Table of Contents
Title Page
Inhaltsangabe
Zitat
Wasser
Feuer
Geheime Gärten
Schatten
Apfelblüten
Verstecke
Wiesen
Dächer
Wintergerste
Anna
Straßenbäume
Krokodilswolken
Fenster
Rückkehr
Türen
Wetterleuchten
Neue Bilder
Treppen
Zimmer
Nachwort
Impressum
Phillips Bilder
Nur eine Frage der Liebe
Benjamins Gärten
J. Walther
Buchinhalt
Nach dem Tod seiner Eltern lebt der 19- jährige Benjamin allein in seinem Elternhaus. Verhaftet in seinen Erinnerungen, lässt er sich treiben, ohne zu wissen, was er mit seinem Leben anfangen will. Auch wenn er in seinem Heimatdorf keine Perspektive für sich sieht, ist er eingesponnen in die Natur und die idyllische Umgebung. In die Großstadt zu ziehen kann er sich nicht vorstellen. Doch eines Tages taucht in der leer stehenden Villa der geheimnisvolle Marek auf. Benjamin muss sich entscheiden ...
Pete sagte, Nachtdrachen sind anders, denen macht die Dunkelheit nichts aus.
Sie steigen allein auf, ganz auf sich gestellt, sagte Pete,
und sie haben keine Angst davor, anders zu sein.
Bei den Menschen sind auch manche anders, sagte Pete.
M.E. Kerr »Drachen in der Nacht«
Wasser
Wenn das Wasser ganz ruhig ist, kann man die Kacheln am Grund des Beckens erkennen. Verschiedene Schattierungen von Blau auf dem Grund, die geschwungenen Linien dazwischen. Am Rand sind die Kacheln dunkelblau und ornamentiert. Ich schlage an, stoße mich kräftig vom Beckenrand ab, gleite lange. Eine freie Bahn vor mir, niemand der stört. Ich schwimme langsam, mit gleichmäßigen Zügen. Erreiche die andere Seite des Beckens, halte mich einen Moment fest. Zwei der dunkelblauen Jugendstilkacheln sind gesprungen, verraten ihr Alter, verzeihen die mangelnde Pflege nicht. Ich stoße mich rückwärts mit den Füßen ab, gleite einen Moment, hebe einen Arm und beginne zu schwimmen, ziehe mich kraftvoll durch das kalte Wasser. Die niedrige Decke über mir, von Stahlträgern gehalten, schmale Fenster knapp darunter. Das warme Licht des späten Nachmittags fällt hindurch, trifft knapp über dem Wasser die andere Wand in rötlichen Vierecken.
Ein junger Mann mit einer Schwimmbrille kommt in mein Blickfeld. Sein Kopf hebt sich weit über das Wasser, bleibt lange untergetaucht, erscheint wieder. Er zieht an mir vorbei, ohne das Wasser aufzuwühlen. Ich drehe mich herum, erreiche das Ende der Bahn, verschnaufe, blicke über das Becken. Der Kopf des jungen Mannes hat fast schon wieder die andere Seite erreicht. Am Ende der Bahn taucht er unter, bleibt lange verschwunden. Taucht nur wenige Male kurz auf, den Oberkörper weit über Wasser. Er ist ein beneidenswert guter Schwimmer, schnell und ausdauernd. Neben mir hält er kurz an, grüßt mit einem Kopfnicken, holt tief Luft, schwimmt mit kräftigen Kraulzügen davon. Die Muskeln seiner Schultern sind angespannt. Ich betrachte meine wassertretenden Beine, meine Brust. Ich bin schlank, das ist gut fürs Schwimmen, doch nicht so muskulös wie er.
Ich blicke auf, seine Arme näher sich schon wieder. Eine Bahn weiter schwimmt eine alte Frau langsam heran. Als sie meinen Beckenrand fast erreicht hat, erkenne ich sie. Meine Großtante zweiten Grades. Sie hat ein gutmütiges, breites Gesicht, sieht ohne ihre große Brille ungewohnt aus. Ich will schnell weiterschwimmen, doch zu spät.
»Hallo Benjamin.« Sie erreicht keuchend den Rand. Ich grüße artig, weiß, was von mir erwartet wird. Verzweifelt versuche ich mich an ihren Namen zu erinnern, aber ohne Erfolg. Sie kommt dicht an mich heran, blickt mich aus kurzsichtigen Augen freundlich an.
»Wie kommst du denn klar so alleine?«
»Geht so, muss ja«, antworte ich angemessen ernst. Meine Standardantwort auf diese Frage. Die mir seit fast einem Jahr immer wieder gestellt wird, auf die ich keine andere Antwort weiß.
»Bist schon ein tüchtiger Junge.« Ihr Tonfall hat etwas Weiches und Mitfühlendes angenommen. Hilfesuchend schaue ich über ihre Schulter. Der Kopf des jungen Mannes verschwindet unter Wasser, taucht weiter hinten wieder auf. Ich bin um eine Antwort verlegen, nicke halbherzig.
»Aber mit dem Abitur bist du fertig?«
»Ja.« Ich blicke über ihre andere Schulter, immer noch hilfesuchend. Doch dort schwimmt nur eine alte Dame auf uns zu. Sie grüßt verkniffen, als sie uns erreicht hat, hält sich am Beckenrand fest.
»Wie schaffst du denn alles mit dem Haus?«, fragt meine Großtante zweiten Grades weiter.
»Ich würde die alte Bude verkaufen«, mischt sich die andere Frau ungefragt ein. Ich schließe für einen Moment die Augen. Das Gespräch nimmt den üblichen Verlauf. Dem ich hilflos gegenüberstehe. Ich kann nicht über Dinge reden, die mir selbst so wenig klar sind. Ich wende mich Rettung suchend wieder an meine Großtante.
»Ja, aber wenn du mal eine Familie hast, dann ist es doch schön, wenn du schon ein Haus hast.« Sie nickt.
Stets gleicher, gut gemeinter Wunsch für meine Zukunft. Eine Familie, ihre Hoffnung für mich. Sie trösten sich auch selber damit. Irgendwann wird alles wieder normal sein, das Schicksal ausgeglichen. Doch ich kann ihr Trostpflaster nicht annehmen und antworte ausweichend.
»Hoffentlich bekommst du bald eine Lehrstelle. Du musst ja jetzt Geld verdienen.«
»Ja«, sage ich, obwohl ich mich noch nicht einmal um eine Ausbildung bemüht habe. Nicht weiß, was ich anfangen soll. Ich entfliehe dem Gespräch mit einem flüchtigen Nicken. Schwimme schneller als zuvor, mit kräftigen Stößen. Ich mag nicht, wie sie über mein Leben diskutieren, alles besser wissen. Es ist mein Leben. Ich muss es leben, ich brauche ihre gutgemeinten Ratschläge nicht.
Ich erreiche die andere Seite, drehe mich um. Der Kopf des jungen Mannes taucht ein Stück vor mir auf, kommt auf mich zu. Wir stoßen uns fast gleichzeitig wieder ab, er unter Wasser, ich darüber. Ich versuche mit ihm mitzuhalten, strenge mich an. Doch vergeblich, ich schwimme zu hastig, verliere meinen Rhythmus und komme eine ganze Länge nach ihm an. Er hat schon wieder elegant gewendet. Ich halte mich am Beckenrand fest, atme schwer. Die beiden Frauen sind immer noch da, unterhalten sich. Schwimmengehen als Vorwand, um Dorftratsch auszutauschen.
»Da ist doch der seltsame Mann in der Villa.«
»Mein Mann hat ihn gefragt, was er so macht und er hat kaum was erzählt.«
Jetzt schwimmen sie doch los, langsam genug um sich zu unterhalten, hoch erhobenen Hauptes.
»Mit dem stimmt doch irgendwas nicht«, höre ich gerade noch. Ich bleibe am Rand.
Dieser Fremde. Ich habe schon gehört, dass jemand die alte Villa gekauft haben soll. Jemand also, der auf forschende, nur vordergründig freundliche Fragen hin nicht bereit ist, seine Lebensgeschichte auszubreiten. Das klingt interessant. Ich kann ja mal einen Blick auf die Villa werfen, ich war lange nicht mehr da.
Ich stemme mich am Beckenrand hoch, steige aus dem Wasser. Im Vorbeigehen nehme ich mein Handtuch vom Geländer, rubble durch meine widerspenstigen Haare. Ich trockne mich ab, ziehe mich hastig an. Dann gehe ich nach oben, die Haare noch immer feucht. Am Ende der Treppe öffnet sich eine große Halle. Durch die hohen Fabrikfenster fällt diffuses Licht, in den Ecken liegen Dreck und Müll. Ansonsten ist die Halle leer, die Maschinen schon lange entsorgt. Alles was noch übrig ist, ist das alte Schwimmbecken für die Arbeiter im Keller. Ich gehe über den staubigen Boden, trete aus dem Gebäude. Die abendliche Märzluft ist kalt. Als ich die Dorfstraße entlanggehe, beginne ich zu frieren. Ich laufe schneller, um die Kälte zu vergessen. Das Dorf zieht sich lang hin, die Häuser sind am Bach verteilt, über Hangwiesen thronen einzelne große Gehöfte.
Endlich erreiche ich das andere Ende des Ortes. Ich biege von der Straße ab und wähle einen schmalen Pfad durch die Wiesen.
Ich gehe zwischen den Bäumen hindurch, auf den Pfad fällt kein Lichtschein. Ich setze meine Schritte vorsichtig, unsicher, wo sich der Bach befindet. Schließlich entdecke ich die Stelle, gehe am anderen Ufer weiter und bemerke flackernde Schatten auf dem Boden. Zwischen den Bäumen wird es heller. Ich blicke auf. Die Silhouette der kleinen Villa hebt sich von dem verblassenden Himmel ab, im Türmchen brennt Licht. Neben der Villa prasselt ein großes Feuer, wirft weite gespenstische Schatten. Ein hochgewachsener blonder Mann wirft Bretter und Schrankteile in die Flammen, das Feuer lodert auf. Der attraktive Mann ist eindeutig nicht von hier.
Ich überlege noch, ob ich einfach hingehen soll, als er zu einem kleinen Tischchen greift, das etwas abseits steht. Ich springe aus meiner Deckung hervor, laufe zu ihm. »Nicht! Das ist doch noch gut.«
Der Fremde schaut sich nach mir um, lässt das Tischchen wieder sinken. Als ich vor ihm stehe, grinst er mich an.
»Oh, ein Liebhaber alter Dinge.« Sein Lächeln wird breiter. Ich schaue ihn an, länger als nötig. Sein schönes Gesicht ist erhitzt, bildet einen reizvollen Kontrast zu seinem blonden Haar. Das Lächeln weicht nicht aus seiner Miene, wird verschmitzt. Ich reiße mich von diesem Anblick los, begutachte das Tischchen.
»Es ist doch noch gut. Ist das Jugendstil?«
»Ich denke schon.« Er deutet auf den Messingbeschlag der Schublade. »Aber es hat lauter Kratzer und in den Beinen ist der Holzwurm.«
»Man kann es aufarbeiten. Der Holzwurm ist schon lange raus.« Unsere Hände liegen je auf einer Seite des Tischchens, keiner lässt es los. Er lächelt mich wieder an.
»Gut, ich habe Abbeizer im Schuppen. Du kannst das machen, wenn du willst.«
Wir stellen das Tischchen gemeinsam beiseite. Dann wirft er Bretter in das prasselnde Feuer, bis es hoch auflodert. Ich stehe da, unsicher, die Hände in den Hosentaschen. Schließlich dreht er sich zu mir um, deutet auf einen Baumstamm. Wir setzen uns, blicken ins Feuer. Von vorne versenkt die Hitze uns fast, lässt mein Gesicht glühen, mein Rücken ist kalt. Tänzelnde Flammen und Funken steigen in den blassen Himmel. Unser Schweigen verunsichert mich. Will er lieber, dass ich gehe? Ich betrachte ihn aus den Augenwinkeln, er wirkt völlig entspannt. Neigt mir den Kopf mit einer vertrauten Geste zu. Ich räuspere mich, frage ihn, was er hier mache. Bin erstaunt, wie wacklig meine Stimme klingt.
»Ich habe die Villa gekauft und werde sie renovieren. Sie ist schön, findest du nicht?«
»Ja, ich mochte sie schon als Kind.«
»Du bist von hier?« Die Überraschung in seiner Stimme schmeichelt mir.
»Ja, ich bin hier geboren. Willst du dann hier wohnen?«
»Nein, ich werde sie weiterverkaufen.«
»Ungewöhnliche Geschäftsidee.«
Er antwortet nicht, wirft alte Kisten und Gestrüpp ins Feuer. Setzt sich dann wieder, blickt mich nachdenklich an.
»Eigentlich ist es mehr als eine Geschäftsidee.«
»Was dann?« Ich schaue ihn gespannt an.
»Als ich einundzwanzig war, starb meine Großmutter. Ich vermisste sie sehr, denn in meiner Kindheit hatte ich mich bei ihr immer am wohlsten gefühlt. Sie hatte mir ihr Häuschen vererbt und ich zog mich dorthin zurück. Es lag in einem Vorort, ein vernachlässigtes kleines Siedlungshaus. Drinnen roch es nach Alter und Krankheit, der Garten war ungepflegt, aber immer noch das kleine Paradies meiner Kindheit. Rabatten voller Sommerblumen, verwilderte Beerensträucher und ein baufälliger Schuppen, die Gemüsebeete von Kletten überwuchert. Als Kind war ich jeden Sommer dort. Ich saß den ganzen Tag da und versank in Erinnerungen. Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich begann, die Schränke auszuräumen, verkaufte das alte Porzellan und Kristall an Antiquitätenhändler, füllte zwei Sperrmüllcontainer.«
Während er redet, kann ich nicht aufhören, ihn verstohlen zu betrachten. Die Kurve, die sein exakt geschnittenes blondes Haar über seinem Ohr beschreibt. Die helle Beuge seines Armes, als er den Ärmel hochschiebt. Seine schönen Hände. Er achtet nicht auf mich, schaut ins Feuer, ist mit seinen Gedanken beschäftigt.
»Ich putzte den schwarz-weißen Steinfußboden in der Diele, entfernte die Bretterverschalung vom Windfang, entdeckte die Originallampen und alte Fotos auf dem Dachboden. Und langsam wurde es mir klar. Dieses Haus war mehr als ein gewöhnliches zwanziger Jahre Siedlungshaus. Es hatte viele schöne Details. Es war ein kleines Juwel und ich begann, ihn zu polieren. Ich befasste mich mit alten Plänen, wälzte Architekturbücher, erkundigte mich bei Handwerkern und begann alles in Stand zu setzen. Ich entfernte eingezogene Wände und das Licht kehrte zurück. Ich ersetzte Glassteine in der Veranda, hängte die Bauhauslampen wieder auf und strich die Wände in den Originalfarben.«
Er wendet den Blick vom Feuer, taucht ein Stück aus seiner Erinnerung auf. Er schaut mich kurz und prüfend an. Scheint einen Moment irritiert. Blickt wieder in die Flammen.
»Dabei wusste ich gar nicht, was ich mit dem Haus anfangen sollte. Eigentlich wollte ich nicht dort leben, ich fühlte mich viel zu jung, um mich an einen Ort zu binden. Eines Tages kam ein Ehepaar vorbei. Sie blieben stehen, bewunderten das Haus. Wir unterhielten uns über den Zaun hinweg. Schließlich zeigte ich ihnen alles, sie waren begeistert und boten mir einen guten Preis, mehr als ich mir jemals vorgestellt hätte. Ich musste nicht lange überlegen. Ich hatte einen kleinen Bahnhof an einer stillgelegten Strecke entdeckt und hatte nun Kapital, von dem ich ihn kaufte und daraus ein Wohnhaus machte. Das ist jetzt sechs Jahre her und dies ist mein fünftes Haus.«
Er stochert im Feuer, sieht schließlich auf und sucht meinen Blick. »Es ist keine Geschäftsidee. Es ist mein Leben«, sagt er schlicht. Dann schweigt er. Er schaut mich noch einmal prüfend an. Mein Gesicht glüht von mehr als von der Hitze des Feuers. Auf seinen Zügen spiegelt sich der rötliche Widerschein der Flammen. Er steht auf, wirft alles Holz, das noch herumliegt ins Feuer und schürt es. Dann dreht er sich zu mir um, nickt in Richtung Villa. Ich stehe auf, folge ihm.
Er führt mich ins Haus, geht die Treppe hinauf, sagt kein Wort.
»Wie ist dein Name?«, frage ich seinen Rücken.
»Marek.« Er öffnet eine Tür, wartet, bis ich das Zimmer betreten habe, folgt mir. Ein warmer Schimmer des Feuers dringt durchs Fenster, die Farbe blättert, Dreck liegt auf dem Boden, es ist kühl. Marek umfasst mich von hinten, seine Arme kreuzen sich über meiner Brust.
»Hast du schon einmal mit einem Jungen geschlafen?«
»Ja.« Ich schüttle den Kopf. »Nicht richtig.«
Ich spüre seine Lippen auf meinem Nacken, ein Stück die Wirbelsäule hinunter. Er geht in die Knie, knöpft einen Knopf meiner Jeans auf, dann noch einen. Ich spüre seine Lippen in der Kuhle am Ende meines Rückens, auf den Grübchen daneben. Er jagt Schauer durch meinen Körper. Dann kommt er wieder hoch, ich drehe meinen Kopf über die Schulter und wir küssen uns. Meine Hand lege ich in seinen Nacken, gebe mich seinem kundigen Mund hin.
Ich wende mich um, genieße die selbstverständliche Bewegung, mit der er sein Shirt über den Kopf zieht. Erkunde zögernd seinen gut gebauten Körper, verunsichert von seinem Selbstbewusstsein. Nehme meine Lippen zur Hilfe. Warme Haut, angespannte Muskeln. Kuhlen, rosige Erhebungen. Flaum, hervordrückender Knochen, die empfindsame Haut in der Beuge der Hüfte. Vertrautes Terrain. Sein erstaunter Aufschrei, sein Stöhnen, der herbe Geruch seiner Lust. Alle Unsicherheit ist von mir abgefallen, als ich mich erhebe.
Ich finde wieder seinen Mund, zeige ihm, was ich gelernt habe. Zeige ihm, wie gierig ich bin, wie hingerissen von ihm. Ziehe ihn auf die Matratze. Alles andere vergessen, nur noch der Mann unter mir, sein schönes Gesicht, sein Stöhnen. Reiße ihn mit. Er antwortet auf mein Begehren mit Hingabe. Lässt meine Leidenschaft nicht verhallen, fängt sie auf. Saugt sie in sich ein voller Gier.
In den dunklen Nachthimmel steigen immer noch wirbelnde Funken, als wir unter die Decke kriechen, er seine Arme um mich legt. Ich spüre den kühlen Schweiß an meinem Rücken, in der winzigen Spalte zwischen unseren Körpern. Seltsam, wie schnell die Lust schwindet, das Begehren verebbt, sich störende Gedanken einschleichen.
Ich beginne mich zu fragen, was es für ihn bedeutet hat. Eine flüchtige Nacht? Ein One-Night-Stand? Der Beginn einer Affäre? Ein Ereignis von der Bedeutung eines Lidschlages? Ich scheue mich zu fragen. Müsste wissen, was das hier bedeutet, wenn ich erfahrener, weltläufiger wäre. Und trotz dieser Fragen schlafe ich bald und fest. Schlafe, während der fremden Mann neben mir liegt und sich unsere Arme berühren.
Am nächsten Morgen weckt mich seine warme Hand. Ich blinzle, registriere, dass er schon angezogen ist, auf dem Rand der Matratze kniet. Verwirrt blicke ich ihn an.
»Ich muss leider fort. Wirf den Schlüssel in den Briefkasten.«
Mein Mund ist ganz trocken. Ich suche nach Worten.
»Ich bin bald wieder da, okay? Ich freu mich schon.«
Er beugt sich vor, küsst mich flüchtig, steht auf. »Ich fürchte, es ist kein Kaffee mehr da.« Er ist schon an der Tür. Ich habe immer noch keine Worte gefunden. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt schon munter bin. Es fühlt sich nicht so an.
Marek dreht sich noch einmal um, lächelt. Er scheint zu zögern. Ich warte darauf, dass er wieder zu mir kommt.
»Vergiss nicht abzuschließen, Benjamin.« Er wendet sich ab und geht. Mich friert unter der dünnen Decke. Irgendwann in der Nacht muss ich ihm meinen Namen gesagt haben.
Feuer
Ich vergesse nicht abzuschließen, werfe den Schlüssel in den Briefkasten. Drehe mich nicht zur Villa um, als ich die Einfahrt hinuntergehe. Bevor ich die Straße erreiche, zögere ich. Hat mich gestern Abend jemand zur Villa gehen sehen? Bemerkt jemand, dass ich erst morgens heimgehe? Ich schüttele den Gedanken ab. Niemand hat mich gesehen, niemand denkt sich etwas.
Und wenn? Ich muss lächeln. Ich erinnere mich an das Schimmern seines blondes Haares im letzten Licht, die Mischung von Rauch und einem teuren Aftershave, die seine Haut verströmte, und weiß, dass das die Angst bedeutungslos werden lässt. Trotzdem bemühe ich mich, unbefangen auszusehen, als ich die Dorfstraße entlanggehe. Doch ich begegne niemandem, es ist schon fast Mittagszeit.
Ich biege in eine schmale Straße ein, die einen Bogen Richtung Dorfbach beschreibt. Zwischen Wiesen und Bäumen steht mein Haus. Es ähnelt anderen Häusern im Dorf, ein schmales altes Haus mit einem krummen Dach und kleinen Sprossenfenstern, Fachwerk im oberen Stock und einem alten Weinstock an einem klapprigen Spalier. Und doch macht mein Herz jedes Mal einen Sprung, wenn ich darauf zukomme und es sehe.
Ich trete durch die Haustür in den dunklen, mit Steinplatten ausgelegten Flur, gehe in die Küche. Ich heize den kleinen Küchenherd, das Papier fängt knisternd Feuer, ich schichte Holz darüber, dann Kohlen. Ich stelle eine Pfanne auf den Herd und schäle Kartoffeln. Ich bin hungrig, normalerweise frühstücke ich um acht. Ich schneide die Kartoffeln in dünne Scheiben. Koche Kaffee. Als die Kartoffeln braun sind, schlage ich zwei Eier daneben. Schließlich schaufle ich alles auf einen Teller. Ich setze mich an den Küchentisch …
… lasse die Beine baumeln, beobachte, wie die trockenen Häutchen der Zwiebel auf den Tisch segeln, wie meine Mutter das tränentreibende Gemüse klein schneidet. Reibe mir die Augen, um genauso zu weinen wie sie. Ein Lächeln huscht über ihr schweißfeuchtes Gesicht. Gerüche ziehen vom Herd herüber, machen die Küche zu einer dunstigen Welt, verwandeln unscheinbare Zutaten in wunderbare Gerichte, die sich warm in meinem Bauch ausbreiten. Ich frage sie über die Zutaten aus, will auch kochen lernen. Doch sie belehrt mich, dass ich ein Junge bin, so etwas nicht zu wissen brauche. Ich solle lieber zu meinem Vater in den Schuppen gehen. Ich schaue auf den Teller. Das Ei ist an den Rändern angebrannt, die Bratkartoffeln zu hart geblieben. Es wäre besser gewesen, sie hätte mich bleiben lassen.
Ich esse auf, gehe dann hinüber ins Wohnzimmer. Auch hier ist es kalt. Ich ziehe einen dicken Pullover an und heize den großen alten Kachelofen. Er qualmt und will nicht anbrennen. Ich stopfe Papier nach, schließlich brennt das Feuer, ich schließe die gusseiserne Klappe. Ehe der ausgekühlte Ofen Wärme abgeben wird, werden Stunden vergehen.
Mit einer Decke setze ich mich in den großen Ohrensessel meines Großvaters, der in einer Ecke thront. Er liebte es, von diesem Sessel aus den Raum zu überblicken. Staub tanzt in den Sonnenstrahlen, die durch die tiefliegenden kleinen Fenster hereinfallen. Ich habe nur eine einzige Erinnerung an ihn. Er saß in diesem Sessel, schien sehr weit oben, strich mir übers Haar und reichte mir eine Praline aus seiner großen Schachtel herunter. Er starb, als ich vier war.
Manchmal geht er durch das Haus, das einmal seins war. Besonders an langen Sommerabenden in der Dämmerung. Setzt sich auf das rote Sofa, nimmt etwas von der dunklen Anrichte. Geht in den Garten. Ich bilde mir dann ein, seinen langen Schatten im hohen Gras zu erkennen.
Weil der Ofen immer noch qualmt, öffne ich ein Fenster. Die Luft draußen trägt schon den Geruch des Frühlings in sich, aber ihre Wärme dringt nicht ins Haus. Es wartet genauso wie ich darauf, dass die Frühlingssonne die dicken Mauern durchwärmt. Ich lege meine Hand an die Fensterlaibung, dort wo ein Streifen Sonne sie trifft. Im Haus ist es stiller geworden, einsam. Es wartet auf neues Leben in seinen Mauern.
Meine Mutter erzählte mir gern Geschichten von meinem Großvater. Sie hatte einen Plattenspieler mit in die Ehe gebracht und er schimpfte über dieses Ding. Doch einmal beobachtete sie durch das geöffnete Fenster, wie er in seinem Sessel saß und eine Platte aufgelegt hatte. Sie stritten sich über manche Neuerung, die seine Schwiegertochter einführte und dann knurrte er ›Städterin‹ vor sich hin. Aber im Grunde war er stolz auf sie. Mutti erzählte mir mit geröteten Wangen, dass er gesagt hatte, sie sei eine Schönheit. Das war sie auch. Groß und schlank, ihre hochgesteckten hellbraunen Haare ließen sie wie eine Dame von einem Jugendstilgemälde wirken.
Ich wende mich vom Fenster ab. Der Kachelofen qualmt immer noch, sein Gestank erfüllt den Raum. Es hilft nichts mehr, ich muss ihn mir vornehmen. Im letzten Sommer hat Vater ihn wohl einfach nicht mehr ausgekehrt. Ich lösche das mickrige Feuer, das nicht richtig brennen wollte und hole Zeitungen und eine Bürste an einem langen Draht. Löse vorsichtig die mit Lehm befestigten Verschlusskacheln. Die kleinen Öfen in Küche und Schlafzimmern sind schnell gereinigt, aber der große Kachelofen macht viel Arbeit. Ich hole ganze Schaufeln voll Schlacke daraus hervor. Eine Heizung wäre schön. Kein Holzhacken, kein Kohlenschleppen, kein eiskaltes Badezimmer im Winter. Ruß und feiner Dreck haben sich in der Luft verteilt. Ich öffne alle Fenster und muss husten, fliehe durch die Hintertür nach draußen in den Garten.
Ich gehe über die sanft abfallende Wiese, zwischen den alten Obstbäumen hindurch, hinunter zum Bach. Das Grün sprießt spärlich, die Erde ist quietschend feucht, unten am Bach morastig. Jeder Schritt erzeugt ein schmatzendes Geräusch. Ich springe auf einen großen Stein in der Mitte des Wassers. Der Bach sprudelt wild um die Steine, spült die Böschung aus. Ich beuge mich hinunter und wasche den Ruß von meinen Händen. Als Kind liebte ich es, hier zu spielen. Mit Steinen und Pflanzen, mit dem launischen, sich immer wieder wandelnden Wasser. Geschützt vor Blicken, ungestört. Meine eigene kleine Welt.
Jedes Jahr im März, wenn der Bach vom Schmelzwasser anschwoll so wie jetzt, stieg ich aus meinen Gummistiefeln, ließ sie am Ufer zurück und stellte mich auf den großen Stein. Ich krempelte meine Hosen hoch, streckte die große Zehe ins Wasser. Es war eisig kalt. Mit angehaltenem Atem ließ ich den Fuß ins Wasser gleiten, stieg auch mit dem zweiten hinein. Dann ging ich vorsichtig bis zur Mitte. Die Kälte begann zu kneifen. Doch mit zusammengebissenen Zähnen hielt ich immer länger aus. Es war meine Mutprobe, die Begrüßung des Frühlings. Sie härtete mich ab. Im Juni hielt ich es dann mühelos eine Stunde im immer noch frischen Wasser aus. Ich schichtete mit viel Hingabe Steine und Gestrüpp zu Dämmen auf, versuchte, den Bach zu stauen. Im Frühling war das besonders mühsam und mein Werk wurde oft von der Natur zerstört.
Mein Vater baute mir in seinem Schuppen Wasserräder, die ich im Damm aufbaute. Kleine Holzboote, die ich schwimmen ließ, bis sie irgendwo an Zweigen hängen blieben. Er redete nie viel, aber er liebte es, in seinem Schuppen zu verschwinden und mit selbstgebauten Dingen herauszukommen. Dann freute er sich wie ein Kind. Gab mir Hinweise für den Damm, verbesserte meine Befestigung des Wasserrades. Juchzte, wenn sein neuestes Bootsmodell schneller war als das alte.
Am Ufersaum hat sich ein verwittertes Holzstück verfangen. Ich hebe es auf, schnitze mit dem Taschenmesser daran herum, bis es spitz zuläuft, glätte das Holz. Dann lasse ich es schwimmen. Es hält sich gut, tanzt über die Strömungen und Wirbel. Dann gerät es nahe dem Ufer in eine tote Stelle, dreht sich um sich selbst.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7432-9
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