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Vorwort

Manchmal, wenn wir es am wenigsten erwarten, werden wir vom Schicksal aus dem bekannten Schema gerissen und mit einer völlig neuen, nie da gewesenen Situation konfrontiert. Plötzlich stehen Dinge in Aussicht, über die man nie nachgedacht hat. Verlockend, betörend und beängstigend zugleich. Wir fühlen uns wie Adam im Garten Eden, der gerade darüber sinniert, ob er in den Apfel beißen soll. Es ist diese eine drängende Sekunde, die einem bleibt, um sich zu entscheiden und die Lethargie zu überwinden, die einen für den Augenblick gefangen hält.

Was würde wohl passieren, wenn wir die Chance verstreichen ließen und einfach in unser altes Muster verfielen? Und was hielte das Leben vielleicht für uns bereit, wenn wir genau das nicht täten? Würden wir andernfalls vermissen, was der Geist uns mit ‚Was-wäre-wenn‘-Fragen auf ewig nachtragen wird. Oder wäre es gut, diesen Schritt nicht gegangen zu sein, hätte es nur in einem Fiasko geendet? Vor oder zurück? Ein Risiko eingehen oder auf das Altbekannte vertrauen? Was will das Herz?

Kapitel 1

„Was tun Sie da?“ Der Kellner bedachte Leigh mit einem skeptischen Blick.

„Oh, ich … mache mir nur ein paar Notizen, um die Eindrücke des Tages festzuhalten“, antwortete er und legte den Füllfederhalter für den Moment beiseite.

„Ah, Sie meinen, Sie führen ein Tagebuch?“

„So ungefähr.“

„Wie kann man denn nur ‚so ungefähr‘ ein Tagebuch führen? Schreiben Sie am Ende etwas ganz anderes auf?“

„Mitunter schon, ja“, gab Leigh zu.

Neugierig beugte sich der Ober vor, stützte sich mit den Händen auf die Eichenholzplatte des Tisches und bohrte weiter nach. „Sind Sie etwa ein Geistlicher? Notieren Sie sich Ihre Predigt?“

Hält er mich für einen Pfaffen? Eigentlich mochte er es nicht, sich einem Fremden gegenüber als freischaffender Buchstaben-Akrobat zu offenbaren, doch gegen den Wissensdurst des jungen Mannes kam er nicht an und sah sich daher zu einem Geständnis gezwungen. „Ich bin Autor, Schriftsteller.“

„Ein echter Schriftsteller? Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einem begegne! Das ist ja … Ich bin sprachlos!“

Ich wünschte, dem wäre so, mein Freund.

„Ein Schriftsteller! Ich fasse es nicht!“

Möchtest du es nicht noch lauter herumschreien? Ich glaube, die Leute an den hinteren Tischen haben es noch nicht mitbekommen.

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Wie wäre es denn dann einfach mit gar nichts?

„Ich bin James, meinem Großvater gehört der Pub“, sprach der Kellner und streckte seine Hand aus.

„Leigh“, stellte sich der Autor ebenfalls vor und erwiderte den Gruß, woraufhin seine Hand übereifrig geschüttelt wurde.

„Was schreiben Sie denn so, Sir?“

„Kriminalromane – Gewaltverbrechen und deren Aufklärung.“

„Sie meinen …“, der Mann lehnte sich weiter über die Tischplatte herüber und begann nun zu flüstern, „so richtig mit Morden?“

„Ja.“

„Da haben Sie hier in London sicher reichlich vortreffliche Schauplätze zur Inspiration.“

Und gerade einen jungen Mann, der sich immer mehr als Opfer für die nächste Geschichte qualifiziert. „Ja, es gibt schon interessante Ecken.“

„Na, dann will ich Sie mal nicht weiter stören.“

Danke, wie gnädig. Leigh nickte gezwungen freundlich und wandte sich wieder seinem Notizbuch zu.

„Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen, Sir?“

„Wenn Sie die Güte hätten, einen Earl Grey, bitte.“

„Selbstverständlich.“

Leigh blickte auf, jedoch nur um nachzusehen, ob James sich tatsächlich entfernte.

Er mochte die urige Schenke im Herzen der britischen Hauptstadt. Dort konnte er seiner Arbeit sogar in den Nächten bei frisch gebrühtem Tee oder einem Krug dunklen Fassbieres nachgehen. Dabei beobachtete er das gesellige Beieinander der anderen am liebsten von seinem Platz ganz hinten im Lokal.

Wenn alle Gäste fort waren, setzte er sich an den offenen Kamin, genoss die Wärme des Feuers und hielt die letzten Zeilen des Tages schriftlich fest.

Dass er lieber für sich war und nicht allzu sehr an Gesprächen interessiert, hatten die Stammgäste bereits nach drei Tagen akzeptiert. Die Prostituierten, die in den Abendstunden ihrem Broterwerb nachgingen, waren hartnäckiger gewesen, war doch jedes Mannsbild ein potenzieller Freier und Goldesel. Nach einer Woche hatten jedoch auch sie aufgegeben.

Im Augenblick schrieb er über ein Verbrechen aus Eifersucht.

Einen Mann, der seine Ehefrau mit einem Liebhaber erwischt hatte, woraufhin er beide zu Tode folterte und ihre Leichname nun in der Themse entsorgen wollte.

Bald schon würde er die Ermittler auf die Jagd nach ihm schicken. Einen jungen und einen älteren Polizisten, die natürlich nicht mehr waren als Freunde. Ganz, wie es sich gehörte.

Wo käme man denn hin, etwas anderes zu denken oder gar zwischen den Zeilen zu lesen? Etwas, das womöglich nicht jeder Mensch begriff. Eine kleine Überzeichnung der Charaktere. Eine Spur zu viel und doch zu wenig, um ihm Sittenwidrigkeit vorwerfen zu können.

Das leichte Andeuten einer Tatsache, die mitunter noch immer in den Beichtstühlen der Kathedralen zur Sprache kam: dem Gefühl, sich zum eigenen Geschlecht hingezogen zu fühlen. Nicht zum körpereigenen, wobei dies wohl auch einer Sünde gleichkam, sondern zu jemandem, der ebenfalls ein Mann war.

Am Ende würde der Verbrecher durch einen Stofffetzen des Kleides seiner Ehefrau überführt werden.

Ein Meisterstück, das nur noch darauf wartete, frisch gedruckt in den Buchhandlungen auszuliegen, damit die feinen Damen der gehobenen Gesellschaft ein neues Thema bei ihren Tea Partys hatten und hinter vorgehaltener Hand vielleicht doch die eine oder andere romantische Schwingung zwischen den beiden Hauptakteuren hineininterpretierten könnten.

James riss ihn schließlich aus den Gedanken, als er die Tasse neben seinem Buch auf dem Tisch abstellte. „Viel Erfolg, Sir.“

„Danke.“ Leigh sah davon ab, gleich am Tee zu nippen, hatte er sich doch schon oft genug den Mund daran verbrüht. Stattdessen schaute er dem Burschen mit der durchaus schönen Rückansicht nach.

Ich bin zum Arbeiten hier, erinnerte er sich selbst. Denn auch wenn er ortsungebunden war und sich auf einer Reise befand, die ihn nach Lust und Laune stets wieder in neue Gegenden führte, galt es, ab und zu eben auch ein Buch zu veröffentlichen, was ihm ermöglichte, diesen Lebensstil weiterzuführen.

Nicht zu vergessen, versprach sich auch sein Verleger jedes Mal einen stattlichen Umsatz, der es rechtfertigte, dass die Buchhandlungen sein neues Werk in ihr Sortiment aufnehmen würden. Als Anreiz für weitere Verkaufsschlager hatte er sogar einen Füllfederhalter geschenkt bekommen, mit dem er durch den regelmäßigen Tintenfluss schneller schreiben konnte, das Tintenfass einsparte und zudem ein ordentlicheres Schriftbild ohne viele Kleckse erzielte.

Nachdem der Mörder der Geschichte die Leichen zum Fluss gebracht hatte, beendete Leigh seine Arbeit vorerst, klappte das schwarze Notizbuch zu und räumte es zusammen mit dem Schreibgerät in die alte Aktentasche, die noch von seinem Großvater stammte.

Er plante, seinen Schurken zunächst davonkommen zu lassen und dazu selbst noch einige Untersuchungen am Fluss durchzuführen.

Die übrigen Gäste und Angestellten waren längst fort und nur noch er und Tane, der Bartender, befanden sich im Lokal.

Wie Leigh nun mitbekommen hatte, war dieser jedoch nicht der Landlord, also der Eigentümer der Schenke, sondern lediglich ein einfacher Angestellter.

Inzwischen hatte Tane auch die Eingangstür verschlossen und schenkte ihm ohne nachzufragen das allabendliche Glas Portwein ein. Eine Marotte, die ihm wohl aufgefallen war, und ihn das Weinglas zum kleinen Beistelltisch am roten Sessel vor dem offenen Kamin bringen ließ. Von dort war bereits das leise Knistern der Flammen, welche die letzten Holzscheite im Schlot liebkosten, zu vernehmen. Dazu ein aufmerksamer Mann und ein Platz der bereits von Weitem eine anziehende Behaglichkeit ausstrahlte, genauso wie die Vertäfelung der Wände und die Petroleumlampen mit den Milchglaskuppeln.

„Danke, Tane“, sprach er und schob sich die Brille zurecht.

„Es war mir eine Ehre, Sir.“ Der Schankwirt ging zu seinem Platz am Tresen zurück und Leigh machte es sich im Sessel gemütlich. Nun war es Zeit für das rote Notizbuch, in dem er private Gedanken und Eindrücke festhielt. Eine halbe Stunde, dann würde er sich und Tane die wohlverdiente Nachtruhe gönnen.

 

  1. Mai 1896

Nun ist schon mein zehnter Tag hier in London verstrichen. Noch immer kehre ich des Nachts in der gleichen Taverne ein und gehe tagsüber auf Entdeckungstour.

Ich habe den Eindruck, dass sich die Menschen hier inzwischen an mich gewöhnt haben. Trotz allem werde ich wohl an meinen Plänen festhalten. Was auch die Regel miteinschließt, jeden Ort nach vierzehn Tagen zu verlassen und weiterzuziehen, um Neues zu entdecken.

Andernfalls fürchte ich, sesshaft zu werden und den Weltenbummler-Blick zu verlieren, der meinen Stil ausmacht.

Dabei ist jetzt schon sicher, dass mir der Abschied schwerfallen wird. Diese Schenke hat gar schnell einen familiären Charakter angenommen. Ein Ort, der sich beinahe schon wie ein Zuhause anfühlt und an dem einem die Wünsche von den Augen abgelesen werden.

Ich muss mich nicht erklären, nicht darum bitten, meine Ruhe zum Schreiben zu bekommen und bleibe trotzdem ein Teil des Geschehens. So kann ich dennoch das ein oder andere Detail aufschnappen, was der Geschichte guttut.

Ich bin da, ein stiller Beobachter, der alles von außen betrachtet wie ein Geist. Gleichzeitig werde ich nicht ignoriert oder ausgegrenzt und habe stets die Möglichkeit, doch an den geselligen Runden teilzuhaben, um zu hinterfragen und zu recherchieren.

Heute war ich für den Mordfall meiner Geschichte in einem Modegeschäft für Herren und Damen. Dort wollte ich ein Gefühl dafür gewinnen, von welchen Kleidern die britische Damenwelt derzeit angetan ist, damit ich meiner Protagonistin ein solches bei ihrer Ermordung stilgerecht vom Leib reißen kann.

Als ich das Geschäft betrat, merkte ich direkt an, dass ich mich nur ein wenig umsehen wolle und auf sie zukommen würde, wenn ich etwas bräuchte.
[...]

 

Erscheinen Amazon am 20. Juli 2019

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.07.2019

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