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Vorwort

Zuweilen sind Türen zugleich Tore. Durchschreitet man sie, wird einem Einlass in eine andere Welt gewährt. Legt man zudem die Scheu vor dem Unbekannten ab, so kann man eines Tages reich an Erfahrungen erneut über die Schwelle treten und neue Wege einschlagen. Solche, die man zu beschreiten bislang noch nicht bereit gewesen ist, und an denen man nun wachsen kann. Um stärker daraus hervorzugehen und gewappnet zu sein für all das, was das eigene Schicksal möglicherweise in einem Maße prägt, das tiefe Spuren hinterlassen wird. Man wird Narben erfahren aber auch Freude. Und irgendwann, wenn man auf den Pfad zurückblickt, den man bis dahin beschritten hat, kann man sich glücklich schätzen, den ersten Schritt dazu gewagt zu haben. Völlig egal wie schwierig, folgenschwer und richtungweisend der Anfang auch gewesen sein mag. Vielleicht hat das Wagnis sogar das ganze Leben aus der Bahn geworfen und in neue Fugen gelenkt.

Doch sind es gerade solche Umbrüche, die unvorstellbare Dinge plötzlich in den Radius des Möglichen rücken lassen. Schleichend und ohne, dass man sich dem erwehren kann. Die Veränderungen entfalten sich wie eine Infektion, die man erst bemerkt, wenn sie das eigene Herz in die Mangel nimmt und eine Entscheidung erzwingt, die nie denkbar war und inzwischen unabdingbar ist. Ganz gleich der Liebe in den Herzen derer, denen sie untersagt ist, die mit einem Mal zu allem wird, wofür man den noch eigenen Atem ausstößt.

Prolog: Die verbotene Tür

„Was ist dort, Pater?“, fragte Levi und richtete sein Augenmerk mit kindlicher Neugier zum Ende des langen Flures, wo eine robuste Holztür ein gut gehütetes Geheimnis zu verstecken schien. Alle anderen Räume kannte er bereits, und in Anbetracht der Größe des Klosters wirkte diese eine Pforte in den Katakomben zwar belanglos, zugleich jedoch auf mysteriöse Weise anziehend.

„Diese Tür darf niemals geöffnet werden, hörst du? Niemals!“ Der Alte maß ihn mit einem eindringlich strengen Blick.

Zaghaft nickte der Junge und schaute erneut zur verbotenen Tür. „Aber was …“

„Nichts für Kinder“, erklärte der Priester und zerrte ihn am Arm mit zur Bibliothek. „Du bist noch zu jung, um es zu begreifen.“

Nur wenig später fand sich Levi inmitten von schier endlos hoch wirkenden Regalen, gefertigt aus uraltem Eichenholz. In ihnen türmten sich hunderte staubige Folianten, die allerhand Wissen in sich bargen. So weit oben, dass nur mit Leitern an die wertvollsten Schätze heranzukommen war. Der Alte ging zu einem kleinen Schreibtisch und entzündete den Docht einer Kerze mit seiner Fackel.

„Du hast noch viel zu lernen“, meinte der Priester, ehe er den Schmutz von einem der gewaltigen Bücher strich und es dem Knaben in die Hände drückte. „Die Toten sind redselig und ausdauernd. Sie werden dich alles lehren, was du wissen musst.“ Ein weiteres Werk stapelte sich auf dem vorherigen und gleich darauf auch ein dritter und vierter Wälzer. „Dies sind deine Lehrmeister. Fürs Erste.“

Levi nickte wortlos. Es brachte nichts, sich zu widersetzen und so folgte er dem Pater zurück in den Gang und zu den höheren Stockwerken. Beinahe ächzte er unter der Last, doch er wollte sich nicht beklagen. Nur allzu gern wurde er sonst daran erinnert, was für ein gutes Leben er führte. Schließlich landeten nicht alle Findelkinder im Kloster. Viel eher sogar auf der Straße, wo sie zu Taschendieben wurden. Eine Ausbildung zum Gelehrten hingegen, und auch noch zu einer Zeit, in der nur wenige des geschriebenen Wortes mächtig waren, galt als wahrer Segen. Immerhin war es sein Privileg, all die Mythen zu entdecken, welche auf Pergament gefasst zwischen zwei Buchdeckeln verborgen lagen.


 

10 Jahre später …

 

Levi war längst kein Kind mehr, als merkwürdige Geräusche ihn des Nachts im Dormitorium wachhielten. Schlaftrunken entzündete er eine Kerze, kleidete sich in seine Kutte und schlüpfte in die alten Pantinen. Langsam und mit Bedacht zog er die knarrende Holztür hinter sich zu, nachdem er seine Schlafzelle verlassen hatte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er folgte dem langen Flur bis zur Treppe, über die man zu den Katakomben gelangte. Mit verzagten Schritten näherte er sich den Stufen und blieb schließlich am Geländer stehen. Unentschlossen blickte er über die Brüstung in die Tiefe hinab. Alles schien wie immer und für die Winzigkeit eines Augenblicks glaubte er sogar, sich diesen fragwürdigen Lärm nur eingebildet zu haben. Er beschloss, wieder zurückzugehen, drehte sich herum und setzte gerade den ersten Fuß nach vorn, als es erneut ertönte. Wie ein lautes Kratzen auf Holz, dazu eine Art Schrei, der keinesfalls menschlich sein konnte und vielmehr etwas Animalisches an sich hatte.

„Was tust du hier draußen?“

Levi zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte Bruder Maurice gar nicht kommen hören. Vermutlich war er aber auch zu erpicht darauf gewesen, etwas anderes wahrzunehmen. 

Der füllige Mönch bedachte ihn mit einem fürsorglichen Lächeln. „Kannst du nicht schlafen?“

„Ich … nein, kann ich nicht. Hast du das nicht auch gehört?“

„Was meinst du denn?“, fragte Maurice freundlich. Seine Worte klangen wahrhaftig unwissend, passten jedoch nicht zur Skepsis in seinem Blick.

Erneut ertönte ein unnatürliches Kreischen. „Das“, bekundete Levi knapp. Es war nicht zu leugnen, dass etwas nicht stimmte. Die merkwürdigen Laute waren unüberhörbar gewesen und im Gegensatz zu ihm schien Maurice keine Spur beunruhigt zu sein. „Es kommt von dort unten, aus den Katakomben. Es hat mit dieser besonderen Tür zu tun, nicht wahr?“

Ein kurzes Zucken glitt über die Mundwinkel des Mönches. „Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe? Ich denke, darin wirst du Antworten finden.“ Kaum ausgesprochen ließ er von ihm ab und machte Anstalten, zu gehen.

Levi packte seinen Arm. „Bücher, Bücher, immer gebt ihr mir nur Bücher! Sag mir doch einfach, was da los ist! Maurice … bitte.“

Der Gelehrte verharrte für einen Moment, ehe er sich ihm seufzend zuwandte. „Erinnerst du dich an Pater Paulus?“

Kurz überlegte Levi. „Ich bin ihm ein oder zweimal begegnet. Ich war noch recht jung. Aber ich kenne seine Grabstätte.“

Der Mönch beugte sich vor und senkte fortan seine Stimme. „Nun, sein Tod war kein natürlicher gewesen. Er war abtrünnig geworden und hatte in verbotenen Büchern gelesen.“

„Was soll das heißen? Was genau hat er getan?“

„Er hat etwas beschworen. Den Wächter aller Dämonen … Legion. Direkt nach seiner Erweckung riss er Paulus in Stücke. Wir haben ihn über all die Zeit gebannt, dort unten in diesem Zimmer.“

„Gebannt? Vor so langer Zeit schon?“ Levis Stirn legte sich in Falten, ob der Frage, warum er bislang nichts davon mitbekommen hatte. „Warum ist er jetzt unruhig? Hätte man ihn nicht damals schon töten können?“

„Glaube mir, wir haben versucht, ihn zurück in die Hölle zu schicken, der er entsprungen war“, führte Maurice seine Erzählung fort. „Doch in diesem Raum befinden sich auch die alten Relikte unserer Urväter. Niemand ist an eines der Kreuze herangekommen, ohne von ihm angefallen und in Stücke gerissen zu werden.“

„Ihr hättet es mich versuchen lassen können, ich bin klein und wendig!“

Bruder Maurice schüttelte den Kopf. „Nein, es wäre sehr schade um dich gewesen.“

„Was ist mit anderen Kreuzen? Hier gibt es doch mehr als genug.“

Der Mönch nahm einen tiefen Atemzug. „Nur ein geweihtes Messingkreuz könnte vielleicht etwas gegen ihn ausrichten. Wir haben auch schon welche aus anderen Klöstern ausgeliehen. Nur ist Legion sehr raffiniert. Die Bannung schlug fehl und rief noch mehr von seinesgleichen hervor.“

Levi fröstelte. Er wollte sich nicht vorstellen, dass das Tor zur Hölle tatsächlich offenstand. „Wenn es stimmt, was du sagst, was hindert sie dann daran, einfach durch diese Tür zu marschieren?“

„Ein Schutzgebet“, erklärte Maurice gelassen. „Wir sprechen es jede Nacht.“ 

„Ein …“

„Maurice!“ Einer der Apostel unterbrach sie rüde und mahnte beide mit einem strengen Blick.

„Ich muss gehen, Levi.“

„Nein, warte! Erzähl mir mehr!“, bat dieser eindringlich. 

Doch der Mönch schüttelte nur den Kopf. „Ich habe bereits zu viel gesagt. Aber sei unbesorgt. Mit den Kräften, die dort erweckt wurden, kamen auch die unseren wieder zurück. Und je mächtiger sie werden, umso stärker werden auch wir. Es ist alles im Gleichgewicht und daher besteht kein Grund zur Beunruhigung. Lies das Buch, was ich dir gegeben habe!“

„Mau-“ Levi brach ab, als dieser schließlich fortging. 

„Und du solltest zurück auf dein Zimmer gehen!“, wies ihn der Prediger an und sein Tonfall machte klar, dass dies nicht als Bitte zu verstehen war.

Widerwillig schleppte er sich zurück in seine Kabine. Kaum war die Tür geschlossen, trat er die Schuhe in die Ecke und setzte sich auf die Bettkante. „Unbesorgt sein … Wie soll ich bei all dem nur unbesorgt sein, Maurice? Und nach einem Gleichgewicht hört sich das da unten nicht gerade an.“ 

Und jede Nacht? Vielleicht brauchten diese finsteren Mächte ja die Dunkelheit, um zu Kräften zu kommen? Levi fragte sich, wie es nur möglich war, dass er all die Zeit über nichts davon mitbekommen hatte. Ruhelos schaute er aus dem Fenster, wo der Mond sichelförmig hinter einem leichten Nebelschleier hervorstach. Andererseits waren ihm zuvor nie solche Geräusche aufgefallen. Und wenn diese Kräfte nun ihren Höhepunkt erreicht hatten? Ein lautes Knallen ließ ihn aufschrecken. Dicht gefolgt von ohrenbetäubendem Lärm. So markerschütternd, dass er sich erschrocken die Ohren zuhielt. Sein Puls raste, sobald ihm klar wurde, was wohl passiert sein musste. Augenblicklich sprang er hoch und stürmte barfuß aus dem Zimmer. Die Fackeln im Flur flackerten alle synchron, als folgten sie einem übernatürlichen Takt. Levi eilte die Treppe hinunter und noch ehe er die letzten Stufen erreicht hatte, stieg ihm der beißende Geruch von Ammoniak in die Nase. 

Auch hier flammte das Feuer an den Wänden, als wollte es ihn auf seinem ohnehin schon unheilvollen Weg nur noch mehr Angst einjagen. Dennoch lief er weiter, obwohl eine klebrige Blutspur auf dem Boden seine Füße rot färbte und ihn ins Straucheln brachte. Im Halbdunkel stolperte er über etwas Großes und hielt sich instinktiv daran fest, doch die wabbelige Konsistenz ließ ihn gleich zurückschrecken. Mit hochgerissenen Armen machte Levi einen Satz zur Seite, sowie er erkannte, was dort vor ihm lag und den Weg blockiert hatte. Es war Maurice. Genauer genommen dessen Gedärme, die halb aus dem Rumpf seines Leichnams ragten, als hätte sie jemand wahllos herausgepflückt.

„NEIN! Nein, bitte … Bitte nicht.“ 

Unfähig seine Tränen zu unterdrücken oder den Blick abzuwenden, verfiel er in eine Schockstarre. Nie hatte er je derart Grausames gesehen und gerade dieser Mönch war ihm über die Jahre so etwas wie ein treuer Freund geworden. Mit verschwommener Sicht nahm er nach einigen tiefen Atemzügen eine der Fackeln aus der Verankerung und setzte seinen Weg fort. Diesmal mit langsamen und bedachten Schritten. Je weiter er dabei kam, umso zahlreicher pflasterten die Toten seinen Weg. Viele bekannte Gesichter, denen er täglich begegnet war, sahen ihn nun mit weit aufgerissenen Augen an. Entstellt, leblos. Kurz verharrte er an der offenen Tür, bevor er es wagte, sich umzusehen. Die Kreuze standen in der Ecke, unangerührt. Auf den Boden war ein großes Pentagramm gezeichnet. Eisenketten hingen von den Decken herab, hatten nicht zurückhalten können, was sie festhalten sollten. 

„Pater!“, entfuhr es ihm, als er den Mann, der ihn großgezogen hatte, röchelnd und niedergesunken vorfand.

„Levi. Mein Junge, … wir müssen …“ Ein Hustenanfall ließ ihn abbrechen und einen Schwall Blut aus seinem Mund hervorquellen.

„Ich helfe Euch auf“, versicherte der junge Priester und bemühte sich, den Alten zu stemmen, der selbst kaum noch Kraft hatte, sich an ihm hochzuziehen.

Der Abt stützte sich für den Moment am Türsims ab. „Nimm dir eines von denen mit und lass uns von hier verschwinden.“

Gehorsam und eiligen Schrittes lief Levi zu den alten Relikten hinüber und nahm sich ein mittelgroßes Messingkreuz. Zurück bei seinem Lehrmeister, half er diesem auf dem Weg nach oben und fasste den Entschluss, diesmal keine Ausflüchte zu dulden. Er wusste inzwischen genug und er hatte gesehen, was dieses … dieses ‚Ding‘ anzurichten fähig war. Nun wollte er die ganze Wahrheit hören. Außerdem würde irgendjemand den Dämon oder vielmehr dessen zahlreiche Abwandlungen aufhalten müssen und er würde darauf bestehen, mit dieser Sache betraut zu werden. Sei es um Maurice und der anderen Willen!

Kapitel 1

„Da ist er“, sagte der Henker, als er sich die langen Lederhandschuhe bis über die Ellenbogen zog.

Der fette Mann, der eine schwarze Kapuze mit spitzem Ende trug, die sein Gesicht vollends bedeckte und nur Aussparungen für die Augen freiließ, zeigte auf den, der vor dem Abt kniete. Der Gefangene war mit einem Knebel im Mund zum Schweigen gebracht worden und durch eine Kette, die mit Hals, Handgelenken und Knöcheln verbunden war, an den Boden gefesselt.

Der Abt bemaß den Verurteilten nur mit einem flüchtigen Blick und wandte sich dann wieder an den Henker. „Nun, mein Freund. Es hieß, wir dürfen aus einer Auswahl von sechs den nach unserem Ermessen Vielversprechendsten auswählen?“ Der Alte beugte sich zum Scharfrichter hin und griff in seiner Schwäche an dessen Schulter, um sich abzustützen.

„Es hieß ebenfalls, wir dürfen mit eurer Ankunft zum Wochenbeginn rechnen“, antwortete dieser glucksend und bot dem alten Abteivater in der Mönchskutte zunächst den nötigen Halt. „Das war vor fünf Tagen. Meine Arbeit ist zuverlässig und ich bin pünktlich. Ich liefere dem Teufel seine Jünger und jeden Tag brachte ich ihm einen Todgeweihten. Nun, am sechsten Tag ist nur noch einer übrig, euer Hochwürden.“ Ungerührt schubste er den Abt von sich. Eine schmächtige Gestalt, ebenfalls in eine Kutte gehüllt, griff hilfsbereit zu und sorgte nun für einen sicheren Stand des Alten, während der Henker seine verspannten Arme lockerte. „Wäret Ihr genauso pünktlich wie meine Dienste, wären es sechs gewesen. Aber ich denke, auf Eseln reist es sich nicht sonderlich schnell. Und der Tod wartet auf niemanden, so fürchte ich. Sogar die Absolution Gottes verzeiht keine Unpünktlichkeit.“

„Nun, mein Sohn ...“ Der Abt löste sich von seinem Wegbegleiter und fand wieder festen Stand. Beschwörend musterte er die rüpelhafte Gestalt, die es gewagt hatte, ihn vorzuführen. Er brachte seine Hände zusammen, welche unter dem langen Manteltum nicht einmal hervorblickten, führte sie kurz zu seiner Brust, danach zur Stirn und wieder zurück. Kurzzeitig bebten die Lippen des Abtes und für einen Moment schien er über seinen Hals hinaus zu zittern. Plötzlich ging der Henker in lodernden Flammen auf und noch bevor er seinen qualvollen Schrei zu Ende führen konnte, war er schon in sich zusammengesackt, zu einem Haufen dampfender Asche verkommen und verstummt.

Die andere Person in dunkler Kutte zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt und blieb ungerührt an Ort und Stelle stehen. Womöglich kam so etwas ja öfter vor. Der Gefangene wurde jedoch unruhig und rüttelte an seinen Fesseln, soweit es ihm machbar war.

„Die Absolution Gottes kommt, wenn Gott es will. Sie ist so pünktlich, wie sie gedenkt zu sein. Sie kommt immer in gerechter Minute und niemals kommt sie zu spät oder zu früh.“ Mit einem Schwung seiner geweihten Hände segnete der Alte den verbrannten Leichnam des Henkers. „Und unter keinen Umständen verschont sie den Falschen. Ich fürchte, mein Sohn, Gottes Ungnade ist pünktlicher als sein Wille.“ Dann spuckte der Abt auf das Aschehäufchen und sagte: „Und vereinbart waren sechs. Ich revidiere hiermit deine Absolution und übergebe dich in die Hände des Herren. Allerdings befürchte ich, dass du dort nie ankommen wirst. Die Hölle soll dein sein.“

Kurz besah sich der Abt den in Lumpen und Fetzen gekleideten, an den Boden gefesselten Gefangenen. Dann raunte er misstrauisch und murrend, ehe er sich bückte und die vertrockneten Lippen des Geächteten vom Knebel befreite: „Mein Sohn, ich denke, du weißt, warum wir hier sind?“

Der Mann schaute von ihm zur anderen Gestalt, von der er durch die tief ins Gesicht gezogene Kapuze nicht viel erkennen konnte. Unsicher wandte er sich wieder dem Gelehrten zu, der gerade einen Mann bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. „Weil ich ein Dieb bin?“, fragte er ungestüm.

Der Alte lächelte. „Ein Verbrecher, ein Schaf. Die Art deines Vergehens ist dabei so belanglos, wie es von Interesse ist“, erklärte er mit rauer Stimme. „Wir bieten dir Vergebung deiner Sünden und viel brauchst du dafür nicht zu tun. Es sind nur ... ein paar Jahre im Dienste unseres Herren.“

„Pah!“ Der Mann am Boden würgte ein Quäntchen Speichel aus seiner durstigen Kehle, um es dem Gesandten vor die Füße zu spucken. „Ich glaubte weder an die alten Götter, noch bin ich gewillt an euren neuen zu glauben“, krächzte er. „Oder ihm zu Diensten zu sein.“

Der Abt schüttelte den Kopf unter seiner schweren Kapuze, legte anschließend die Hand an den Schopf des Gefangen und zwang ihn zu Boden. „Aber das warst du bereits. Als du dich entschieden hast, in Ungnade zu fallen und dich dabei erwischen zu lassen, hast du dich selbst für die Hölle prädestiniert, mein Sohn.“

„Wovon redet ihr?“, spie der Dieb voller Wut.

„Dein Fegefeuer wird schmerzvoll sein und teuer wirst du büßen für das, was du getan hast“, versicherte ihm der Abt. „Aber mein Gott gedenkt, dich zu retten. Dabei ist es nicht wichtig, ob du an ihn glaubst, denn bei meinem Gott verhält es sich wie mit den Einhörnern. Man kennt ihre Legenden und sie erfüllen Wünsche, so heißt es, glaubt man an sie.“ Erfüllt von bizarrer Ruhe fuhr er dem Mann über die Stirn. „In Wahrheit jedoch schert sich das Einhorn so sehr darum, ob du an es glaubst, wie es dich schert, ob das Einhorn an dich glaubt.“ Einen kurzen Augenblick sah er auf den Aschehaufen neben sich, der bis vor wenigen Momenten noch ein Mensch gewesen war und fand den Blick zum Geknechteten zurück. „Du bist zum Tode verurteilt. Dein Weg geleitet dich in die Flammen. Du verlässt dieses Verlies nur auf zwei Wegen. Einer führt dich zum Galgen. Der andere ist ungewiss, aber er könnte Leben bedeuten!“ Die zweite Person kam heran und half dem Alten auf. Krumm stand er da, gebeugt wie ein vom Wind gemähter Baum, in seiner Kutte, die so schwer auf ihm zu Lasten schien.

„Was muss ich tun?“, fragte der Gefangene. Sein Blick haftete an dem Häufchen schwelender Asche, das seiner Entscheidung offenbar den nötigen Nachdruck verlieh.

Der Abt seufzte, bevor er sprach. „Deine Freiheit gewinnen, Sohn. Nicht mehr und nicht weniger. Mehr wird von dir nicht verlangt. Beichte deine Sünden, und ich meine jede deiner Sünden. Stelle dich in unseren Dienst und es soll dich nur Jahre deines Lebens kosten.“ Erneut beugte er sich zum Dieb nieder. „Und lass dir gesagt sein, ein paar Jahre sind gegen das Ende deines Lebens ein großmütiger Preis.“

Anschließend wandte er sich ab, griff nach dem Schlüssel des Henkers und hinterließ ihn an der Stelle, an der er selbst noch eben gestanden hatte. Im Vorbeigehen legte er die Hand auf die Schulter seiner Begleitung und sagte: „Es gibt viele Kerker auf dieser Welt. Und umso mehr Seelen gibt es, die errettet werden können. Sollte dir diese nicht zusagen, überlasst ihn seinem Schicksal.“

„Macht Ihr das so, ja?“, echauffierte sich der Gefangene und drehte seinen Kopf soweit es seine Fesseln zuließen. Doch der Alte ging geradewegs die Steintreppen des Kerkers hinauf.

„Ich habe gestohlen! Ist es das, was einer Beichte gleichkommt?“ Der Dieb wand sich in seinen Ketten und stocherte nach Freiraum. „Worauf wartet Ihr noch? Nehmt den Schlüssel und befreit mich. Euer Gott interessiert mich wenig. Aber wenn er Freiheit verspricht, will ich nicht länger darauf warten müssen. Ich sage Euch, was Ihr hören wollt.“ Fast schon apathisch sah er den kostbaren Schlüssel an. „Kommt schon, nehmt den Schlüssel und mir die Beichte, wenn nötig. Aber tut es gleich“, bettelte er schließlich.

Die zweite Person trat näher, blickte kurz zum Schlüssel, und schob ihn ein Stück mit dem Fuß beiseite. „Ein Dieb also. Weißt du … eigentlich hat er recht: Es gibt viele wie dich. Vielleicht suchen wir wirklich an der falschen Stelle nach jemandem, der dieses Geschenkes würdig ist? Doch bevor ich darüber urteile, möchte ich dir eine Chance einräumen.“ Junge, ungeschundene Hände holten eine Feldflasche unter der Kutte hervor. „Du musst völlig ausgetrocknet sein. Trink ein wenig, es wird dir das Sprechen erleichtern.“ Der Gottesdiener ging in die Hocke, hielt mit einer Hand stützend den Kopf des in Ketten Gelegten und ließ ein wenig Wasser in seinen Mund laufen. „Fangen wir mit deinem Namen an und sag, was war es, das so wichtig war, dein Leben dafür zu riskieren?“

Der Dieb drückte seine Stirn auf den kalten Steinboden. Er rieb den Zorn in sich auf und für einen Moment lenkte er sich mit der Frage ab, ob sterben nicht womöglich die bessere Alternative wäre. Er hatte so einiges gehört vom Tod durch den Galgen, doch es war gewiss nicht so, dass ihn die Erzählungen darüber je abgeschreckt hätten, im Gegenteil. Es war berauschend zu erfahren, um wie viel mehr eine Geschichte befriedigte, wenn sie eine Geschichte blieb. Dem Tod zu entgehen, ihn zu fordern und ihm dann am schmalen Grat zwischen Ende und Neubeginn einfach geschickt von der Schippe zu springen. Ihn herankommen zu lassen, seine Nähe bis auf den letzten Zentimeter zu riskieren, wo sich sein kalter Atem auf die eigene Haut legt, sodass sich jedes noch so verkümmerte Härchen vom Nacken bis zu den Fußsohlen aufstellt und ihm dann mit einem gekonnten Sprung oder einem ähnlich waghalsigen Manöver lächelnd durch die Finger zu gleiten und ihm ins Gesicht zu schreien: 'Heute nicht!'

Der Galgen jedoch hatte wenig dieses Adrenalin-besprenkelten Gefühls an sich. Natürlich gab es nie einen Erfahrungsbericht, der dem Dieb bis an die Ohren gelangte, da kaum einer, dem der Strick geboten wurde, noch lebendig genug gewesen wäre, um davon zu berichten wie es sich angefühlt hatte. Aber deswegen hieß es wohl auch 'Todesurteil'. Und meist reichte die grausame Faszination derer, die ihm darüber erzählten, aus, um die Erkenntnis zu gewinnen, nicht unbedingt zu denen gehören zu wollen, die es ausprobieren mussten. Es sollte ja eine ganz humane Methode des Hinrichtens sein. An einer sehr labilen Stelle, meist war es der Ruck des massiven Seils, der das Genick brechen ließ, und den Probanden direkt über den Jordan warf. Manchmal aber war der Unglückliche, der baumeln musste, stabiler als dass der abrupte Stopp des Falls den Nacken zu bersten vermochte und in jenem Falle schaute man hängend, würgend, kotzend und erstickend eine ganze Weile lang in die Augen der Zuschauer, für die der eigene Erstickungstod ein unbezahlbarer Höhepunkt war.

Und es gab für einen Dieb viele Arten den Tod zu finden. Von einer Hellebarde oder vom Schwert eines Gardisten zerrissen zu werden war dabei die von Kleptomanen bevorzugte. Das hatte zwar den Beigeschmack, erwischt worden zu sein, aber es war immerhin ein kämpferischer Tod. Davon hielt ein Dieb so wenig wie vom Sterben an und für sich, doch das war wenigstens noch männlich! Es hatte etwas von Schweiß und Blut und dieser ganzen Auge-um-Auge- und Zahn-um-Zahn-Erzählung, auf die die rohen Haudegen so versessen waren. Bei einer Nacht- und Nebelaktion im fehlgeschlagenen Akte einer Akrobatik von irgendeinem Turm zu fallen, war genauso gut. Zwar musste der Dieb das Versagen durch das eigene Missgeschick beim Sterben schlucken. Aber alles war besser, als die von trüber Bitterkeit geschwängerte Einsicht, dahinscheiden zu müssen, weil man sich erwischen ließ. Ja, geschnappt zu werden, war wirklich das Bitterste.

Deshalb durstig an einem rauen Seil hängend zu ersticken, wäre für einen Dieb die unangebrachteste Art des Ablebens. Der Gefangene hatte wahrlich lange Zeit keinen Tropfen Wasser mehr genießen dürfen und hob das Kinn, so weit ihm die Ketten gnädig waren, vom Boden und blickte zum Kuttenträger auf, von dem eine so helle und junge Stimme ausgegangen war, dass er sich sicher schätze, vor einer Priesterin zu liegen. „Vincent“, gab er seinen Namen preis. „Und ich stahl Eier.“ Kurz fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, um den Rest des Wassers aufzunehmen, das noch sickernd auf seinem Mund versiegte. „Die Eier eines Eunuchen“, erklärte er amüsiert. „Die nagen wirklich am fettesten aller Hungertücher. Arm sind die nicht, das steht fest.“ Vincent prustete los. „Ich habe noch nie einen dürren Eunuchen gesehen. Wenn ihnen die Zunge gelassen wird, bezahlt man ihnen viel für die Geheimnisse, die sie zu wahren haben. Und so schlecht war der Plan gar nicht.“

Vincent musste in einer Mischung aus lachen, husten, würgen und gackern aufstoßen. Stockend atmete er aus, als er sich, so weit es ihm die klirrende Fessel möglich machte, aufrichtete: „Ein Mann, dem man einmal alles genommen hat, was ihn als Mann ausmacht, wird ganz gewiss alles zahlen, um es nicht ein zweites Mal zu verlieren. Und ehrlich gesagt, es war so einfach in den Harem eines Barons der Sanddünen einzubrechen. Einem verhungerten Hund einen abgenagten Knochen abzujagen wäre erschwerender gewesen.“

Der Dieb, der immer noch versuchte, das Gesicht unter der Kutte anzusehen, verschlang nun mit aller Offensichtlichkeit, was sie zu bedecken berufen war. So nickte er vom Boden aus lüstern beim Anblick von Kinn und Wangenknochen. „Was mir mein Ziel nahm, war genau das, was Ihr unter Eurer dichten Robe so unansehnlich zu verbergen versucht. Teufel noch eins!“, fluchte er und ließ den Kopf wieder auf den kühlen Steinboden sinken. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass dort alle Weibskörper unbedeckt baden. Ist ja wohl kein Wunder, dass man denen die Eier abhackt. Sowas hält ja kein Mann aus ... mit Eiern!“, beschrieb er das Dilemma auf eine fast schon bemitleidenswerte Weise. „Wenn man es also so sieht, war meine Sünde, die mir von Gott gegebenen Talente damit zu verschmähen, plötzlich ein bekennender und sehender Liebhaber seiner nackten Schöpfung zu sein. Und als Gott den Körper der Frau um so vieles schöner machte, als den des Mannes, muss er vorher einen guten Tropfen erfunden und davon getrunken haben.“ Vincent sah erneut zum Kuttenträger auf und grinste frech. „Gestohlen habe ich also nicht einmal wirklich etwas. Aber da Ihr die Frage schon so gestellt habt, muss ich zugeben, dass der Anblick das Risiko wirklich wert gewesen war.“

Der blutjunge Priester zog sich die Kapuze zurück und enthüllte sein Gesicht, welches kinnlanges blondes Haar und verführerische Wangenknochen offenbarte. „Mein Name ist Levi“, stellte er sich vor.

Mit einem Mal entglitten Vincent die Gesichtszüge. „Scheiße, du bist ein Kerl!“

„Ganz recht“, antwortete der Priester und kam nicht umhin, unter einem süffisanten Lächeln anzufügen: „Einer mit Eiern.“

Kapitel 2

 

Ein wenig verstand er sogar die Verwunderung des Diebes. Die Kutte, die er trug, war weit geschnitten und kaum figurbetonend. Nur der Gurt um seine Hüfte ließ eine schmale Taille erahnen. „Nun, Vincent … wenn du geglaubt hast, mich zu schockieren, so liegst du falsch. Ich denke, die Gelüste, von denen du sprichst, sind überhaupt erst der Grund, warum wir existieren. Ohne sie wären wir womöglich bereits ausgestorben! Selbst Hohepriester haben Eltern oder manchmal sogar Kinder. Dennoch ist jeder Mensch für sich verschieden und jedem einzelnen obliegt es, damit umzugehen, wie er es für richtig erachtet. So habe auch ich meine Entscheidung getroffen. Du brauchst dich also weder zu fürchten, dass Gott dich verurteilt für die Unzucht, die du treibst, noch brauchst du zu fürchten, ich würde es darauf anlegen, dich um den Verstand zu bringen, sollte dein Interesse über das an Gottes weiblicher Schöpfung hinausgehen.“
[...]

Erschienen Amazon am 04. April 2020

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Impressum

Texte: Kaiden Emerald
Cover: © Shutterstock, © beti bup (The Book Cover Machine) Layout designed by © Kaiden Emerald
Lektorat: Die Korrifeen: Mel, Mims und Flash
Satz: © Kaiden Emerald
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:

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