Lizzy Waters
Was mir fehlt
Romantasy
Verlag:
BookRix GmbH & Co. KG
Implerstraße 24
81371 München
Deutschland
Cover: Katja Hemkentokrax
Lektorat: Stephan Berg
Korrektorat: Astrid Jones
Buchsatz: Evelyn Zimmermann
Text: Lizzy Waters
Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Danksagung
Lizzy Waters
Für alle, die nicht wissen,
wie nah sie ihren Träumen sind.
Kapitel 1
Piep.
„Ich sagte doch, sie wacht heute auf.“ Die dunkle Stimme ist direkt neben mir, aber ich kann die Augen nicht öffnen. Ein holziger Duft lässt Wärme durch mich hindurchströmen. Wer ist da?
„Du hattest recht. Geh jetzt, du bist noch nicht bereit.“
Ich stöhne. Die gedämpften Stimmen fühlen sich an wie Presslufthämmer, die durch meinen Kopf dröhnen. Eine Tür öffnet und schließt sich.
Piep.
Mit aller Anstrengung schaffe ich es kurz, die Augen zu öffnen, aber das gleißende Licht lässt sie mich sofort wieder schließen. Wo bin ich? Panik steigt in mir auf und mein Puls rast. Ich kann weder meine Beine noch meinen rechten Arm spüren. Jeder Atemzug schmerzt, als würde ein Bus auf meiner Lunge stehen. Verdammt, was ist los mit mir?
Piep.
Meine Rippen tun höllisch weh, doch das Schlimmste ist der stechende Schmerz in meinem Kopf.
Piep.
Ein metallischer Geschmack in meinem Mund lässt mich trocken schlucken, da holt mich der Schlaf wieder zurück.
Erneut öffne ich die Augen und blinzele krampfhaft. Neben mir raschelt etwas und ich bewege meinen Kopf in Zeitlupentempo nach rechts. Mit all meiner Energie kämpfe ich gegen die Erschöpfung an. Neben mir sitzt eine große Frau, die sich mit gerunzelter Stirn über mich beugt. Sie legt eine Hand auf meinen Arm. Wieso kann ich sie nicht spüren? Mein Atem geht schneller. Das lange blonde Haar der fremden Frau fällt ihr glatt über die Schultern und ein beruhigender Duft geht von ihr aus. Ist das Lavendel? Aus großen braunen Augen lächelt sie mich an.
„Wer sind Sie?“ Meine Stimme klingt rau und brüchig. Es fühlt sich an, als hätte ich Jahrzehnte kein Wort gesagt.
Ihr Lächeln wird breiter. „Schatz, du hattest einen Unfall auf der Straße“, sagt sie mit einer wunderbar ruhigen Stimme, es klingt fast, als würde sie singen. „Ich bin so froh, dass du wach bist. Du lagst elf Tage im Koma.“ Ihre Worte sind klar und deutlich, doch der Sinn dringt nicht zu mir durch. Ich weiche ein wenig zurück, denn dafür, dass ich sie nicht kenne, ist sie ganz schön nah. „Wer sind Sie?“, frage ich erneut, diesmal mit kräftigerer, aber immer noch rauer Stimme.
„Schatz, das hast du mich gestern auch schon gefragt. Ich bin Keyla, deine Mutter. Kannst du dich denn nicht daran erinnern?“
Langsam schüttele ich den Kopf, zucke aber im selben Moment zusammen. Mein Gehirn wummert gegen meine Schädelwand. Verdammt.
„Die Ärztin meinte, du leidest an einer vorübergehenden Amnesie“, spricht sie weiter, „aber das kommt sicher alles in Ordnung. Dir wird nach einiger Zeit alles wieder einfallen, glaub mir.“
Träume ich noch? Ich blinzele und schaue mich in dem hellen Zimmer um. Der Schmerz fühlt sich ziemlich realistisch an.
Ich wende mich wieder der Frau zu. Mit aller Kraft denke ich nach, doch ich kann mich an kein letztes Aufwachen erinnern. Lügt sie? Nein, wieso sollte sie das tun? Sie sitzt immerhin an meinem Krankenhausbett. Aber was, wenn sie wirklich die Wahrheit sagt?
Ich atme vorsichtig ein. „Sie, äh … du meinst … ich kann mich an nichts erinnern?“ Ich krame nach der Erinnerung, die erklärt, warum ich hier liege. Nichts. Stattdessen packt mich eine überwältigende Müdigkeit.
„Ja, so in etwa“, sagt die Frau, die behauptet meine Mutter zu sein, und lächelt mich aufmunternd an. „Leider muss ich schon gehen, ich sollte eigentlich bei der Arbeit sein. Aber ich wollte da sein, wenn du wieder aufwachst und der Ärztin Bescheid sagen. Mach’s gut, meine Liebe.“ Sie drückt meinen Arm, den ich immer noch nicht spüre, und steht auf. In ihrem beigen Trenchcoat sind ein paar Falten, wahrscheinlich vom langen Sitzen. Wie lange sie wohl bei mir war? Sie ist fast so groß wie der Türrahmen, durch den sie jetzt den Raum verlässt.
Moment mal! Sie kann doch jetzt nicht einfach gehen und mich mit dieser Behauptung allein lassen. Ich will protestieren, doch die Tür fällt schon ins Schloss. In meinem Kopf hämmern tausend Fragen. Kann ich mich wirklich an nichts erinnern? Ich krame in meinem Kopf und versuche an meine Eltern zu denken. Nichts. Freundinnen? Nichts. In meinem Kopf herrscht gähnende Leere.
Verdammt, da muss doch irgendwas sein. Mein Magen verkrampft sich. Wie kann diese Frau einfach hier rein stolzieren und so etwas zu mir sagen? Vorsichtig stoße ich den Atem aus, so dass meine Rippen nicht allzu sehr wehtun.
Unruhe macht sich in mir breit. Nichts in diesem Raum kommt mir bekannt vor. War ich tatsächlich schon einmal wach? Durch die Fenster kann ich nichts erkennen, denn blaue, steril aussehende Vorhänge versperren mir die Sicht nach draußen. Beim Versuch mich aufzusetzen, zucke ich vor Schmerzen zurück.
Ein Klicken lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Es ist erneut die Tür und eine kleine Frau mit braunem Bob betritt den Raum. Sie trägt einen weißen Kittel und darunter eine graue Hose. Ohne den knallpinken Lippenstift könnte sie fast unscheinbar wirken.
„Guten Tag, Nara.“ Mit einem kurzen Blinzeln begrüßt sie mich und kommt an meinem Fußende zum Stehen. Sie nimmt ein Klemmbrett aus dem Bettgestell und wirft einen kurzen Blick darauf.
„Ich bin Dr. Leana Dorah, deine Neuropsychologin. Wie geht es dir?“ Ihre dunkle Stimme erinnert mich an einen großen, bärtigen Mann.
Ich zucke mit den Schultern, bereue es aber sofort. Von meinem Nacken bahnt sich Schmerz in meinen Kopf. „Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein. Können Sie mir vielleicht sagen, was mit mir los ist?“
Dr. Dorah seufzt, nickt aber verständnisvoll und lässt sich auf dem Stuhl nieder, auf dem vorhin noch meine Mutter gesessen hat.
„Es scheint, als hättest du eine Amnesie, also einen Gedächtnisverlust. Das passiert nicht selten bei schweren Verkehrsunfällen, deiner ist jedoch sehr ausgeprägt. Ich nehme an, du kannst dich nach wie vor an nichts erinnern?“
Ich schüttele vorsichtig den Kopf und die Ärztin nickt, als hätte sie das erwartet.
„Es ist so, Nara. In diesen Fällen zeigen oft einige der Teile im Gehirn wenig Aktivität. Darunter die Face Area, welche dafür zuständig ist, dass du Menschen und ihre Gesichter erkennen kannst. Die sitzt ungefähr hier.“ Sie berührt sanft eine Stelle ein paar Zentimeter hinter meinem rechten Ohr. „Möglicherweise hast du einen komplexen Ausfall einiger anderer Regionen, darunter die, die für vergangene Erfahrungen und emotional aufgeladene Domänen zuständig sind.“
Ich verstehe nur Bahnhof und blicke sie mit gerunzelter Stirn an.
„Es scheint, als sei deine Amnesie retrograd“, fährt sie fort, „das bedeutet, du kannst keine Erlebnisse abrufen, die vor deinem Unfall passiert sind. An alles, was du jetzt erlebst, wirst du dich erinnern können.“ Sie spitzt die pinken Lippen, während sie etwas auf dem Klemmbrett einträgt. Jetzt sieht sie auf und schlägt die Beine übereinander. „Willst du noch etwas wissen?“
„Was kann ich tun, damit ich mich wieder erinnere?“
Dr. Dorah weicht meinem Blick aus und sieht auf die Uhr gegenüber von meinem Bett. Viertel nach neun. „Das ist eine gute Frage, Nara. Eine, die ich dir nicht sofort beantworten kann. Die Amnesiepatient*innen, die ich bis jetzt hatte, haben sich teils innerhalb von zwei Wochen erholt. Andere dagegen erst später. Das ist individuell verschieden, je nach Ursache. Wir werden in den nächsten Tagen ein paar Screenings und neuropsychologische Tests machen, in der Hoffnung, dass wir mehr über deine Lage herausfinden können.“
Na wunderbar. Heißt das, sie weiß selbst nicht, ob ich mich erhole? Ich seufze, nicke aber zum Dank und presse die Lippen aufeinander. Ich habe wohl keine andere Wahl, als abzuwarten. „Drück den Knopf dort, wenn du was brauchst. Es ist immer jemand da. Wir sehen uns, Nara.“ Mit diesen Worten verlässt Dr. Dorah den Raum.
Mein Atem geht schnell und ich schließe die Augen. Ich brauche Schlaf. Dringend. Wenn ich aufwache, ist hoffentlich alles wieder normal.
Aber nichts passiert. Jedes Mal, wenn ich aufwache, befinde ich mich in demselben Bett und starre auf dieselben blauen Vorhänge. Zwei Tage später beschleicht mich das Gefühl, dass das alles kein schlechter Traum ist. Das ist verdammt real. In meinem Kopf herrscht Leere. Appetitlosigkeit vermischt sich mit Übelkeit. Wieso um Himmels willen kann ich mich an nichts erinnern? Ein kaputtes Gehirn, so fühlt sich das an. Kann man das nicht einfach wieder anstellen, irgendwie? Immerhin bin ich in einem Krankenhaus, die müssen sich doch auskennen mit so was. Seit die Neuropsychologin da war, ist nicht viel passiert. Zwei Pfleger wechseln sich ab, geben mir morgens Thrombosespritzen und statten mir dreimal am Tag einen Besuch mit Mahlzeiten ab, die ich nur selten einnehme.
„Nicht mal ein bisschen?“, fragt mich Jeremy, der Pfleger, den ich am liebsten mag. Er stellt mir nicht jedes Mal dieselben Fragen, die ich ja doch nicht beantworten kann. Dominic dagegen macht immer ein Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen, wenn ich ihm die Jahreszahl wieder nicht nennen kann. Das hilft einem echt nicht weiter.
Stöhnend kapituliere ich. „Na gut, ein Stück Brot kann nicht schaden.“
Jeremy schenkt mir als Belohnung ein breites Grinsen und schiebt den Teller näher zu mir hin. „Glaub mir, das Essen hier ist gar nicht so übel, wenn man sich mal in den Speiseplan reingefuchst hat. Vermeide nur die weißen Soßen und du bist sicher.“ Mit seinen tätowierten Fingern rückt er mein Kissen zurecht und lässt mich mit meinem Abendessen allein. Bis jetzt habe ich lediglich Sachen zu mir genommen, die man mit der Hand essen kann. Da ist ein Zittern in meiner rechten Hand, das es mir absolut unmöglich macht, das Besteck richtig zu halten.
Ich beiße gerade in das Körnerbrot, da schwingt die Tür erneut auf. Dr. Dorah tritt ein und schnappt sich das Klemmbrett an meinem Fußende. Kauend beobachte ich, wie sie konzentriert die pinken Lippen schürzt und die Dokumente studiert.
„Sieht aus, als wärst du deutlich stabiler.“ Sie steckt das Klemmbrett zurück in das Bettgestell und lässt sich auf meine Matratze neben meine Füße sinken. „Erzähl mal, wie geht’s dir? Hat sich in den letzten beiden Tagen etwas verändert?“
Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so recht, was ich auf die Frage antworten soll.
„Ich denke nicht. Mir geht’s weder besser noch schlechter. Wobei, das Atmen fällt mir leichter, vorgestern haben die Rippen noch mehr wehgetan.“ Ich schnipse einen Krümel von meiner Bettdecke. „Dr. Dorah, wissen Sie zufällig, ob noch mal jemand von meiner Familie da war?“ Es ist mir fast peinlich, diese Frage zu stellen. Aber um ehrlich zu sein, mache ich mir langsam Gedanken, ob sich überhaupt jemand für mich interessiert. Kein Anruf, keine Karte, nichts. Sollte nicht meine Mutter wenigstens nochmal auftauchen?
„Deine Eltern sind viel beschäftigte Menschen, Nara. Ich kenne sie zufällig und bin mir sicher, dass sie ihren Grund haben, es nicht hierher zu schaffen. Kann ich dir vielleicht stattdessen mit irgendwas behilflich sein?“
Viel beschäftigte Menschen also. Ich schüttele den Kopf. „Außer Sie können mir mein Gedächtnis zurückgeben“, sage ich halb im Spaß. Doch sie hat den Schmerz in meiner Stimme offenbar gehört, denn ihr Mund ist nun nur noch eine pinke Linie.
„Ich weiß, das kann hart sein, so eine Erfahrung. Vielleicht können wir in den nächsten Tagen schauen, wo deine Ressourcen liegen. Etwas, das du gut kannst oder das dir Spaß macht. Ins Tun zu kommen, wirkt oft Wunder. Wenn die Frakturen an deinen Beinen besser verheilt sind, kannst du vielleicht sogar mal an die frische Luft. Wie hört sich das an?“
Ich nicke und sehe zu der Schiene an meinem rechten Bein, die unter der Bettdecke hervorlugt. Wenigstens ist das Gefühl in den Armen und Beinen zurück, was die Schmerzen jedoch nicht besser macht. Im Moment würde ich alles tun, wenn ich dafür nur meine Erinnerungen wiederhaben könnte.
Vielleicht wird es ja wirklich gut, wenn ich genug schlafe. Ich bin schließlich nicht verrückt. Oder?
Den restlichen Abend verbringe ich damit, die Ritzen in der Decke zu zählen – es sind vierhundertsiebenunddreißig – bis ich schließlich in einen leichten, unruhigen Schlaf falle. Nachts erwache ich schweißgebadet aus einem Albtraum mit farbigen Dreiecken und Vierecken, die auf mich einprasseln. Ich kann mich nicht bewegen. Vor mir sehe ich noch die grünen und gelben Dreiecke, die auf mich zuschießen und mich zu ersticken drohen. Ich weiß, dass ich wach bin und trotzdem kann ich meine Lider nicht öffnen. Ich möchte mir über die Augen reiben, aber mein Arm gehorcht mir nicht und bewegt sich keinen Zentimeter. Mit aller Kraft versuche ich die Beine oder meinen Kopf zu bewegen, was genauso wenig funktioniert. Um Gottes willen, was passiert hier? Ich weiß genau, dass ich wach bin, ich höre doch Schritte auf dem Gang. Plötzlich sind da wieder die Formen, diesmal Rechtecke. Ein rotes rast geradewegs auf mich zu und ich atme es ein. Es fühlt sich an, als würde ich ersticken. Ich möchte husten, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Da geht auf einmal die Tür auf und ich schrecke hoch. Ein kleiner Lichtkegel scheint auf den Boden, wo die Tür sich geöffnet hat. Dominic steht in der Öffnung und stellt leise eine Packung Handschuhe in das Regal. Und schon ist er wieder weg. Mein Nacken knackst, während ich meinen Kopf von der einen Schulter zur anderen kreise. Stöhnend fasse ich mir an den Kopf und wische mir den Schweiß von der Schläfe. Was um Himmels Willen war das bitte? War ich gelähmt? Mein Puls rast und ich blicke auf den Wecker auf dem Nachttisch. 04.53 Uhr. O Mann. Ich sollte weiterschlafen, bin aber hellwach. Und so sitze ich eine Weile aufrecht im Bett und sehe durch den halb zugezogenen Vorhang auf die Lichter draußen.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen weckt Jeremy mich auf. Ich muss wohl doch wieder eingenickt sein. Beschwingt zieht er die Vorhänge auf und ich kneife die Augen zusammen. Bei seinem freudestrahlenden Gesicht kann ich aber nicht anders, als zu lächeln. Der Typ ist ein Energiepaket.
„Heute gibt’s Kaiserschmarrn und ich akzeptiere kein Nein. Und wenn ich dir die zuckrigen Teile selbst in den Mund stopfen muss.“ Mit verschränkten Armen stellt er sich neben mein Bett und mustert mich. „Wie sieht’s aus, sollen wir dich heute mal duschen? Glaub mir, das bewirkt Wunder.“
„Wenn du es mit meinem zerquetschten Körper aufnehmen willst?“ Ich hebe eine Augenbraue und Jeremy schnalzt mit der Zunge.
„Du glaubst nicht, mit was für schrumpeligen Ärschen ich es hier schon aufgenommen hab, da sind ein paar blaue Flecke nicht der Rede wert.“
Ich grinse. Hätte Dominic das gesagt, hätte ich mich wahrscheinlich geärgert, dass er meine Verletzungen so belanglos darstellt. Aber bei Jeremy macht es mich eher locker. Es gefällt mir, dass ihn mein kaputter Kopf nicht zu scheren scheint. Bei dem Gedanken an Dominic fällt mir das Erlebnis von heute Nacht wieder ein. Als ich Jeremy davon erzähle, sieht er mich unbeeindruckt an.
„Hört sich an, als hättest du eine Schlafparalyse gehabt. Menschen haben das manchmal, wenn sie psychischem Stress ausgesetzt sind. Manchmal kommt das aber auch einfach so. Dein Geist ist quasi wach, aber dein Körper ist noch im REM-Schlaf, das ist die Schlafphase, in der du am wildesten träumst. Kann echt freaky sein.“
Ich grunze zustimmend und reibe mir die Augen.
„Dann wollen wir mal“, sagt er und nimmt eine Thrombosespritze aus der Packung auf meinem Nachttisch. Ich schlage die Bettdecke zur Seite und blicke auf meine mageren Oberschenkel, die von dem Gepikse schon ganz blau sind. Jeremy kneift in mein rechtes Bein und sticht die Spritze in das Stück Haut zwischen seinen Fingern. Ich würde nicht sagen, dass ich mich daran gewöhnt habe, aber im Vergleich zu dem dauerhaft stechenden Schmerz in meinen Unterschenkeln fühlt sich alles andere wie das Streicheln einer Feder an.
Am Mittag sitze ich frisch geduscht in meinem Bett, den duftenden Teller mit Kaiserschmarrn vor mir auf dem Tablett. Jeremy hat nicht zu viel versprochen: Das Zwetschgenkompott und die leicht karamellisierten Stücke lassen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aufmunternd blickt er auf das Besteck, das daneben liegt. Okay, Nara, du schaffst das. Geräuschvoll atme ich ein und greife nach der Gabel. Vorsichtig schiebe ich sie unter ein Stück des Teigklumpens und hebe sie an. Auf dem Weg zu meinem Mund zittere ich so stark, dass das Stück Kaiserschmarrn auf meinem Oberteil landet.
„Verdammt“, murmele ich.
„Nur mit der Ruhe. Lass dir Zeit und konzentriere dich darauf ruhig zu atmen.“ Jeremy nimmt das Stück und legt es zurück aufs Tablett.
Ich schlucke und starte einen neuen Versuch. Dieses Mal konzentriere ich mich so sehr auf meine Hand, dass das neue Stück vor lauter Zittern von der Gabel plumpst und über das Bettlaken auf den Boden rollt. Ich stoße den Atem aus und knalle die Gabel etwas zu doll auf das Tablett zurück.
Jeremy schnappt sich das Stück vom Boden und katapultiert es mit einem gekonnten Wurf in den Mülleimer neben der Tür. Während er sich die Desinfektionsflasche vom Tisch schnappt und sich etwas von dem Zeug in die Hände schüttet, glitzern seine Augen schelmisch.
„Sag mal, hast du schon an Aufpiksen gedacht?“ Er verreibt das Mittel in seinen Händen und hebt eine Augenbraue. Ich gebe einen schnaufenden Lacher von mir, zur Hälfte aus Verzweiflung, zur anderen Hälfte, weil das gar keine schlechte Idee ist. Ich pikse also das nächste Stück mit der Gabel auf und befördere es ohne Probleme in meinen Mund.
„Klappt doch.“ Jeremy zuckt mit den Schultern und bewegt sich zur Tür.
„Mhm“, sage ich kauend. Na gut, dann gibt’s jetzt eben nur noch Kaiserschmarrn. Damit könnte ich leben.
Am Nachmittag liege ich eine Stunde lang in einer Röhre, die meine Hirnaktivität messen soll. Danach steht die neuropsychologische Übung an. Es ist eine Aufgabe auf Grundschulniveau, die ich ohne Probleme meistere. Auf dem Bildschirm des Laptops auf meinem Schoß sind Gegenstände abgebildet, die ich in einer nächsten Runde in einem Haufen anderer Gegenstände wiedererkennen soll.
„Okay“, sagt Dr. Dorah, „dein Kurzzeitgedächtnis scheint einwandfrei zu sein. Und seit wir wissen, dass du mich und die Gesundheitspfleger wiedererkennst, ist die Face Area auch wieder aus dem Spiel. Im Scan war alles unauffällig, die Ursache muss also tatsächlich etwas sein, das wir mit bildgebenden Verfahren nicht feststellen können.“ Sie klappt den Laptop zu und wickelt das Kabel auf.
„Das heißt?“ Ich versuche mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
„Das heißt, wir können nicht genau sagen, warum du die Amnesie hast. Wahrscheinlich war der Unfall für dich ein höchst traumatisches Erlebnis, welches dein Gehirn nun verdrängt. Und leider auch alles, was davor gewesen ist. Jetzt hoffen wir einfach, dass mit genügend Erholung alles wieder zurückkommt.“ Entschuldigend zieht sie die Augenbrauen zusammen, legt den Kopf schief und berührt mich an der Schulter. „Das wird schon alles, Nara. Du bist hier bestens versorgt und manchmal braucht es auch nur ein paar neue Eindrücke, um das Gedächtnis wieder in Schwung zu bringen. Falls irgendetwas zurückkommt, melde dich bei mir.“
Ich nicke und sehe ihr zu, wie sie die Protokollblätter zusammensammelt. Das soll es gewesen sein? Keine Ursache und jetzt einfach abwarten? Ich kann nicht glauben, dass mir hier niemand helfen kann. Und dazu, dass sich seit dem Besuch meiner Mutter niemand mehr hat blicken lassen.
Dr. Dorah verlässt den Raum, gerade als Dominic, der andere Pfleger, hereinkommt. Er wirft etwas auf mein Bett.
„Hier, das soll ich dir von Jeremy geben. Kein Plan, was du damit anfangen sollst.“ Und schon ist er wieder weg. Ich schneide eine Grimasse in Richtung Tür und sehe mir die Zeitschrift, die jetzt in meinem Schoß liegt, genauer an. Es ist eine Gartenzeitschrift und auf dem Cover klebt ein Post-it. Das war alles, was ich dem Krankenhauskiosk entlocken konnte, was nicht für Rentner war. Tob dich aus. Ressourcen und so steht da geschrieben und dahinter ein lachender Smiley, der die Zunge rausstreckt. Ich grinse in mich hinein. Wenigstens einer, der an mich denkt.
Eine Woche nach dem ersten Aufwachen sind die Schmerzen schon deutlich weniger, was nicht zuletzt an den Ibuprofen liegt, die täglich in mich hineingepumpt werden. Aber meinem Oberkörper und der Schulter scheint es wirklich besser zu gehen, denn mit jedem Tag kann ich meinen rechten Arm ein Stückchen höher heben. Von den Erinnerungen keine Spur. Ob ich überhaupt meinen Namen wüsste, wenn er mir nicht gesagt worden wäre? Es macht mich fertig, dass ich offenbar ein unbeschriebenes Blatt bin. Nara, die Ahnungslose. Das hört sich verdammt traurig an. Dafür weiß ich jetzt alles über Topfpflanzen und Düngemethoden beim Gemüseanbau auf dem Balkon. Mein Blick fällt auf die Zeitschrift auf meinem Nachtkästchen und ich seufze. Kaum zu glauben, aber das Lesen stellt tatsächlich ein Highlight meines Tages dar, auch wenn ich den Inhalt mittlerweile auswendig kann. Wenigstens das scheint mein Gehirn hinzubekommen. Die Seiten sind abgegriffen und an den Stellen, die ich interessant fand, habe ich ein Stück des Post-its reingeklebt. Ich muss unbedingt daran denken, Jeremy nach einer neuen Zeitschrift zu fragen. Mir egal, ob sie für Rentner ist, ich muss irgendwas tun. Herumlaufen kann ich vergessen, meine Beine erlauben mir nicht einmal, dass ich selbstständig zur Toilette gehe. Jedes Mal muss ich klingeln, damit mich jemand im Rollstuhl ins Badezimmer schiebt.
Nach zwei Wochen werde ich langsam ungeduldig. Wie kann es sein, dass mich immer noch niemand besuchen kam? Sollte da nicht irgendjemand sein, der sich für mich interessiert? Was ist das bitte für eine Familie? Auch wenn ich bis jetzt ja nur von meiner Mutter weiß. Vielleicht ist sie alleinerziehend und rackert sich gerade irgendwo ab, damit ich hier gemütlich im Krankenhaus rumsitzen kann. Ich sollte nicht so undankbar sein, immerhin geht’s mir gut und ich habe den Unfall überlebt. Mittlerweile bin ich zwar in einem Zweibettzimmer, doch die ältere Dame, die im Bett neben mir liegt, schläft noch mehr als ich. Gerade eben schnarcht sie vor sich hin, während eine klare Flüssigkeit in ihren Arm läuft. Die Zeit, in der sie wach ist, hat sie den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt, was unfassbar nervig ist. Meine Stimmung wechselt stündlich zwischen Verzweiflung, Angst und Gleichgültigkeit. Ich kann nicht sagen, was davon am unangenehmsten ist. Da kommt die Ablenkung durch die täglichen Visiten, die Gehirntrainings und die Mahlzeiten gerade recht. Mittlerweile kann ich auch die zweite Ausgabe der Gartenzeitschrift, die Jeremy mir diese Woche spendiert hat, auswendig.
Ab und zu, wenn das Personal mir hilft mich zu waschen, erhasche ich einen Blick in den Badezimmerspiegel. Das Bild kommt mir fremd vor und das Mädchen, das mir aus der Scheibe entgegenblickt und sich nicht mal allein auf dem Hocker halten kann, ist schwach und abgemagert. Ob ich schon immer so ausgesehen habe?
Dann ist der Tag, an dem Dr. Dorah die frohe Botschaft verkündet: „Heute Abend wirst du von deinen Eltern abgeholt und musst dann nur noch zum Fädenziehen kommen. Die Physiotherapie wird sich um den Rest kümmern. Ich bin sicher, dass du bald wieder gehen kannst.“ Sie drückt mir ein Rezept in die Hand. „Ich würde sagen, wir bleiben in Kontakt, damit ich dich bei Bedarf auch an eine ambulante Psychotherapeutin vermitteln kann. Das Reden wird dir vielleicht guttun. Falls du etwas brauchst oder irgendwelche Erinnerungen zurückkommen, ruf mich am besten sofort an. Ansonsten immer schön die Beine trainieren, das wird schon.“ Ihre pinken Lippen formen ein breites Lächeln.
Ich blicke skeptisch auf den Rollstuhl, den sie fast feierlich mit einer ausladenden Geste präsentiert. In den letzten Tagen wurde ich oft damit herumgeschoben, aber ein Teil von mir wollte wohl nicht wahrhaben, dass ich tatsächlich auf das Ding angewiesen bin. Klar, Laufen kann ich vergessen bei den Schmerzen, die noch immer präsent sind. Dazu kommt noch die quasi nicht mehr vorhandene Muskulatur. Ich betrachte das Gestell mit den zwei großen Rädern und plötzlich trifft mich die Realität ziemlich schmerzvoll. Meine Realität. Wie kann Dr. Dorah nur so locker damit umgehen? Sie klingt fast, als hätte ich einen Sechser im Lotto gewonnen.
Dominic hilft mir beim Waschen und Anziehen und setzt mich dann in den Rollstuhl. Ich trage jetzt eine schwarze Jogginghose und ein dunkelblaues T-Shirt. Beides kenne ich nicht.
„Du siehst frisch aus.“ Dominic zieht einen Mundwinkel nach oben. Ich hätte mich ja gefreut über diesen Satz, wäre da nicht dieser Unterton, der mir bestätigt, dass ich die letzten zwei Wochen ganz und gar nicht frisch ausgesehen habe.
Und so sitze ich den ganzen Tag da, fahre ab und zu durch die Gänge der Station und warte darauf, dass es Abend wird. Bei der letzten Runde ramme ich zum etwa zwanzigsten Mal im Vorbeifahren eine Ecke. Unbeholfen manövriere ich das Gestell in die andere Richtung und klemme mir dabei die Hand in der Bremse ein. Zischend schüttele ich mein Handgelenk. Verdammt, wie soll ich damit nur meinen Alltag meistern? In Zeitlupentempo rolle ich zurück zu meinem Zimmer, erschöpft von der ganzen Aufregung.
Ich bin gerade dabei, über der Gartenzeitschrift einzuschlafen, die ich nun zum vierzehnten Mal lese, da klopft es an meiner Zimmertür und Jeremy betritt das Zimmer.
Ihm folgt die blonde Frau, die sich mir als meine Mutter vorgestellt hat. Sie sieht genau gleich aus wie beim letzten Mal, nur dass sie jetzt ihre langen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Das Gespräch, in das die beiden vertieft sind, handelt offenbar von mir, denn Jeremy beendet es gerade mit den Worten: „Deswegen wäre es super, wenn Sie in einer Woche noch einmal vorbeischauen könnten.“
Die Frau, Keyla, nickt ihm freundlich zu und sieht mich dann warmherzig mit ihren braunen Augen an. Ich möchte schmollen, doch ihr warmer Blick lässt mich alle Zweifel vergessen. Sie war bestimmt beschäftigt. Verdammt.
Jeremy grinst mir verschwörerisch zu und hebt die mit verschnörkelten Tattoos übersäte Hand zum Abschied.
Ich bringe ein Lächeln zustande. „Danke für den Kaiserschmarrn-Trick.“
„Danke, dass du die tatsächlich gelesen hast“, erwidert Jeremy mit einem Blick auf die Zeitschrift. Ich kichere und er verlässt den Raum. O Mann, den werde ich echt vermissen.
„Wie geht es dir, Nara?“ Keyla geht vor mir in die Hocke und legt ihre Hand auf meine. Ihre Haut ist warm und weich und da ist wieder dieser Lavendelduft, den sie ausströmt. Irgendwas daran beruhigt mich.
„Geht schon“, bringe ich heraus. Wie soll es mir schon gehen? Mir ist immer noch nicht ganz wohl dabei, dass ich eine Frau vor mir stehen habe, die behauptet, meine Mutter zu sein, obwohl ich sie nicht kenne. Noch weniger komme ich damit klar, dass ich sie auf Anhieb zu mögen scheine. Doch sie ist schließlich meine Mutter, die muss man mögen … Zum Glück höre nur ich meine absurden Gedanken.
„Leana meint, du wirst schon bald deine Beine wieder vollständig benutzen können.“
Leana? Ach, sie meint Dr. Dorah. Woher kennen sich die beiden, dass sie sich mit Vornamen ansprechen? Ihre Worte jedoch bringen meine Hände zum Kribbeln und mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Ich kann es kaum erwarten, wieder zu laufen, vor allem auch in Hinblick auf meine Rollstuhl-Fertigkeiten. Von den Rädern, die bei jeder zweiten Umdrehung klemmen, will ich gar nicht erst anfangen. Ganz will ich es Keyla noch nicht verzeihen, dass sie mich so lange allein gelassen hat. Also stelle ich ihr die Frage, die auch schon Dr. Dorah ins Stocken gebracht hat. Ich brauche eine Antwort.
„Wann werde ich mich wieder an alles erinnern können?“ Ich sehe ihr direkt in die Augen und mir entgeht nicht, dass sie kurz zusammenzuckt. Keyla wendet ihren Blick ab und sagt nach einem kurzen Zögern: „Leana sagte, dass es bei ihren meisten Patienten nur ein paar Tage bis zwei Wochen ging, bevor sie ihre vollständigen Erinnerungen wieder beisammenhatten. Sie hat aber auch von einzelnen Fällen gesprochen, bei denen es Monate oder Jahre brauchte. Aber wie gesagt, das waren nur einzelne Fälle.“ Sie wendet sich mir zu und sieht mir mit festem Blick entgegen. Da ist es wieder, das überzeugende Lächeln auf ihrem Gesicht. „Glaub mir Schatz, du wirst dich bestimmt schon bald wieder an alles erinnern können. Und jetzt komm, wir fahren nach Hause. Alle freuen sich schon riesig, dich wiederzusehen! Ich habe das Auto direkt vor dem Haupteingang geparkt.“
Mit diesen Worten packt sie die Griffe des Rollstuhls und schiebt mich aus meinem Zimmer, über die Gänge und schließlich durch die große Eingangstür des Krankenhauses. Ich wage mich nicht zu fragen, wen sie mit alle meint.
Wir steuern auf ein schwarzes Auto zu, das tatsächlich direkt vor dem Eingang steht. Keyla öffnet die Beifahrertür, hilft mir auf den Sitz und klappt den Rollstuhl zusammen, um ihn in den Kofferraum zu laden.
Die Fahrt dauert ungefähr zwanzig Minuten, in denen wir Radio hören und über das Unwetter sprechen, das sich durch große, dunkle Wolken am Himmel ankündigt. Es fühlt sich absurd an, mit ihr über belanglose Dinge wie das Wetter zu sprechen, zum Glück redet Keyla die meiste Zeit. Ein erster Tropfen fällt auf die Windschutzscheibe und wir fahren auf einen Stellplatz, von welchem aus man auf ein riesiges Haus blicken kann. Im Vorgarten stehen akkurat geschnittene Büsche und die Betonfassade ist von großen Glaswänden durchbrochen, welche sich in regelmäßigen Abständen das ganze Haus entlang ziehen. Um ehrlich zu sein, wirkt es wie ein herausgeputztes Ausstellungsstück, nicht aber wie etwas, in dem Menschen zu Hause sind.
„Warte hier“, sagt Keyla, steigt hinaus in den Regen und verschwindet durch die Haustür.
Witzig, was soll ich denn anderes tun außer warten? Davonlaufen werde ich sicher nicht, das steht schon mal fest. Kurze Zeit später kommt sie mit einem großen, breit gebauten Mann zurück, der etwas älter wirkt als sie und mich freundlich ansieht. Geduckt rennt er durch den Regen zum Auto, öffnet meine Tür und umarmt mich unverwandt.
„Hey, Nara, schön dich zu sehen.“ Seine Stimme ist tief und brummig.
„Hi.“
Der Mann packt mich, hebt mich aus dem Auto und trägt mich in Richtung Haus, während Keyla mit dem Rollstuhl im Schlepptau nachkommt. Ich lasse es geschehen, dass er mich über die Türschwelle in den Flur trägt und sage nichts. Ich wünschte, ich wäre nicht so nervös. Ob mir gleich alles einfällt, wenn ich mein Zuhause von innen erblicke? Der Mann setzt mich auf einen kleinen, wendigen Rollstuhl, der mit seiner metallenen Sitzschale ein bisschen wie der fliegende Sessel von Yoda aus Star Wars aussieht. Wieso kann ich mir so einen Mist merken, aber nicht die Namen meiner Eltern?
„Den kannst du benutzen, bis du mit Gehstützen laufen kannst. Mit dem Klapperding aus dem Krankenhaus kommt ja niemand zurecht und den müssen wir sowieso in einer Woche zurückgeben. Wir behalten ihn mal, falls du mit diesem nicht zurechtkommst. Was ich nicht glaube.“ Er grinst breit und seine hellgrauen Augen funkeln freudig. „Du kannst erst einmal unten im Gästezimmer schlafen, so musst du keine Treppen steigen.“ Kurz zögert er und sieht mich an. „Ich bin übrigens Mark, dein Vater, falls du das nicht weißt. Das Zimmer ist den Gang runter und dann links.“ Mark lacht unsicher auf und deutet auf einen riesigen Gang, in dem sich wohl das Gästezimmer befindet.
In meinem Inneren zerreißt etwas. So fühlt es sich zumindest an. Ich habe gerade tatsächlich meinen eigenen Vater nicht erkannt. Wie kann das sein? Mein Magen zieht sich zusammen bei dem Gedanken, alle meine Familienmitglieder nach ihrem Namen zu fragen. Ich lasse Mark auf mich wirken. Er ist groß und seine kurzen braunen Locken sind ordentlich auf die linke Seite gekämmt. Die warme brummige Stimme und die Grübchen in seinen Wangen machen ihn sympathisch und lassen mich hoffen, dass er mir nicht übel nimmt, dass ich mich nicht an ihn erinnere.
Ich bedanke mich kurz und fahre wie betäubt in Richtung Gang. Mein Vater also … Nichts an ihm kommt mir vertraut vor. Außer der dunklen Haare, die ich mit ihm gemeinsam habe, hätte mich nichts darauf schließen lassen, dass wir verwandt sind.
Es ist merkwürdig, wie beide meiner Eltern das Problem mit der Amnesie so locker herunterspielen. Aber vielleicht ist es auch besser so. Ich selbst bin ja schon überfordert genug. Entweder sind Keyla und Mark tatsächlich zwei ruhige Felsen in der Brandung oder sie sind verdammt gute Schauspielende.
Das Ding, in dem ich sitze, ist tatsächlich wendiger und viel besser zu steuern als der klapprige Rollstuhl aus dem Krankenhaus. In dem langen Gang, den ich jetzt entlangrolle, gibt es viele Türen, die alle geschlossen sind. Nach was riecht es hier? Ist das Lavendel? Auf einem kleinen Regalbrett steht ein mit Flüssigkeit gefülltes Gefäß, in dem kleine Holzstäbe stecken. Zwischen den Türen hängen kleine Kunst-Postkarten in den verschiedensten Farben. Ich wüsste gerne, was in all diesen Zimmern ist, doch es kommt mir unhöflich vor einfach hineinzugehen. Was bescheuert ist, denn schließlich bin ich hier daheim.
Ich drücke die Klinke des letzten Zimmers auf der linken Seite hinunter und rolle über die Schwelle eines lichtdurchfluteten Zimmers.
Es ist hell und unauffällig gestaltet. Links steht ein breites Bett an der Wand und ein Schrank, ein riesiger Teppich, ein Spiegel und ein paar Bilder mit Meeresmotiv zieren den Raum. Gegenüber der Tür befinden sich große Fenster, durch die ich auf eine riesige Wiese, daneben ein paar Felder und einen Wald sehe. Zumindest der Ausblick ist schöner als im Krankenhaus. Ich lasse den Raum für ein paar Sekunden auf mich wirken. Nichts in meinem Gehirn regt sich. Ein Seufzen entfährt mir, ich könnte genauso gut gerade in ein Hotel eingecheckt haben. Nur keine Panik jetzt. Du bist zu Hause, Nara. Das ist um einiges besser als im Krankenhaus. Mit einem kräftigen Schwung schließe ich die Tür hinter mir, stelle die Bremsen fest und zerre mich am Holzrahmen des Betts in die Horizontale. Die Matratze gibt weich unter meinem zitternden Körper nach. Mein Atem geht schnell. Jede körperliche Bewegung ist nach wie vor ein Kraftakt für mich. Wenigstens kommt von Tag zu Tag mehr Gefühl in meine Beine, da nehme ich die Schmerzen gern in Kauf. Ich presse die Augen zusammen und denke daran, was wohl ohne den Unfall gewesen wäre. Der Schmerz, der mich dabei durchfährt, ist schlimmer als der in meinen Beinen, also verdränge ich den Gedanken schnell. Wahrscheinlich sollte ich etwas essen, aber irgendetwas hindert mich daran, wieder aus dem Zimmer zu gehen. Es ist alles so fremd. Wie peinlich ist bitte meine Ahnungslosigkeit? Mit einem Grummeln fahre ich mir durch die Haare und lasse die Hände auf meinem Gesicht liegen. Bitte, Gehirn, mach einfach, dass morgen alles wieder da ist. Ächzend rolle ich mich auf die Seite und schlafe mit Tränen in den Augen ein.
Kapitel 3
Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es schon hell. Oder vielleicht gerade noch hell? Das sollte ich vermutlich als Erstes in Erfahrung bringen. Ich setze mich auf und Muskelkater pocht in meinen Armen. Durch das ganze Rollstuhlfahren habe ich bald wahrscheinlich Oberarme wie eine Ringerin.
Ich manövriere mich vom Bett auf den Boden und rutsche auf dem Hintern zu dem gegenüberliegenden Holzschrank. Daneben steht ein Stuhl, welchen ich mir schnappe und mich langsam daran hochziehe. Uff, geschafft. Die Schmerzen beim kurzen Belasten meiner Beine halten sich in Grenzen, doch ich will gar nicht daran denken, wie es ist, wenn ich versuchen würde, mich gerade hinzustellen. Auf dem Stuhl sitzend öffne ich die hölzerne Schranktür und sauge scharf die Luft ein. Die einzelnen Fächer sind von oben bis unten mit Kleidung gefüllt. Sind das alles meine Sachen? Nichts von den ganzen Oberteilen, Hosen und Unterwäschestücken kommt mir auch nur annähernd bekannt vor, doch es sieht so aus, als sei es genau meine Größe. Keylas Sachen können es nicht sein, da sie größer und breiter gebaut ist als ich. In dem Fach genau in Augenhöhe steht ein kleiner Wecker. 08:43 Uhr und Fr. Es ist also Freitagmorgen.
Ich zögere kurz und blicke wieder in den Schrank hinein. Ob ich mir die Sachen einfach so herausnehmen darf? Andererseits kann ich auch nicht bleiben, wie ich bin, mein Shirt von gestern ist durchgeschwitzt.
Kurzerhand nehme ich jeweils die oberste Sache von den Kleiderstapeln und lege mich zurück aufs Bett, um mich in die Klamotten zu winden. Vielleicht sollte ich morgen doch wieder zur Jogginghose wechseln. Das Aus- und Anziehen der Schiene am rechten Bein ist zwar mühselig, aber die frischen Sachen lohnen sich. Trotz des engen Schnitts schlackert mir die Röhrenjeans luftig um die dünnen Beine. Angezogen lasse ich mich in den neuen Rollstuhl gleiten und öffne die Zimmertür.
Dass ich die Zimmer und den langen Gang, durch den ich jetzt rolle, immer noch nicht erkenne, lässt mich frösteln. Gestern dachte ich, nach ein paar Stunden in meinem Zuhause würde mir alles einfallen, doch ich erinnere mich nach wie vor nicht an die Frau, die jetzt auf mich zukommt.
„Guten Morgen, Nara!“, begrüßt Keyla mich freundlich. Ihr Lächeln ist so offen und warm wie gestern. Schon jetzt bewundere ich diese Frau. Leise begrüße ich sie ebenfalls und presse ein kleines Lächeln hervor.
„Wie ich sehe, hast du deine Sachen gefunden. Ich war so frei, sie in den Gästezimmerschrank zu räumen.“ Ihre Mundwinkel ziehen sich noch weiter Richtung Ohren. „Wir haben gerade gefrühstückt. Setz dich doch zu uns. Deine Brüder sind schon aus dem Haus. Die wirst du, wie ich sie kenne, erst heute Abend zu Gesicht bekommen.“
Ich lasse das Wort Brüder in meinem Kopf nachhallen, doch es klingelt nichts. Verdammt. Keyla deutet auf eine Tür, hinter der sich wohl das Esszimmer befinden muss.
Das Wort Zimmer ist untertrieben, bemerke ich, als ich hineinrolle. Saal ist wohl die bessere Bezeichnung. In der Mitte des großen Raums befindet sich ein langer Tisch, von dem aus Mark mir fröhlich zuwinkt. Bei seinem Anblick wird mir wärmer, er strahlt so etwas Gelassenes aus.
„Guten Morgen“, sage ich und schenke ihm mein ehrlichstes Lächeln. Ihm gegenüber steht kein Stuhl, also bewege ich mich dorthin. Vor mir stehen Brötchen und allerlei Sorten an Marmelade, verschiedene Käsesorten und etwas, das wie Gemüseaufstrich aussieht. An der Wand hängt ein großes Gemälde mit einer Gestalt, die an einer Brücke steht und den Mund aufgerissen hat, als ob sie schreien würde. Ein merkwürdiges Bild für einen Speisesaal, wie ich finde. In einer anderen Ecke des Raums befinden sich ein Sessel und ein kleiner Tisch, auf dem mehrere Zeitungen und Briefe ordentlich sortiert daliegen. In der anderen Ecke steht auf einem dunklen Holzschemel eine Stereoanlage. Mit all seinen Details wirkt der Raum geradezu prunkvoll.
„Du darfst auch gerne etwas essen“, sagt Mark grinsend und reißt mich damit aus meiner Inspizierung. Ich zucke zusammen, nehme mir sofort ein Vollkornbrötchen aus dem Korb und schmiere den Gemüseaufstrich darauf. Wie peinlich. Ich muss wie eine Touristin wirken.
Es schmeckt hervorragend.
Mark blickt von seiner Zeitung auf. „Wie geht’s dir heute?“
Ich schlucke den Bissen hinunter. „Ganz gut. Auf jeden Fall um einiges besser als gestern. Danke nochmal“, sage ich und deute auf das Fahrgestell, in dem ich sitze.
„Kein Problem, den hat Arek auch benutzt, als er verletzt war. Das Ding soll echt praktisch sein.“
„Total praktisch“, sage ich lächelnd.
Arek.
Das ist dann wohl einer meiner Brüder.
Ich atme tief ein. Nach einem kurzen Zögern frage ich Mark leise: „Wie viele Brüder habe ich?“
Es ist mir unangenehm, diese Frage zu stellen. Sie offenbart, dass ich tatsächlich kein Stück über mein Leben Bescheid weiß. Ob ich ihn mit dieser Frage enttäusche? Aber ich muss schließlich wissen, auf was ich mich einzustellen habe. Mark bemerkt wohl, dass es mir peinlich ist, denn er blickt mich wohlwollend an. Ihn scheint die Frage nicht zu überraschen.
„Du hast zwei Brüder und eine Schwester. Liv ist vierzehn Jahre alt. Arek ist achtzehn Jahre alt und Victor sechzehn, so wie du. Er wird jedoch bald siebzehn.“
„Okay“, sage ich und blinzele ihm mit aufeinandergepressten Lippen zu.
Ich bin also sechzehn. Und ich habe drei Geschwister. Ob ich ihnen ähnlich bin? Vielleicht kann ich etwas über mich selbst lernen, wenn ich ihnen begegne. Vielleicht sollte ich mich aber auch einfach einschließen und warten, bis alle Erinnerungen wieder zurückkommen. Das wäre definitiv leichter.
Plötzlich knarzt es laut und die große Tür schwingt auf. Ein Mädchen, das für vierzehn Jahre verdammt erwachsen aussieht, läuft eilig herein. Es muss ihr beschäftigter Blick sein, der sie so alt wirken lässt. Das muss Liv sein. Sie hat glattes, blondes Haar, das auf Kinnhöhe um ihren Kopf schwingt. Sie sieht mich und reißt ihre lebendigen, rehbraunen Augen auf. Okay, sie kommt definitiv nach Keyla. Mit schnellen Schritten läuft sie auf mich zu und bleibt schließlich vor mir stehen.
„Nara! Du bist wieder da!“ Sie beugt sich zu mir herunter und drückt mich fest. Huch, mit einer Umarmung hatte ich nicht gerechnet. „Endlich bin ich nicht mehr allein mit den Jungs.“
Unbeholfen lege ich die Arme um ihren Rücken. Sie riecht nach Zitrone. Liv löst sich von mir und mustert mich.
„Schick siehst du aus mit deinem Turboflitzer.“ Sie kichert.
„Wenn man vom Teufel spricht“, sagt Mark und widmet sich wieder seiner Zeitung.
Liv setzt sich neben mich an den Tisch und nimmt sich hastig ein Brötchen. Während sie Tee aus einem Becher trinkt, beschmiert sie ihr Brötchen mit Butter und Marmelade. Obwohl sie das alles so schnell und durcheinander tut, wirkt es schwungvoll, fast tänzerisch. Ich bin beeindruckt. Sie hat etwas Anmutiges an sich.
„Ach ja!“ Kauend reißt Liv die Augen auf und sieht mich an, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen. „Ich habe dein Schulzeug in dein altes Zimmer im Nordteil des Hauses gelegt. Neue Schule – neue Schulsachen versteht sich.“ Sie lächelt breit, schluckt hinunter und verputzt in Windeseile auch den Rest ihres Brötchens. Dann steht sie auf und verlässt mit ihrem leeren Geschirr den Raum.
Ich bringe gerade noch ein überrumpeltes Äh, danke heraus und schon ist sie weg. Dass ich nicht weiß, wo sich mein altes Zimmer oder gar der Nordteil des Hauses befindet, ist mein kleinstes Problem. Die Schule! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Was soll ich all meinen Klassenkameraden erzählen? Habe ich Freunde in der Schule? Hat das Schuljahr schon längst begonnen und habe ich womöglich schon die Hälfte des Stoffs verpasst? Ein kleiner Teil von mir möchte zurück in das Krankenhausbett und einfach nur die Ritzen an der Decke zählen.
Es ist still im Raum. Nur gelegentlich kommt von Mark ein kleines Rascheln, wenn er die Zeitung umblättert. Wo ist eigentlich Keyla? Bestimmt beim Arbeiten. Und warum ist Mark noch da? Ich blicke auf meinen leeren Teller und auf einmal ist mir schlecht. Was mache ich hier eigentlich? Ich sitze zusammen mit meinem Vater am Tisch, habe gerade mit meiner Schwester geredet und es kommt mir so absurd vor. Was würde ich dafür tun, dass alles wieder normal wäre. Dabei weiß ich nicht einmal, wie sich normal anfühlt. Wieso weiß ich eigentlich, wie die Gegenstände um mich herum heißen? Ich kann den Tisch, das Brot, den Tee benennen, aber nicht meine eigene Familie. Hat das was mit dem zu tun, was Dr. Dorah über die emotional aufgeladenen Dinge gesagt hat? O Mann, wieso müssen mir gerade die wichtigen Dinge fehlen. Mein Magen zieht sich immer weiter zusammen. Wenn ich mich nicht kenne, gibt es mich dann überhaupt? Plötzlich wird mir schrecklich kalt. Ich denke an die Schlafparalyse zurück. Formen und Farben. Der Versuch zu atmen. Mein trockener Mund. Das alles kommt auf einmal so plötzlich, dass mir schwindelig wird. Mit zittrigen Händen drücke ich mich vom Tisch weg, nehme tief durchatmend mein Geschirr auf den Schoß und verlasse den Essenssaal mit glasigem Blick und einem dicken Kloß im Hals.
Wie unter einem seidenen Vorhang, der mich von der Außenwelt abschirmt, räume ich mein Geschirr in die Geschirrspülmaschine, rolle an Liv vorbei den Gang hinunter und schließe nach einer gefühlten Ewigkeit die Tür des Gästezimmers hinter mir. Mein Blick fällt in den Spiegel. Ich sehe ein verkümmertes Mädchen im Rollstuhl. Dunkle, strähnige Haare, ein fahles Gesicht mit einer abheilenden Wunde auf dem linken Wangenknochen, tiefe Augenringe und darüber wässrige Augen, die weder blau noch braun sind.
Ich starre mich an und es ist, als würde ich meine Augen zum ersten Mal in meinem Leben wahrnehmen. Ihre Farbe ist undefinierbar. Wie ich wohl vor meinem Unfall ausgesehen habe? War ich schon immer so dünn oder liegt das nur am Krankenhausaufenthalt? Irgendetwas an mir kommt mir ungewohnt vor, als hätte sich etwas an mir verändert, doch ich kann es nicht benennen. Ich weiß schließlich nicht, wie ich vorher war. Ächzend hieve ich mich aufs Bett und starre zur Decke, wie ich es zuletzt im Krankenhaus getan habe. Ich schließe die Augen und ein paar Tränen winden sich dazwischen hervor. Wenn ich nur etwas als Anhaltspunkt hätte. Etwas, das mir vertraut vorkommt und an dem ich mich festhalten könnte. Doch ich habe nichts. All dieser Prunk, dieses große, helle Haus bringt mir nichts, wenn ich nicht einmal spüre, dass ich hier zu Hause bin. Kann nicht einfach jemand reinkommen und mir sagen, dass das alles nur ein riesiges Missverständnis ist? Jemand, den ich erkenne und der mich in mein richtiges Zuhause führt?
Fast hätte ich das leise Klopfen nicht gehört, so sehr pocht mein Schädel. Es klopft erneut und ich wische mir schnell die Tränen aus dem Gesicht, bevor sich die Tür einen Spalt öffnet und Liv den Kopf ins Zimmer streckt.
„Hey Nara, willst du auch –“, sie sieht mich und reißt ihre Augen auf, „O Scheiße. Alles okay bei dir?“ Eilig kommt sie herein, schließt die Tür und setzt sich neben mich aufs Bett. Ich muss aussehen wie ein Wrack. So gut es geht, versuche ich mich aufzurappeln, doch Liv bedeutet mir mit einem Kopfschütteln, liegen zu bleiben.
„Bleib liegen und sag mir, was los ist.“ Sie sieht mir jetzt direkt in die Augen und wirft ihre Stirn in Falten. Das traurige Gefühl in mir weicht Resignation. Ich seufze: „Ach nichts, es ist schon gut.“
„So siehst du aber ganz und gar nicht aus.“ Liv legt mir eine Hand auf den Arm. „Hast du Schmerzen?“
Ich beiße auf meine Lippe. Soll ich die Wahrheit sagen? An sich macht es keinen Unterschied, für verrückt halten mich hier wahrscheinlich sowieso alle. Ich atme ein.
„Die Schmerzen sind in Ordnung. Sie sind wenigstens erklärbar.“ Ich presse die Lippen aufeinander. „Es ist eher mein Kopf … Er … ich weiß nicht, da ist einfach so viel Leere.“ Erneut steigen mir Tränen in die Augen und ich versuche sie herunterzuschlucken. Zusammenreißen, Nara. Ich bin immerhin ihre große Schwester. Liv seufzt.
„Tut mir leid, Nara, dass ich vorhin so im Stress war. Für dich muss sich das ganz komisch anfühlen. Mir ist so was noch nie passiert, aber ich verstehe dich. Mir würde es bestimmt genauso gehen, wenn ich nichts mehr wüsste.“ Kurz schweigt sie. „Aber du musst wissen, dass du alles fragen kannst. Du kannst alles neu herausfinden. Sieh es einfach als Neuanfang, als Chance. Ich kann dir sagen, was ich so mache den ganzen Tag oder was du normalerweise tust. Und am Montag geh ich mit dir zur Schule, meine ist direkt nebendran. Du fängst sowieso auf einer neuen Schule an, weil du jetzt in die Elfte gehst. Da kennt dich niemand. Arek ist auch dort. Mach einfach einen Neuanfang und bei den Dingen, die du nicht weißt, hast du deine Familie, die dir hilft.“
Liv knufft mich sanft in die Seite und zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche. Mit einem halbherzigen Lächeln nehme ich es entgegen und wische mir über die Wangen.
Ihre Stimme ist wie Balsam für meine Seele und jedes Wort nimmt mir ein wenig Last von den Schultern. Alles Kindliche an Liv ist jetzt verschwunden und wieder hat sie dieses Erwachsene, Geschäftliche an sich, das ich auch schon bei Keyla beobachtet habe. Wenn für Liv die Situation merkwürdig ist, lässt sie es sich wenigstens nicht anmerken.
„Frag einfach nach und wir antworten.“ Jetzt legt sie sich ebenfalls neben mich auf den Rücken und an der Stelle, wo sich unsere Arme berühren, entsteht Wärme. Ich starre zur Decke und fasse mir ein Herz.
„Danke, dass du das machst, Liv. Ich werde wahrscheinlich ordentlich Hilfe brauchen.“
Sie dreht ihren Kopf zu mir und lächelt sanft.
„Alles, was du willst, Schwesterherz.“
Ich überlege kurz. Bei all den Fragen in meinem Kopf, weiß ich nicht, wo ich ansetzen soll.
„Vielleicht fängst du erst mal mit dir selbst an, Liv. Erzähl mir was von dir.“
Sie lacht, stützt sich auf ihre Ellenbogen und macht eine dramatische Geste, als sei sie eine Theaterfigur, bereit ihre Performance darzubieten. Ich mag ihre offene Art.
„Mein Name ist Liv, offiziell Olivia Carter und ich bin vierzehn Jahre alt.“
„So weit, so gut“, sage ich grinsend und schnäuze in mein Taschentuch.
„Ich gehe ab nächster Woche in die neunte Klasse und außerhalb der Schule male ich gern, treffe Freunde oder lese. Ich hasse Bananen und mein Lieblingsessen ist Pasta mit Pilzen, am besten die von Papa. Ich mache Leichtathletik und bin dreimal in der Woche im Training. Meine Freundinnen sind der Meinung, ich sollte mit Tim aus meiner Parallelklasse zusammenkommen, doch dieser Meinung bin ich ganz und gar nicht.“
Ein Lachen entfährt meiner Kehle und es fühlt sich an wie ein plötzlicher Lufthauch, der mir über die Seele streichelt.
„Ich liebe es, über verstorbene Künstler zu lesen und ihre Geschichten zu verstehen.“ Liv blickt wieder an die Decke und schlägt ihre Beine übereinander. „Hm … was gibt’s noch … ach ja. Ich hasse Egoisten und habe ein Problem mit Autoritäten, doch allgemein bin ich ein Menschenfreund, würde ich sagen.“ Sie grinst.
„Hört sich nach einer ziemlich coolen Schwester an.“ Unverwandt sehe ich sie an.
Mit einem zufriedenen Grinsen verschränkt sie die Arme hinter dem Kopf und lacht über ihre eigene Vorstellung.
„Zwei Schwestern bis ans Ende der Welt.“ Es klingt fast, als würde sie diesen Slogan auf ihrer Zunge zergehen lassen und austesten, wie er sich anfühlt.
Ob sie wohl immer so positiv gestimmt ist? Es fühlt sich fast an, als würden Sonnenstrahlen aus ihrem Körper kommen und mich mit ihrer Wärme einhüllen. Vielleicht steckt ein wenig ihrer positiven Art ja auch in mir und ich muss diese Seite nur entdecken?
Wir liegen eine Ewigkeit nebeneinander, beide in die eigenen Gedanken versunken. Es geht mir tatsächlich etwas besser. Vielleicht ist es Hoffnung, irgendwo ganz tief in mir drin, die aufkeimt. Sollte ich es wirklich als eine neue Chance sehen?
„Um ehrlich zu sein Liv, ich hab ein wenig Angst, das Ganze als Neuanfang zu sehen.“ Kurz zögere ich, traue mich dann aber. „Wenn ich wirklich neu anfange, gebe ich gleichzeitig die Hoffnung auf, dass alles wieder zurückkommt. Ich glaube, dafür bin ich nicht bereit.“
„Hm, verständlich. Keine Ahnung, wie ich mich in so einer Situation verhalten würde.“ Liv dreht sich eine blonde Strähne um den Finger und beobachtet sie. „Weißt du, was mir manchmal hilft, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll?“
„Was denn?“ Jetzt bin ich neugierig.
„Stell dir vor, hier neben dir sitzt eine total weise Frau. So richtig erfahren und mit allem Wissen der Welt.“ Ihre Stimme klingt schnell und aufgeregt.
Mit gehobenen Augenbrauen sieht Liv mich an, also stelle ich mir die Frau vor und nicke. „Und jetzt?“
„Und jetzt stellst du dir vor, was sie zu dir sagen würde. Was würde so eine weise Frau dir in deiner Situation raten?“
Ich lasse den Blick an die Decke wandern und denke nach.
„Hm, ich weiß nicht. Vielleicht, dass ich es nicht ändern kann und mich mit dem beschäftigen soll, was ich habe?“
„Zum Beispiel“, sagt Liv, „oder vielleicht, dass du dir viele neue Eindrücke verschaffen sollst. Wenn dabei was aufkommt, super. Aber wenn nicht, hast du wenigstens die neuen Eindrücke.“
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Lizzy Waters
Cover: Katja Hemkentokrax
Lektorat: Stephan Berg
Korrektorat: Astrid Jones
Satz: Evelyn Zimmermann
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1538-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die nicht wissen, wie nah sie ihren Träumen sind.