In vollkommener Dunkelheit tastete Casey nach dem Schalter seiner Nachttischleuchte. Wieder war er schweißgebadet und allein auf der Schlafcouch in seinem Zimmer aufgewacht. Der Albtraum war noch immer so gegenwärtig, dass ihm einen Moment lang der Atem wegblieb. Währenddessen spielte sich das Horrorszenario erneut vor seinem inneren Auge ab. Da waren Schatten, denen er nicht entfliehen konnte. Hände, die ihn packten, schüttelten, schlugen. Beschimpfungen, so laut an seinem Ohr geschrien, dass sein Trommelfell zu platzen drohte. Ein Fausthieb ins Gesicht, der seine Haut aufplatzen ließ, dann noch einer. Hervorquellendes Blut und das bestialische Geräusch seines brechenden Armes. Schlamm auf seiner Zunge, schnell aufeinanderfolgende Tritte. Die schemenhaften Silhouetten von vier Phantomen verfolgten ihn bis in die Wirklichkeit und trieben ihm Angstschweiß auf die Stirn. Zitternd rappelte er sich hoch und schleppte sich ins Bad. Er schaffte es gerade noch die Tür hinter sich zu schließen und den Klodeckel hochzuklappen, bevor sich sein Magen umdrehte.
Dieses Geschehen wiederholte sich jede Nacht, seit man ihn vor zehn Tagen aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Entweder schrie er im Schlaf und brachte Logan damit um seinen, oder er wachte mit heftigen Panikattacken auf und war danach kaum noch zu beruhigen. Den Rest der Nacht döste er nur noch kurz weg und schreckte immer wieder hoch. Auch wenn Logan dagegen war, so konnte er sich letztlich durchsetzen und zog vom gemeinsamen Schlafzimmer auf die Couch seines eigenen Raumes. Das eine Mal als Logan sich an ihn kuschelte und ihm gerade zärtlich über den Bauch streichen wollte, war schon zu viel. Aus einem inneren Reflex heraus, stieß er ihn ruppig von sich. Ein Vorfall, der beiden zeigte, dass er noch Zeit brauchen würde. Trotz des Verständnisses, das Logan aufbrachte, und dem ständigen Beteuern, warten zu können, wurmte es Casey enorm. Er erkannte sich selbst nicht wieder und zog sich aus Angst, dass so etwas noch einmal passieren könnte, immer mehr zurück.
Nachdem er die Spülung betätigt und sich die Zähne geputzt hatte, um den ekligen Geschmack loszuwerden, kehrte er taumelnden Schrittes in den Flur zurück. Kurz lehnte er mit dem Rücken gegen die Wand und blickte zum gemeinsamen Schlafzimmer. Ich sollte jetzt dort sein. Bei ihm, ging es ihm durch den Kopf, ehe er sich missmutig löste und zu seinem eigenen Reich zurückging. Um keinen Preis wollte er Logan aufwecken, nicht schon wieder. Denn darauf würde es hinauslaufen, wenn er diesen Raum betrat. Es würde eine Diskussion aufkommen, über Dinge, über die er nicht reden wollte. Und während er selbst irgendwann zur Ruhe fand, täte dafür Logan kein Auge mehr zu.
Casey schaltete das Deckenlicht ein und ließ den Blick durch sein Zimmer schweifen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie Logan ihm den Raum bei seinem Einzug gezeigt hatte. Der Grünton der Wände hatte es ihm besonders angetan. Die Poster seiner Idole, denen er schon seit Anbeginn seiner Karriere nachgeeifert hatte, wurden durch kleine Spots stilvoll in Szene gesetzt und neben einem Schrank mit seinen persönlichen Sachen fand auch ein kleiner Schreibtisch und ein Schlafsofa Platz, das ihm inzwischen vertrauter war, als das gemeinsame Bett. Er hat sich so viel Mühe mit all dem hier gegeben und jetzt ist es nicht so, wie er es sich erhofft hat. Ich bin zu kaputt. Casey schnappte sich einen Zettel vom Schreibtisch und notierte eine Botschaft für Logan, wie er es in der Woche zuvor schon öfter getan hatte. Seine Hände krampften sich um den Stift, während er schrieb und sich einredete, dass es besser sei, wenn er ihm erneut aus dem Weg ging. In der Küche legte er ihm den Zettel mit der Nachricht auf den Tisch und ging anschließend ins Kinderzimmer, wo Alissa sich schon munter räkelte. Casey schaltete das Babyfon ab und trat an das Kinderbett heran. Mit dem Zeigefinger stupste er das Mobile an und beobachtete wie Alissa die Figuren bei ihrem Tanz verfolgte. Tanzen. Ein wunder Punkt, bei dem er sich täglich fragte, ob es je wieder so sein würde, wie es einmal war. „Na komm“, flüsterte er ihr zu und hob sie vorsichtig heraus. Sanft küsste er ihre Wange und genoss die friedliche Aura, die seine Tochter ausstrahlte. Ein kleines Wesen, dass noch nichts Böses kannte und vollkommen vertrauen konnte. Nach dem Windelwechseln und Füttern, packte er ihre Wickeltasche und steckte ein Fläschchen mit bereits abgemessenem Pulver in die seitliche Halterung. Im Loft würde Mina wieder auf sie aufpassen, während er mit den anderen trainierte.
„Klar helfe ich dir mit dem Album, da brauchst du mich nicht zweimal fragen! Bis gleich dann.“
Kaum hatte Alice aufgelegt, setzte Logan Kaffee auf und schaltete Caseys Fotodrucker ein. Schnell öffnete er den Ordner mit den Weihnachtsbildern auf seiner SD-Card und gab den Druckbefehl ein. Mit einem Lächeln erinnerte er sich zurück, dass seine Mum die Kleine gar nicht mehr hergeben wollte. Auch das Herz seines mürrischen Dads hatte Alissa im Sturm erobert und ihn sogar dazu gebracht, in Babysprache zu verfallen. Bei den Lichtern des Weihnachtsbaumes machte sie ebenso große Augen wie Casey und staunte mit ihm um die Wette. Zwar fragte sich Logan immer wieder, wie seine Mum diese wundervolle Deko nebst Essen hinbekam, doch war der Zauber für ihn irgendwann verflogen. Immerhin erlebte er dieses Schauspiel jedes Jahr. Sein Liebster hingegen hatte schon lange kein richtiges Weihnachten mehr gehabt und auch im Loft stand nur ein kleiner Plastikbaum in einer Ecke des Wohnbereiches herum. – Kein Vergleich zu dem, womit Diana aufwartete. Neben einem festlichen Menü und den liebevoll verpackten Geschenken, gehörte auch eine stimmungsvolle Gestaltung des Wohnzimmers und besinnliche Weihnachtsmusik für sie zum Ambiente, in dem sie ein gemütliches Beisammensein mit der Familie genießen wollte.
Kurz nachdem das letzte Bild ausgedruckt war, klingelte es auch schon. Logan eilte zur Haustür, öffnete seiner Freundin und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. „Was hast du denn da alles mit?“, fragte er und deutete auf ihren mitgebrachten Beutel, aus dem bunte Papierbögen und glitzernde Sternsticker herausragten.
„Na, da lass dich mal überraschen“, antwortete sie mit einem Zwinkern. Gleich im Flur streifte sie sich die Schuhe ab und ließ den Blick zu den Fotos an der Wand schweifen. „Es wird immer wohnlicher bei euch.“
„Danke“, ließ Logan verlauten und ging zum Wohnzimmer voraus.
Einen Moment lang blieb seine Freundin vor Caseys offener Zimmertür stehen und runzelte die Stirn. „Habt ihr euch gestritten?“, fragte sie vorsichtig, als sie wieder zu ihm aufgeschlossen hatte.
„Nein, es ist alles gut“, tat er die Sache ab und bat sie Platz zu nehmen, während er sich kurz in die Küche zurückzog.
Nur wenig später saßen sie bei einer heißen Tasse Kaffee am Wohnzimmertisch und bastelten gemeinsam. Was eigentlich ein Fotoalbum hätte werden sollen, wandelte vor allem dank Alice Stück für Stück und mit viel Liebe zum Detail zu einem kunstvollen Scrapbook.
„Weiß er gar nicht, dass du frei hast?“, wagte Alice einen weiteren Vorstoß.
„Nein, das kam gestern Nacht nicht mehr zur Sprache. Eigentlich wollte ich ihn damit überraschen. Aber ich hätte ahnen müssen, dass er schon so früh aufbricht.“
„Und was macht er jetzt?“
„Trainieren natürlich. Er will schnell wieder in Form kommen, um die Wettkämpfe im Frühjahr nicht zu verpassen.“
Erschienen bei Amazon am 02.01.2018
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2019
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