Cover

Prolog

Womöglich kennt ihn jeder, diesen einen Moment … den Augenblick, in dem man realisiert, etwas zu missen. Sei es die alte Schule, in der man stotternd vor versammelter Klasse das ein oder andere Referat halten musste, oder das Lieblingscafé gleich um die Ecke, in dem man einst mit der besten Freundin lange, sonnenreiche Nachmittage verbracht hatte und sich über Männergeschichten, die Arbeit, Klamotten und alles andere austauschte, was einen sonst noch so bewegte. Oder gar die alten Freunde, deren Foto man zwar gerade durch eine überfällige Aufräumaktion in den Händen hält, jedoch keine Ahnung hat, wo in aller Welt sie jetzt stecken. Man fragt sich, wie ihr Leben verlaufen ist, ob sie Familien gegründet oder vielleicht sogar das Land verlassen haben, um ihr Glück zu finden. Man misst die Streiche, das gemeinschaftliche Bangen vor anstehenden Prüfungen und ganz besonders die gemeinsamen Stunden nach der Schule.

Es fühlt sich an wie ein Kribbeln in den Händen, ausgelöst durch den bloßen Anblick des Fotos. Ähnlich ist es auch beim Vorbeifahren an den alten Gemäuern, in denen man einst Meilensteine legte. Oder früheren Lieblingsorten, die nun so heruntergekommen sind, dass es einem im Herzen wehtut, sie so zu sehen. Es rüttelt alte Erinnerungen in uns wach, wirft sie in die Höhe und lässt sie in der Luft umherwirbeln. Langsam und zäh macht sich schließlich das Bedauern breit und wir fühlen, dass etwas fehlt. Sehnsucht wäre zu diesem Zeitpunkt bereits zu viel gesagt. Es handelt sich vielmehr um eine Art Vorstufe, die am Ende der Treppe jedoch wirklich dorthin übergeht. Dabei beginnt es eher unscheinbar, vielleicht sogar nur mit dem belanglosen Bemerken einer Gepflogenheit oder eines Gefühls, das zuvor greifbar war und nun unnahbar ist.

Doch so ist es nicht selten im Leben, zumeist realisieren wir erst, etwas zu missen, wenn es fort ist. Gewiss sehen wir zu vieles als Selbstverständlichkeit an und vielleicht würden manche Dinge nicht verschwinden, wenn wir dies nicht täten. Sei es eine Wertschätzung des Partners, enger Angehörige, der Freunde oder ganz pauschal formuliert: überhaupt der Menschen in unserem Umfeld. Bei dem ständigen Drang, vorankommen zu wollen, ist es mit Sicherheit hilfreich, mal einen Schulterblick nach hinten zu werfen, um zu sehen, was man alles schon erreicht hat. Auch diese Dinge sollten wir zu achten lernen. Angefangen beim Dach über dem Kopf bis hin zu gewöhnlichen Alltagsritualen wie dem morgendlichen Kaffee.

Manchmal sind wir jedoch so davon überzeugt, einen Cut setzen zu müssen, dass uns nichts und niemand davon abbringen kann. Nicht einmal die reinsten, ehrlichsten und gut gemeinten Worte oder die plausibelsten Argumentationen. Wir müssen mit dem Kopf durch die Wand, für uns selbst. Doch irgendwann geschieht es dann doch, dass man sich nach dem verpönten Althergebrachten sehnt und verzehrt. Zudem sind da noch die Erinnerungen, die erbarmungslos durch die Luft zu schwirren scheinen. Wir können wegsehen, doch irgendwann ist der Schleier bereits so dicht, dass wir fürchten, die Nebelschwaden schüren uns den Atem.

Dieses Empfinden holt uns ein und stimmt uns nachdenklich. Es ist wie der aufdringliche Postbote, der dich hartnäckig nach deiner Nachtschicht aus dem Bett klingelt, nur um das Päckchen für irgendeinen Nachbarn bei dir abzuladen. Den ersten Versuch kann man ignorieren, doch irgendwann zwischen dem zweiten und fünften Läuten ist man zwangsläufig wach … Vielleicht schwelgt man in den ‚guten alten Zeiten‘ oder aber es drängt sich einem die Frage nach dem ‚Warum?‘ auf und zwingt uns, eine Erkenntnis aus der Vergangenheit zu ziehen. Einen Abschnitt, der möglicherweise tiefe Wunden gerissen hat und in den man sich nur ungern freiwillig zurückversetzt. Oft endet die Einsicht bitter, mit einem zerreißenden Gefühl, einhergehend mit Heimweh, Liebeskummer und anderem Herzschmerz.

Oftmals sind es auch die lang gehegten Träume, denen man einst nachjagte und für die man bereit war, alles aufzugeben. Oder es vielleicht sogar getan hat?! Das erdrückende Gefühl, es gäbe nun kein Zurück mehr und man müsse seinen ‚Mann‘ oder seine ‚Frau‘ womöglich allein ‚stehen‘, um der Sehnsucht endlich nachkommen zu können und das Ventil zu schließen. Denn der Drang nach dem kleinsten Funken Anerkennung ist oft der Auslöser für Sehnsüchte und radikale Veränderungen.

Wenn Sehnsucht folglich eine Zimmerpflanze wäre, so wäre sie wahrscheinlich ebenso beliebt wie Telefonterror der hysterischen Schwiegermutter in den Flitterwochen. Dennoch steht sie in mehr Räumen, als sich vermuten ließe. Man braucht nur abends durch die Straßen der Stadt zu fahren und den wahllos angeordneten Fenstern, in denen noch Licht brennt, einen kurzen Atemzug von Aufmerksamkeit zu gewähren. Man könnte diese Streuung im übertragenen Sinne für all die vielen Zimmer sehen, in denen diese Pflanze wächst und gedeiht. Schlussendlich ist zu erkennen, dass sehnsüchtige Herzen weit verbreitet sind, ebenso wie man annehmen könnte, dass um diese Zeit kaum noch jemand wach wäre. Dennoch brennen Lichter und eine jede dieser Seelen hängt ihrer eigenen Ungewissheit nach. Sei es das inständige Hoffen auf eine Lohnerhöhung, weil es nun eine Familie zu ernähren gilt, das Bangen vor den Risiken einer bevorstehenden Operation oder die Furcht, der Partner kommt nicht mehr heim nach dem letzten Streit.

Wir fühlen uns in Hilflosigkeit ertränkt, während der Keim der Pflanze heranreift. Wir sehnen uns nach dem, was war, und hoffen es wieder herstellen zu können oder fürchten um den nächsten Schritt und wünschen uns, ihn einfach zu überspringen und dort anknüpfen zu können, wo es wieder erträglicher wird. Mit jedem entsendeten Gedanken an unsere Sehnsüchte wächst die Pflanze weiter heran und die Last auf unseren Schultern wird mit jeder Wiederholung schwerer, bis sie ein scheinbar unerträgliches Maß erreicht. Wir laufen auf und ab, werden unruhig, vor allem aber ungeduldig. Wir fühlen uns wie das Kind, das sich im Kaufhaus auf den Boden wirft, weil es unbedingt die Schokolade will. Ob zu Hause auch welche ist oder sie wirklich das Budget sprengt, ist in dem Moment irrelevant. Es muss jetzt sein und sofort. Wir können keinen klaren Gedanken mehr fassen und nichts scheint uns noch ablenken zu können. Wir wollen Gewissheit und Antworten und das unverzüglich, weil wir sonst das Gefühl haben, zu explodieren oder gar verrückt zu werden und die Kontrolle gänzlich zu verlieren. Die offenen Fragen sind das Einzige, was sich hämmernd in unser Bewusstsein drängt. Ist sie nun schwanger? Kommt er zurück? Ist die Operation gut verlaufen? Ist die Prüfung bestanden? Wir sind wie gelähmt, bauen auf ein ‚Happy End‘, doch nicht immer wird es eintreffen.

Kann man Sehnsucht begrenzen? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Es gibt keine klaren Linien, denn jede ihrer Ausprägungen ist anders. Es kommt auf die Umstände an, auf die Menschen, die sie durchleben und deren Bindungen. Jemand der früher vor der Schule stets denselben Schokoriegel am Kiosk gekauft hat, wird seiner Produktionseinstellung gewiss länger nachtrauern, als jemand der ihn nur einmal probiert hat. Schmerzlicher ist es, wenn das Empfinden, das wir Sehnsucht getauft haben, Menschen miteinbezieht. Egal wie lecker der Schokoriegel auch war, es ist nicht damit gleichzusetzen was jemand durchlebt, der einen geliebten Menschen vermisst. Egal ob durch einen Umzug nach ‚viel zu weit weg‘, eine Trennung oder gar sein Ableben.

Die Sehnsucht ist viel zu diffus, ihr Begriff zu komplex, als dass wir ihn weniger schwammig definieren könnten, ohne dabei alles über einen Kamm zu scheren. Sie hängt im Wesentlichen mit dem Empfinden der Menschen zusammen. Viele Dinge haben emotionale Werte, die andere nicht nachvollziehen können. Geht beispielsweise eine Uhr verloren, mit der man um die halbe Welt gereist ist und eine Menge erlebt hat, so ist dies nicht einfach nur ‚irgendeine‘ Uhr und lässt sich deshalb auch nicht durch ‚irgendeine andere‘ Uhr ersetzen. Ausschlaggebend sind ebenso die Lebenslagen, in denen wir uns befinden. Manch einer erlebt diese Zeit intensiver, während sich ein anderer kaum von ihr erfasst fühlt.

Aber wie heißt das Gefühl davor, wenn es gerade erst beginnt, sich aufzubäumen? Oder das in der Mitte, bevor wir anfangen, überhaupt von Sehnsucht zu sprechen? Wie benennen wir den Zustand, wenn man denkt, man wäre bereits an seine Grenzen gestoßen, aber es geht trotzdem noch weiter, erheblich weit sogar?! Es gibt keine Definitionen oder Eingrenzungen und selbst wenn dem so wäre, so könnte man sie mit Sicherheit nicht so anwenden wie eine Lösungsformel bei einem mathematischen Problem.

Doch wie bei so ziemlich allem im Leben gibt es auch hier eine Kehrseite. Sehnsucht kann uns ebenso beflügeln und Mut spenden. Sie kann uns den Anstoß dazu geben, über uns hinauszuwachsen und Dinge zu bewältigen, von denen wir zuvor bewusst Abstand hielten.

Letztlich sind es die Gefühle, die uns ausmachen und unserem einmaligen Dasein den nötigen Hauch an Farbe verleihen. Es ist also nicht schlimm, Sehnsüchte zu verspüren und ihnen nachzugeben. Ganz im Gegenteil: Sie sind es, die uns die Kurven auf der mutmaßlich graden, schillernden Straße des Lebens fahren lassen. Wenn wir ihnen nachjagen und hier und dort anhalten oder uns gar auf ihre Schlangenlinien einlassen, so können wir am Ende des Weges davon berichten. Von dem wagemutigen Irrsinn, der uns zur ein oder anderen Sache antrieb, von den guten und den schlechten Erfahrungen, die unsere Persönlichkeit prägten und ohne die unser Leben ziemlich trist verlaufen wäre. Auch wenn es Rückschläge gab, so können wir zurückblickend sagen: „Wir haben Erfahrungen gesammelt, sind Träumen nachgeeifert und hingefallen. Aber dann sind wir wieder aufgestanden und haben weitergemacht – … wir haben gelebt.“

Und vielleicht, ja vielleicht sogar … ist es gar nicht so töricht, sich der Hoffnung hinzugeben, dass alles wieder gut werden kann. Dass man neu lieben darf, ohne den anderen aus dem Herzen zu verlieren. Dass es so etwas wie Engel und Weihnachtswunder wirklich gibt und sie einem manchmal sogar die innigsten Wünsche erfüllen können.

 

Erschienen Amazon am 12. Dezember 2019

https://amzn.to/2QkFFFP

 

Impressum

Lektorat: Die Korrifeen: Flash, Mims und Mel
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2019

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /