Liebe ist eine endgültige Konsequenz. Ihr zu entsagen ist einfach, ersetzt man sie durch andere Dinge. Der Mensch kann sie unmöglich ignorieren, aber er kann Ersatz für sie schaffen und ihr widerstehen, ändert er bloß seine Ansicht und tauscht die Komponenten aus. Ein Seefahrer liebt die Meere, aber selten nur eine einzige Frau. Er ist auch seiner Heimat zugetan, doch nie besitzt er sie. Liebe kennt keinen Besitz. Ein Seemann liebt die See, aber nur in den Armen einer Hafendame bekommt er, was ihm bestätigt, zur See zu fahren. Liebe ist beeinflussbar und macht verletzlich. Sie ist formbar, in ihre Schranken zu weisen und zu verrücken. Man kann in ihr einen Grund sehen, zurückzukommen oder fortzugehen. Aber eines ist sie nie: berechenbar. Und doch geschieht es, dass ein Seemann nach Hause zurückkehrt und dem Meer entsagt. Ein Verliebter würde sich nicht anmaßen, irgendeinen Anspruch auf den Angebeteten zu erheben. Einen Freigeist einzuschränken oder ihm emotionale Ketten anzulegen. Doch ist es so verwerflich, jemandes Grund sein zu wollen, an Land zu kommen und wenn auch nur kurzweilig zu genießen, was ihm sonst verwehrt bliebe?
‚Abschalten‘ hatte der Therapeut ihm geraten. Und was gäbe es da besseres als ein Sabbatical? Die längere Auszeit hatte Jarek nach zehn Jahren in der Position des leitenden Eventmanagers bitter nötig. Zwar oblag es ihm, auch Aufgaben an andere zu delegieren, meist blieb aber doch mehr an ihm hängen als geplant. Schließlich war Kontrolle besser als Nachsicht, vor allem da er für die Gesamtprojektleitung verantwortlich war und stets den eigenen Kopf hinhalten musste, wenn die Mitarbeiter zum wiederholten Male etwas verbockten. Schon zu oft waren Dinge aus dem Ruder gelaufen und er hatte improvisieren und wieder hinbiegen müssen, was Praktikant XY verzapft hatte.
Auszeit … Was machte sich da besser als ein erholsamer Sommer an einem abgelegenen, nahezu unbekannten Platz? Ein verstecktes Häuschen, das sein Vater irgendwann als Geheimtipp gemietet und später sogar gekauft hatte, da er sich zu sehr in diese Idylle verliebt hatte. Ein Rückzugsort ohne Nachbarn mitten im Nirgendwo, umringt von Laubwäldern und Bergen. Als Bonus dazu noch dieser atemberaubende und kristallklare See, der schon beim Anblick eine wohltuende Ruhe ausstrahlte, die jedes Mal wenn er dort war, sofort auf ihn abfärbte. Viele Tage hatten sie hier als Familie genossen. Waren geschwommen, mit dem kleinen Ruderboot hinausgefahren, hatten geangelt und abends am Lagerfeuer zusammengesessen. Ja, das war definitiv der richtige Ort, um neue Kraft zu schöpfen und den inneren Akku aufzuladen. Eins mit der Natur zu werden und den ganzen Alltagsstress einfach hinter sich zu lassen. Zu erkennen was wichtig ist, was es immer war und sein wird und zu begreifen, dass die Dinge, mit denen man sich sonst herumplagte, eigentlich nur lachhaft kleine Lappalien und Nichtigkeiten waren.
Kaum hatte Jarek seinen Jeep neben der beschaulichen, aber gut ausgestatteten Hütte geparkt, machte er sich auch schon auf zum Wasser. Wie magisch angezogen rannte er schon beinahe auf das kühle Nass zu, hockte sich an den Rand und hielt die Hand hinein. Eine leichte Brise säuselte durchs Blätterdach der schier endlos hohen Buchen. Neben Grillenzirpen und Vogelgezwitscher über ihm war dies das einzige Geräusch, welches die Umgebung erfüllte und fügte sich mit den anderen zu einer sanften Natursinfonie zusammen. Er liebte es, den Stimmen des Waldes zu lauschen, und fühlte sich jedes Mal geerdet, wenn er ihnen für längere Zeit zuhörte. Seine innere Balance zu finden. Das war genau die Art von Therapie, die er jetzt brauchte.
Irgendwo war doch … Suchend sah er sich um und ging das Ufer ab, bis er schließlich das kleine Ruderboot fand, nachdem er Ausschau gehalten hatte. Das Gepäck konnte warten. Gerade wollte er nichts sehnlicher, als auf den See hinaus zu paddeln, den Stress hinter sich und seine Gedanken einfach treiben zu lassen. Übereifrig entfernte er die Plane und überprüfte das gute Stück und seine Ruder kurz auf Schäden. Als er alles für wassertauglich befand, schob er die Schaluppe bis an den Spülsaum. Freudig kramte er seine Kopfhörer und sein Smartphone hervor und schaltete den Radiosender ein, den er hier unten immer hörte. Viele empfing man schließlich nicht und er liebte die täglichen Podcasts, die sich die Moderatoren einfallen ließen. Anschließend bugsierte er sich auf die Sitzbank und stieß sich mit den Paddeln vom Ufer ab, bis er weit genug entfernt war, um richtig zu rudern. Selbst diese körperliche Anstrengung verschaffte ihm ein Wohlgefühl, das ihn von innen heraus wärmte. Die Mitte des Sees, dort war sein Lieblingsplatz. Sein eigenes persönliches Bermudadreieck, wo er alles andere um sich herum vergessen konnte und einfach nur existierte.
Er hatte nicht zu viel erwartet, denn kaum hatte er die Stelle erreicht, zog ihn die Magie des Augenblicks in ihren Bann. Das Wasser glitzerte friedlich im Licht vor sich hin und bis auf die Gesteinsfront im Norden säumten die majestätischen Wälder den See von allen Seiten ein. Der Wind wehte in erträglichem Maß und schwächte die Hitze der Nachmittagssonne zu erträglicher Intensität ab. Zufrieden streckte Jarek beide Arme aus, hielt die Ruder jedoch fest umklammert. Ihm war nicht danach, sie ins Boot zu hieven. Schon gar nicht, wenn sich das zerfurchte Holz so angenehm in seine Handinnenflächen schmiegte, dass er das Gefühl hatte, der Natur gewissermaßen mit einem Gruß zu begegnen. Gerade als er ein wenig vor sich hinzudösen begann, ging der Podcast los und Jarek rutschte noch tiefer in das Boot hinein, legte den Kopf auf den Rand des Hecks und genoss, worauf er schon seit der Hinfahrt zum Paradies gewartet hatte. Die vertrauten Stimmen ließen ihn schmunzeln, während er ihnen lauschte.
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Erschienen am 28. Mai 2020
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Tag der Veröffentlichung: 23.06.2020
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