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Inhaltsverzeichnis
Title Page
Susann Julieva und Bianca Nias - Der Werwolf von nebenan
Juliane Seidel - Zwillingsmond
Jobst Mahrenholz - Charlys Chips
S.B. Sasori - Rabendieb
Justin C. Skylark - Dylan und Thor - on the road - ein Zwischenspiel
Tanja Meurer - Hunger
Raik Thorstad - Das steinerne Bild
Rosha Reads - Sehnsucht ist ein subtiles Gefängnis
Paul Senftenberg - Liebe ohne Namen
Karolina Peli - Von Liebe, Anhänglichkeiten und Fluchten
Schännieh Dunkelstrauch - Zwischen Sojafleisch und Pinot noir
Moritz Berg und J. Walther - Nie vergessen
Chris P. Rolls - Die Anmut von Gras
Nachwort
Biografisches
Impressum
Buchtipp
Susann Julieva und Bianca Nias
Der Werwolf von nebenan
* Oliver *
Die ersten, richtig angenehm wärmenden Sonnenstrahlen in diesem Jahr fluten meinen kleinen Balkon. Der Wetterbericht hat ausnahmsweise recht behalten, der uns ein strahlend schönes Wochenende angekündigt hat. Mich hält nun nichts mehr drinnen, es wird Zeit, dass ich meine kleine Wohlfühl-Oase aus ihrem Winterschlaf wecke und auf Vordermann bringe. Die neuen Balkonblumen stehen schon bereit und warten darauf, dass ich sie in die Blumenkästen entlasse. In diesem Jahr habe ich mich im Gartencenter spontan für eine Mischung aus stehenden Geranien, Männertreu und Hängebegonien entschieden.
Hm, das finde ich lustig, die Blume mit den kleinen, blauen Blüten heißt tatsächlich Männertreu. Wer hat dem armen, zarten Gewächs nur einen derart merkwürdigen Namen verpasst? Und ist die Treue bei Männern so erwähnenswert oder ungewöhnlich, dass nach ihr sogar eine Pflanze benannt wird? Ich seufze ungewollt auf. Ja, wahrscheinlich ist sie das. Jedenfalls hatte der einzige Kerl, den ich wirklich geliebt habe, nichts Besseres zu tun, als quer durch alle Betten zu toben. Dabei hatte Andy nicht einmal den Anstand, es vor mir zu verbergen. Nein, ich habe es jedes Mal mitbekommen. Manchmal hat er mir sogar brühwarm erzählt, wen er flachgelegt hatte.
Merkwürdig, wieder verspüre ich einen leisen Stich in meiner Magengegend - lässt denn dieser Schmerz niemals nach? Diese Demütigung, dieses Gefühl, einfach nicht gut genug für jemanden zu sein ... ständig kommt es wieder hoch. Ohne, dass ich was dagegen tun kann.
Dabei hatte ich mir alle Mühe gegeben, unsere Beziehung zu retten. Beziehung? Ich schnaube abfällig. Quatsch, das war keine echte Partnerschaft. Der Arsch hat doch nur einen Blöden gesucht, der ihn ausgehalten hat. Der für Miete, Strom, Wasser und Essen bezahlt. Und ich war so dämlich, mir das ein halbes Jahr lang anzuschauen, immer in der Hoffnung, er würde sich ändern, er würde mich ebenso sehr lieben wie ich ihn.
Oh Mann, weg mit diesen Gedanken. Sie führen zu nichts. Lieber widme ich mich der Verschönerung meines Balkons. Ich habe ihn so angelegt, dass er von unten nicht einsehbar ist, damit ich meine Ruhe habe. An der linken Seite, die der Straße zugewandt ist, habe ich einen mannshohen hölzernen Sichtschutz angebracht, damit ich mich in meinem Rattan-Liegestuhl auch mal in Unterhosen sonnen kann, ohne dass mich jemand sieht. Die rechte Balkonseite habe ich mit Bambus und blühenden Stauden vor den Blicken der Nachbarn geschützt.
Apropos Nachbarn: Unten hält ein Möbelwagen. Neugierig unterbreche ich meine Arbeit und linse durch die Stäbe des Sichtschutzes auf die Straße. Ja, er hat genau vor dem Hauseingang gehalten. Ein paar Möbelpacker steigen aus, dicke, große Männer in T-Shirt und Blaumann. Schade, keiner von ihnen ist eine Augenweide, da lohnt sich kein zweiter Blick. Eher hoffe ich, dass niemand auf die Idee kommt, während der Arbeit das T-Shirt auszuziehen. Mann, in der Fernsehwerbung sind das stets schnuckelige Typen - aber die Realität sieht ganz anders aus.
Nun denn, die Wohnung, die neben der meinen liegt und deren Balkon an meinen angrenzt, ist also wieder vermietet worden. Da bin ich mal gespannt, an wen. Bei meinem Glück ist es irgendeine alte Schachtel, die penibel darauf schaut, dass samstags bis 12 Uhr die Treppe geputzt ist.
Ein fremdes Auto parkt hinter dem Möbelwagen ein, mitten im Halteverbot. Oh, ein echt scharfes Teil. Ein schwarzer Chevrolet Camaro Coupé, so einen sieht man nicht allzu häufig. Die Fahrertür öffnet sich - und mir bleibt glatt die Spucke weg! Himmel, der Typ ist ja ... der Hammer! Er steigt nicht aus dem Wagen, nein, er springt praktisch heraus. Seine Bewegungen sind kraftvoll, anmutig. Kurz sieht er sich um und schaut zu mir hoch. Unwillkürlich halte ich die Luft an. Eigentlich kann er von unten wegen der Holzverkleidung, neben der ich hervorlinse, kaum etwas von mir sehen, aber seine Augen scheinen genau auf mich gerichtet zu sein. Wie paralysiert erstarre ich, kann mich nicht bewegen. Ich sauge seinen Anblick in mich auf: seine schlanke Gestalt, lange Beine, die in schwarzen Jeans stecken. Er trägt ein dunkles, kurzärmeliges Hemd, das es kaum der Fantasie überlässt, wie er darunter aussieht. Noch mehr als sein Körper hat es mir sein Gesicht angetan. Dunkelbraune Haare, ein lässiger Dreitagebart, schmale Lippen, dichte, gerade Augenbrauen, die er jetzt ein wenig hochzieht, als würde er sich fragen, warum ich ihn so unverhohlen anstarre. Seine Augen verengen sich nun zu schmalen Schlitzen, schauen aber noch immer zu mir hoch.
Endlich schaffe ich es, mich aus meiner Starre zu lösen, trete unwillkürlich einen Schritt zurück und falle genau über den bereitstehenden Blumenkasten. Mit einem unterdrückten Schrei gehe ich zu Boden, knalle unsanft auf den Hintern. Autsch, das hat weh getan! Dabei habe ich noch Glück gehabt, denn nur wenige Zentimeter neben mir liegt die kleine Hacke, mit der ich die Blumenerde bearbeiten wollte. Wenn ich auf sie gefallen wäre, hätte ich jetzt einen hübschen, dreizackigen Abdruck in meinem Allerwertesten.
Mühsam rappele ich mich wieder hoch, springe auf die Füße und knete behutsam mein schmerzendes Hinterteil. Dabei fällt mein Blick hinunter zu dem Typ, der eine Sonnenbrille aus der Brusttasche zieht und sie aufsetzt. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Scheiße, er kann mich nicht gesehen haben! Oder doch?
* Noah *
Als ich aus dem Wagen steige, nehme ich automatisch Witterung auf, um mich zu orientieren. Gerüche und Geräusche strömen auf mich ein, zeichnen einen Umgebungsplan vor mein inneres Auge. Etwa hundertfünfzig Meter entfernt pinkelt ein Hund auf frisch gemähten Rasen. Vögel zwitschern in den frühlingsgrünen Hecken. Das süßliche Parfum einer Frau, die gegenüber aus einem Mehrfamilienhaus tritt, lenkt kurzzeitig meine Aufmerksamkeit auf sie. Näherer Umkreis: der angetrocknete Schweiß der beiden Möbelpacker, Benzingeruch des Umzugswagens. Mit einem Windhauch erreicht mich der schwere Duft von Blumenerde, begleitet vom Aroma herber Geranienblüten. Aber da ist noch etwas. Eine winzige Spur von Aftershave. Sie lenkt meinen Blick zum Haus. Ein Mann steht auf dem Balkon neben meinem und blickt zu mir herunter. Ich kann ihn neben der Balkonverkleidung nur zum Teil sehen, mache die Augen schmal, um ihn besser auszumachen. Jung, blond. Trägt eine modische Brille. Er riecht sauber und gepflegt. Da macht er einen Schritt zurück. Es poltert. Ich muss grinsen. Der Kleine hat wohl den Boden geküsst. Vorläufige Einstufung: ungefährlich.
Ich setze meine Sonnenbrille auf und hebe den Blick zur Wohnung über meiner, in der meine designierte Schutzperson lebt. Ein Fenster ist gekippt, ich kann das fröhliche Brabbeln eines Kleinkinds hören. So weit, so gut.
Mittlerweile haben die Möbelpacker den Wagen geöffnet und immerhin schon ein ganzes Badezimmerschränkchen ausgeladen. Die sind ja von der ganz flotten Truppe. Ich unterdrücke ein Augenrollen und nicke ihnen knapp zu. »Meine Herren, wenn Sie so weit wären?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappe ich mir den Schrank und gehe voraus, öffne die Haustür und nehme mit leichtem Schritt die zwei Treppen. Das Türschloss meiner Wohnung muss ich ölen, es ist widerspenstig. Drinnen schlägt mir der Geruch von Wandfarbe entgegen. Seit der Vormieter gestrichen hat, ist offenbar nicht mehr gelüftet worden. Die Wohnung ist bedrückend klein, der Schnitt unübersichtlich. Laut Bauplan sind alle Parzellen im Haus gleich angelegt. Fantasie- und seelenlos. Ich stelle das Schränkchen vorerst im Wohnzimmer ab und schließe für einen Moment die Augen. Die Erinnerung trifft mich unvorbereitet. Unsere Ranch in der Mojave-Wüste, roter Sand und der Geruch der Joshua-Bäume neben dem Haus. Goldenes Licht, endloser Horizont, verwischt von der flirrenden Hitze. Es fehlt mir tief und schmerzlich, unser Heim, so wie er mir fehlt. Bei meiner Art gibt es ein Sprichwort: Wer seinen Gefährten verliert, verliert die Farben der Welt.
Als die Möbelpacker hereinpoltern, fahre ich herum. Zwar habe ich sie kommen hören, war aber nicht bei der Sache. Verdammt, nicht gut. Wachsamkeit ist angesagt.
»Wohin damit, Herr Thorn?«, ächzt der Dickere der beiden, während sie mühsam mein ausladendes Bett in den engen Flur bugsieren. Ich gehe voraus ins Schlafzimmer und packe mit an, um das sperrige Möbel hineinzuhieven. Es ist lästig, dass ich vor Menschen meine Kraft nicht voll einsetzen kann. Immer schön die Tarnung aufrecht erhalten, auch wenn das bedeutet, dass der Einzug dadurch um einiges länger dauern wird.
Endlich. Nachdem ich den beiden Männern ein großzügiges und ziemlich unverdientes Trinkgeld gegeben habe, schließe ich die Wohnungstür. Langsam trete ich zurück ins Wohnzimmer, lasse alles auf mich wirken. Nebenan wird kurz der Wasserhahn aufgedreht. Über mir Schritte, ein Poltern, dann weint ein kleines Kind. Mein Körper spannt sich unwillkürlich an, bis ich die beruhigende Stimme seiner Mutter ausmache. Joschua Frankel, drei Jahre alt. Halb Mensch, halb Wolfswandler. Und aus genau diesem Grund in akuter Lebensgefahr. Deshalb bin ich hier. Dieser Auftrag wird nicht leicht werden, denn die Mutter soll um keinen Preis erfahren, in welch bedrohlicher Situation sich der Kleine befindet. Keine gute Idee, das habe ich meinem Auftraggeber auch unmissverständlich mitgeteilt. Verdeckter Personenschutz ist kompliziert und längst nicht so sicher. Dadurch kann ich nicht rund um die Uhr an Joschuas Seite sein, muss immer darauf achten, nicht entdeckt zu werden. Aber solange es irgendwie möglich ist, werde ich den Kundenwunsch respektieren müssen.
Seufzend öffne ich die Balkontür und trete ins Freie. Strahlendes Sonnenlicht empfängt mich, keine Wolke am tiefblauen Himmel. Mein neuer Nachbar, der seinen Balkon zu mir hin mit allerhand Gewächs verbarrikadiert hat, ist drüben zugange. Wieder nehme ich sein Aftershave wahr, darunter eine Note des Dufts seiner Haut. Ich blähe die Nasenlöcher, um den Geruch tiefer aufzunehmen. Gefällt mir, wie er riecht. Etwas Herbes, ähnlich wie Rosskastanienblätter, darüber ein würziger Ton, der an Vanille erinnert. Nach wie vor kann ich nur einen Teil von ihm sehen. Er hockt auf dem Boden und hantiert mit Blumenerde. Ein Kleingärtner, na wunderbar. Nichts gegen Naturliebhaber, aber wenn Natur, dann bitte richtig. Ich stelle mir meinen Nachbarn typisch deutsch vor, brav, überpünktlich und etwas spießig. Seine kleine Spähaktion vorhin bei meiner Ankunft mahnt mich zur Vorsicht. Ich werde ihn mit Samthandschuhen anfassen müssen, damit er keinen Verdacht schöpft.
Jetzt richtet er sich auf und ich kann über die Stauden hinweg sein Gesicht sehen. Anerkennend verziehe ich den Mund. Hübsch, der Kleine. Eine Strähne seines hellblonden Haars fällt ihm locker in die Stirn. Wache, graublaue Augen. Die Brille steht ihm, ebenso wie der leichte Bartschatten. Er ist gertenschlank und mittelgroß, trägt ein T-Shirt, das einen ansehnlichen Körperbau offenbart, sportlich, nicht zu muskulös. Genau, wie ich es mag. Die Jogginghose hängt neckisch tief auf seinen schmalen Hüften. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn und hinterlässt dabei eine Spur von dunkler Blumenerde, die mich zum Lächeln bringt.
»Hey da drüben«, rufe ich freundlich.
* Oliver *
Ich fahre erschrocken zusammen und drehe mich hastig um. Da steht er! Mein neuer Nachbar. Der scharfe Typ. Oh Gott. Ich habe ihn gar nicht auf den Balkon kommen hören, aber jetzt lehnt er lässig an der Balustrade und sieht mich durch die noch spärlich grünen Zweige meiner Bambusstaude an.
»Hallo«, bringe ich dünn hervor und schiebe meine Brille, die durch meine heftige Bewegung etwas verrutscht ist, wieder gerade. Dabei hinterlasse ich einen Dreckklumpen auf einem der Brillengläser und merke, dass meine Hände über und über voll Blumenerde sind. Und was macht er? Streckt mir über die niedrige Balkonabtrennung hinweg auch noch die Hand entgegen!
»Noah Thorn«, stellt er sich höflich vor.
»Lorenz. Oliver Lorenz«, erwidere ich automatisch, nehme hastig meine dreckige Brille ab und wische meine rechte Hand am T-Shirt sauber, bevor ich sie ihm reiche. »Sorry, meine Hände sind dreckig«, murmele ich, als wäre das nicht offensichtlich. Mann, ist das peinlich! Wo zum Teufel ist das nächste Loch im Erdboden, in dem ich versinken kann? Da stehe ich hier, in meiner ältesten Jogginghose und dem hässlichsten T-Shirt, das ich habe, und sehe bestimmt aus wie ein ungewaschener Gartenzwerg.
Sein Händedruck ist warm und kräftig, seine Pranke so groß, dass meine schmalen Finger praktisch darin verschwinden. Verstohlen betrachte ich ihn, auch wenn ich ihn ohne Brille nur verschwommen sehen kann. Was ich aber erkennen kann, raubt mir den Atem: Er hat die unglaublichsten Augen, die ich je gesehen habe. Tiefblau. Nicht so ein verwaschenes Graublau wie meine, sondern ein tiefes Azurblau, das mit der Farbe des Himmels wetteifert. Diese blauen Augen mustern mich ungeniert und ich merke, dass ich noch immer seine Hand festhalte. Deutlich zu lang. Als würde ich ... oh Scheiße, nehmen die Peinlichkeiten heute denn gar kein Ende?
Auf der Stelle lasse ich ihn los. »Sie sind mein neuer Nachbar?«, frage ich, um ein Gespräch in Gang zu bekommen und stöhne innerlich auf. Mensch, Olli, was stellst du für blöde Fragen? Spätestens jetzt muss er mich für total beschränkt halten.
»Wie man sieht - ja«, erwidert er schlicht und seine Mundwinkel heben sich kurz zu einem spöttischen Lächeln. »Wohnen Sie schon lange hier?«, fügt er im Plauderton hinzu und lehnt sich mit verschränkten Armen an das Balkongeländer.
Noch immer verlegen, wische ich meine Brille an meinem Shirt sauber und setze sie wieder auf. Blödes Nasenfahrrad, ich sollte mir wirklich angewöhnen, Kontaktlinsen zu tragen.
»Seit zwei Jahren«, erwidere ich mit reichlich Verzögerung. In mir steigt Neugierde hoch. Eigentlich würde ich gerne fragen, woher er kommt, was er macht, wie alt er ist, ob er eine Frau oder eine Freundin hat ...
»Sie scheinen einen grünen Daumen zu haben«, fährt er fort und deutet auf meine Balkonblumen. »Machen Sie das beruflich?«
»Nein, ich bin Buchhalter in einem Steuerbüro«, antworte ich und weiß genau, was jetzt kommt. Noah Thorn enttäuscht mich in dieser Hinsicht auch nicht.
»Buchhalter? Sie sehen nicht aus, wie ich mir einen Buchhalter im Allgemeinen vorstelle«, merkt er tatsächlich an. Ich weiß nicht, wie oft ich das schon gehört habe. Etwas angefressen verschränke ich ebenfalls die Arme vor der Brust.
»Ach nein? Wie stellen Sie sich denn einen Buchhalter vor?«
Er lacht leise. Oh, Himmel, ein Lachen, das mir tief in die Eingeweide fährt und ein wohliges, warmes Kribbeln hinterlässt.
»Ich weiß, das ist ein dummes Klischee. Aber in jedem Film, den ich bisher gesehen habe, sind Buchhalter kleine alte Männer mit Ärmelschonern, Pullunder und Halbglatze. Nicht so ...« Er stockt und macht eine Geste mit der Hand, die meine Gestalt umfasst.
»... ein dünner, blasser Vogel mit Brille«, vollende ich kaum hörbar seinen Satz. Verschämt lache ich auf. Noah Thorn scheint wenigstens eine ehrliche Haut zu sein.
»Hat mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben«, schließt er unser Gespräch, winkt mir nochmals freundlich zu und schlendert wieder nach drinnen. Kaum ist er weg, atme ich lautstark aus und merke erst jetzt, dass ich die Luft angehalten habe, während ich seine Rückansicht bewundert habe. Fuck, dieser geschmeidige Gang, der eine unterdrückte Kraft erahnen lässt, die enge Jeans, die sich an seine Beine schmiegt, die muskulösen Unterarme mit den feinen, dunklen Haaren - oh Gott, gleich fange ich an zu sabbern.
Noch immer ein wenig neben mir stehend, beende ich meine Arbeit, wässere anschließend die frisch bepflanzten Blumenkästen und räume die Gartengeräte wieder weg. Erst, als ich nichts mehr auf dem Balkon zu tun habe, wird mir bewusst, dass ich zögere, hineinzugehen. Was für ein Unsinn. Als würde ich darauf hoffen, dass Thorn noch einmal zu einem Gespräch herauskommt. Ich muss zugeben, dass mich die wenigen Worte, die wir gewechselt haben, innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Der Typ interessiert mich. Nicht nur, weil er unglaublich toll aussieht, auch diese ruhige Eleganz, diese Dynamik, die er ausstrahlt, macht mich unwahrscheinlich an.
Ich bin so aufgewühlt, dass ich in der Nacht kaum Ruhe finde. Immer wieder spielt sich unsere Begegnung vor meinem inneren Auge ab. Kleine Details seiner Erscheinung schieben sich in meinen Fokus: die Linie seines Halses, sein Mund mit den wahnsinnig tollen Lippen ... Wie es wohl wäre, von ihm geküsst zu werden? Ich stöhne leise auf und wie von selbst wandert meine Hand in meine Shorts, streichelt und knetet meinen sich füllenden Schwanz. Vor meinen geschlossenen Augen erscheint sein Bild und ich brauche kaum zwei Minuten, um zu einem erlösenden Höhepunkt zu kommen. Allerdings hinterlässt dieser, als die Erregung wieder abflaut, einen schalen Beigeschmack. Wenn mein neuer Nachbar wüsste, dass er mir als Wichsvorlage dient ... Mann, das ist voll blamabel. Als wäre ich ein hormongesteuerter Teenager.
Der Sonntagmorgen beginnt angenehm sonnig, wie der gestrige Tag. Ich sitze noch am Frühstückstisch und lese Zeitung, als ich höre, wie Frau Frankel mit ihrem Sohn die Treppe herunterkommt. Wahrscheinlich will sie mit dem Kleinen auf den Spielplatz, wie fast jedes Wochenende. Joschua ist ein kleiner Sonnenschein, ich mag ihn sehr. Er lacht immer, wenn er mich sieht und ich albere gerne ein wenig mit ihm herum. Gleich darauf öffnet sich quietschend die Tür zur Nachbarwohnung. Hastig springe ich auf und eile zu meiner Wohnungstür, presse mein Auge an den Türspion. Tatsächlich, Noah Thorn verlässt ebenfalls das Haus. Er dreht den Kopf in meine Richtung, als er an meiner Wohnung vorbeigeht. Mist, da wollte ich einen Blick auf meinen heißen Nachbarn werfen - und jetzt fühle ich mich ertappt. Dabei konnte er mich hinter der Tür doch gar nicht sehen. Klasse, ich entwickele mich schon zu einem Stalker, so, wie ich danach lechze, ihn wenigstens ansehen zu können!
* Noah *
Neugierig wie ein altes Waschweib. Kaum habe ich meine Wohnung verlassen, kann ich hören, wie Lorenz nebenan in seinen Flur eilt. Jetzt steht er hinter der Tür und beobachtet mich vermutlich durch den Spion. Bei dem Jungen ist echt Vorsicht geboten. Bei unserem kleinen Plausch gestern auf dem Balkon sind mir die Zeichen nicht entgangen. Geweitete Pupillen, beschleunigter Herzschlag - ich habe ihm gefallen. Das beunruhigt mich. Als ich geräuschlos die Treppe hinunterlaufe, frage ich mich, ob das einen Vorteil oder Nachteil für meinen Job hier bedeuten wird. Im Grunde sind Ablenkungen niemals gut. Allerdings muss ich gestehen, der schnuckelige Kleine interessiert mich auch. Er strahlt etwas Ruhiges, Zurückhaltendes aus, das mich unwillkürlich an Skylar denken lässt. Doch mein Gefährte war nicht unsicher wie Lorenz, er wusste genau, was er draufhatte und was er wollte.
Vor dem letzten Treppenabsatz muss ich innehalten und ausharren, bis Louisa Frankel mit Joschua das Gebäude verlassen hat. Ich warte einige genau getimte Sekunden, dann folge ich ihnen. Draußen streicheln warme Sonnenstrahlen meine Haut. Auf einer Birke am Straßenrand warnt eine Amsel mit typisch meckerndem Ruf ihre Artgenossen. Den Grund für ihre Aufregung kann ich deutlich riechen: eine Katze ist in den Büschen neben dem Haus unterwegs. Der schwarze Minitiger huscht eilig davon, als ich vorübergehe.
Louisa schiebt einen leeren Buggy, während ihr Sohn neben ihr hertobt. Sie ist zierlich und auf ungekünstelte Weise attraktiv, trägt kein Make-up. Das Kind ist dunkelblond, sein Haar erstaunlich dick und kräftig für ein Menschenjunges diesen Alters. Joschua ist aufgeweckt, bleibt immer wieder stehen, wenn er etwas Interessantes entdeckt. So wie den weißen Schmetterling, dem er lachend nachblickt, die Patschehändchen hochgestreckt. Ich muss lächeln. Mein Wolfsinstinkt meldet sich mit Beschützergefühlen. Genau deshalb bin ich so gut in meinem Job. Doch seit Sky fort ist, merke ich, dass ich zunehmend mehr Risiken eingehe, ohne jede Rücksicht auf mich selbst. Ich weiß, dass das unklug ist. Man hat mich schon mehrfach nur mit Mühe zusammenflicken können. Zornige Narben legen auf meinem Körper Zeugnis dafür ab. Aber wenn ich einen Auftrag annehme, dann hat nur noch eins Priorität: das Überleben meiner Schutzperson. Koste es, was es wolle.
Es geht zu einem nahen Spielplatz, auf dem schon eifriges Treiben herrscht. Ein relativ sicherer Ort für Joschua, und ich entspanne mich, während ich mich nach einem geeigneten Beobachtungsposten umsehe. Hinter einer trennenden Hecke gibt es einen Basketballplatz. Ein Jugendlicher wirft alleine Körbe. Perfekt. Der wird sicher für ein Match zu haben sein. Gegen einen Menschen zu spielen ist so leicht, dass ich Joschua dabei problemlos mit allen Sinnen absichern kann.
Eine Stunde später folge ich den Frankels nach Hause. Joschua sitzt müde im Buggy, Louisa summt einen aktuellen Hit vor sich hin, während ich ihnen in einem Abstand folge, der für einen menschlichen Personenschützer unverantwortlich wäre. Meine Gedanken schweifen zu Lorenz von nebenan. Ob er heute wieder auf seinem Balkon zugange sein wird? Vielleicht wäre es durchaus nützlich, sich mit ihm anzufreunden. So neugierig, wie er ist, kann er mir möglicherweise Dinge über Louisa verraten, die über meine Recherchen hinausgehen. Mehr wird zwischen uns auf keinen Fall passieren, egal, wie attraktiv er ist. Aber ein wenig flirten kann nicht schaden. Ich muss gestehen, dass mir diese Aussicht weit mehr gefällt, als sie sollte.
Als ich die Wohnungstür hinter mir schließe, achte ich aufmerksam auf Geräusche aus der Nachbarwohnung. Das Radio ist an, also ist Lorenz daheim. Bei mir warten noch einige letzte Umzugskartons darauf, ausgepackt zu werden. Ich reise nur mit dem Nötigsten. Die meisten Wandler hängen nicht an Besitz wie Menschen. Das Einzige, von dem ich mich nur schwer trennen könnte, ist mein Camaro. Ich habe einfach eine Schwäche für schnelle Autos. Über mir höre ich Joschua beim Spielen vor sich hinbrabbeln. Alles okay, wie es aussieht. Ein guter Zeitpunkt, um kurz unter die Dusche zu springen.
Während das Wasser sanft über meinen Körper perlt, schließe ich die Augen. Warum denke ich plötzlich an den verlockenden Hintern meines Nachbarn, der sich so sexy unter seiner Jogginghose abgezeichnet hat? Es ist verdammt lange her, dass ich mit jemandem zusammen war. Nicht mehr, seit Sky starb. Ein tiefes, schmerzvolles Sehnen ergreift mich. Ich selbst habe mich einst für ein Leben als Lone Wolf ohne Rudel entschieden, doch wir Wölfe sind fürs Alleinsein nicht geschaffen. Wir brauchen Nähe, Berührung, Sex wie andere die Luft zum Atmen. So viele Jahre habe ich mir das eisern verwehrt, zu tief in Trauer, um etwas Neues zuzulassen. Was hat sich geändert, dass mir auf einmal der Gedanke an einen neuen Gefährten nicht mehr vollkommen abwegig erscheint?
In nachdenklicher Stimmung trage ich mittags einen Stuhl auf den Balkon und lasse mich mit zwei Schachteln Pizza zum Essen nieder. Der Duft lässt meinen Magen knurren. Ich könnte ein ganzes Reh verdrücken. Und da ist er, Lorenz. Sitzt wenige Meter entfernt hinter den Bambusstauden auf seinem Rattanstuhl. Sein Geruch weht zu mir herüber und ich atme ihn bewusst ein. Ein seltsames Kribbeln durchläuft mich. Angespannt sehe ich weg und nehme einen Bissen Pizza. Tue so, als ob ich den schüchternen Buchhalter nicht bemerkt habe. Was hat der Kerl an sich, dass er so sehr meine Aufmerksamkeit erregt?
* Oliver *
Oh, da ist er ja endlich! Mein neuer Nachbar scheint die Nachmittagssonne, die unsere beiden kleinen Balkone bis zum Sonnenuntergang begleiten wird, genießen zu wollen. Natürlich habe ich darauf gehofft, ihn sehen zu können. Nur anschauen, mehr will ich gar nicht. Falsch, mehr traue ich mich nicht. Jetzt allerdings verfluche ich meine so sorgsam angelegten Stauden, die mir den direkten Blick auf ihn verwehren. Ich kann von meiner Position aus nur seine Beine erkennen, die er lässig und entspannt ausstreckt, die Fußknöchel übereinandergelegt. Es raschelt und der Geruch von frischer Pizza weht zu mir herüber. Hm, sofort fängt mein Magen an zu knurren.
Kein Wunder, ich habe heute das Mittagessen ausfallen lassen, weil ich stundenlang vor dem Computer gesessen habe. Ich habe Noah Thorn gegoogelt, aber es war nichts über ihn zu finden. Oh, es gibt eine Menge Männer auf Facebook und Twitter mit ähnlichen Namen: Thorne, Thornton, Thorner, Thornhood ... aber keinen Noah Thorn. Dabei bin ich extra nochmal zu den Briefkästen gerannt, um mich zu vergewissern, wie sein Name geschrieben wird. Ob er wohl Amerikaner ist? Oder Engländer? Ich weiß es nicht, sein Deutsch ist akzentfrei. Jedenfalls hat mich meine Internetsuche kein Stück weiter gebracht. Dabei hätte ich so gerne gewusst, woher er kommt, wo er arbeitet, was er so macht. Mann, ich habe ein megaschlechtes Gewissen, ihn abermals gestalkt zu haben. Ungeachtet dessen geht er mir einfach nicht aus dem Kopf.
Unten fährt der alte Schmidt mit seinem Moped vor. Die Zündapp ist eine echte Antiquität, bestimmt mehr als vierzig Jahre alt. Dementsprechend knattert und hustet auch der altersschwache Motor, sodass ich ihn gleich erkenne, ohne hinsehen zu müssen. Als Schmidt den Motor abstellt, kommt es zu einer Fehlzündung. Der Knall hallt wie ein Pistolenschuss durch die Siedlung, kann mich aber nicht überraschen. Ich kenne die alte Krücke ja, das macht sie ständig.
Aber was ist das? Plötzlich, einen Wimpernschlag später, steht Thorn an der Balustrade seines Balkons und schaut auf die Straße hinunter, während ein paar Tauben noch empört gurrend in die Höhe steigen. Hat er nicht noch vor dem Bruchteil einer Sekunde mit ausgestreckten, überschlagenen Beinen gesessen? Hm, ich muss mich getäuscht haben. Merkwürdig.
»Das war nur Herr Schmidt aus dem Erdgeschoss. Sein Moped hat ständig Fehlzündungen«, erkläre ich ungefragt. Thorn fährt sich mit der Hand durchs Gesicht, vielleicht ist er müde. Trotzdem wendet er sich mir zu und verzieht den Mund zu einem Lächeln.
»Ich mag ja solche Oldies, aber das grenzt schon an Lärmbelästigung«, meint er, grinst dabei aber entspannt.
Etwas umständlich erhebe ich mich von meinem Liegestuhl, irgendwie erscheint es mir unhöflich, mit ihm zu reden, während ich die Beine hochlege. Als ich an mein Geländer trete, bemerke ich, dass er zwei Pizzaschachteln neben seinem Stuhl auf dem Boden abgestellt hat.
»Oh, erwarten Sie Besuch?«, entfährt es mir unbedacht.
»Nein, warum?«, antwortet er mit einer Gegenfrage und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein wenig abwehrend kommt mir diese Geste vor, sie macht mich gleich verlegen. Scheiße, ich bin nicht nur neugierig, ich komme auch so rüber! Wie ein Voyeur!
»Äh, ich meine nur … wegen der Pizza«, murmele ich kleinlaut und deute auf die beiden Kartons.
»Ach so. Nein, ich habe nur Hunger«, erklärt er und entspannt sich sichtlich. Wie aufs Stichwort fängt mein Magen wieder an zu knurren. Das belustigte Grinsen auf seinem Gesicht zeigt mir sofort, dass er es vernommen hat.
»Möchtest du? Etwas Heißes?«, fragt er höflich.
Ich will eigentlich dankend ablehnen, aber mein Mundwerk ist mal wieder schneller. »Gerne. Ich habe sogar den passenden Wein da«, plappere ich es auch schon aus, ohne nachzudenken, und will in Richtung Küche eilen. Aber nach nur einem Schritt stocke ich, plötzlich hallen seine Worte in mir nach - und ich werde mir schlagartig ihrer Doppeldeutigkeit bewusst. Hat er jetzt die Pizza gemeint oder doch etwas anderes? Außerdem - seit wann sind wir ›per du‹? Hab ich etwas verpasst? Hitze steigt in mir hoch und ich merke, dass ich knallrot werde.
»Ich gehe ihn mal holen«, nuschele ich, Noah noch immer den Rücken zugewandt und flüchte geradezu in die angrenzende Küche. Kaum habe ich die Flasche von meinem Lieblingsrotwein, einen trockenen Pinot Noir, entkorkt, schlendert Noah Thorn durch die Balkontür!
Mit einer Selbstverständlichkeit und in einer Seelenruhe, die mich sprachlos macht, steuert er den Vitrinenschrank an, nimmt zwei bauchige Rotweingläser heraus und stellt sie auf den Küchentresen. Seine Präsenz füllt den kleinen Raum aus, sodass es mir schwerfällt, so was Simples wie atmen zustande zu bringen. Ich muss mich zwingen, den Mund wieder zuzuklappen. Wie ist er denn über das Balkongeländer gekommen, ohne die Blumentöpfe umzuwerfen? Ich habe jedenfalls nichts poltern hören. Jetzt nimmt er mir einfach die Flasche aus der Hand, gießt jeweils zwei Fingerbreit ein und drückt mir eines der Gläser in die Hand. Das seine schwenkt er gekonnt, atmet den Duft des Weines ein und schließt genießerisch für einen Moment die Augen.
»Hm, seidig und würzig, erdig, mit einem Hauch Kirscharoma. Genau so mag ich ihn auch.« Seine Stimme hat einen tiefen, samtigen Klang angenommen, der in meinem Inneren vibriert. Noah öffnet die Augen wieder und ich muss mich selbst ermahnen, den Blick von seinen Lippen zu lösen. Dieser sinnliche Mund zieht mich wie magisch an, mühsam reiße ich mich zusammen, um meine Konzentration wieder auf etwas anderes zu lenken. Ich räuspere mich, aber außer einem zustimmenden »Hmmm« kommt mir nichts über die Lippen.
Abwartend sieht Noah mich an und ich nippe ebenfalls an meinem Glas. Dabei fällt es mir schwer, zu schlucken, denn seine wachen Augen beobachten jede meiner Bewegungen. Sie scheinen sogar den Weg zu verfolgen, den der edle Tropfen durch meine Kehle nimmt.
Seltsamerweise wirkt das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitet, nicht belastend, sondern eher wohltuend. Langsam entspanne ich mich wieder, denn ein warmes Gefühl beginnt, sich in mir auszubreiten. Vielleicht ist das aber auch dem schweren Wein geschuldet. Alkohol auf nüchternen Magen ist vielleicht keine gute Idee, aber ich wage es kaum, die Pizza nochmal anzusprechen.
»Jetzt habe ich glatt vergessen, die Pizza mitzubringen«, stellt Noah fest, als habe er bemerkt, was hinter meiner Stirn vorgeht. Ich kann mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Zwei Deppen - ein Gedanke, sagt man bei uns. Aus seiner Hosentasche zieht er einen Schlüsselbund hervor.
»Dieses Mal nehme ich aber den gewöhnlichen Weg, bevor die Nachbarn sich wundern, warum ich ständig über den Balkon klettere«, meint er und zwinkert mir fröhlich zu, bevor er sich abwendet.
Ich nicke zustimmend, obwohl er das schon gar nicht mehr sehen kann. Gerne hätte ich jetzt einen coolen Spruch auf Lager, aber mehr als ein »Ja, bis gleich«, fällt mir nicht ein.
Kaum hat Noah meine Küche verlassen, höre ich, wie sich meine Wohnungstür öffnet und leise Schritte durch den Hausflur hallen. Mit einem leisen Seufzer drehe ich mich um und lehne die Stirn gegen das glatte Holz meines Küchenschrankes. Am liebsten würde ich mir die Tür mit Wucht vor den Kopf knallen. Hallo, was läuft hier nur ab? Und verdammt, wie kann man nur so ... so spröde sein? Okay, ich hatte schon immer ein paar Probleme damit, mich ungezwungen mit jemand zu unterhalten, den ich gerade erst kennengelernt habe. Dabei ist es auch nicht sonderlich hilfreich, dass soeben der schärfste Typ, den ich je gesehen habe, in meiner kleinen Küche stand und mich zum Pizzaessen eingeladen hat.
Scheiße! Augenblicklich fahre ich hoch und stürze in mein Wohnzimmer hinüber. Ich habe gar nicht aufgeräumt!
* Noah *
Was zum Teufel ist los mit mir? Ich schließe die Wohnungstür und lehne mich für einen Moment dagegen, um mich zu sammeln. Die Art, wie Lorenz mich angesehen hat, brennt und vibriert in mir. Hellwache graublaue Augen, verwirrt und offensichtlich von mir fasziniert. Ich konnte seinen Puls in der Halsschlagader pochen sehen. So verletzlich. Mit einer einzigen Bewegung könnte ich ihn in Stücke reißen. Manche Menschen spüren instinktiv, dass Wandler gefährlich sind, aber er ist völlig ahnungslos. Sein Körper sendet eine ganze Woge von Pheromonen aus, ohne, dass er es überhaupt merkt. Und da ist etwas an seinem Duft, das mich ganz kirre macht. Als ich dicht vor ihm stand, war ich kurz davor, an ihm zu schnuppern. Seine Haut riecht unvergleichlich, maskulin und herb - und dann diese köstliche Vanillenote. Ich will seinen Geruch inhalieren, an seiner empfindsamen Nackenpartie, wo das Aftershave nichts überdeckt. Mit der Zunge aufreizend langsam über seine Haut lecken, ihn schmecken ... Mann, der Gedanke turnt mich ganz schön an. Meine Wolfsseite lechzt auf einmal wie ausgehungert nach Sex. Für einen Moment ist der Trieb fast überwältigend. Nein, verdammt! Das steht außer Frage. Viel zu wahrscheinlich, dabei enttarnt zu werden. Aus genau diesem Grund war ich noch nie mit einem Menschen zusammen. Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar. Das ist verrückt - er ist ein Mensch, nur ein Mensch. Schluss damit.
Ich lege den Kopf in den Nacken und konzentriere mich auf die uralte Magie, die durch meine Adern fließt, um den Wolf in die Schranken zu weisen. Das vertraute, heiß-kalte Kribbeln durchläuft mich, mein inneres Raubtier beruhigt sich - und im Stromkasten neben mir haut es klackend eine Sicherung raus. Scheiße. Das ist genau der Grund, warum wir Wandler so gut wie keine technischen Geräte besitzen, und wenn, dann sind sie billig und leicht ersetzbar. Magie verträgt sich einfach nicht mit elektrischem Strom. Seufzend öffne ich den Kasten und lege den Schalter wieder um. Zum Glück nichts passiert.
Also gut, gehen wir Pizza essen. Ich schlendere erzwungen gemächlich zum Balkon, um mir die Kartons zu schnappen und lasse mir Zeit, in die Wohnung nebenan zurückzukehren. Als ich eintrete, stopft Lorenz gerade hektisch etwas in den Schrank und macht schnell die Tür zu. Eine Zimmerwand ist fast bedeckt von einer überdimensionierten DVD-Sammlung, die auf einen absoluten Filmfreak schließen lässt. Mann, er ist echt ein Nerd, aber dummerweise ein ziemlich hübscher. Er lächelt mich verlegen an und weist auf den Esstisch, auf den er doch tatsächlich Teller und Besteck gestellt hat. Echt jetzt, Pizza mit Messer und Gabel? Amüsiert komme ich seiner Aufforderung nach und setze mich. Schön, halten wir das zivilisiert, das kommt mir im Grunde entgegen.
»Mehr Wein?«, fragt er und seine Stimme klingt dünn vor Nervosität. Ich nicke und bemerke, dass seine Hand leicht zittert, als er mir einschenkt. Ich drehe den Kopf ein wenig, damit mir sein Duft nicht voll in die Nase steigt, und sehe mich um. Er hat ein Händchen fürs Einrichten. Die Wohnung ist geschmackvoll und doch gemütlich. Lorenz setzt sich mir gegenüber und teilt das Essgeschirr aus. Als wir beide Pizza auf dem Teller haben, sieht er mich an.
»Guten Appetit«, meint er höflich. Diese etwas naive Unsicherheit ist einfach zum Anbeißen.
»Hab ich schon.« Ich zwinkere ihm zu und nehme einen herzhaften Bissen.
Er starrt auf seinen Teller, während er kaut. »Wenn ich fragen darf ... Was hat dich in dieses Nest verschlagen?«
»Der Job.«
Verständnisvolles Nicken. Unsere Blicke treffen sich und wieder ist da dieses verheißungsvolle Prickeln, das ich zu ignorieren versuche.
Lorenz räuspert sich. »Und was machst du beruflich?«
Ich beschütze Wandler und töte Vampire. Wie er auf diese Info wohl reagieren würde? Ich stelle mir vor, wie ihm die Kinnlade runterknallt, und unterdrücke ein Lächeln. Laut sage ich: »Headhunter. Ich rekrutiere Fachkräfte für den Weltmarkt.«
»Macht man das heutzutage nicht am Computer?«
»Nicht in meiner Branche.« Mmm, die Pizza ist echt gut.
»Oh.« Er scheint zu überlegen, ob er fragen soll, in welcher Branche ich tätig bin, entscheidet sich aber dagegen. Wohl, um nicht aufdringlich zu wirken, und genau das hatte ich mit meiner knappen Auskunft bezweckt.
»Weih mich ein, Oliver. Wie sind die Leute hier im Haus so drauf?« Ich frage zum einen, um das Thema zu wechseln, und zum anderen, weil ich mir nützliche Informationen erhoffe.
* Oliver *
Unsicher zucke ich mit den Schultern, um mir ein wenig Zeit mit der Antwort lassen zu können. Ich weiß nicht, worauf seine Frage abzielt, was sie bezweckt. Will er wissen, ob dies ein anständiges Haus ist? Oder ob man hier gut Partys feiern kann, ohne dass die Nachbarn gleich die Polizei rufen? Keine Ahnung, sein Tonfall gibt mir keinen Hinweis auf die Intension seiner Frage.
»Och, die sind alle ganz normal drauf«, antworte ich mit reichlich Verzögerung. »Leute wie du und ich.«
Kurz hebt sich sein rechter Mundwinkel, wandert ein Stück nach oben, als hätte ich etwas Lustiges gesagt. Dabei erscheint ein winziges Grübchen in seiner Wange, das selbst der leichte Dreitagebart nicht verdeckt. Oh Mann. Der Typ hätte Model werden sollen, nicht Headhunter. Dann könnte ich mir wenigstens auf ein Foto von ihm einen ... Uh, heilige Scheiße, ich merke, wie ich augenblicklich hart werde, gleichzeitig bekomme ich heiße Ohren und werde wohl schon wieder rot! Anscheinend kann sich mein Hirn gerade nicht entscheiden, welche Teile meines Körpers besser durchblutet werden sollen und hat einfach beide in Angriff genommen.
Nur gut, dass die Tischplatte verdeckt, was sich zwischen meinen Beinen abspielt. Trotzdem rutsche ich unruhig herum und versuche, mit purem Willen meine Erregung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sinnloses Unterfangen, wenn man nur eine Armlänge von so einem geilen Kerl entfernt sitzt, auf den man sich letzte Nacht einen runtergeholt hat.
Aus tiefblauen Augen sieht er mich abwartend an, aber ich kann den Ausdruck darin nicht deuten.
»Also, unten wohnt der alte Herr Schmidt. Und wer noch?«, fragt er behutsam nach.
»Frau Mertens mit ihrer Tochter Sandra. Letztere ist etwa in meinem Alter und eine fürchterliche Nervensäge. Ständig lädt sie mich ein oder erscheint mit selbstgebackenem Kuchen vor meiner Tür.« Ich schnaufe leise und senke den Blick auf meinen Teller, schiebe das Stück Pizza mit der Gabel hin und her. Soll ich oder soll ich nicht? Ich habe keine Ahnung, wie er reagiert, wenn ich zugebe, dass ich schwul bin. Na ja, mehr, als dass er fluchtartig aus meiner Wohnung rennt und mich in Zukunft meidet, kann mir eigentlich nicht passieren.
»Ach, hat Sandra noch nicht bemerkt, dass sie es sich sparen kann, dich anzubaggern?«, bemerkt Noah locker.
Mein Kopf ruckt nach oben, erstaunt sehe ich ihm ins Gesicht. Ein belustigtes Lächeln erreicht auch seine Augen, die mich neckend anfunkeln. Er legt beide Unterarme auf den Tisch und lehnt sich ein Stück zu mir herüber.
»Vielleicht solltest du dem Mädchen mal sagen, dass du nicht auf Frauen stehst? Das könnte dir das Leben ein wenig erleichtern«, raunt er.
Zaghaft schüttele ich den Kopf. Wieder bin ich mir seiner Nähe zu sehr bewusst, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
»Oder auch erheblich verkomplizieren«, entfährt es mir spontan. Gleich darauf merke ich, dass ich damit zugegeben habe, vom anderen Ufer zu sein. Mist, verdammter. Jetzt werde ich ihn wohl so schnell nicht mehr in meiner Nähe haben. Viele Männer, die ich kennengelernt habe, haben mir zuerst Toleranz vorgegaukelt, um sich dann schleunigst aus meinem Bekanntenkreis zu entfernen.
»Das glaube ich nicht. Frauen kommen mit schwulen Männern erstaunlich gut klar«, entgegnet Noah lässig. »Vielleicht, weil sie erleichtert sind, dass es nicht an fehlenden weiblichen Reizen liegt, wenn man ihnen widersteht.«
Verblüfft starre ich ihn an. Noch immer lehnt er sich ein wenig über den Tisch, sein Blick ist allerdings auf etwas unterhalb meines Gesichtes gerichtet. Meinen Hals? Meine Kehle?
Unbewusst komme auch ich ihm ein Stück entgegen - und haue meinen Ellbogen treffsicher auf meinen Tellerrand. Sofort zucke ich zurück, der Teller klappert und das Pizzastück schnellt in die Höhe, bevor es Richtung Boden segelt. In dem Versuch, es hastig zu retten, ehe es die Fliesen küsst, schießt meine Hand nach vorn. Und weit über das Ziel hinaus. Mein Weinglas bekommt einen Stoß, fliegt klirrend um. Die rubinrote Flüssigkeit ergießt sich schwallartig über den Tisch, trifft dabei Noahs Hemd und seine Hose. Ein erstickter Laut kommt aus meiner engen Kehle.
»Tschuldigung!«, stoße ich atemlos hervor und springe auf. Mein Stuhl stürzt um und Noah fährt zusammen. Er greift nach der Serviette, um damit den Wein von seinem besudelten Hemd zu tupfen.
»Ich hole etwas Küchenrolle«, bringe ich hervor und stürze in die Küche hinüber. Ein leises Lachen hinter meinem Rücken lässt mich einen Blick über die Schulter zurückwerfen. Noah sieht mir nach, immer noch mit dem Abtupfen seines Hemdes beschäftigt, und grinst belustigt.
Na super. Mit meiner Tollpatschigkeit habe ich wieder mal zur allgemeinen Erheiterung beigetragen. Oh, ich bin so ein Idiot!
* Noah *
Wie kann man nur so hinreißend unkoordiniert sein? Und warum finde ich das derart charmant?
Ich lasse die Serviette sinken und beobachte schmunzelnd, wie Lorenz wie ein aufgescheuchtes Huhn seine Schubladen nach Küchenpapier durchforstet. Ich hätte das Glas ja auffangen können, aber das hätte ihn bloß erschreckt. Er ist schon genug durch den Wind, übermenschliche Reaktionszeit und Reflexe muss ich mir also tunlichst verkneifen. Ob Hose und Hemd ruiniert sind, juckt mich nicht weiter. Aber der Duft seiner Erregung liegt noch immer schwer in der Luft und ich muss mich zwingen, nicht gierig zu schnuppern. Ohnehin habe ich Olivers Geruch schon deutlich in der Nase und mein Körper reagiert mit Gänsehaut. Mmmmm, köstlich. Wie leicht erregbar er ist. Wie würde es sich anfühlen, ihn im Bett unter mir zu haben, meine Hände über seine blasse, seidige Haut gleiten zu lassen und ihn zu verwöhnen? Ich versuche eisern, den Gedanken zu verdrängen. Mein neuer Nachbar fängt langsam an, mir ernsthaft zu gefallen - das war nicht vorgesehen. Doch davon abgesehen, dass er ein Mensch ist, ist er hundertprozentig mein Typ. Feingliedrig, athletisch und anziehend, mit edlen, ebenmäßigen Gesichtszügen. Er hat einen süßen, vollen Mund, der wunderbar weich aussieht. Was genau mich jedoch an seiner leicht tollpatschigen Mauerblümchen-Ausstrahlung so anmacht, weiß der Himmel. Vielleicht spricht er unbewusst meinen Beschützerinstinkt an. Egal, was es ist, während ich ihn beobachte, vertieft sich mein Lächeln und mein Blick wird für einen Moment fast verklärt. Ich blinzle verwirrt.
Der feuchte Kuss meines nassen Hemds ist allmählich unangenehm an meiner Haut. Ich knöpfe es auf und streife es ohne nachzudenken ab. Erst der versteinerte Blick, mit dem Lorenz mich ansieht, als er mit einer ganzen Küchenrolle zurückkehrt und unwillkürlich haltmacht, zeigt mir, dass das vermutlich keine so gute Idee war. Der Blick seiner graublauen Augen wandert fasziniert über meinen nackten Oberkörper, während er hektisch schluckt. Er ist tiefrot geworden und offensichtlich sprachlos. Oh.
»Das ... die ... Hier«, bringt er stammelnd raus und hält mir die Rolle hin, ohne zu bedenken, dass ich sie von meinem Platz aus nicht erreichen kann. Ich springe auf, um sie mir zu schnappen, während er gleichzeitig einen Schritt auf mich zu macht, und so stehen wir uns unversehens so nah gegenüber, dass wir uns beinahe berühren. Sein Puls rast. Ich merke, wie sich meiner ebenfalls beschleunigt. Hitze geht von seinem schlanken Körper aus und etwas Dunkles, Wildes tief in mir will ihn besitzergreifend an sich ziehen und leidenschaftlich küssen. Sofort. Und diesmal ist es nicht der Wolf, der ihn begehrt, sondern der Mann. Irritiert weiche ich zurück.
»Hoppla.« Ich nehme ihm mit einem hoffentlich unverfänglichen Grinsen das Küchenpapier aus der Hand. »Danke dir.«
»Gerne.«
Lorenz starrt mich immer noch an, dann scheint er sich dessen bewusst zu werden und errötet noch tiefer. Wir setzen uns zurück an den Tisch und ich lege der Form halber ein paar Blatt Küchenrolle auf die nasse Stelle auf meiner Jeans, nachdem er sich extra die Mühe gemacht hat, zu suchen.
»Sorry«, meint mein Gegenüber mit scheuem Lächeln. »Ich bin normalerweise nicht so planlos. Na ja, nicht immer jedenfalls.«
Ich lache leise. »Kann mal passieren.«
»Ich zahle natürlich für die Reinigung.«
»Kommt ja gar nicht infrage. Wirklich, Oliver, alles halb so wild. Mach dir keinen Kopf.«
Er sieht mich skeptisch an, doch dann nickt er. »Okay. Sorry.«
»Das sagtest du schon.« Ich schmunzle.
Jetzt muss er selbst grinsen. Er fährt sich mit den Fingern durch sein dickes, blondes Haar und verwuschelt es dadurch vollkommen. Zum Anbeißen. »Gut, dann erkläre ich die heutige Slapstick-Einlage für beendet.«
Ich ziehe spielerisch die Mundwinkel nach unten, als ob ich das bedauere. Vielleicht tue ich das wirklich. »Ein Jammer.«
Olivers Augen blitzen humorvoll. Er nimmt abwesend ein Stück Pizza in die Hand und ich folge seinem Beispiel. Wer braucht schon Messer und Gabel? Die Pizza ist mittlerweile kalt, aber das scheint er nicht zu bemerken, als er abbeißt und kaut. »Ein bisschen Wein habe ich noch, falls du noch mehr auf deiner Hose möchtest.«
Ich zwinkere ihm vergnügt zu. »Wenn du mich nackt sehen willst, sag es nur.«
Shit. Er verschluckt sich fast an seinem Bissen. Halb lachend, halb röchelnd kämpft er um Luft, bis ich aufstehe und ihm auf den Rücken klopfe.
»Sag doch so was nicht zu mir!«, meint er vorwurfsvoll, als er wieder atmen kann, und ich muss lachen. Plötzlich keimt eine kameradschaftliche Leichtigkeit zwischen uns auf, die eine völlig andere Stimmung durch den Raum schwingen lässt. Die Luft surrt zwar immer noch ziemlich heftig, aber ohne diese angespannte, nervöse Spitze. Menschen brauchen so lange, um miteinander warm zu werden. Warum, werde ich wohl nie verstehen.
»Also, wo waren wir?«, fragt Oliver etwas heiser, als ich wieder sitze und wir weiteressen. Offenbar ist er bemüht, das Gespräch auf unverfängliche Themen zurückzulotsen.
»Vor Slapstickeinlage und Erstickungsanfall? Bei den Hausbewohnern«, biete ich grinsend an.
Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu, aber er lächelt. »Ach ja. Über dir wohnt Frau Frankel mit dem kleinen Joschua. Sie ist echt nett.«
»Geht der Kleine schon in den Kindergarten?« Ich frage ganz beiläufig und nehme einen großen Bissen Pizza.
»Ja, seit Kurzem. Sogar in einen Waldkindergarten. Davon hat sie neulich geschwärmt.«
»Einen Waldkindergarten?«, hake ich nach. So etwas ist mir nicht geläufig.
»Der findet ganzjährig im Freien statt und die Kids spielen im Wald mit Naturgegenständen. Das findet Joschua offenbar richtig toll.«
»Kann ich gut verstehen.« Bingo! Diese Info kommt wie gerufen. Ich habe eine ziemlich klare Vorstellung davon, warum Louisa Joschua ausgerechnet in einen solchen Kindergarten schickt. Wandlerkinder, egal, ob Vollblut oder Mischlinge, können unberechenbar sein. Und sie brauchen weitaus mehr Bewegung als Menschenkinder. Im Unterholz kann ich mich in Wolfsgestalt bewegen, während ich Joschua im Auge behalte, das wird mir den Job sehr erleichtern.
»Und dann ist da noch die alte Hermanns«, reißt Oliver mich aus den Gedanken. »Vor der musst du dich in Acht nehmen.«
»Wieso das?«
»Sie meint, sie ist die Putzpolizei des Hauses. Wehe, am Samstag wird nicht frisch gewischt. Sie petzt beim Hausbesitzer, wenn etwas nicht nach Vorschrift läuft.«
»Ah. Typisch deutsch also, ja?«
Er sieht mich interessiert an und greift sofort etwas auf, das in meinen flapsigen Worten mitschwang. Hellwach, dieser Kerl. »Bist du das nicht? Aus Deutschland, meine ich.«
»Ich lebe dort, wo meine Auftraggeber mich brauchen. Aber ich stamme eigentlich aus den Staaten.«
Seine Augen werden groß. »Amerika? Du sprichst völlig akzentfrei!«
Ich zucke leichthin die Schultern. »Ist wohl ein Talent.« Ich kann ihm schlecht sagen, dass man bei der hohen Lebenserwartung meiner Art mehr als genug Zeit hat, um Sprachen fließend zu lernen. Oder dass ich nicht annähernd so jung bin, wie ich aussehe. Vermutlich wird er mich auf Mitte bis Ende zwanzig schätzen. Er selbst dürfte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Praktisch noch ein Welpe. Wann immer Oliver sich unbeobachtet fühlt, verweilt sein Blick verträumt auf meinem Oberkörper. Oh je, Kleiner. Ich fange ja auch an, dich zu mögen. Aber
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0660-6
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