte ein pochender Ton. Wie Gemals Stapfen klang es Maks wieder in den Ohren. Doch dieses Pochen scholl älter und zerbrechlicher. Die Angst bändigte seine nächsten Schritte. Er hielt Abstand zu Luca, der strikt weiter geradeaus ging. In den Lichtkegeln des Korridores erschien eine graugehüllte Gestalt. Fein gestickte weinrote Nähte verzierten den Umhang am Saum.

„Da seid ihr ja endlich. Ihr habt euch Zeit gelassen.“, jauchzte die alternde Stimme.

„Unser Freund hier“, zeigte Luca mit dem Daumen über die Schulter auf Maks, „hatte sich etwas zu lange Zeit gelassen.“

Wie aus dem Nichts schlug der Greis Luca den Stab gegen die Kniescheibe. Stöhnend vor Schmerz sank er zu Boden und hielt sich an den Beinen. „Sei nicht so frech, das habe ich dir gesagt.“, wandte er den Blick ab von Luca und schritt weiter auf Maks zu. Unter den Lampen des Tunnels erschien ein zermürbtes Gesicht. Augenringe, die sich bis zur Hälfte der Nase zogen, ein schmitzendes Lächeln, als würde er die Ehre des Seraphen erreichen, lenkte er den Blick weiter auf Maks. Die trübgrauen Augen fraßen sich in die Seele. Er stützte sich auf seinem Stab ab und beugte sich nach vorne. Maks setzte einen Schritt zurück und krümmte den Oberkörper bereitwillig nach hinten.

„Du bist also Maks. Ich habe viel von dir gehört.“, huschte ein dreckiges Grinsen über die Wangen. „Jetzt seid ihr ja da. Folgt mir. Folgt mir!“, tastete er sich den Weg weiter in das Innere des Kellers.

„Steh auf!“, stieß er Luca den Stab in die Seite.

„Ja“, ächzte er und hob den schmerzenden Körper vom Boden. Er lief voran und öffnete eine große Eingangstür am Ende des Ganges. Hinter ihr, blieb er stehen und stellte sich in die dunkle Ecke. Der Mann trat ein, ihm folgend, Maks.

Eine riesige Halle erstreckte sich um ihn herum. Mauern doppelt so hoch wie er selbst, darüber Tribünen, verschlissen und verwittert, von der Natur gerissen und doch konnte man sie noch erkennen. Der Mann stiefelte durch den Raum hindurch und setzte sich am Ende auf einen hölzernen Thron. Er legte den Stab am Seitenstück ab.

„Komm näher Junge.“, röchelte seine Stimme durch die Halle. Maks zeterte, drehte sich in Richtung des Kellerganges, den sie eben durchliefen.

„Nun komm!“, fauchte der Mann abermals. Maks setzte die Füße in Bewegung und schritt auf ihn zu.

„Du kennst mich?“, lächelte er ihn für einen Augenblick an, als er vor seine Augen trat.

„N-Nee“, stotterte Maks hektisch. Er lächelte wieder auf.

„Du musst keine Angst vor mir haben. Ich bin der Großvater dieses Versagers dort hinten.“ Nickte er argwöhnisch zu Luca und ließ seinen Blick demütig zu Boden sinken.

„Aber eher bekannt bin ich unter den Namen Agnis, Vater der Tüftler. Es wundert mich, dabei legte Frau Hamen doch immer so viel Wert auf ihre Geschichten.“

Maks wand den Kopf rasant nach hinten zu Luca. Er suchte Hilfe. Beschämt schaute er weiter zu Boden.

„Du brauchst seine Hilfe nicht. Ab jetzt hast du doch mich oder?“, lächelte der Mann, „Und wenn ich ihn trainieren konnte, kann ich es mit dir sicherlich auch.“, stieß sich Agnis aus dem Stuhl heraus und griff nach dem Stab. Er stieg vom Thron herunter. Maks bebte der Körper, ein Zittern, das ihn überflog und die Haare aufstellte. Agnis knöchrige Finger suchten den Halt auf Maks Schulter. Jetzt spürte er es auch.

„Nanu, hast du noch immer Angst?“, zog sich sein fauliger Atem aus dem Mund heraus. Maks stierte in die toten Augen und suchte den schwarzen Punkt auf der lichtgrauen Linse.

„Du hast Angst die Prüfung nicht zu bestehen nicht wahr? Dafür bist du doch hier, dass ich dir helfe die Angst zu bändigen, sie in etwas Sinnvolles verwandel.“, ging der Geruch von Ziegenhufe von ihm aus. „Komm mit.“, führte er ihn an eine Tür neben dem Thron.

„Du passt auf!“, giftete er Luca an, bevor er die Klinke herunter drückte und den Weg in das Innere öffnete. Ein lichtbehangener Raum, warmgelb schienen die Lampen gegen die Wände und erhellten die Ecken. Ein großer hölzerner Tisch stand in der Mitte, unzählige Unterlagen und Bücher lagen auf ihm herum und drohten abzustürzen. An den Wänden waren Bilder von Syncs, Explosionszeichnungen, Anleitungen und Blaupausen. In der Ecke spannte ein Tuch über etwas. Agnis bewegte sich zielstrebig darauf zu. Angekommen drehte er sich um.

„Es wäre freundlich, wenn du die Tür zumachen würdest.“, grinste er ihn dreckig an. Maks schritt zurück und ließ die Tür, zu Agnis Leidwesen, in das Schloss knallen.

Mit dem Stab umwickelte das Tuch und zog es herunter. Eine Voliere kam zu Vorschein. Im Inneren begannen schwarze Schatten wild mit den Flügeln an die Stäbe zu schlagen. Agnis legte die Handfläche gegen das schirmende Metall. „Ruhig meine Kleinen.“; flüsterte er in den Käfig.

„Sieh sie dir an!“, winkte er Maks zu sich. Die Flügelschläge der Syncs verlangsamten sich. Ihr Körper geschmiedet aus schwarzem Shanja Stahl, wirkten sie wie blitzende Schatten. Ihre Körper waren gedrungener als die der Schattenwächter, ihre Schnäbel länger und schmaler.

„Du kennst sie bereits?“, drehte sich Agnis prahlend zu ihm um.

„Ich kenne die Schattenwächter.“, antwortete Maks.

„Schattenwächter“, wiederholte ihn Agnis spottend, „Diese Wesen wurden vor sieben Jahren erschaffen und längst von ihren Brüdern überholt.“, er öffnete den Käfig, streckte eine Hand hinein und ließ einen der Vögel auf seiner Handfläche landen. Er zog sie heraus und verschloss das Gatter.

„Ein Meisterwerk“, streichelte er ihm über die flexiblen Stahlfedern und drückte sie zur Seite. Auf dem Körper des Syncs waren wie in einem Labyrinth weiße Linien eingezeichnet. Sie pulsierten schwach.

„Ein Stinger Sync nachempfunden dem Kolibri, sind es wendige kleine Biester, zaghaft klein, pressen sie sich durch jede Ritze und wenn sie ihr Ziel treffen“, lachte Agnis auf, „injizieren sie ein lähmendes Gift. Laut den Unterlagen heißen sie REN Sync 912, was für ein abscheulicher Name für eine so wunderbare Kreatur nicht?“, beendete er das Tätscheln. „Deswegen nenne ich sie Venenstecher.“, beobachtete er den Sync dabei, wie er auf seiner Schulter Platz nahm.

„Du zeigst mir also, wie ich Syncs besiege alter Mann?“, fasste Maks zusammen.

Ein Einschlag, drückte sich Agnis Stab in Maks Brustkorb und schob den Körper in die Luft.

„Manieren hast du keine.“, lächelte er überlegen, der Venenstecher erhob sich von der Schulter und schlug aufgeregt mit den Flügeln. „Die werd ich dir noch beibringen.“, ließ er ihn an der Wand herunterrutschen und löste den Druck aus der Brust. Maks rieb sich die schmerzende Stelle, schaute auf und vernahm in den Augen des alten Mannes keinen Stolz mehr, nur noch traurige Wut die seine Augenlider umschmeichelte.

„Komm. Deine Ausbildung beginnt!“, stieß er ihm mit dem Stock aus dem Schockzustand. Tapsig hielten seine Schritte auf die Tür zu. Maks drehte sich um, er beobachtete Agnis dabei, wie er den Venenstecher zurück in den Käfig schob, ihn zart streichelte und es wie ein Haustier den Kopf reckte. Er zog das Tuch wieder über die Voliere.

„Du sollst gehen, habe ich gesagt!“, fauchte Agnis ihn an, als er die Augen sah und das Klappern der Tür vermisste.

Hastig drückte Maks die Klinke herunter und begab sich in den Hauptraum. Wie versteinert stand Luca angelehnt an der Wand und starrte stur auf den Boden.

„Was hat er gesagt?“, stieß er sich ab und trottete zu Maks herüber.

„Ich will das alles nicht Luca!“, schritt er auf ihn zu.

Ein Stoß an die Schulter brachte ihn zu Fall.

„Bei wem willst du dich denn jetzt ausheulen? Bei Hagame? Beim Seraphen? Er verachtet dich, genau wie er uns verachtete. Du musstest nie für deine Träume kämpfen! Nie nehmen was dir zugesteht! Wir geben dir die Chance, für deinen Traum und du verspottest uns?“, drückte Luca die Schuhsohlen auf die gerissenen Handflächen.

Maks windete sich, doch konnte sich nicht gegen die Kraft wehren, sich ihr nicht widersetzen.

„Lu-Luca!“; ächzte er heraus.

„Luca!“, hallte Agnis Schrei durch die Halle, kreischend wie der Anflug eines Habichts. Der Druck löste sich aus den Händen. Maks stützte sich auf, ballte schmerzverzerrt die Finger und presste die zitternden Beine aufrecht.
„Bist du dir sicher, dass er so stark ist, wie du denkst?“, warf Luca ihm einen verachtenden Blick zu.

„Zweifle niemals meine Entscheidungen an mein Junge!“, streichelte er Luca über das Kinn und schleppte sich den Korridor herunter. Vor dem Tor blieb er noch einmal stehen, „Und nun trainier mit ihm“, setzte das Klopfen des Stabes wieder ein.

 

„Du hast ihn gehört, steh auf!“, drehte er sich um, doch Maks stand bereits, als er ihn sah, spitzte sich seine Stimme wie eine bohrende Drohung. Luca steckte die Hände in die Hosentasche und lief auf den Thron zu. Er stapfte vorbei, schaute ihn verachtend an, bevor er vor der Wand stoppte. Maks sank zu Boden. Wie die tosenden Wellen die an die Wellenbrecher der Küste schlagen und die Steine spitzten, zog der kühlende Strom durch seinen Körper.

Schrei nach ihr!

Schreckten seine Augen auf. Luca legte den Finger auf das Gestein. „Was ist mir dir? Gibst du jetzt schon auf?“, wand Luca den Blick von den panischen Augen ab, zog das Munja über den Stein und brachte es hellgrün zum Leuchten. Wie ein pulsierender Herzschlag schlug es sich in den Spitzen zusammen und öffnete ein Loch. Die Steine, wie die Wellen, gebaren das Leben aus ihnen heraus. In einem schwarzen Ansturm schoss eine Schar Venenjäger aus der Nische. Sie positionierten sich an der Decke der Halle. Luca setzte sich auf die Stufen des Thrones und spähte in den Himmel, bis er den Blick entschlossen auf Maks richtete.

Und Maks richtete sich endlich auf. Die Wut im Bauch wuchs heran, wie schwarze Ranken die sich um die lähmende Kälte legten und die Adern fester drückte. Sah er auf, vier Syncs lösten sich aus der Reihe und schossen auf ihn nieder. Sie waren schneller als die Schattenwächter. Im letzten Augenblick wich Maks dem Ersten nach links aus. Er bemerkte nicht wie der Zweite den Kurs korrigierte, die weißen Linien, auf ihrem Körper, stärker pulsierten, als würden sie das Blut zäher durch ihre Adern pressen. Dann presste sich der Schnabel wie eine Nadel in die Vene. Erstarrt sanken Maks Knie zu Boden, der Dritte stach tiefer, der Vierte durchschoss die Schulter.

„Hilfe“, kratzte er mit den Fingernägeln auf dem harten Stein unter ihm, „Hilfe“, nuschelte er abermals. Er schloss die Augen unterdrückte die Trauer die ihn im Aufstieg und lauschte der Umgebung. Wie ein Anschlag auf dem Klavier tanzte das Summen der Venenjäger, auf den Steinen um ihn herum. Dann verfälschte der Ton. Die Kälte ergriff ihn weiter und ließ ihn sinken.

Du kannst mich endlich spüren?

Legte sich die bedrohliche Kälte um seinen Körper und schmiegte sich an die restliche Wärme, die sein Herz gab, wie eine schützende Decke.

„Ja“, hielt er die Träne schluchzend zurück, seine Faust bohrte sich tiefer in den Untergrund. Er war weich wie die Moore, die er so liebte. Warm, wie die Abendsonne.

Schlaf.

Die Venen pumpten das kaltrostige Blut in das Herz. Das injizierte Gift der Venenjäger breitete sich weiter im Körper aus und versuchte ihn zu lähmen. Mit zuckenden Muskeln löste sein Körper die Schlafparalyse, die ihn ergriff. Mit jedem Zucken stählte sich das Gewebe und pumpte das Blut heftiger hindurch. Er richtete sich auf. Zog sich einen der Venenjäger heraus und schmiss ihn auf den Boden. Die Augen fokussierten die ankommende Truppe, er wich zur Seite aus, schmierte die öligen Gelenke und ließ die Bewegungen zarter erfolgen, mit jedem Schritt. Wie eine Katze rollte sich Maks über den Boden und war für den nächsten Sprung bereit. Er verstand, mit jedem Schnabel, dem er auswich. Ihre weißen Linien pulsierten nacheinander, ihr Augen wirkten zusammen wie das einer Facette, der Kurs, erst nach jeder Kollision, korrigiert. Sie reden miteinander.

Doch jedes System lässt sich manipulieren, zu simpel ihre Flugrichtung, die Kameras in den Augen fixierten den Aufschlagpunkt zu lange, ihr Schnabel streckte sich zu früh nach vorn.

Die Sprünge ließen nach, feinste Bewegungen, wie ein Tätzeln, reichten aus, um auszuweichen.

„Geht doch“, grinste Luca ihn mit gieriger Stimme an. Seine Augen verfolgten die Bewegungen auf dem Boden.

„Das reicht!“, malte er sein Munja auf den Stein und schloss das Tor. Die Einschläge hörten auf, doch Maks Körper nicht zu pumpen. Fokussiert starrten die Augen durch die Halle, wartend auf die nächste Gefahr. Doch sie blieb fern. Nur Luca, der händeklatschend den Thron verließ und auf Maks zulief.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du mehr als ein Glücksbringer sein kannst.“, setzte er den Handrücken an, um Maks an der Wange zu streicheln. Er sah auf und Luca sah in die rostgrünen Augen und erschrak vor der lodernden Wut. Er zog die Hand zurück.

Der Boden unter ihnen begann zu grollen, die Tür der Halle schlug auf und Nebelwände setzten sich zwischen den Stein. Drei graue Gestalten trabten aus dem Dunst und rannten auf sie zu. Gemals riesiger Schatten huschte an Maks vorbei und stürmte auf Luca.

„Hab ich dich!“, drückte er ihn zu Boden und stach die Klinge seines Dolches in seinen Unterbauch. Tame erschien hinter ihm.

Nein!

„Nein!“, schrie Maks auf und erwachte, „Nein!“, flehte er abermals und fiel zu Boden. Der Nebel tränte in den Augen und verschlechterte die Sicht. Die Schatten verschwanden, nur noch ein bedrohliches Gefühl über dem Rückenmark. Tames Klingenrücken drückte sich in das Fleisch und trieb ihn wieder zu Boden.

„Bringt ihn weg.“, hörte Maks entfernt die raue Stimme von Gemal. Tame ließ ihn los. Das Weißgrau trübte sich pechschwarz.

„Und wir haben auch noch was zu klären!“, drückte Gemal ihm die blutende Spitze des Dolches entgegen, „Wer den Seraphen beklaut“, grinste er hämisch und presste die Finger mit der Schneide auseinander.

„Verloren sei der Arm, wenn man von den Ärmsten klaut.“, setzte er die Klinge am Unterarm an.

„Lass den Mist du Idiot!“, mischte sich Mikals Stimme durch den Rauch.

„Siehst du ihn?“, folgte ihr Hagames. Ihre Schritte kamen näher.

„Da vorne.“, stieß sie zu ihm auf den Boden und schob Gemal von ihm zurück.

„Ich sollte ihn finden.“, richtete er sich vor ihr auf.

„Ach und quälen machst du kostenlos oder was? Finden war der Befehl. Trag ihn raus hier!“, verschärfte Mikal den Ton. Grummelig stemmte Gemal den schlappen Körper über seine Schulter und trug ihn in das Licht der aufgehenden Sonne. Er ließ ihn grob zu Boden, ächzend stöhnte Maks auf.

„Danke und jetzt geh und erstatte Bericht.“

„Jawohl“, zog er grummelig von dannen.

„Ach und Gemal. Ich erwarte auch einen vom Kindo Jungen!“

„Ist in Ordnung“, verneigte er seinen Kopf und lief zurück in das Dorf. Mikal bemerkte nicht Hagames schmunzelnden Blick, im Geschrei des Waldes ging das stumme Lachen unter. Maks atmete schwer.

0.20_Überprüfung

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„Dreh ihn mal um.“, befahl Mikal Hagame. Er packte den schwachen Körper und zog ihn auf die Seite. Aus der Hosentasche zog Mikal einen Dolch hervor und zerschnitt die Kleidung an den blutenden Stichverletzungen. Gallartartig drückte sich schwarzes Blut aus den Wunden. Mikal strich mit dem Finger darüber und löste den Schleim. Sie führte ihn an die Nase. Der Geruch von Schwefel stieß aus.

„Was ist das?“, zerrieb sie die Materie zwischen den Fingerkuppen, der Gestank wurde schlimmer.

„Bäh“, streckte sie die Hand weg von sich und schaute zu Hagame. Sie legte die Finger an den Hals, fühlte den Puls und bemerkte das schwache Zucken der Muskelglieder im Körper. „Das ist eine Taxin Vergiftung, wir müssen ihn sofort behandeln!“

„Bringen wir ihn in das Krankenhaus!“, bückte sich Hagame nach unten und legte die Hände um den schwächelnden Körper.

„Dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen das Gift aus dem Körper bekommen. Sonst versagt seine Atmung.“

„Wie schaffen wir das?“, stierte Hagame sie mit großen Augen an und ließ Maks wieder zu Boden gleiten.

„Wassersenf entzieht das Gift und desinfiziert!“

„Weißt du, wo es welchen gibt?“

„An der Sura müsste er wachsen!“, erhob sich Mikal.

„Beeil dich“, flehte Hagame sie an. Er hörte ihre fortlaufenden Schritte, beugte die Stirn nach unten und berührte Maks Kopf.

„Bitte bleib bei uns.“, hörte er das leise Röcheln das aus Maks Lungen drang.

„Ha-Hagame“, öffnete Maks die verklebten Augen und ließ das Gewicht weiter in seine Arme sinken.

„Ich bin da“, streichelte er ihm über das Gesicht und wischte den Dreck herunter. Er wärmte die kälter werdende Wange, „Atme weiter“, versuchte er ihn zu beruhigen.

 

Ein Knacken ertönte hinter ihm aus dem Wald. Freudig hoffende drehte sich Hagame in die Richtung, aus der das Geräusch kam, doch starrte nur auf eine graue Gestalt.

„So“, hallte die dreckige Stimme durch den Wald, „Ihr wollt ihn mir wieder wegnehmen ja?“, bewegten sich die schwerfälligen Schritte nach vorne. Hagame ließ Maks zu Boden sinken.

„Agnis!“, richtete er sich auf und positionierte sich schützend vor ihm. „Was hast du ihm angetan!“, schrie Hagame ihm wutentbrannt entgegen.

„Ich?“, formte sich sein Lächeln breiter als die Sichel des Mondes. „Ihr wolltet ihn nicht. Er war Abfall für euch, für mich hat er wenigstens einen Nutzen!“

Hagame griff unter seinen Umhang und zog ein ellenlanges Schwert hervor. Die Klinge wie ein Haken geschwungen, schwarz metallisch glitzernd die Oberfläche, als wäre sie eine eigene Nacht mit Sternen. Ergriffen von der Wut rannte er auf Agnis zu und schwang das Schwert in seine Richtung. Der hölzerne Stab blockierte den schneidenden Stahl und drückte die Kraft zurück. Agnis trat einen Schritt nach hinten und ließ Hagame in Richtung Boden schlagen. Er holte aus.

Das massive Holz drückte sich in Hagames Oberkörper, presste die Knochen und quetschte das Fleisch. Mit stockendem Atem unterdrückte Hagame den Schmerz. Agnis trat einen Schritt auf ihn zu.

„Ewige Treue“, grinste er hämisch über ihn und holte erneut mit dem Stab aus, er visierte den Kopf an, „ist auch nur ein Mythos, den ihr euch selbst erschaffen habt, um auch die Schwächsten unter zu knechten!“, schnellte er los. Im letzten Moment erhob Hagame schützend die Hände. Das berstende Holz klatschte gegen die Knochen und ließ ihn zu Boden fallen.

„Du tust Unrecht“, ächzte Hagame.

„Unrecht?“, lachte Agnis auf, „Ich tue das, was das Beste für das Wohl des Dorfes ist.“

„Du hast nur die Macht vor Augen Agnis, du benutzt ihn!“

„Was unterscheidet mich dann noch von euch?“, schwang er den Stab nach hinten, „Nichts!“, schlug er mit einer brachialen Gewalt zu.

„Er ist einer von un ...“, erstickte die Stimme unter dem dröhnenden Schmerz. Hagame kippte zur Seite, aus der Wunde am Kopf rann das Blut heraus und befleckte das Gras.

„Einer von uns.“, hallten die Worte in Maks Gedanken nach. Auf der Suche nach seinem Traum und sich selbst, vergaß er, was er bereits gefunden hatte, eine Heimat.

Hagame japste nach Luft und versuchte die Beine auf den Boden zu stellen.

„Der Seraph sucht nur nach dem Nutzen! Hat er ihn, wirft er euch weg.“, sprach Agnis.

„Solange ich Sorge trage, bleibt er einer von uns.“, röchelte Hagame die letzten Kräfte aus dem Körper.

„So? Dann wollen wir das mal ändern.“, Agnis Lippen zogen sich diabolisch in die Höhe. Er griff in die Tasche seines Umhanges. Auf der Handfläche breitete er drei kleine Kugeln aus, wie die aus der Prüfung, schimmerten fein gezogene Linien auf ihnen. Er schmiss sie in die Luft. Die Flügel sprangen heraus, Kopf und Schnabel windeten sich aus dem Inneren und ließen die Gestalten der Schattenwächter in die Höhe steigen. Sie fokussierten Hagame und stürzten auf ihn nieder. Der Druck der Explosionen dröhnte in Maks Ohren.

„Einer von ihnen“, trommelte der Gedanke lauter im Kopf und ließ das Herz das Blut durch den Körper pumpen. Zittrig drückte er die Fingerspitzen in den Dreck, ballte sie zu Fäusten und stemmte sich gegen das Gift. Er vertrieb die Kälte aus den Gliedern, als würde Sand zwischen ihnen reiben, fühlten sich die Bewegungen an. Er schleppte sich zu Agnis.

„Du bist ein zähes Bürschchen“, begrüßte Agnis den humpelnden Gang. „Aber leider, auch immer noch zu schwach!“, preschte er den Stab in seine Richtung und ließ das Holz auf den Brustkorb schlagen. Die Wucht des Aufpralls ließ Maks nach hinten fliegen. An einem Gebüsch stoppte er. Durch die verklebten Augen blickte er auf Hagame. Wie seine Lidschläge starrer wurden und sein eigener Körper sich gegen jegliche Bewegung wehrte, das Gift an den Muskeln fraß. Benommen schloss er die Augen. Der Sicht geraubt, hörte er nur, wie die Stimmen der Außenwelt in einem blechernen Klopfen verstummten. Der Wald weinte und der pfeifende Wind zerschnitt an den Flügeln, der letzten Nachtschwalben die aus den Baumkronen vor dem Krieg flohen. Wie verrosteter Stahl fühlten sich die Knochen an. Bis die letzten Lichtfetzen an den Lidern zersprangen.

Maks fand sich in der Finsternis wieder. Kühler wirkte der Ort dieses Mal um ihn herum. Rauer die Oberfläche auf der er lag, wie eine getrocknete Wiese pikste es auf seiner Haut.

Da bist du ja.

„W-wer bist du?“, stotterte die Stimme über die Lippen. Er schlug die Augen auf und zu, wollte die Illusion verdrängen, doch sie blieb Realität.

Versuch es gar nicht erst. Die Angst hat dich an diesen Ort gebracht.

Er drehte sich nach links. Der warme Atemhauch der Stimme drückte sich an sein Gesicht.

„Was mach ich hier?“, bibberte die Stimme.

Du warst schon öfters hier. Jedes Mal wenn du Angst hattest, trat ich dir helfend zur Seite. Genau wie dieses Mal.

Ungläubig schüttelte Maks den Kopf. „Ausbrechen!“, wehrten sich seine Gedanken gegen den zermürbenden Käfig, der sich um ihn legte.

Du glaubst mir nicht? Was war bei den Nidern, was war bei der Prüfung, was war im Tunnel? Nicht du lenkst deinen Körper, sondern ich.

„Was willst du von mir?“, verbiss sich Maks auf den Unterlippen.

Ich will, dass du flehst nach meiner Kraft.

 

Wenn die Träume sterben, lassen sie keinen Platz mehr für die Hoffnung. Wie brechendes Geröll ziehen sie alles mit hinab in die Tiefe, bis man den Glauben an sich selbst verliert und nur noch Schatten vor seinen Augen sieht. Die Dunkelheit ergreift uns, zwingt uns zu Dingen, die wir bereuen, verheimlichen, für uns behalten, weil wir denken, wir sind stark genug sie auszuhalten. Doch wie Gift frisst es sich durch die Adern, die Muskeln, das Fleisch und erstickt die Wärme die zwischen den Herzklappen sitzt. Wir verlieren den Halt, treiben in den Wellen der Meere und merken nicht wie der Sog des Wassers, den Körper tiefer unter Wasser zieht, bis die Dunkelheit uns wieder ausspuckt.

„Ich hab Angst, bitte hilf mir.“, legte Maks den Kopf auf den harten Boden.

Wenn dem so ist. Schließe die Augen, lasse dich fallen. Spüre die Macht.

 

Maks Körper riss die Augen auf. Er hörte, wie Agnis sich mit einem gemütlichen Gang auf den Weg zu Hagame machte. Aus seiner Handfläche schmiss er zwei weitere Kugeln in die Luft und fing sie wieder auf. Der röchelnde Atem von Hagame trieb durch den Wald.

„Fortschritt fordert seine Opfer“, grinste Agnis ihn an und zog die Hand beim Auffangen weg. Die Metallkugeln verwandelten sich rasant in Venenjäger und schwebten zu seinen Schultern auf. Agnis drückte die Spitze des Stabes auf Hagames Hals und schürte ihm weiter die Luft.

Das Surren der Venenjäger dröhnte in den Ohren. Die Kälte in den Adern zirkulierte schneller durch den Körper, wie ein streichelnder Bach umspülte sie das Eis, wärmte es und trug es davon. Maks stand auf.

Berserkerhaft stürzte er sich auf Agnis nieder.

 

„Was zur“, bemerkte er die Bewegung hinter sich, er riss den Stock empor. Doch die bestialische Wut in den Fäusten rammte sich bereits in sein Gesicht. Maks drückte ihn gegen einen Baumstamm. Fasste mit der anderen Hand um seinen Hals und presste die Finger zusammen. Die trübgrauen Augen reflektieren den Schein seiner Linse, das strahlende Hellblau kippte, wie rostiger Stahl in einen schimmernden Grünton, die Pupille starr nach vorne gerichtet. Ein erfreutes Grinsen, zog Agnis die Lippen breiter auseinander, „Du bist endlich frei. Beeindruckend.“, analysierten seine Augen jeden Fleck auf der Iris. Maks schob die Kraft zurück in den Arm und raubte ihm die Stimme. Agnis hob die Hand, richtete den Finger auf Hagame, „Wenn du mich tötest. Nimmst du ihn mit.“

Die Kraft in der Wut ließ sich nicht kontrollieren, das Zucken der Muskeln setzte unaufhörlich ein und pumpte sie größer. Die Finger quetschten sich aneinander, als wollten sie verschmelzen und mussten vorher nur brechen. Maks konzentrierte sich. Zwang die Kraft, zu Hagame zu sehen.

Vom Leid erfüllt, wich die schreiende Wut aus den Pupillen. Agnis sah es, nutzte die Chance und rammte Maks die Faust in den Unterbauch. Der Stoß trieb ihn zurück und stockte ihm den Atem. Argwöhnisch blickte sich Agnis um, er griff nach seinem Stab und verschwand im Wald.

Der Schemen verschwand vor Maks Augen und mit seinem Ableben, kehrte die Erinnerung wieder. Besorgt drehte er sich zur Seite, „Hagame!“, stützte er sich auf und lahmte zu ihm herüber. Der Stoff der Weste qualmte, ein süßlicher Duft nach abgestandenem Orangensaft legte sich ihm um die Nase. Er zog den verbrannten Stoff auseinander und sah auf die Brandwunden am Körper. Die zerfetzten Hautstellen, achtete er, auf das seichte Atmen.

„Es tut mir so Leid“, versenkte Maks den Kopf auf seiner Brust, die Wärme der Glut fraß sich durch die Nähte, er hob den Kopf und klopfte sie aus.

„Ich hol Hilfe!“, schrie die tränenunterwanderte Stimme, „Ich hol Hilfe!“, flüsterte er es sich noch einmal selbst zu. Er drehte sich um, ein Schatten erschien vor seinem Gesicht, ein harter Schlag drückte ihn zu Boden und erlosch das Augenlicht.

0.21_Vertrauender Blick

0.21_Vertrauender Blick

 

Maks wachte auf und starrte in ein feinmaschiges schwarzes Tuch. Es verdeckte seinen Kopf und ließ sie nicht abschütteln. Mit den Händen tastete er über den nasskalten Steinboden. Seidendünne Ketten fixierten die Unterarme. Er presste sich mit aller Kraft dagegen, doch der dünne Fäden drohte nicht zu reißen. Hektischer wurden seine Bewegungen, er schüttelte den Kopf und versuchte die Kapuze abzustreifen, doch ein fester Knoten hielt sie am Platz. Er setzte sich auf den Boden, zog das Knie näher an den Körper heran und stützte das Kinn ab. Er lauschte in die Umgebung, die Ruhe brachte die Geräusche des Waldes in die Zelle, die gefüllten Straßen und ein rhythmisches Klappern, die Kulisse formte sich vor ihm, als wäre er frei.

Maks ließ den Kopf gegen den Stein schlagen, der dumpfe Aufprall beruhigte die Gedanken. Lenkte sie auf sein Zuhause. Es drückte ihm die Tränen in das Gesicht. Er dachte an die Freundschaft, spürte, wie sich die schürende Enge um seine Kehle legte und Panik in ihm breitmachte; und er dachte an Hagame und somit auch den letzten Menschen den er hätte enttäuschen können. Die Geräusche schenkte ihm die Illusion der Freiheit und beraubten ihm seiner Träume.

Er schluckte den Stein in der Kehle herunter.

„Du machst das schon.“, fielen ihm die letzten Worte seines Vaters ein. Er zog die Ketten an den Hals, tastete nach dem Halstuch. Er entsann er sich; die Ecke neben dem Bett.

Er schabte den Kopf über den Stein, schlug ihn dagegen und löste den Knoten. Die kalte Luft der Steine drückte unter die Kapuze und trocknete den kalten Schweiß. Er schabte weiter, hörte wie die Haare über Stoff und Fels rutschten und immer wieder dieses rhythmische Klappern.

Stolz schnappte er nach Luft, als der dichte Stoff zu Boden fiel. Er legte den Kopf gegen die Wand, atmete tief ein und aus. Grauschwarzer Stein breitete sich zu einer massiven Wand vor ihm aus, darin ein kleines Fenster mit Gittern versehen. Hinter ihm, schwarzglitzernde Stahlstäbe, die durch den Boden schossen. Ein Licht brannte im Vorraum und auf einem Tisch saß ein Junge. Er betrachte wie die Schnürsenkel der Schuhe im Schaukeln des Beines hinterherflogen. Jede Rückwärtsbewegung dem Tisch ein leises Knacken entlockte.

„Hey!“, rief Maks zu ihm herüber. Das Bein stoppte die Schwingung.

„Kannst du mich hier vielleicht rausholen?“, flüsterte er ihm zu. Die hellblauen Augen und der Topfhaarschnitt richteten sich auf Maks. Er drehte den Kopf zur Seite und grinste, stieß sich vom Tisch ab und rannte die Treppe hinauf.

„Mist.“, schmunzelte Maks und legte den Kopf wieder gegen den Stein. Alleine mit den Gedanken, doch sie schwiegen, riefen keine Erinnerung ab an das, was passierte, nur die Schnäbel der Venenjäger, die vorbei flogen, wenn er die Augen schloss.

Den Zwiespalt verdrängt.

 

Die Kellertür schlug auf und mit tapsigen Schritten lief der Junge wieder die Treppe herunter. Schwere folgte ihm, ein Knie, ein humpelnder Körper.

„Hagame!“, rief Maks freudig, als er ihn sah und stemmte sich empor. Die Ketten rissen ihn wieder zu Boden. Hagame streichelte ein Munja auf das Brett neben dem Gitter, es löste die Handschellen und öffnete die Tür. Er trat ein.

Der kleine Junge setzte sich wieder auf den Tisch und beobachtete sie. Hagame kam näher, erleichtert ließ er Maks in seine Arme fallen.

„Ich dachte du wärst...“, gruben sich die Hände fester in den Stoff.

„Ich?“, lachte er auf, „Wenn ihr so weiter macht, werd ich euch alle noch überleben.“, legte er die Schulter auf ihm ab. Erschrocken zuckte Maks zurück und sah ihn mit großen Augen an, das spanische Grün schlich sich in die Iris. Das wollte er doch gar nicht, realisierte er seine Reaktion und vernahm die Verbände und Wunden die Hagame zeichneten.

„Was ist passiert? Wie geht es dir?“, lehnte Maks sein Gewicht zu ihm.

„Mach dir um mich keine Sorgen.“, stützte er sich ab und landete auf dem schwarzen Sack. „Da hast du Gemal ganz schön imponiert oder?“, griff er nach dem festen Stoff und rieb ihn zwischen den Fingern. Er zwang sich ein Lächeln ab. Erhob die Hand und hielt sie näher in Maks Richtung. Er spürte, wie die Wärme der Hand seinem Körper näher kam, bis ein Schild sie aufhielt und sie ihn nicht spüren ließ, als würde sie auf der Haut ersticken. Er zuckte nach hinten und schaute Hagame wehleidig an.

„Weißt du, was passiert ist?“, fasste Hagame um seinen Unterarm und hielt ihn auf der Position. Maks schüttelte den Kopf, er versuchte, sich die Erinnerungsfetzen in das Gedächtnis zu ziehen, doch scheiterte.

„I-ich“, kam es über ihn und die Tränen brachen ihm aus.

„Hey, hey. Wenn du ein Inku werden willst, solltest du da drüber stehen, schließlich lebst du noch.“, sprach Hagame ihm ruhig zu und hielt das nahende Tränenmeer auf.

Maks schluchzte, „Ich habe den Seraphen beklaut, ich werde sich kein Inku mehr!“

„Der Seraph ist ein gütiger Mann Maks. Er steht für uns alle, vergiss das nie.“, änderte sich Hagames Tonfall strenger. Beschämt legte Maks den Kopf nach unten.

„Ja“, räumte er kleinlaut ein.

„Was war das Letzte, was du weißt?“, wiederholte Hagame die Frage.

„Ich war in einem Tunnel mit Luca. Wir brachten das Buch seinem Großvater, er zeigte mir seine neuen Syncs und ließ mich dann mit ihnen trainieren.“, räumte er ein.

„Was hat er dann gemacht?“

„Ic-Ich weiß es nicht.“, suchten Maks Augen hoffend einen Blick, der verriet, dass die Sühne getilgt war, doch nichts als Wehmut stach aus Hagames Augen.

„Ich bin erst einmal froh, dass dir nichts passiert ist und jetzt bringen wir dich nach Hause ok?“, grinste er ihn an und fasste ihm unter die Arme. Beine schaukelnd schaute der Junge ihnen nach, wie sie die Treppenstufen hinauf humpelten. Sie erreichten das Erdgeschoss des Tränenturmes. Der steinerne Turm ragte wie ein Schandmal hinter ihm auf. Er senkte den Kopf.

„Komm“; sprach ihn Hagame Mut zu und schubste ihn weiter in Richtung des Haupttores. Am Tor warteten zwei finsterblickende Wachen und verfolgten seine Bewegungen. Die braunen Haare, der sture Blick, Kawi. Nase rümpfend sahen sie Maks zu, wie er an ihnen vorbei huschte, vor dem Tor kniete sich Hagame zu Boden und begab sich auf seine Höhe.

„Du wirst bis zur Elohim im Krankenhaus bleiben, haben wir uns verstanden?“, ermahnte er Maks.

„Ja“, nickte er den Kopf bestätigend. Die Augen formten sich größer, „Was ist mit Luca?“, sah er zu Hagame auf. Er drückte die Lippen aufeinander.

„Weißt du Maks, manchmal kommen Menschen auf einen anderen Weg. Sie gehen ihn immer weiter, weil sie zu spät bemerkt haben, dass die Richtung nicht passt. Die Angst hindert sie umzukehren und doch finden sie so niemals heim.“

„Das heißt, er ist.“

„Untauglich gemacht worden.“, beendete Hagame den Satz. Wehmut setzte sich in seine Augen. „Nun geh, ich muss mit dem Seraphen reden.“, schickte er Maks die Straße herunter. Das Dorf war menschenleer und der Dorfplatz geräumt. Er hatte doch ihre Stimmen gehört, suchte er nach einem Lebenszeichen von ihnen. Doch selbst die sonst huschenden Gardinen hingen seelenruhig über der Fensterbank.

Er stieg die Treppen des Krankenhauses auf und positionierte sich vor dem Eingang. Ihr Sensor erkannte ihn nicht, er hob den Arm, wank in Richtung Rezeption. Eine junge Frau rückte ihre Hornbrille zurecht, starrte durch die Fensterscheiben und winkte zurück. Maks trat ein.

„Du musst sicherlich Maks sein.“, erhob sie sich von ihrem Stuhl und kroch durch eine Luke in der Rezeption in die Eingangshalle. Der Tresen vergrößerte sie.

„Folge mir, wir haben ein Zimmer für dich vorbereitet.“, geleitete sie ihm in den rechten Korridor. Ihr Pferdeschwanz wippte bei jeder Bewegung zur Seite. Sie riss eine Tür auf, „Hier durch bitte, freimachen und hinlegen. Die Ärztin kommt gleich.“, sprach sie juxend, ließ die Tür offen und peste zurück an den Schalter.

Maks setzte sich auf die Liege, er streichelte über das warme Leder und sah sich im Raum um, er streifte sich das Shirt herunter und ließ es daneben fallen.

 

Nach fünf Minuten stand er auf, zog sich sein Shirt über und ging in Richtung des Korridores. Spähend in Richtung der Eingangshalle, schwenkte er den Blick auf die andere Seite.

„Hat die Schwester nicht zu dir gesagt, du sollst warten?“, schob Mikal ihn zurück in das Zimmer, „Hat sie doch oder?“, verringerte sie ihre Lautstärke und spähte auf den Korridor. „Egal. Hinsetzen bitte.“, drückte sie ihn auf die Liege. Verlegen zog Maks das Shirt aus und legte es ab. Ihre warmen Finger schmiegten sich an Maks Hals, sie fühlte den Puls. Die andere Hand legte sie auf seiner Brust ab und hob sie mit jedem Atemzug. „Das hört sich gut an“, löste sie die Finger, „umdrehen bitte.“ Maks reckte den Körper zur Seite. Das straffende Fleisch der Wunden spannte. Sie inspizierte die Verletzungen und strich mit den Fingern über sie rüber. An einer drückte sie Finger weit auseinander, als versuchte sie, den Schnitt wieder aufzureißen. Sie stand auf, ging an den Schrank und zog eine Nadel heraus. Sie steckte sie auf, „Bleib ruhig.“, zog sie sich die Handschuhe über und ließ eine Hand auf seiner Schulter nieder. Ein Stich drang durchs Maks Körper. Sie pumpte die schwarze Galle unter dem Schnitt in die Röhre, zog die Nadel heraus und kratze mit dem Fingernagel den rostbraunen Schorf herunter. Sie ließ die Hand von der Schulter gleiten und starrte gegen das Licht auf die schwappende Flüssigkeit.

„Du bleibst über Nacht hier.“, verzog sie das Gesicht, zog die Nadel der Spritze ab und legte die Kanüle im Kittel ab.

„Was ist mit mir?“, sah Maks sie mit großen Augen an.

Mikal schmunzelte und trat wieder einen Schritt näher an ihn heran. Sie griff nach seiner Hand, drehte sie um und zeigte ihm die Handflächen. Anstatt der Wunden und Schnitte zog sich blasses Narbengewebe über die Haut.

„Du kannst dich an sie erinnern?“

Maks nickte. „Was heißt das?“

„Ich weiß es nicht“, räumte Mikal ein, „Das ist aber etwas, was ich untersuchen werde. Zieh dich bitte an, die Schwester bringt dich gleich auf dein Zimmer.“, ließ sie die Hand los und schritt auf den Korridor.

„Mikal?“, sah ihr Maks nach.

„Dr. Mikal Kumani“, richtete sie den Blick streng in seine Richtung, „Ich habe noch nicht gehört, dass du ein Ami bist.“

„Das heißt, ich darf ...“, reckten sich seine Augen aus den Höhlen, „die Elohim antreten?“

„Hatte dir das Hagame nicht erzählt?“, sah sie ihn sichtlich überrascht an, ihr Atem stoppte. „Dann hab ich wohl gerade zu viel verraten.“, verzog sich ihr fragendes Gesicht, als sie das breite Grinsen, auf Maks seinen Wangen sah.

„Das ist der Wahnsinn!“, freute er sich. Mikal ließ die Tür in das Schloss fallen. Wackelnd vor Freude rüttelte Maks an der Liege.

Die Schwester schlug die Tür auf, „Zimmer 1-0-8!“, las sie vom Zettel in ihrer Hand ab. Verschreckt verzog sie das Gesicht, als sie den jubelenden Nackedei vorfand.

„So. Hab ich hier auch noch keinen gesehen“, feixte sie und griff ihm unter die Arme, „Komm, ich bring dich jetzt erstmal in dein Zimmer. Die Ärztin ist ein bisschen komisch oder? Ich hab ja Angst vor ihr ehrlich gesagt.“, brabbelte die Schwester weiter und schleppte ihn eine Treppe hinauf.

„Licht ist hier“, kippte sie den Schalter zweimal nach unten, einmal nach oben, „Und Abendbrot haben wir dir bereits hingestellt.“, zeigte sie mit der Handfläche auf das Tablett auf dem Tisch. „Toilette, Bett und eine tolle Aussicht. Später wird eine Schwester noch einmal nach dir sehen und Fieber messen. Einen angenehmen Aufenthalt!“, schwenkte sie die Hand wie bei einer Verbeugung vor ihrem Körper und verschwand aus dem Zimmer.

Maks schaute aus dem Fenster, anstatt der rauchigen Schlote der Fabrik erleuchtete vor ihm der Tränenturm. Der majestätische Schwung der Träne, das milchblaue Glas dass den Schein der Lichter auf den Verzierungen der Etagen tanzen ließ, wie ein zweiter Himmel, ein zweites Sternenglitzern.

Aufgeregte Schatten stolzierten in der obersten Etage des Turmes. Maks legte sich in das Bett, er richtete den Blick auf sein Zuhause, „Für den Seraphen“, grinste er, „Und Hagame.“, schloss er die Augen und versank im Schlaf.

0.22_Heimweh

0.22_Heimweh

 

„Jetzt bist du dran!“, stapfte eine dickliche Frau in das Zimmer. Sie trug einen weißen Kittel und streckte einen kleinen Apparat zum Fieber messen vor ihre Brust. Maks erschrak und wachte auf. Der pumpende Herzschlag ließ ihn nicht blinzeln. Er starrte sie an.

„Aufwecken wollte ich dich nicht, aber das muss jetzt gemacht werden.“, schritt sie auf ihn zu und hielt ihn den Apparat an das Ohr. „37,2°C“, zog sie das Gerät weg und legte es auf den Wagen im Flur.

„Brauchst du noch irgendwas?“, suchte ihr Blick noch einmal den Raum ab.

„Nein, danke.“, sagte er knirsch und ließ sich wieder zurück auf das Bett fallen. Er starrte an die hohe Decke, drehte den Kopf zur Seite und beobachtete das noch immer leuchtende Licht im Tränenturm. Er richtete sich, stand auf und setzte sich an den Tisch. Unter der Abdeckung des Tabletts drang der Geruch von gesalzenem Hülsenstrich, er hob sie hoch. Zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Käse, eine Schale mit Hülsenstrich und eine Tomate dazu, sie war winzig, gelb und süß im Geschmack. Maks tunkte das Messer in den Hülsenstrich und zog ihn über die Brotscheibe. Er biss von ihr ab, kaute angewidert auf dem Klumpen herum und behielt den Tränenturm fest im Blick. Das zweite Brot mit Käse, schluckte er in drei Bissen herunter, eine Tasse kalter Tee spülte die Reste aus der Speiseröhre. Doch der Hunger füllte nicht die Leere, die sich in seinem Bauch ausbreitete. Er durfte zur Prüfung. Doch für welchen Preis? Und welchen, würde er noch bezahlen wollen?

 

Er stand auf, mit einem Schuss Wasser ins Gesicht versuchte er, das Gedankenkarussell zu stoppen, doch wie die Zeit drehte es sich weiter. Maks legte sich zurück auf das Bett. Er zog die Decke über den Körper, die Fäuste blieben geballt unter ihr. Ein scheuer Blick zum Tränenturm, bemerkte er, was ihm fehlte. Der miefige Geruch, der sich in die Wände setzte, die Berge an Wäsche, die in den Ecken lagen. Der Geruch nach Sandelholz.

Er stützte sich auf, zog sich die Schuhe an und öffnete die Tür des Korridores. Ein überprüfender Blick zu den Seiten, schlich er sich in Richtung der Haupthalle. Vor dem Fenster der dicklichen Krankenschwester duckte er sich und kroch darunter hindurch. In der Eingangshalle herrschte Stille, keine aufgeregten Füße, die über die Fliesen trapsten, keine klagenden Rufe, nur ein leises Schnarchen. Er spähte um die Ecke auf die Rezeption. Ein älterer Mann mit schwarzgrauem Bart lehnte schlafend im Stuhl. Maks schmunzelte. Wie in der Prüfung glitten seine Füße lautlos über den Boden, hastiger, je näher er der Tür kam.

Der alte Mann schluckte laut. Er riss die Augen auf und ließ Maks seine erstarren. Er zog die gähnenden Augenlider größer und starrte auf den Bildschirm vor sich, dann fläzte er sich wieder zurück und schloss sie dösig.

Maks öffnete die Tür mit der Hand. Die Nacht trieb den Wind durch das Dorf, eisig, pfiff er unter Maks Kleidung, kroch tiefer und stellte die Haare auf. Er zog den Kopf dichter an den Kragen der Weste. Die Straßen waren leergefegt, dennoch drückte die Angst in Maks Nacken und ließ ihn sich nach hinten drehen. Doch außer die beleuchteten Fenster der reicheren Häuser, herrschte keine Bewegung auf den Straßen, keine Wachen, die patrouillierten, nur Stille. Er rannte vorbei an der Brücke, an dem ihm die Elohim erwartete und folgte dem modrigen Pfad zur morschen Treppe. Vor ihr, blieb er stehen, ein vermissendes Grinsen huschte über sein Gesicht, dann erklomm er die sie, trat auf die zweite Stufe.

Ein Geruch von abgestandener Milch und stinkender Wäsche schlug ihm entgegen, doch da war noch ein anderer. Reckte er die Nase und folgte dem Duft. Er verflüchtigte sich mit dem Wind, der durch die Tür fegte.

„Nelken!“, definierte ihn Maks. Doch außer ihm war niemand im Raum. Er legte sich auf die harte Matratze, schloss die Augen einen Augenblick und ließ den Halbkreis des Mondes am Fenstersims brechen. Im Chaos fand er die Ruhe.

 

„Weiter!“, riss er sich zusammen und stützte die Hände auf dem Bettlaken. Er griff unter das Bett und zog sein Halstuch hervor. Grinsend sah er es an und knotete es fest. Dann stand er auf. Die Gedanken an die Elohim schritten in seinem Kopf und trampelten wie eine Horde Gnus die guten Gefühle nieder. Er atmete tief durch und versuchte die ausströmende Kälte, die sich in die Knochen fraß, zu unterdrücken. Er schluckte, blickte sich noch einmal in der vermüllten Wohnung um, ging aus ihr heraus und lehnte die Tür an das Schloss.

0.23_Leidenskleid

0.23_Leidenskleid

 

Der eisige Wind zog kräftiger durch die Gassen Arians. Maks lenkte den Blick auf den Boden und schritt in Richtung des Dorfplatzes. Die schimmernden Laternen leuchteten ihm den Weg. Er schaute an die Fenster der anderen Häuser, Gardinen verdeckten die Sicht, doch weder Licht, noch Schatten erspähte er hinter ihnen, nur ein leichtes Wedeln der Gardinen im Strom der Heizung. Er wandte den Blick wieder nach vorne. Unter einer Laterne bewegte sich ein Schatten eilig auf ihn zu.

„Wachen?“, beobachtete er die Bewegung, bevor seine Augen hektisch ein Versteck suchten. Die Gestalt kam näher und aus dem Saum der Nacht erschien Marek vor ihm.

„Du elender Verräter!“, riss er die Faust nach oben, versenkte sie in seinem Gesicht und drückte ihn zu Boden. Schnaufend lag er auf ihm.

„Stimmen die Gerüchte?!“, packte er die Weste und umklammerte sie fest.

Maks schaute in die zornigen Augen, ihre Wut blendete ihn. Er fixierte seine Füße, merkte wie der kalte Schweiß im Körper aufstieg.

„I-ich hab dir nichts zu sagen.“, schmerzten ihm die Wangenknochen beim Reden. Marek schüttelte ihn heftiger, ließ die Augen Feuer fangen.

„Ich will wissen, ob du ein Verräter bist!“, griff seine Hand nach Maks Kiefer. Die Kraft zerdrückte fast die Knochen. Der kalte Schweiß legte sich nieder und sog wie ein Schwamm die Kälte in den Körper und diffundierte in die Gebeine.

„Hör auf!“, schrie Maks Stimme mit dumpfem Klang. Er riss die Hand nach oben, quetschte sie gegen Mareks Kiefer und versuchte ihn von sich zu lösen. Impulsartig schoss die Kraft in den Arm und drückte ihn zur Seite.

„Ich“, knurrte Marek, rappelte sich auf und stürzte sich mit einem Faustschlag auf ihn zu. Maks tapste zur Seite und wich dem Schlag aus. Er sah ihn an. Und Mareks Wut sah in die spanischgrünen Iris von Maks. Ließ die Wut der Furcht weichen.

Angst!, witterte die Nase und ließ ihn die Faust ballen.

Er schreckte zurück, kämpfte gegen die Reaktion an und ließ Marek einen Augenblick zum Kontern. Er zog ein drahtiges Schwert hervor und stürzte zorneserfüllt auf ihn nieder. Maks Körper zitterte. Nicht die Angst, die sie hervorrief, sondern die Anstrengung der Gegenwehr, ließen die Hände auf den Boden zeigen. Er schloss die Augen, wie ein Hase vor dem Riss des Menschen.

„Hast du in der Schule nichts gelernt?“, ertönte Mikal ihre Stimme unter dem Nachthimmel. Maks öffnete die Augenlider, durch den tränenverhangenen Vorhang ordnete er die Konturen. Die Klinge stoppte eine handbreit vor ihm. Mikal umgriff Mareks Handgelenk und zog den Arm in ihre Richtung.

„Regel 61; keine Gefährdung von Dienstunteren!“, klaffte sie ihn an. „Aus dem Clan der Ridaks hatte ich eigentlich mehr erwartet“, ließ sie die Hand los und ließ das Schwert zu Boden fallen. „Geh nach Hause, bevor ich diesen Vorfall melden muss“, mahnte sie ihn an und löste ihn aus der Starre.

Er griff zu Boden, fischte sein Schwert auf und verschwand über die Straßen in der Dunkelheit.

Taumelnd stand Maks vor ihr. Der Augenaufschlag dauerte länger, die Geräusche in den Ohren pressten sich in den Kopf hinein.

„Und du solltest eigentlich im Krankenhaus sein.“, hörte er ihre Stimme verzerrt blechern. Sie griff ihm an die Schulter. Das Fiepen stoppte. Der Augenaufschlag normalisierte sich. Er erwachte aus der Paralyse.

„Wie-wieso?“, sah er in ihre rehbraunen Augen.

„Nennen wir es Geleitschutz bis zur Elohim, das beantwortet meine Frage aber nicht.“

„I-ich“, zottelte er am Kragen der Weste und zog das Halstuch heraus, „Ich hatte Heimweh.“, sah er sie mit großen Augen an.

„Von deiner Mutter?“, richtete sich ihr Blick verlegen auf ihn. Er nickte.

„Sie war eine tolle Frau.“, schmunzelte sie ihm entgegen.

„Du. Ich meine, Sie kannten sie?“

„Nicht nur kennen, ich kenne niemanden, der sie nicht mochte.“

Und zum ersten Mal seit langer Zeit durchströmte ihn ehrlicher Stolz. Er zog das Grinsen breiter.

„Fühlst du dich gut?“, legte Mikal die Hand auf die Schulter und löschte das Grinsen von den Lippen.

„Wie soll ich eigentlich trainieren bis morgen?“, sah er sie entschieden an.

„Gar nicht“, zuckte sie mit den Schultern, „Du sollst dich ausruhen und dich nicht gleich wieder verletzen. Komm jetzt.“, führte sie ihn über die Straßen. Die vorbeikommenden Wachen grimmten Maks an, begrüßten Mikal freundlich. Zuckten bei den Ersten noch die Beine ängstlich nach hinten, gewöhnte er sich an Mikals strammen Gang durch das Dorf. Hielt selbst bei einer Begegnung das Tempo.

Auf dem Pfad zum Krankenhaus sah Maks sie schüchtern an. „Fühlen sich alle Menschen so kalt an?“, brach es aus ihm heraus.

„Wie meinst du das?“, schwenkte sie den Blick zu ihm und blieb stehen.

„Manchmal wird mir eisig kalt. Dann hab ich furchtbare Angst und weiß nicht mehr was ich machen soll.“

„Fühlst du dich grade so?“

Er schüttelte den Kopf.

„Dann ist doch alles in Ordnung. Ich glaube, du wirst einfach nur erwachsen Maks.“

„Erwachsen?“, sah er sie ungläubig an und erinnerte sich an die Dunkelheit. Mikal setzte den Weg fort.

„Ich glaube, wenn du älter wirst, ändert sich nie dein Befinden, du lernst nur, anders damit umzugehen und zu wissen, dass die Kälte nicht ewig im Körper bleibt.“

„Das heißt, sie geht irgendwann weg?“

„Vielleicht.“, sah Mikal wehmütig zu Boden.

„Jetzt geh bitte rein und melde dich bei Schwester Mariat, sie ist krank vor Sorge.“, schob Mikal ihn die Stufen des Krankenhauses hinauf und beobachtete ihn dabei, wie er hinter der Tür verschwand. Sie drehte sich um und ging.

 

Im Korridor hallten bereits die kräftigen Schritte von Schwester Mariat. Bestürzt kniete sie sich auf seine Höhe.

„Was hast denn du gemacht?“, tastete sie über die Quetschungen an der Wange. Sie griff nach seinem Arm und zog ihn über den Flur in sein Zimmer.

„Du ziehst dich schonmal aus, ziehst den Kittel an und legst dich in das Bett. Ich hole kurz das Fieberthermometer und ein Kühlpack.“, ließ sie die Tür offen stehen und lief brabbelnd in das Schwesternzimmer. Maks streifte die Weste aus, zog sich das Shirt vom Körper und ließ den Kittel wie ein Kleid über die Arme gleiten.

„Ausziehen hab ich doch gesagt.“, kam Schwester Mariat wieder in das Zimmer und deutete mit dem Finger auf die Hose, die unter dem Kittel hervor blitzte. Grummelnd zog er sie aus und ließ sie an der Seite des Bettes herunter fallen.

„Seltsam“, näherte sie sich seinem Gesicht und drehte es zu sich. Die Hamartome waren verschwunden, was blieb, war die blasse Haut. Sie hielt das Fieberthermometer an das Ohr heran.
„36,8“, starrte sie auf das Display, „Scheint, als wärst du eher gesunder geworden.“, feixte sie und lenkte nur von ihrer eigenen Unsicherheit ab.

„Ich hab dir noch einen Tee hingestellt, falls du Durst hast und jetzt wird geschlafen.“, drückte sie die Lichtschalter herunter und schloss die Tür. Die Schatten ergriffen den Raum. Maks streifte die Bettdecke zur Seite und stand auf, er drückte die Tür des Badezimmers auf und ließ einen Spalt Licht in das Zimmer hinein. Es beruhigte ihn.

Der kratzige Dreck der Straße klebte an seinem Körper und rieselte auf das Bettlaken. Und auch das Gefühl des Versagens wich nicht aus dem Kopf. Er stand auf, ging in das Badezimmer, schmiss die Klamotten vor der Dusche ab und schrubbte den Dreck herunter.

Gebettet, in einem abgeklopften Bettlaken und einem frischduftenden Kittel legte er sich zurück. Die Bettdecke war dicker, als seine zuhause, sie ließ die Füße schwitzen. Er streckte sie hervor, drehte den Kopf zur Seite, starrte auf den Tränenturm und roch den Geruch von Sandelholz.

„Für meine Mama, den Seraphen, Hagame und Mikal.“, flüsterte er sich selber den Mut in das Ohr und schloss die Augen.

 

„Schläfst du immer noch?“, riss ihm Mikal die Bettdecke herunter.

„Was?“, schreckte er auf und sah in die erbosten Augen.

„Zieh dich an! Die Elohim beginnt in einer Stunde.“

Hastig schlug Maks die Beine auf den Boden und watschelte an Mikal vorbei in das Badezimmer. Er wusch sich das Gesicht und steckte sich die hölzerne Zahnbürste in den Mund.

„Ich bin in drei Minuten fertig.“, floss die Zahnpaste seine Mundwinkel herunter und schlierte auf dem Boden. Angewidert sah Mikal auf. Maks verschwand wieder im Badezimmer, spuckte aus und putzte das Waschbecken. Er bückte sich nach seiner Kleidung, griff in den triefend nassen Stoff und hob angeekelt die Hand.

„Ich hab nichts zum Anziehen.“, schaute er bedröppelt Mikal an. Sie rollte mit den Augen, spähte in das Badezimmer und sah die modernde Kleidung. Maks presste die Lippen aufeinander, blickte beschämt auf den Boden und sah den Fleck. Er griff nach der Hose und rieb ihn mit ihr ab. Erstaunt machte Mikal ihm Platz.

Analysierend schaute sie durch das Zimmer, griff zur Bettdecke und legte sie ihn wie eine Rüstung um die Schultern.

„Das reicht doch erst einmal.“, trat sie einen Schritt zurück und begutachtete ihr Kunstwerk.

„So?“, zeigte Maks an sich herunter und ließ die Hose wie einen Morgenstern in der Luft schwingen, bis sie mit einem platschenden Geräusch gegen das Bein schlug.

„Da hast du Recht, Schuhe solltest du dir noch anziehen.“, starrte sie auf seine wackelnden Zehen. Er schlüpfte in die Stiefel. Gewappnet für den Kampf, fühlte er sich nicht nach Krieg.

„Das wird schon gehen. Komm, wir müssen los.“, schob Mikal ihn aus dem Zimmer.

 

Auf dem Dorfplatz herrschte ein reges Treiben. Maks schaute sich um. Die Dekoration an den Häuserwänden und dem Platz fehlte, dafür waren die Menschen imposanter geschmückt. Edle Stoffe und Ketten verzierten ihre sonst so schlicht wirkenden Gewänder. Je reizvoller sie entgegen kamen, umso tiefer bohrten sich ihre Blicke auf die Haut. Maks zog die Schultern nach oben und wich ihrem missgünstigen Grinsen aus, doch ihr Lachen konnte er nicht überhören. Er zog die Bettdecke näher an den Hals heran und suchte bestätigend Mikals Blicke. Doch sie richteten ihren stur nach vorne, auf das Dach der Meilenschmiede. Maks streckte die Brust heraus, drückte die Schultern auseinander und ließ die Bettdecke herunter sinken.

„Dein Leidenskleid steht dir doch“; lächelte sie ihn an.

0.24_Im Bann

0.24_Im Bann

 

Sie erreichten die Brücke. Eine riesige Menschenschlange bildete sich über den Bauch hinweg, bis auf den Dorfplatz.

„Sind die alle wegen mir hier?“, fragte Maks, als Mikal die Menschenmenge auseinander schob, um auf die linke Seite zu kommen.

„Weißt du Maks“, schritt sie den schmalen Gang zum Tor entlang, „eine Elohim ist selten. Die Letzte fand vor acht Jahren statt. Nachdem der Mond sich blutrot verdunkelte.“ Sie zeigte auf einen Mann in einem dicken Mantel, der stark schwitzte. „Das spricht sich natürlich rum und deswegen kommen die Leute auch aus den unterschiedlichsten Regionen wieder nach Hause. Noziak zum Beispiel.“, deutete sie auf das dichte Futter des Mantels hin.

Sie erreichten das Tor. Schritten an den begrüßenden Wachen vorbei runter in den Keller. An der Tür rechts neben der Treppe blieb sie stehen.

„Such dir was aus.“, drückte sie die Tür auf und knipste mit einer schnellen Handbewegung das Licht an. Maks starrte in einen spärlich beleuchteten Raum. Kisten voller Klamotten, verblichenen Jacken und abgewetzten Stoffen füllten sich vor ihm. Mikal zog die Tür in das Schloss.

Träger Muff schlich ihm in die Nase. Er schritt auf die Kisten zu, drehte sie um und kippte sie auf dem kalten Steinboden aus. Er wühlte mit den Fingern die Stoffe auseinander, fand nur Zerschlissenes. Er stand auf, griff zur Nächsten und leerte sie über den Haufen aus. Wieder steckte er die Finger hinein und zog alte Shirts, fleckige Pullover und einen steifen Ärmel heraus. Rostfarbenes Blut bedeckte ihn. Angewidert hielt Maks den Pullover von sich weg, ließ ihn fallen und drehte sich um. Auf einer Kleiderstange, zwischen einer blauen Jacke und einem schachmusterbedeckten Umhang hing eine schwarze Weste. Er griff nach ihr und streifte sie sich über den Kittel.

Er zog die dritte Kiste heraus, kramte vorsichtig mit den Fingern in ihr und zog die Stoffe auseinander. Ein weißes Shirt strahlte ihn an, ein schmutzgrauer Strich prangte über der Brust, aber es war wahrscheinlich sauberer als der Rest, den er hier fand. Aus einem zusammengeschütteten Haufen zog er eine schwarze Hose und komplettierte sein Outfit. Die zu lange Weste zog er an den Seiten eng an, die Hose schlabberte von den Beinen ab.

„Maks bist du soweit?“, schielten zwei Augen durch die sich öffnende Tür.

„Hagame!“, schrie Maks und rannte auf ihn zu. Mit einer festen Umklammerung legte er den Griff um seinen Hals.

Hagame verlor das Gleichgewicht und kippte von der Wucht mitgerissen nach hinten.

„Wie geht es dir?“, richtete er sich wieder aufrecht.

„Super! Jetzt kann gar nichts mehr schief gehen!“, präsentierte er sich. Hagames Lippen überflog ein bescheidenes Lächeln. „Weißt du Maks, ich bin stolz auf dich.“

„Ich weiß“, nickte er ihm zu, „Und deswegen schaff ich das auch!“

Hoffnung lag in Hagames Blick, „Stimmt.“

Er führte ihn aus dem Raum heraus und schritt mit ihm die Treppen empor. Am Eingang des Tores wartete Luna auf ihn. Sie rannte auf ihn zu, presste ihre Arme fest um den Hals und ließ den Körper zweimal zucken. Sie sah ihn nicht an, drehte sich zur Seite und verschwand in Hagames Armen.

„Warum?“, drückte sich ihre leiderfüllte Stimme in seinen Bauch.

„Er muss wenigstens einen Teil des Weges alleine gehen Luna.“, beruhigte Hagame sie.

 

Der Moderator hallte dumpf durch den Korridor. Die Klänge aus dem Inneren wurden lauter.

„Und hier kommt er!“, begrüßte er Maks im Eingang. Er stolzierte auf ihn zu, sein roter Umhang wehte nach und strich an ihm vorbei, „Viel Erfolg“, grinsten ihm die weißen Zähne hinterher.

Maks betrat die Kuppel. Die gleißende Sonne strahlte vom Himmel herunter und blendete ihn. Er hielt sich die Hand vor die Augen und spähte durch die Ränge. Die Loge des Seraphen ragte wie ein tosendes Meer über den Rand der Kuppel. Dicht nebeneinander drängten sich die Masken mit der Magnoliablüte. Die Inku versperrten mit ihren Schwertern, Lanzen und Stäben den Weg an den Seraph heran. Maks schwenkte durch die Ränge, die Gesichter verschwommen zu einer breiigen Masse. In den Ohren ließ er ihre Töne verstummen, richtete den Blick auf die Plattform und betrat sie.

„Befehl Elohim!“, klang es siegessicher aus seiner Kehle und ließ das System das Terrain emporfahren. Das Klatschen aus den Massen erlosch, die Bewegung im Außen. Ein trister Boden formte sich unter ihm. Vereinzelte Grasnarben und ein Baum dekorierten die Steppe. Abgeschlagenes totes Holz, lag auf dem Boden. Wie Kratzspuren zeichneten sich auf den Stücken ab. Dunkelheit schmiegte sich um Maks, doch das Dach der Kuppel blieb hell. Er schenkte dem Blick noch einmal zum Seraph, er stützte den Kopf auf das Kinn und beobachtete ihn gespannt.

 

Ein Klicken öffnete das Tor auf der Nordseite. Ein schweres Stapfen hallte aus dem Korridor. Ein Fauchen, bebte es im Inneren der Kuppel. Der Schall drückte gegen Maks Ohren und raubte ihm die Orientierung. Er hielt sie sich zu, sah auf den Tunnel. Aus der Dunkelheit schoben sich handgroße Pranken hervor und wirbelten den Dreck am Boden auf. Vier Beine, einen Schwanz der in Richtung Maks peitschte und Ohren wie Pinsel.

„Ein Lizar!“, schoss ihm das Bild aus der Bibliothek in den Kopf. Das Fell schien trübgrau, dazwischen zogen sich weiße Leylinien, sie pulsierten im Takt der Bewegung und verschleierte die Kontur wie eine Horde Zebras.

Wie in einer Menagerie schlenderte er um Maks herum. Er riss das Maul zur Seite und fletschte mit den spitzen Fangzähnen. Die Hinterläufe schabten das letzte Gras zur Seite, er drückte sie zusammen und sprang ab.

Vor seinem Gesicht riss er die Pranke hervor. Maks rollte sich mit der Bewegung der Klaue und landete auf dem Boden. Er starrte ungläubig auf seine Hände, dann wieder in die toten Augen. Die andere Pranke schoss nach vorne und fuhr die Krallen aus. Die Fangzähne fletschten hinterher. Maks wich nach hinten und ließ den Sync ins Leere beißen.

„Er ist schnell“, sprach der Seraph zum Inku auf seiner Linken. Nickend bestätigte er.

Maks setzte zum Gegenschlag an, er ballte die Faust und drückte sie gegen den Kiefer der Bestie. Die stählerne Haut des Lizaren blockte die Kraft. Stemmend drückte er die Handflächen auf das kühlende Fell und schob den Körper von sich weg. Bedrohlich knurrend, legte die Bestie ihr Gewicht dagegen und nutzte die Chance der schwächelnden Energie. Er hob die Pranke und schlug mit voller Wucht in seine Richtung. Die Tatze erwische Maks an der Schläfe, die brachiale Gewalt ließ ihn in den Boden einschlagen. Die Fangzähne schnellten hinterher und drückten sich in den Armknochen. Ein lautes Knacken, ließ Maks einen schmerzerfüllten Schrei aus der Lunge aufsteigen. Die Augen des Syncs fokussierten ihn, der Kiefer schnappte nach und schob sich aufwärts Richtung Hals. Im Schulterblatt gruben sich die Zähne erneut in die Knochen und ließen sie splittern. Wärmend rann das Blut aus den Wunden und verteilte sich über die Schnauze des Lizaren.

Du brauchst mich.

Säuselte die Stimme in Maks Ohren, er schlug die Augen auf, fand sich in der schwebenden Finsternis wieder.

„Ich brauch dich nicht!“, schrie er ihr entgegen, zweifelte an ihrer Echtheit; an sich selbst.

Du wirst sterben, wenn du mir nicht zuhörst. Sieh doch an deine Schulter.

Vehement schüttelte Maks den Kopf, er wich dem Blick auf die Wunde aus, bis die Neugier ihm übermannte. Aus den Bissspuren des Lizaren tropfte eine schwarze Flüssigkeit in die Finsternis hinein. Wie Schlamm im Wasser löste es sich auf. Mit den Fingern tastete Maks über die Wunde und das quellende Fleisch. Doch Schmerzen erreichten ihn nicht. Ein Windhauch, der ihn streifte, ein beengendes Gefühl, dass das Herz langsamer schlagen ließ, als würde sich etwas nähern.

Du lebst nur noch durch mich.

Näherte sich die Stimme seinem Ohr und strich mit einem Windzug über die Schulter hinweg. Als würde ihr Echo sich im Raum verteilen, hallte sie nach.

„ICH BRAUCH DICH NICHT!“, schrie Maks abermals auf und ließ die Tränen, wie einen gebrochenen Damm aus den Augenhöhlen treiben.

Dann spüre den kriechenden Tod!

Mit einem Schlag schob sich der Schmerz der Verletzungen in seinen Kopf und ließ ihn gepeinigt aufschreien. Er ballte die Fäuste auf dem Boden zusammen, fasste sich an die Wunde am Schulterblatt und spürte, wie das Blut in Massen über seine Handflächen strömte.

Du wirst ein Nichts sein! Siechend gehst du von dieser Welt, wie du auf sie gekommen bist!

„Ich sieche doch schon.“, drückte er fester auf die Verletzung, rang sich ein Schmunzeln herunter.

Was ist mit deinem Traum?

„Ich scheiß auf die Prüfung!“, keuchte er schwerer atmend heraus.

Du weißt nichts mein Kind. Was erwartest du jetzt? Meinst du der Seraph wird dir helfen? Hagame? Sie werden dich sterben lassen, wenn du dich gegen mich wehrst.

„Dann sterbe ich für mein Dorf.“

Du wagst es! Was haben sie dir schon gebracht im Leben! Sie streuten dir Missgunst entgegen, zeigten ihren Hass und ließen die Wut der Jahre an dir aus.

„Sie lieben mich.“

Sie hassen dich!

Rückte die Stimme in der Dunkelheit zurück.

Ich muss nur warten, wenn die Angst vor dem Tod kommt. Wirst du vergessen, wer du warst. Sei es nur für einen Augenblick, du schließt die Augen und bettelst nach Erlösung. Ich habe hunderte von Menschen wie dich gesehen.

„Ich hatte schon oft Angst!“, rief er der nachklingenden Stimme hinterher.

Angst ist nicht dasselbe wie Furcht.

 

Die Luft in der Kuppel heizte sich auf. Kleine Funkenschläge sprühten durch die Luft aus Maks Körper ausgehend. Der Lizar schnappte erneut zu, setzte zu seinem tödlichen Biss an und schlug die Zähne in die Nähe des Halses.

Ja!

Drückten sich die Zähne des Lizaren in die Haut hinein, bis sie zurückzuckten. Er klapperte mit ihnen, versuchte, die Haut weiter zu durchtrennen, doch der Biss gestoppt, als würden die Knochen aus purem Granit bestehen. Er ließ ab und schüttelte den Körper aus seinem Maul heraus. Maks fiel zu Boden. Die Augenbewegung erloschen. Fast ängstlich stapfte der Lizar von seiner Beute rückwärts weg. Knurrend.

Die Luft lud sich weiter auf, ließ die geladene Energie auf den Körper des Lizaren niederregnen und durchdrang seinen stählernen Panzer. Wie bei einem Kurzschluss leuchteten die Leylinien stark auf, bevor sie erloschen und er auf die Seite kippte.

„Seraph!“, schrie Hagame an den Inkus vorbei in Richtung des Thrones.

„Ich seh es“, formten sich seine Augen staunender.

Die Wärme im Inneren der Kuppel nahm zu. Die Blitze schlugen wildlings in die Steine, in den Boden und in das Dach ein. Ein lautes Knacken ließ den stabilen Kunststoff brechen.

„Wir müssen ihn stoppen!“, rief Hagame ihm zu.

„Sie reden miteinander! Tötet es!“, zeigte der Seraph mit dem Finger auf Maks aufbäumenden Körper. Furcht formte sich in den Augen des Seraphen, als er die spanischgrüne Iris erblickte. Tosende Wut, die sich in Maks Pupillen sammelte und nach einem Ventil suchte. Der Riss im Dach der Kuppel vergrößerte sich mit jeder Sekunde, die verging.

„LOS!“, schrie der Seraph zu den Inku.

In diesem Moment öffnete sich das Tor der Kuppel. Mikal rannte in das Innere. Die Blitze schlugen auf ihre Haut ein und ließen sie aufschreien. Schützend hielt sie die Hände vor den Körper und bedeckte ihr Gesicht. Der Sturm wurde größer, je näher sie sich Maks näherte, ihre Schritte schwerer. Sie starrte nach rechts, auf die erloschenen Augen des Lizaren, starrte nach vorne, auf die blinde Wut.

„Maks wach auf bitte!“, schrie sie ihn an.

„Er ist fort.“, lächelten die toten Augen sie an. Die Wut sprengten die Ketten des Willens, die Maks Körper am Angriff hinderte. Wie ein aufziehender Sturm peitschte sie in Mikals Richtung. Maks Beine erhoben sich, er streckte die Hand nach vorne aus. Ein bösartiges Lachen dass seinen Rachen verließ.

„Willkommen zurück Kaa’sa“, lenkte der Seraph am Eingang der Kuppel die Aufmerksamkeit auf sich.

„Du traust dich, dich mir zu nähern?“, erfüllte die Stimme eine blanke Boshaftigkeit.

„Nein, ich bin hier, um den Jungen zu retten!“, preschte er nach vorne. Als wären die Blitze nur Funken prallten sie auf seiner Haut ab. Mit eiserner Miene stürzte er auf Maks Körper nieder und drückte ihn zu Boden.

„Du wirst mich nicht aufhalten können!“, zischte die Stimme wie eine Schlange. Doch der Körper wehrte sich gegen jede Gegenwehr.

„Ich nicht.“, legte der Seraph unbeeindruckt seine Handfläche auf den Brustkorb von Maks. Er zeichnete mit dem Finger sein Munja auf. Einen Strich nach oben, einen zur Seite, ein Dreieck darüber. In einem stumpfen Grün leuchtete es auf. Bis die verrosteten Augen von Maks sich schlossen.

 

„Wir müssen ihn in das Krankenhaus bringen!“, kniete sich Mikal neben den Seraphen und inspizierte die Wunden, die sich den Hals entlang zogen. Doch in seinem Blick lag nichts, was auf Hoffnung schließen ließ, nur Entschlossenheit.

„Wir können ihn retten.“, versuchte Mikal ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

„Wenn wir ihn leben lassen, wird er mehr als eine Bedrohung für unser Dorf sein.“, sprach er stoisch.

„Wenn wir ihn sterben lassen, werden wir es nie herausfinden.“, widersprach sie ihm.

„Dann übernehmt ihr für ihn die Verantwortung, euer Wort für seinen Kopf.“, löste der Seraph sein Munja auf, erhob sich und verließ mit den hereinströmenden Inku die Kuppel.

Mikal kniete sich über Maks. Das rinnende Blut konnte sie mit den Händen nicht mehr stoppen.

„Helft mir doch!“, schrie sie dem Dach der Meilenschmiede entgegen. Begeistert starrten die Massen aus dem Publikum auf sie herunter. Ratlos tauschten sich die Wachen untereinander aus, gemeinsam schritten die Inku mit dem Seraphen aus der Meilenschmiede heraus. „Helft mir doch bitte.“, flehte sie noch einmal.

„Bringen wir ihn hier weg.“, fasste Hagame ihr auf die Schulter. Beruhigt senkte sich ihr Atem und ließ ihn näher herantreten. Hagame schulterte den schwachen Körper von Maks.

„Lauf du schon einmal vor und bereite alles vor!“, sprach er zu Mikal. Sie nickte.

„Danke“, sprintete sie durch den Korridor voran.

0.25_Zerfall

0.25_Zerfall

 

Mikal riss die Tür des Krankenhauses auf:

„Leg ihn hier ab.“, zeigte sie auf eine bereitgestellte Liege neben der Tür, Maks Atmung verlangsamte sich weiter, die Augen fingen nur noch schwach das umliegende Licht ein. Zwei Schwestern schoben ihn den Gang entlang. Mikal rannte voraus.

Die Atmung versiegte.

„Wir müssen ihn schocken schnell!“, drehte sich Mikal um und zog die Liege in den Raum hinein. Sie hielt die Hände nach hinten und ließ die Assistentin ihre Handschuhe herunter ziehen. Ihre Haut zierten feine Leylinien. „Abstand!“, legte sie ihre Hände auf Maks Brustkorb. Er war kalt, wie schattiger Stahl an einem Sommertag.

Der erste Schock blieb erfolglos, der Zweite schoss die Hochspannung gezielter durch den Körper und ließ die umliegenden Muskeln des Herzens zucken. Er erwachte aus der Dunkelheit, die Schwestern geisterten wie Schemen um ihn herum, Mikal Konterfei, das er deutlicher sah.

„Danke.“, nuschelte er über die Lippen und versank im Schlaf.

 

Der Nebel der Finsternis verschwand um ihn herum und ersetzte sich durch ein grelles Strahlen der Deckenlampen. Auf dem Bett wand sich Maks zu den Seiten. Erschrak aus dem Alptraum. Sein Blick richtete sich aus dem Fenster, der Tränenturm ragte vor ihm in die Höhe und schob sein imposantes Bild vor die Augen, ein Klopfen hämmerte gegen die Tür.
„Du bist mir in letzter Zeit zu oft hier.“, betrat Hagame mit einem Tablett bewaffnet das Zimmer. Er stellte es auf dem Tisch ab und setzte sich zu Maks an das Bett. Er wich seinem Blick aus, starrte auf den Boden. Der Glanz verwischt, was bleibt jemanden übrig, wenn die Hoffnung mit den Träumen in einem Grab weit unter den eigenen Gedanken liegt. Man die Schuld und Schande nicht mehr begleichen kann. Und die Unheile über den Körper wandern, als wäre sie eine eigene Welt. Maks spürte den erhebenden Herzschlag in der Brust, wie er gegen die Brust drückte, ihn in zwei Hälften reißen wollte. Nur fern sein von diesem Fleck.

„Mir ist kalt Hagame.“, sprach Maks und hielt den Blick starr auf den Fugen.

„Ich weiß.“, legte er die Hand auf seine Schulter, er spürte, wie die Kälte in den Knochen nagte. Er stand auf, öffnete die Tür zum Korridor und ließ zwei Inku im Türrahmen erscheinen. Ihre Masken imponierten Maks. Ihre feinen Details, die sie zu einem unverwechselbaren Scheinen brachte, die grauen Linien, die sich zwischen der Magnolie zogen, die weißen Flecken an den Rändern. Sie traten zur Seite, öffneten den Weg für den Seraphen.
„Lasst ihr uns einen Augenblick?“, trat er ein und sah Hagame an. Er verschwand aus dem Zimmer, mitsamt den Inku.

Maks sah auf die braunen Schuhe, die über die Fliesen rutschten. Den rotbraunen Umhang mit goldener Naht.

„Du hörst sie nicht wahr mein Kind?“, stützte sich das Gewicht auf einen Stuhl. Apathisch nickte Maks mit dem Oberkörper nach vorne.

„Sie benutzt widerliche Worte, um dich in ihren Bann zu ziehen. Für einen Augenblick denkst du, du würdest verbrennen vor der Wut die in dir liegt und im nächsten Augenblick ist nur düstere Kälte, die sich ausbreitet.“

„Wo-Woher ...“, drehte Maks den Kopf zur Seite.

„Ich habe einst gegen sie gekämpft. Für euch, nur fehlte das Wohlwollen, das wir uns davon versprachen. Wir standen vor einem Trümmer, der auf der Welt hinterlassen wurde, nur ein riesiger Stein, der uns blieb und uns zwang hierzubleiben.“

„Wieso sind wir nicht weggezogen?“, fragte Maks nach.

„Weil es Verrat gewesen wäre“, schmunzelte der Seraph, „Wir haben diesem Land versprochen einen Nutzen zu haben; und deinen Eltern habe ich versprochen auf dich aufzupassen.“

„Meinen Eltern?“, schaute Maks auf.

„Ja“, lächelte der Seraph, „Sie waren zwei meiner besten Inku, bis sie dich gebaren. Ihre Sicht auf die Welt änderte sich, aus Vorsicht wurde Sorgsicht, aus Vertrauen Misstrauen, kapselten sie sich ab an den Rand des Dorfes. Sechs Jahre später, stürmte deine Mutter in mein Büro. Sie schmiss die Maske der Inku auf den Boden und warnte mich vor den Übeln, die über die Stadt herfallen. Doch ich misstraute ihr.“

„Das heißt, meine Eltern waren Inku und sie haben ihn nicht vertraut?“, riss Maks die Augen weit auf und drehte sich in die Richtung des Seraphen. Zwischen den Linien der Iris pumpte sich die rostgrüne Farbe.

„So ist es.“, senkte er wehmütig den Kopf, „Und ich habe es bereut.“

„Was ist dann passiert?“, stoppte Maks die Färbung.

„Kaa’sa fiel über das Dorf, das fressende Übel. Es raubte den Menschen die guten Gedanken und ließ nur die lodernde Gier und zerstörerische Wut zurück. Nur deine Eltern“, stoppte der Seraph. „Sie sammelten ihr Kräfte, nutzten die Energien der letzten Verbündeten, die sie um sich scharen konnten und versiegelten die Bedrohung in ihrem wichtigsten Besitz.“

„In ...“

„Dir.“, senkte der Seraph den Kopf.

„Aber warum?“, wanderten Maks Augen in eine leere Traurigkeit.

„Weil sie wussten, du könntest es beherrschen.“

„Kann ich das denn?“, schaute er auf seine zittrigen Hände.

„Ich wünsche mir, sie täuschen sich nicht.“, stand der Seraph auf und öffnete die Tür.

„Du bist ab jetzt einer von uns. Beweise es dir selbst. Tu es für das Dorf.“, erschienen die Masken der zwei Inku im Türrahmen und begleiteten den Seraphen. Hagame trat ein. Die Traurigkeit verflog für Sekunden. Maks stützte sich vom Bett ab, lief einen Meter auf ihn zu und schlang die Arme um seinen Bauch.

„Ich hab Angst.“, drückte er sich fester.

„Du bist sicher bei uns.“, schob er ihn wieder auf das Bett und ließ ihn Platz nehmen. „Kannst du dich noch an das Gedicht des grauen Mannes erinnern?“ Suchte Hagame nach Maks Blick. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und rezitierte.

„Geh! Geh! Grauer Mann, komm nicht mehr zurück.

Von den Jungen verachtet und geächtet vom Glück.

Geh grauen Mann geh! Seh bitte nicht mehr zurück!“

Hagames Lippen verwandelten sich ein Lächeln, „Ich bin ja begeistert, du hast dir also doch etwas im Unterricht gemerkt.“, grinste er ihn an, „Die zweite Strophe geht so:

Und wenn du gehst und deinen Weg nicht erkennst.

Vom Wissen gehemmt und die Erfahrung dich bremst.

Dann geh grauer Mann, geh, bleib nicht mehr stehen.

Die Hoffnung hat noch nie ferner geweht.“

„Was soll ich damit jetzt anfangen?“, suchte Maks den Blick zu ihm.

„Dir wurde etwas Großartiges gegeben. Eine Hoffnung, wieso solltest du sie also gehen lassen? Ein Ami steht für sein Dorf.“

„Ein Ami?“

„Sicherlich. Du hast die Prüfung doch abgeschlossen.“

Und übers Maks Gesicht zog sich Hoffnung und legte sich auf die lahmenden Knochen. Sie vertrieb den Sand, der zwischen den Gelenken knackte und erlosch die strömende Kälte in ihm.

„Das war ein Lizar nicht wahr?“, sah er ihn mit großen Augen an.

„Eines der stärksten Syncs, die die Tüftler jemals hervorgebracht haben. Die Manifestation von Kaa’sa, der wandelnden Wut. Woher weißt du das?“, formten sich Hagames Augen fragend.

„Ich hab es in dem Buch gelesen was wir aus dem Tränenturm geklaut haben.“, murmelte Maks.

Hagame schmunzelte, „Du hast mehr gelernt aus deinem Fehltritt, als nur das Erkennen des Lizaren. Nun ruh dich aber aus, ich hab dir noch jemanden mitgebracht.“

Verwundert sah Maks auf die Tür. Wer sollte ihn schon besuchen?

„Luna kommst du?“, rief Hagame aus dem Zimmer heraus und das kleine braunhaarige Mädchen stellte sich in den Eingang. Hagame stand auf und schritt aus dem Raum. Als die Tür sich schloss, stürzte sich Luna nach vorne und umklammerte Maks Hals.

„Ich bin jetzt ein Ami.“, sprach er durch den erdrückenden Griff.

„Ich weiß.“, lachte sie auf und presste die Arme stärker zusammen. Und in der finstersten Dunkelheit wird uns immer ein Licht geschenkt, wenn wir den Blick auch mal in die andere Richtung wenden.

 

Mikal drückte die Tür auf und trat ein.

„Oh“, bemerkte sie ihren falschen Zeitpunkt und trat einen Schritt nach hinten.

„Alles gut Mikal!“, begrüßte Maks sie.

„Du hast es also schon gehört?“, stutzte ihr Blick.

„Der Seraph hat es mir vorhin gesagt!“, strahlte er über die Wangen. Luna ließ von Maks ab und drehte sich zu ihr um.

„Alles Gute zur bestandenen Prüfung Luna.“ Streckte Mikal ihr die Hand entgegen, „Deine Leistung war beeindruckend.“

Freudig zogen sich ihre Lippen hinauf. „Danke“, sprach sie schüchtern und suchte den Schatten des Raumes.

„Also?“, suchte Mikals Blick wieder Maks.

„Was also?“, stutze er.

„Bist du in meinem Team oder nicht?“

„In welchem Team?“, formte sich Maks Blick fragender.

„Regel 17: Jedem Kuman werden drei Ami unterstellt. Er hat für sie zu Sorgen, sie zu trainieren, zu formen und auf ihren Geist zu achten.“, wand Luna ein.

„Danke.“, nickte Mikal die richtige Antwort ab und schwenkte fragend den Blick wieder zu Maks.

„Ja!“, schrie er auf und stützte sich vom Bett ab, „Bin ich mit dir in einem Team?“, schaute er zu Luna. Sie schüttelte den Kopf.

„Wer dann?“, sah er zu Mikal.

„Du kennst sie.“, grinste sie.

0.26_Aufbruch

0.26_Aufbruch

 

Auch Luna ging und ließ Maks alleine zurück im Zimmer. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, starrte freudig grinsend an die Decke. Sein Magen knurrte, er prüfender Blick auf den Tisch, auf das Tablett. Der Erfolg schmeckte gut, verbitterte, als er an seine Eltern dachte. Ihr Leid für sein Leben.

 

Er bestrich das zweite Brot mit dem Hülsenstrich und stopfte es sich in den Rachen. Das Messer legte er auf dem Teller ab und ließ sich zurück in die Federn fallen. Er schloss die Augen, mit jedem Aufschlag länger und spürte wie sich das starre Gefühl in den Knochen ausbreitete und es ergriff. Am Herz drückte, als würde Kaa’sa mit den Fingern klopfen.

„Ich wünsche mir, sie täuschen sich nicht.“, wiederholte er die Worte des Seraphen im Kopf. Wirr schlugen die Wörter gegen die Schädeldecke und verformten sich, „Ich wünsch mir, ich enttäusche sie nicht.“, konzentrierte er sich, atmete tief durch und hielt die Augen geschlossen. Die Nacht sprach nicht mehr und hielt den Schatten der Kälte zurück.

 

Ein Klopfen an der Tür weckte ihn, verschlafen öffnete er die Augen und beobachtete wie sich der Türspalt weiter aufschob.

„Bist du fertig?“, schob sich Mikal ihr Körper in den Raum hinein, eine Schwester folgte ihr. Maks stülpte sich in die Hose, das T-Shirt darüber und die Weste um. Er stolperte halb, als er in die Schuhe schlüpfte, Mikal zuckte zurück.

„Klar! Du sprichst hier mit mir!“, freute er sich mehr darüber, dass er den zweiten Schuh anbekam. Sie verschönerte ihren starren Blick mit einem Grinsen.

„Dann los“, nahm sie der Schwester den Bildschirm aus der Hand, unterschrieb auf ihn und streckte es ihr wieder zurück. Der gelbe Korridor war verziert mit Bildern, Gemälden, Maks hatte sie gestern nicht bemerkt. Landschaften, Malereien von Animas und Syncs, eine Anatomie eines Herzens mündeten sie in der Haupthalle. Mikal drückte die Türen des Haupteinganges auf. Die Sonne blendete ihn. Er hörte wie sie die Treppenstufen herunter schritt; und eine Stimme.

„Da bist du ja endlich“, keifte Sika.

Maks senkte den Blick, hinein in den Schatten. Angelehnt an der Säule der Treppe lehnte sich Marek. Er stützte sich mit einem Bein ab und wippte.

„Zeit wurde es, ich dachte, wir hätten dich verloren“, sprach er abfällig und drückte sich ab. Maks hetzte hinter Mikal die Treppen hinunter.

„W-was soll ich denn mit denen?“, brabbelte er und streckte die Hände fragend vor seinem Körper aus.

„Tolle Begrüßung. Regel 17 du Idiot“, motzte ihn Sika an.

„Tolle Begrüßung“, äffte er sie nach. Sie bestrafte ihn mit einem Blick.

Mikal setzte nach, ihr Blick durchtrieb seine Knochen.

„Kannst du sie benennen?“, fragte sie scharf nach.

„Äh. Ähm. Jedem Kuman werden drei Ami unterstellt. Er hat für sie zu Sorgen, sie zu trainieren, zu formen und auf ihren Geist zu achten.“, zitierte er Lunas Worte und versuchte ihre befehlenden Rhythmus der Stimme zu behalten.

„Wenn du es weißt, wieso fragst du dann?“, verschränkte Sika die Arme vor ihrem Körper. Spottend stieß Marek auf.

„Gehen wir“, schritt Mikal die Straße zum Tor des Dorfes hinab. Maks trottete hinter ihnen her.
„Ein Team?“, brabbelte er vor sich hin und dachte nach. Seine Schritte wurden langsamer, er blickte auf.

„Hey! Wartet doch!“, trabte er hinterher. An der Pforte nickten zwei Wachen ihren Aufenthalt ab und gewährten ihnen Austritt in den Wald. Sie verließen die geschotterten Straßen, liefen über einen Trampelpfad, der aus Lehm und Matsch bestand.

„Also? Was ist unsere erste Mission?“, drückte sich Maks fragend in Mikal ihren Rücken. Launisch knurrte sie.

„Ach man“, ließ er den Kopf sinken, die Füße langsamer werden und sich wieder nach hinten fallen. Ein spöttisches Grinsen huschte über Mareks Gesicht, als er sich umdrehte, um die Distanz zwischen ihnen zu überprüfen. Mikal schob ein paar, auf den Weg gewachsene, Äste aus dem Weg und öffnete den Pfad auf die Lichtung dahinter. Ein karges Fleckchen Erde, Maks blickte sich um, es wirkte so trostlos. Ein alter Baumstamm und ein Stein. Sie näherten sich dem Fels, rotbraune Spritzer übersäten ihn. Mikal ihre Schritte verlangsamten sich, sie suchte mit den Augen eine Stelle die weniger der Flecken besaß, lehnte sich dagegen.

„Also“, forderte sie ihre Aufmerksamkeit ein, „Stellt euch mal vor, ich will ja schließlich wissen mit wem, ich es hier zu tun habe“, grinste sie den Dreien entgegen.

Wie ein Pfeil schnellte Sika aus dem Rudel hervor, drückte den Rücken durch und suchte fest den Halt am Boden.

„Sika Tyren. Und ich naja. Ich schätze meine Eltern stolz machen!“, strahlte sie.

Mikal lehnte sich ein Stück weiter nach hinten.

„Aus dem Riman Clan also“, wandte sie den Kopf zu den anderen Beiden, „Ihr Großvater war der erste Retter, den wir in diesem Dorf hatten“, sprach sie stolz zu ihnen, doch Maks war eher damit beschäftigt, den abfälligen Blicken von Marek auszuweichen.

„Und du?“, unterbrach Mikal ihr Gefecht.

„Ridak“, trat er einen Schritt nach vorne, „Marek“.

„Die Reißer von Noziak“ nickte sie seine Worte ab, „Du hast das Gesicht deines Vaters. Und was willst du?“, starrte Mikal in zwei felsenfest entschlossenen Augen.

„Gewinnen.“, schürte sich sein Blick.

Maks Augen rollten über sein Gesicht, Sika ihre begannen zu funkeln.

„Maks Thubai und ich will gern Inku werden. Der Beste!“, stoisch blickte er zu Mikal und beobachtete wie ihre Augen nach rechts wanderten, strenger zog sich der Blick. Mit einem Prusten brach es aus Sika heraus.

„Ok“, lachte sie lauthals los. Sie presste ihre Hand auf den Mund und plusterte die Wangen auf. Mehr weil sie den starren Blick von Mikal bemerkte als vor Scham.

„Ok“, drückte sich Mikal vom Stein ab, „Dann weiter.“

„Wie das wars?“, trottete Maks ihnen hinterher, „Und was machen wir jetzt?“

„Ihr?“, drehte sie sich noch einmal um, „Lernt erstmal, für das Dorf zu arbeiten.“, grinste sie frech.

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Tag der Veröffentlichung: 09.11.2020

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