J. Walther
Daniel und Ismael
Schwule Liebesgeschichten
Daniel und Ismael
1
Am ersten Tag der Sommerferien spaziere ich mit Katja gelangweilt durchs Dorf. Die breite Hauptstraße liegt verlassen da. Dass dieses Kopfsteinpflaster mit den breiten staubigen Gehwegen Hauptstraße heißt, ist ein Witz für sich. Denn die anderen ‘Straßen’, die von ihr wegführen, sind nur Dreckwege, die irgendwo zwischen den Feldern im Nichts verschwinden.
“Und, was willst du jetzt machen?”, frage ich Katja. Ein langer Sommer liegt vor uns.
“Naja, ich hab mich schon auf einige Stellen beworben. Bankkauffrau, Bürokauffrau, beim Rechtsanwalt und so. Hab aber noch keine Zusage. Muss man halt dranbleiben. Wo hast du dich denn beworben?”
“Eigentlich noch gar nicht”, muss ich zugeben. Wir haben noch ein Jahr Zeit bis zum Abitur.
“Daniel! Du hast dich noch nirgends beworben?”
“Naja, ich weiß eigentlich noch gar nicht, was ich machen will.”
Katja sagt nichts mehr, wahrscheinlich ist sie zu entsetzt über so viel Ziellosigkeit. Wir kommen am Dorfladen vorbei. Als Kinder haben Katja und ich oft gemeinsam auf den Steinstufen vorm Eingang gesessen und ein Eis gelöffelt. Doch schon seit einigen Jahren bleiben die abgeblätterten Jalousien geschlossen.
“Du willst also hier bleiben?”, frage ich Katja.
Ihre Antwort kommt prompt: “Natürlich, schon wegen Gunnar, der hat ja einen festen Job.” Gunnar ist ihr Freund aus dem Nachbardorf, mit dem sie seit über einem Jahr zusammen ist. Liebe auf den ersten Blick und so.
“Willst du mit reinkommen?”
Wir sind vor Katjas Haus angekommen. Ich lehne ab. Für ihre Mutter ist Putzen Ersatzreligion und Lebensinhalt zugleich. Die von ihr geforderten Rituale - Schuhe vor der Haustür ausziehen, im Wohnzimmer nicht essen, möglichst nichts anfassen - sind mir heute zu anstrengend.
Ich rede mich raus: “Ich muss noch meiner Mutter helfen, am Wochenende feiert sie doch ihren Geburtstag.”
“Warum musst du da helfen?”
“Du weißt doch, sie macht aus jeder Familienfeier eine Riesensache.”
“Na dann wünsch’ ich dir viel Spaß dabei”, sagt sie und verabschiedet sich. Sie meint es nicht ironisch.
Ich gehe weiter, hinter ihrem Haus biege ich von der Hauptstraße ab. Nach wenigen Häusern liegen rechts und links nur noch Felder. Ein paar Weiden säumen den Weg, der leicht ansteigt.
Katja und ich sind die letzten Jugendlichen unseres Alters im Dorf. Alle anderen sind nicht aufs Gymnasium gegangen und haben den Ort schon letztes Jahr verlassen. Lehrstellen sind knapp und wer bleibt schon in diesem Kaff. Ich weiß nicht, ob ich hier bleiben soll. Fotograf zu werden kann ich mir vorstellen, aber ich weiß nicht, wo ich das lernen kann. Ob das hier überhaupt jemand braucht. Was ich sonst machen könnte. Der Weg fällt jetzt wieder ab, er wird steiniger. Auf dem Mittelstreifen wuchern robuste Kräuter. Links sehe ich schon den Teich, der von Bäumen umsäumt wird. Ich trabe quer über die Wiese, sorgsam den alten Kuhfladen ausweichend. Am Teich setze ich mich auf den ausgebleichten Holzsteg, der ein Stück ins Wasser hineinragt und schaue auf das glitzernde Wasser.
Am liebsten würde ich in diesem Sommer eine Reise machen, irgendwo hin in Urlaub fahren. Geld hab ich noch von meiner Jugendweihe und dem letzten Ferienjob. Meine Eltern wollen zwar, dass ich es in den Führerschein investiere, doch darauf habe ich keine Lust. Nein, es zieht mich in die Ferne, nur weg hier. Aber mit wem soll ich fahren? Katja? Die würde sowieso nicht mitkommen. Außerdem, zwei Wochen mit Katja …
Ich will so gern mal in ein fremdes Land fahren, am liebsten nach Süden. Meine Eltern haben mich seit zehn Jahren jeden Sommer mit nach Bayern geschleift. Ich hasse Berge. Vielleicht sollte ich einfach alleine losfahren, aber das mache ich ja doch nicht.
So sitze ich auf dem Steg und warte irgendwie darauf, dass mein Leben losgeht.
2
Familienfeier. Das heißt, Mutti ist in heller Aufregung seit dem frühen Morgen. Das gute Porzellan rausstellen. Den Kuchen anschneiden. Silberne Löffel polieren. Ob der Plattenservice pünktlich liefert? Vati sichtet derweil die Alkoholvorräte.
Zum Glück rückt die Verwandschaftsmeute erst nach dem Mittag ein. Der eine oder andere Geldschein für mein gutes Zeugnis fällt für mich ab, wenigstens ein bisschen Schmerzensgeld, tröste ich mich. Ein originelles Geschenk hat nur Tante Doreen: einmal Haare schneiden in ihrem Frisörsalon.
Dann nimmt das Unvermeidliche seinen Lauf: Kaffee, Kuchen, “nehmt doch noch ein Stück!”
“Onkel Dieter, ein Schnäpschen?”
“Wer möchte einen Weinbrand, na kommt schon.”
Ich werde müde belächelt, weil ich bei einem Bier bleibe. Die Gespräche kommen in Gang, das heißt, die Männer unterhalten sich über Männerthemen, die Frauen schweigen. Kinder haben das unschätzbare Privileg, vom Tisch aufstehen und spielen gehen zu dürfen. Ich zähle nun leider nicht mehr zu den Kindern und muss sitzen bleiben. Ich habe die Fähigkeit entwickelt, mit einem Ohr zuzuhören, während mein halbes Gehirn an etwas anderes denkt. Das Wort an mich richtet sowieso fast nie jemand.
Die Unterhaltung nimmt ihren üblichen, unvermeidlichen Verlauf. Jetzt sind sie bei Politik angekommen. Politische Bildung erfährt man hier überwiegend aus der Bild-Zeitung. Danach richten sich Themen und Stil. Steuererhöhung, unfähige Politiker (natürlich nicht die von der CDU), missbrauchte und ermordete Kinder. Ich kann genau den Zeitpunkt berechnen, an dem der ‘alle an die Wand stellen’- Spruch kommt. Dass der Kohlmeier seine drei Töchter missbraucht hat, weiß hier jeder, aber den hat noch keiner an die Wand gestellt.
Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich es nicht mehr aushalte, an dem alles Wegdenken nichts mehr nützt, diesmal noch vor dem Abendessen. Unter dem Vorwand, mal nach den Kindern zu sehen, verdrücke ich mich. Ich gehe hoch, hole meine Fotoausrüstung und verlasse leise das Haus.
3
Ich gehe die sonntäglich verwaiste Hauptstraße entlang. Vor dem Dorfgasthof steht ein Junge etwa in meinem Alter. Ich verlangsame meinen Schritt. Er trägt ein weißes Hemd und graue Hosen, dazu eine dunkelgraue Weste, ein ungewohnt feiner Anblick für unsere Dorfstraße. Der Anzug steht ihm gut, aber noch besser gefällt mir der Inhalt. Er blickt schüchtern zu mir rüber, dunkle Augen, dunkle Locken. Ich wünsche mir, dass er mich anlächelt, auf mich zukommt, mich anspricht. Aber ich weiß, wie dumm mein Wunsch in dieser Umgebung ist. Ich gehe weiter, drehe mich nicht um.
Am Teich schlage ich einen schmalen Pfad durch das Schilf ein, am Wasser öffnet es sich zu einer kleinen Bucht. Das Abendlicht taucht die Bäume und das Wasser in warme Farben, es ist wunderschön hier und ganz ruhig. Ich genieße den Frieden, glücklich, mit mir und meinem Fotoapparat allein zu sein. Ich lege mich bäuchlings auf den Boden und überprüfe noch einmal meine Fotoausrüstung. Ich spare auf eine Digitalkamera, aber bis dahin tut es auch meine alte. Dann warte ich. Man muss nicht lange warten, nur ruhig sein. Dann kommen die winzigen Hubschrauber mit ihren glänzenden Flügeln angeflogen – Libellen. Ich habe schon unzählige Fotos von ihnen gemacht, aber ich jage dem einen, perfekten Bild hinterher.
Da kommt ein Pärchen angeflogen, blaue Wasserjungfern. Sie umschwirren einander. Sie wollen doch nicht etwa … sie wollen. Ich visiere sie durch den Sucher an. Doch im entscheidenden Moment lenkt etwas meine Aufmerksamkeit ab. Ich verreiße die Aufnahme. Die Libellen fliegen weg, aufgeschreckt durch das leise Klicken. Der Junge von vorhin hat den Steg auf der anderen Seite des Teiches betreten. Er schaut über das Wasser, ohne mich zu bemerken. Dann knöpft er seine Weste auf und zieht sie aus. Wenn er mir schon die Libellen vertrieben hat, dann muss er eben als Ersatz herhalten. Mit einem 200-mm Teleobjektiv kann man ganz unbemerkt fotografieren. Jeder Knopf seines Hemdes, den er öffnet, ist ein Foto wert. Solche Motive findet man am Teich nicht alle Tage. Er legt das Hemd ebenso wie die Weste penibel zusammengefaltet auf den Holzsteg. Zwei Fotos später hat er auch seine Hose ausgezogen. Drunter trägt er eine Badehose, als hätte er geplant, schwimmen zu gehen. Er setzt sich an den Rand des Steges, lässt die Beine im Wasser baumeln und schaut versunken in das Wasser zu seine Füßen. Klick, Klick, macht meine Kamera, ein guter Fotograf spart nicht an der falschen Stelle mit Film. Der Junge lässt sich ins Wasser gleiten, am Steg ist es nur hüfthoch. Langsam schwimmt er auf mich zu, anscheinend hat er mich noch immer nicht bemerkt. Ausgerechnet in diesem Moment ist der Film zu Ende. Mit lautem Surren spult der Motor zurück. Der Junge ist mir jetzt schon ganz nahe, er bemerkt mich. Er schaut mich erschrocken an und zögert. “Hast du mich fotografiert?”
“Ja”, vor lauter Peinlichkeit kann ich ihm nicht in die Augen sehen. Jetzt kommt er auch noch ans Ufer und setzt sich neben mich.
Ich hätte nicht einmal gehofft, ihn wieder zusehen, und nun sitzt er neben mir. Ich bin so durcheinander, dass ich nicht weiß was ich sagen soll. Schließlich frage ich das Naheliegende: “Bist du auch bei einer Familienfeier ausgebüxt? Ich habe dich gesehen, vor dem Gasthof.”
Er nickt zögernd. “Ich habe dich auch gesehen.” Er schaut mich an. “Zeigst du mir das Foto, dass du von mir gemacht hast?”
“Klar, ist aber keine Digikamera, ich muss die Fotos erst entwickeln. Wie heißt du eigentlich? Ich heiße Daniel.”
“Ismael.”
“Den Namen hab ich ja noch nie gehört.”
“Alttestamentarisch”, sagt er trocken.
“Bist du Jude?”
“Nein, meine Familie gehört zu den Bekennern.”
“Den was?”
“Das ist eine Glaubensgemeinschaft.”
Ich traue mich kaum, ihn anzusehen. Wir blicken beide schweigend aufs Wasser. Er ist so hübsch, dunkelbraune Locken bis zum Kinn, dunkelbraune Augen, sein Lächeln lässt sein Gesicht aufleuchten, und doch habe ich das Gefühl, vor seinem Lächeln liegt noch ein Schleier. Ich fühle mich hässlich neben ihm, zu dünn, die aschblonden Haare strähnig, das Lächeln verkniffen.
Die Situation erinnert mich fatal an einen meiner Träume, in dem ich mit einem süßen Jungen an einem wunderschönen Abend wie diesem hier am Teich sitze und wir reden und verstehen uns prächtig und lachen und irgendwann küssen wir uns. Nur dass in meinem Traum keine lähmende Schüchternheit, kein peinliches Schweigen und keine Unsicherheit vorkam.
Ismael reißt mich aus meinen Gedanken. “Eigentlich darf ich mich gar nicht fotografieren lassen.”
“Du darfst nicht?”
“Nein, das ist bei uns verboten. Man darf keine Bilder von sich machen lassen oder anschauen. Das würde die Eitelkeit zu sehr fördern. Wir dürfen auch keine Spiegel haben. Deswegen gehe ich manchmal an Teiche, da kann ich mich selbst im Wasser sehen.”
“Es wäre ja auch schade, wenn du nicht wüsstest, wie du aussiehst.” Ich lächele ihn an, traue mich, ihm in die Augen zu sehen.
“Es ist doch normal, dass man wissen will, wie man aussieht, oder?” Er scheint wirklich unsicher über diese Frage zu sein.
“Klar, weißt du, wie lange andere Jugendliche vor dem Spiegel stehen.” In den Zeiten, als mich die Pubertät besonders hart traf, habe ich manchmal eine halbe Stunde oder länger nackt vor dem Spiegel zugebracht, aber das erzähle ich ihm lieber nicht.
Er wirft einen Blick auf meine Uhr. “Oh je, ich muss ja wieder zurück, ich fehle schon viel zu lange.” Er steigt ins Wasser.
Ich atme tief durch und nehme meinen ganzen Mut zusammen. Möglichst beiläufig sage ich: “Komm doch nächste Woche mal vorbei, wegen des Fotos.” Ich beschreibe ihm, wo ich wohne.
“Klar, mach ich. Mach‘s gut.” Er lächelt mich an, bevor er sich umwendet und zurück schwimmt. Ich schaue ihm nach. Der Teich liegt so glatt da wie ein Spiegel, kleine Wellen breiten sich aus. Ich schaue Ismael hinterher, bis er sich angezogen hat und verschwunden ist.
4
Am Montag gehe ich gleich vormittags zu Katja, mit irgend jemandem muss ich jetzt einfach reden. Die halbe Nacht konnte ich vor Aufregung nicht richtig schlafen. Doch Katja ist nicht zu Hause, sondern bei Gunnar.
Also radle ich die fünf Kilometer bis Bährwitz, um die Fotos zum Entwickeln zu bringen. Noch nie erschienen mir die zwei Tage Entwicklungszeit so lang, so oft ich auch schon gespannt auf ein Foto gewartet habe.
Am Dienstag erwische ich Katja endlich. Wir gehen die Hauptstraße entlang bis zu der kleinen Dorfkirche. Im hinteren Teil des Friedhofes stehen einige alte Grabsteine, dort ist man ungestört. Wir setzen uns auf eine Bank im Schatten der Friedhofsmauer. Ohne Umschweife, bevor ich es mir anders überlege, fange ich an: “Ich bin verliebt, Katja.”
“Na endlich, da wird ja auch mal Zeit bei dir. Kenn’ ich die Glückliche?”
“Nein, es ist ein Junge.”
Sie schaut mich an,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8255-1
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