~ Eine Entdeckungsreise besteht nicht darin, nach neuen Landschaften zu suchen, sondern neue Augen zu bekommen. ~ Marcel Proust (1871 - 1922)
Eine jede Reise bietet vielfältige Möglichkeiten, den eigenen Horizont zu erweitern. In kurzer Zeit ist es möglich, fremde Kulturen kennenzulernen und die mit ihnen verbundenen Gebräuche, Speisen, Redensarten zu erleben, auch fremdartige Flora und Fauna zu erkunden. Wir entfernen uns vom Gewohnten. Von unserer täglichen Umgebung, den Leuten, die sie ausmachen, den Gepflogenheiten. Wir machen uns frei für ein Abenteuer.
Doch eine Reise kann uns nicht nur sehr weit fortführen, sie ist auch fähig uns zurückzubringen. Zu dem Ursprung unseres Seins. Zu uns selbst. Eine Entdeckungsreise, die auf mentaler Ebene stattfindet. Ein jeder Schritt, den wir tun, erfordert Mut. Dabei ist jeder, der uns näher zu uns selbst führt, wertvoller aber zugleich auch kraftraubender, als jene, die wir in die Ferne schreiten. Aber was ist, wenn wir bei uns angekommen sind? Können wir ertragen, was der innere Spiegel unserer Seele offenbart? Können wir es annehmen und uns so akzeptieren, wie wir sind? Oder werden wir ein Zerrbild formen, um so zu sein, wie die Gesellschaft uns haben will?
Mut ist der Indikator, der Schlüssel zum Glück. Das Adrenalin in unseren Körpern ist der Antrieb, der den Motor - das Herz - ölt, welches wir nur zu gern selbst betrügen. Wir verschleiern Wünsche, Träume und Hoffnungen unter einem betonschweren Tuch, unter dem wir uns Tag für Tag verstecken. Heimlich aber träumen, ja hoffen wir gar, dass es uns jemand entreißt. Dabei müssen wir uns selbst freistrampeln. Lossagen von allem, was uns in Ketten legt. Von jenem Fluss der Erwartungen, von jener Ideologie der Gesellschaft und den selbst auferlegten Verblendungen, die wie eiserne Masken auf unseren Seelen ruhen.
Gelingt es uns, den Blick freizumachen für das, was unser Herz für uns vorsieht, so können wir einfach nur sein. Leben in seiner reinsten Form. Genießen und entdecken. Ohne Scheu und ohne Angst.
Logan
Mit gekonntem Schwung hievte Logan die schwere Sporttasche in den Kofferraum seines Jeeps. Flüchtig ging er noch einmal die Liste im Kopf durch. Immerhin wäre es ziemlich blöd, wenn er ausgerechnet bei seinem Ausflug mit Casey etwas Wichtiges vergessen würde.
„Es ist alles da“, bestätigte ihm Alice, als hätte sie in ihm gelesen.
Logan nahm sich ihre Worte zu Herzen. Sie wird wohl recht haben. Fehlte nur noch sein Freund.
„Melde dich zwischendurch mal!“, riss seine Freundin ihn aus den Gedanken. Kaum war die Bitte ausgesprochen, hatte sie auch schon die Arme um ihn geschlungen. Dabei kitzelte ihr blondes, zu einem Dutt gebundenes Haar seine Nase und brachte ihn beinahe zum Niesen.
„Werde ich“, versprach er und erwiderte die Umarmung verlegen. „Danke für die Hilfe.“
„Ach, doch nicht dafür.“
Oh doch Alice!, widersprach er gedanklich. Immerhin war es keine Selbstverständlichkeit, dass sie extra mit zu seinem Elternhaus gekommen war und ihn beim Packen für seine große Reise beraten hatte. Seufzend stieg er in den Jeep.
„Viel Spaß euch beiden“, wünschte Alice ihm noch, ehe er sich auf dem Sitz niederließ. Da kam auch schon seine Mum angelaufen. „Logan Mason! Wolltest du dich etwa aus dem Staub machen, ohne Tschüss zu sagen?“, schimpfte sie. Noch ehe er etwas erwidern konnte, drückte sie ihm einen feuchten Kuss auf die Wange. „Fahr vorsichtig, Schatz. Und passt auf euch auf.“
„Machen wir“, erwiderte er und schnallte sich fest. „Drück Dad von mir.“
Diana lächelte und schlug die Fahrertür behutsam zu. Logan parkte den Wagen aus und winkte den beiden Frauen zum Abschied. Es war höchste Zeit, ihn abzuholen.
Casey
Ein lauer Sommerwind wehte über Arlingtons Straßen, als Casey den Parkplatz hinter sich ließ. Schwermütig betrat er das kleine Blumengeschäft neben dem Friedhof. Der Putz war stellenweise von der Fassade gebröckelt, ganz zu schweigen von der allmählich abblätternden Farbe. Einige Ziegel des Daches waren beschädigt und auch der Rahmen, der das milchige Türglas einfasste, hatte schon bessere Tage gesehen. Die weiße Folienschrift, die ihn in Emmys Blumengarten begrüßte, war bereits gelb angelaufen. Dennoch kam Casey gern. Die ganze Aufmachung verlieh dem Ambiente einen liebenswerten Charme. Nicht zuletzt durch die Fülle an allen erdenklichen Gewächsen und bunter Blütenpracht wurde ein beachtliches Flair von Harmonie und Herzensgüte ausgestrahlt, die in dem kleinen Shop wahrhaftig gelebt wurden. Niemals hatte er eine welke Blüte oder ein geknicktes Blatt an seinen Pflanzen ausmachen können. Auch, dass seine Bestellung noch nicht fertiggestellt war, hatte er hier nie erlebt. Kaum öffnete er die nostalgische Tür, hieß ihn ein kleines Glöckchen, das über dem Türrahmen eingespannt war, liebevoll willkommen.
„Ah, Mr. Jones. Ihre Blumen sind schon fertig.“
„Danke“, entgegnete er freundlich und legte wie gewohnt einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen. „Stimmt so.“
Mit einem Lächeln überreichte der Verkäufer, Emmys Mann, ihm den Strauß. Weiße Lilien, deren Eleganz durch Ziergräser betont wurde, und Lederfarn als Bindegrün. Jeder Teil des Straußes war kunstvoll platziert, genau nach seinem Geschmack.
„Bestell Emmy schöne Grüße“, verabschiedete sich Casey. Vermutlich machte die Ladenbesitzerin gerade wieder irgendwelche Erledigungen.
„Das mache ich!“, rief der Mann ihm nach.
Mit einem guten Gefühl verließ er das Lädchen. Immerhin würde er sich nun einige Tage nicht um die Grabpflege kümmern können. Es war also besser, alles noch einmal aufzufrischen und mit einem neuen Bukett zu versehen, das der Ruhestätte seiner Adoptiveltern würdig war.
Ein flüchtiger Blick auf die Uhr versicherte ihm, dass noch genügend Zeit blieb, um wieder zu Hause zu sein, bevor Logan ihn abholte. Mit einem lauten Quietschen gab das alte Eisentor nach und schwang nach innen auf. Kaum eine Menschenseele trieb sich zu dieser Zeit auf dem Friedhof herum, was Casey nur wenig störte. So hatte er seine Ruhe und konnte völlig ungestört den beiden Menschen gedenken, die ihn einst aufgezogen hatten.
Routiniert zog er sich die mitgebrachten Gartenhandschuhe über und kümmerte sich um das kaum vorhandene Unkraut. Viel zu oft war er hier, als dass er eine wirkliche Überwucherung mit wilden Gewächsen fürchten müsste. Ein Vorgehen, das außerhalb der Crew nur auf wenig Verständnis stieß. „Was erhofft er sich davon? Will er sie wieder lebendig machen?“ „Glaubt er, es gibt hier einen Preis für übertriebene Grabpflege?“ Solche und ähnliche Vorwürfe nahm er seit jeher von der Gemeinde hin. Auch, wenn die Worte nur selten bis zu ihm drangen und er sich bewusst war, dass hinter seinem Rücken mit großer Wahrscheinlichkeit noch viel mehr getratscht wurde, wünschte er sich, den einfacheren Weg gewählt zu haben. Urnen wären wesentlich pflegeleichter gewesen. Er hätte sie zu Hause aufstellen können. Selbst wenn er einen Schrein errichtet und davor gebetet hätte, wäre dies fernab der öffentlichen Blicke geschehen. Doch Casey fand nicht, dass ihm eine derartige Entscheidung zustand. Wusste er doch nicht, ob es den beiden recht gewesen wäre, verbrannt zu werden. Die Frage stand zu ihren Lebzeiten nie im Raum. Dann verstarben sie nur wenige Tage nacheinander. Dabei konnte er es seiner Mum nachfühlen, dass ihr die Kraft gefehlt hatte, ohne ihren Gatten noch weiterzumachen. Hatte Casey selbst doch auch schwer damit zu kämpfen. In seinem Unwissen hatte er sich daher für die klassische Variante entschieden, jedoch eine vasenähnliche Vorrichtung an dem Doppelgrab anbringen lassen. Aus dieser nahm er nun die inzwischen welken Blumen von seinem letzten Besuch und arrangierte die neuen. Mit einer bereitstehenden Gießkanne besorgte er Wasser aus dem Friedhofsbrunnen und goss die durstigen Blumen. Zu guter Letzt kniete er sich auf den Boden, streifte die Handschuhe ab, nahm seine Gebetskette aus der Hosentasche und wickelte sich diese um die Hand. Mit zusammengeführten Händen und geschlossenen Augen sprach er ein gedankliches Gebet. Dabei hoffte er, den beiden würde es dort, wo sie nun waren, an nichts fehlen.
Eine Wolke wurde vom Wind weitergetrieben und machte den grellen Strahlen der Mittagssonne Platz, die sich begierig auf sein Gesicht legten und ihn die Wärme durch seine geschlossenen Lider spüren ließen. Irgendwo, nicht weit entfernt, war Vogelgezwitscher auszumachen. Es klang, als würden sie einander etwas zurufen oder sich gegenseitig durch ihren Gesang übertrumpfen wollen. Eine leichte Windbrise trug einen blumigen Duft, der ihm beinahe Tränen in die Augen trieb. Im Stillen dachte er an das ältere Paar, das selbst keine Kinder bekommen konnte und ihn so liebevoll aufgezogen hatte, wie er es sich nur wünschen konnte. Er erinnerte sich daran zurück, dass es verdammt schwer gewesen war, sie gehen zu lassen. Zu akzeptieren, was er ohnehin nicht ändern konnte und wie wichtig seine Freunde waren. Sie hatten ihn aufgefangen und irgendwie durch diese schwere Zeit gebracht. Mina, seine Managerin, hatte für ihn sogar Adoptionspapiere unterschrieben, da er noch minderjährig war. Mit der Zeit lernte er jedoch, die Trauer zu bewältigen und die freudigen Erinnerungen in sich zu verankern. Heute konnte er sie abrufen und in der schönen Zeit schwelgen, wann immer er wollte. So erhob er sich auch dieses Mal mit einem Lächeln im Gesicht, räumte auf und ließ noch einen letzten Blick über sein Werk schweifen, ehe er sich auf zum Ausgang machte.
Logan
Auf dem Weg zu seinem besten Freund ließ Logan die letzten Monate noch einmal Revue passieren. Zeit hatten sie nur wenig bis gar keine füreinander gefunden, was er inzwischen bitter bereute. Gedanklich in der Vergangenheit vertieft, erinnerte er sich an den Beginn ihrer Freundschaft. Heute war ein Sommertag wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Er ging bereits zur Schule und spielte mit ein paar gleichaltrigen Jungs Fußball auf der Grünfläche neben dem Spielplatz. Irgendwann rollte der Ball zum Sandkasten, wo ein kleiner Junge mit einer Schaufel den Sand zu einem Haufen auftürmte. Seine Oma, so vermutete er damals, saß dabei auf einer Bank und las eine Zeitschrift. Der Kleine wirkte einsam, was ihn selbst irgendwie traurig stimmte.
„Hallo, ich heiße Logan“, begrüßte er den fremden Jungen. Ein strahlend blaues Augenpaar blickte schüchtern zu ihm auf. Schon damals war er von der intensiven Farbe fasziniert. „Wie heißt du?“
Eine Frage, auf die der Kleine vorerst schwieg. Unbeirrt schaufelte er weiter, dann antwortete er schließlich doch: „Casey.“
Noch immer erinnerte Logan sich an sein eigenes Lachen. „Casey? Wirklich? Das hört sich an wie ein Mädchenname.“ Die Schaufel in der Hand des Jungen erstarrte mitten in der Bewegung.
„Hey, was ist? Kommst du nun?“, wollte einer seiner Spielgefährten wissen. Doch Logan konnte den Blick nicht von dem regungslosen Jungen abwenden. Bis heute rätselte er, was damals in Casey vorgegangen war. Einmal hatte er nachgefragt, doch als sein Freund der Frage auswich, bohrte er nicht weiter.
„Macht ohne mich weiter“, antwortete er und warf den Ball endlich zurück. Dann stieg er zu Casey in den Sand. „Darf ich mitspielen?“ Erneut fokussierten ihn diese sagenhaften Augen. Doch diesmal glänzten Tränen darin. Der Kleine nickte, wischte sich den feuchten Film aus dem Gesicht und gab ihm ein paar Förmchen ab. „Hey, wollen wir eine ganz große Burg bauen?“, versuchte Logan ihn aufzumuntern. Endlich schenkte der Kleine ihm ein Lächeln, stimmte zu und sie bauten gemeinsam eine riesige Sandburg. Von da an trafen sie sich öfter. Dass Logan ihm drei Jahre voraus war, hatte dabei nie eine Rolle gespielt.
Ein Jahr nachdem Logan sein Architekturstudium begonnen hatte, wechselte Casey von der Highschool zu einer Dance-Academy und fand in seiner Crew eine zweite Familie. Die Leiterin der Academy übernahm sogar Caseys Vormundschaft, nachdem dieser beide Elternteile verloren hatte. Auf diese Weise war es ihm möglich, bereits mit siebzehn Jahren seinen eigenen Haushalt zu führen. Was inzwischen auch schon wieder drei Jahre zurücklag. Wo rannte die Zeit nur hin? Für die kommenden Tage ging die Crew getrennte Wege und würde erst später wieder zusammenfinden. Da Logans Semesterferien gerade begannen und er fürchtete, Casey vielleicht aus den Augen zu verlieren, hatte er den Rat von Alice angenommen und ihm den Roadtrip vorgeschlagen, zu dem er ihn nun abholte. Dennoch war ihm bei diesem Vorhaben etwas flau im Magen. Was, wenn wir uns zu sehr auseinandergelebt haben?
Casey
Casey überquerte die Straße zum Parkplatz. Erst hier riskierte er einen weiteren Blick auf die Armbanduhr. Mit Entsetzen stellte er fest, dass mehr Zeit vergangen war, als ursprünglich geplant. Logan wird wohl kaum böse sein, wenn ich ihm erkläre, wo ich war, und ohne mich losfahren würde er nicht. Ein bisschen was zusammenpacken muss ich auch noch … Dennoch wollte er ihn nicht noch länger warten lassen. Er ließ den Motor des Mustangs aufheulen und nutzte eine nicht ganz legale Abkürzung durch ein Industriegebiet. Eigentlich wollte er schon gestern Abend packen, aber die Anstrengungen der letzten Tage machten sich bemerkbar. Seine Crew und er hatten nun einige Wochen hartes Training hinter sich und ihre Choreografie für den Herbst einstudiert. Zuvor gab es jedoch noch eine Reihe von Einzelwettkämpfen, an denen er nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag im Herbst endlich teilnehmen durfte.
Als er in der Tiefgarage ankam, wartete Logan bereits mit seinem Handy in der Hand. Vielleicht wollte er mich gerade anrufen und fragen, wo ich bleibe? Doch der blickte lediglich auf und grinste ihn frech an. Casey schaltete den Motor ab, stieg aus dem Wagen und schloss ab. „Hey“, begrüßte er seinen Freund und zog ihn kurz in eine Begrüßungsumarmung. „Sorry, ich war noch auf dem Friedhof.“
„Kein Problem“, erwiderte Logan beschwichtigend. „Jetzt bist du ja da.“
„Ja, komm am besten erst mal mit hoch. Ich bin leider noch nicht ganz fertig mit Packen.“
„Macht doch nichts.“
Gemeinsam stiegen sie in den Fahrstuhl. Casey betätigte den Knopf für die fünfte Etage. „Hast du schon lange gewartet?“
„Ach was, ein paar Minuten nur“, antwortete Logan ein wenig zu schnell.
Der will doch sicher nur mein schlechtes Gewissen beruhigen, amüsierte sich Casey innerlich. Nachdem er aufgeschlossen hatte, hielt er seinem Gast die Wohnungstür auf. „Setz dich“, bat er ihn.
Logan streifte sich zunächst die Schuhe ab und nahm dann auf dem Zweisitzer im Wohnzimmer Platz, an das eine kleine Kochnische angrenzte. Verwundert ließ er den Blick schweifen. Stimmt, er war noch nicht wieder hier, ging es Casey durch den Kopf. „Ich hab ein bisschen umgeräumt“, erklärte er und verschwand kurz in der Küche. Letztes Mal hatte die Couch noch in der Ecke des Raumes und die Musikanlage frei auf dem Boden gestanden. Nun hatte er Regale angebracht und die Boxen darauf verteilt. Zusätzlich hatte er eine gemütliche Sitzecke geschaffen. Die Wände waren nun mittelblau statt weiß. An ihnen prangten Poster, auf denen Breakdancer beeindruckende Moves ausführten. Logan wusste inzwischen, dass sie selbst sich B-Boys nannten.
„Das sehe ich.“
„Möchtest du was trinken?“, rief er seinem Freund aus der Küche zu.
„Ein Wasser, wenn du hast.“
„Klar.“ Casey kam zurück, reichte ihm ein Glas und bemerkte dabei, dass der Bildschirmschoner seines Laptops nicht mehr aktiviert war. Schuld war eine Nachricht, die sich nun durch penetrantes Blinken bemerkbar machte.
„Was ist?“, erkundigte sich Logan und nahm einen Schluck.
„Ach … Ryan hat mir was geschickt“, erklärte Casey, als er mit dem Mauszeiger über das Symbol fuhr.
„Ryan aus deiner Crew?“
„Ja, genau der.“ Casey konnte seine Neugier nicht zügeln und öffnete die Datei. Kurz war er erstaunt, etliche Bilder darin vorzufinden, dann leuchtete es ihm ein. „Ah, das sind die Bilder aus New York.“ Dort waren sie im Frühjahr auf Tour gewesen. Bislang hatte sich noch keine Gelegenheit geboten, Logan und die Crew miteinander bekannt zu machen, doch nun konnte er ihm wenigstens Fotos zeigen. Casey setzte sich zu ihm auf die Couch, schrieb Ryan ein kurzes ‚Danke‘ zurück und öffnete die Bilder in der Galerieansicht. Gleich das erste war ein Gruppenfoto. „Der Große mit den Stern-Tattoos auf den Armen ist Ryan. Daneben mit dem Afro ist Carrie. Das hier ist Tess. Man sieht sie kaum ohne Basecap und der da ist Matt, unser Captain. Er trainiert uns auch. Ich hab echt schon viel von ihm gelernt“, erklärte er ihm.
Logan war sichtlich neugierig, wollte mehr Details erfahren und musterte die Gesichter eingehend. Casey klickte weiter und kommentierte die nachfolgenden Bilder mit kleinen Anekdoten.
Nach einem alarmierten Blick zur Armbanduhr bemerkte er, dass er sich auf dem Friedhof mit Erde beschmutzt hatte. „Pass auf, ich spring noch schnell unter die Dusche und packe zusammen, damit wir loskönnen. Du kannst in der Zwischenzeit gern weiterschauen. Ich beeile mich.“
„Mach ganz in Ruhe“, beruhigte ihn Logan, als Casey ins Bad hastete.
Logan
Nach kurzer Überlegung, ob das wirklich in Ordnung war, klickte er weiter. Auf den nachfolgenden Bildern waren die beiden Mädchen, Carrie und Tess, auf ausgelassenen Selfies zu sehen. Tess trug tatsächlich auf nahezu jedem ein Cap. Darunter lugte die glatte braune Mähne hervor. Trotz ihrer ausgeprägten Bräune kam sie bei Weitem nicht an den Latina-Teint ihrer Kollegin heran. Eigentlich ganz hübsche Mädchen, wenn man sich denn für solche interessiert.
Als er weiterschaute, sah er die Skyline des Big Apples und Casey, der sich gerade ein belegtes Brötchen in den Mund stopfte. Daneben stand Matt und unterhielt sich mit ihm. Ryan schien wohl der Fotograf zu sein, immerhin war der bislang nur auf dem Gruppenbild zu sehen. Eine andere Aufnahme zeigte eine streng aussehende Dame mit kinnlangem, rot gefärbtem Haar und Nerd-Brille. Sie war etwas älter als die übrigen Crewmitglieder. Vermutlich die Managerin.
Einige Klicks später erblickte er Casey mit freiem Oberkörper. Er wollte fortfahren, doch sein Finger verharrte für einen Moment auf der Maus. Sein Freund sah verdammt gut aus und mit einem Mal kam ihm in den Sinn, dass dieser Roadtrip vielleicht doch eine blöde Idee war. Immerhin war er nur vor seinen Eltern und Alice geoutet. Sein Blick wanderte über Caseys trainierten Brustkorb, die fein definierten Bauchmuskeln, tiefer zum Hosenbund. Ruckartig wechselte Logan zum nächsten Bild, bevor sein Kopf sich irgendwelche Spinnereien ausmalte. Kneifen geht jetzt nicht. Der Ausflug ist beschlossene Sache und Casey hetero! Die mahnenden Gedanken zeigten Wirkung und seine Fantasie gab Ruhe. Nach ein paar Landschaftsbildern war endlich wieder Casey zu sehen. Er führte einige Moves aus, die denen auf den Postern im Wohnzimmer nahekamen. Es wäre bestimmt interessant, ihn in Aktion zu sehen. Seine Leidenschaft sehe ich ihm jedenfalls an. Erneut folgten Bilder des Captains. Auf einem hatte Matt sogar den Arm um Casey gelegt. Beide blickten in die Kamera und lächelten. Matt scheint etwas älter zu sein als der Rest der Truppe. Caseys strahlend blaue Augen stachen hervor, während die seines Freundes gräulich waren. Zusammen sahen sie wie zwei typische Playboys aus. Kerle, die mit Frauen spielten. Dann waren Aufnahmen von Ryan zu sehen, den Logan als bodenständiger einschätzte. Plötzlich blinkte die Symbolleiste. Ryan hatte offenbar noch etwas geschickt. Sicher weitere Fotos. Diesmal erschien jedoch ein Video. Hm … die Fotos durfte ich anschauen, warum nicht auch den Film? Mit einem Mausklick überprüfte er die Dauer des Clips. Knappe vier Minuten. Als Duschgeräusche aus dem Bad drangen, startete er den Film.
„Wir sind endlich da!“, riefen die Mädchen und umarmten einander. Aufgeschreckt verringerte Logan die Lautstärke. Der Film zeigte die Bleibe der Crew. Casey und Matt rollten ihre Koffer ins selbe Zimmer, obwohl dort nur ein großes Ehebett stand. Dann filmt wohl Ryan. Wie auf Kommando schwenkte Ryan kurz zu sich und grinste in die Linse, was Logans Verdacht bestätigte.
Danach waren Küche und Wohnzimmer zu sehen. Abschließend filmte er ins Badezimmer und wurde von kreischenden Mädchen mit Gurkenmasken vertrieben. Logan schmunzelte. Diese Crew scheint eine echt verrückte Truppe zu sein. Als Nächstes wurden Casey und Matt aufgezeichnet, die in einer Übungshalle zusammen trainierten. Casey machte Seilspringen, oberkörperfrei, Matt ein paar Liegestütze. Danach übten sie eine Choreografie ein. Zumindest drehten sich beide gekonnt auf dem Boden umher und führten dabei kunstvolle Figuren durch. Wahnsinn! Plötzlich war ein Klatschen zu hören und Logan schreckte hoch. Nein, das Geräusch war Teil des Films. Tess applaudierte ihnen, was die Tänzer verwundert aufblicken ließ. Offensichtlich hatten sie gar nicht mitbekommen, dass sie beobachtet wurden.
In der nächsten Sequenz lag Casey auf dem Boden und rührte sich nicht, sodass Logan einen kurzen Schreck bekam. Scheiße, was kommt jetzt? Angespannt starrte er auf den Bildschirm, wo Matt sich gerade zu ihm hockte. „Hey Kleiner, du kannst hier nicht schlafen. Wir müssen los.“
„Ich schlafe gar nicht!“, protestierte Casey blinzelnd und versuchte sich zu orientieren.
„Nein, natürlich nicht“, stimmte Matt ihm zu und verkniff sich allem Anschein nach das Lachen, während er Casey aufhalf.
Die nachfolgende Szene wurde offensichtlich auf einer Party gedreht. Sie zeigte den Captain in einem Club, wie er sich mit zwei Mädchen in kurzen Kleidchen und Stöckelschuhen aus dem Staub machte. Was für ein Casanova. Casey sah ihm von der Bar aus kopfschüttelnd zu und hatte einen Drink mit Zitronenscheibe in der Hand. Hm … Das ist sicher keine Cola. Das darf er doch noch gar nicht.
Anschließend wurde in einem anderen Club aufgenommen. Die Stimmung auf der Party wirkte ausgelassen und wieder saß der Jüngste von ihnen an der Bar, diesmal gemeinsam mit Matt. Dieser trank ein Bier und sah zu, wie Carrie und Tess miteinander tanzten und sich dabei immer näherkamen.
„Wisst ihr, was jetzt richtig heiß wäre?“, rief Matt den Mädchen zu. „Wenn ihr euch küsst!“
Tess grinste ihn frech an und winkte ab.
„Ich wette, du traust dich nicht!“ Nun wandte sie sich vollends um und kam auf ihn zu.
„Ich traue mich nicht?“, ging sie auf sein Spiel ein. „Okay, ich traue mich, mit Carrie rumzuknutschen, wenn ihr zwei das auch macht.“ Dabei deutete sie mit beiden Zeigefingern gleichzeitig auf ihn und Casey. Der setzte den Drink ab, von dem er gerade trinken wollte, und sah ihn unsicher an.
„Okay, die Wette gilt!“, gab Matt jedoch von sich und sah zu, wie sie zurückging. Erst dann blickte er zu Casey und bemerkte, wie dieser nervös mit seinem Strohhalm spielte. „Entspann dich, Kleiner. Es ist nur ein Kuss“, sprach er leiser an ihn gewandt. „Und jetzt sieh zu und genieße.“ Matt deutete mit seiner Flasche auf die Mädels, zu denen nun auch die Kamera schwenkte. Beide tanzten dicht an dicht, ließen ihre Zungen umeinander kreisen und schauten dabei zu den Jungs. Nach wenigen Sekunden gaben sie den innigen Kuss auf und lösten sich voneinander.
„Jetzt seid ihr dran!“, rief Carrie ihnen amüsiert zu. Ryan wechselte die Position, damit er die beiden besser im Bild hatte.
Die Duschgeräusche verstummten, doch gleich darauf schien Casey in den Badschränken zu kramen. Vermutlich packt er gerade seinen Kulturbeutel zusammen. Logan beschloss weiterzuschauen, ließ die Maus aber über dem Kreuz schweben, um das Video jederzeit schließen zu können.
„Trink“, riet Matt seinem Teamkameraden und nahm selbst noch einen Schluck aus seiner Flasche, ehe er sie auf dem Tresen abstellte. Casey verzichtete auf den Strohhalm und leerte den Rest seines Glases in nur einem Zug. Matt kam näher, ergriff Caseys Gesicht mit beiden Händen und beugte sich vor. Beide schlossen die Augen, als ihre Lippen aufeinandertrafen. Matt ging forscher vor als Casey, saugte an dessen Unterlippe und forderte mit seiner Zungenspitze Einlass. Nur zaghaft öffnete sein Gegenpart den Mund und ließ Matts Zunge ein. Ein kurzes, aber wildes Gefecht entbrannte. Als die Mädels begeistert applaudierten, merkte Logan, dass er mit offenem Mund dasaß und seine Hose eng wurde. Scheiße!, verfluchte er sich selbst und wollte das Video schon beenden. Doch dann war das gemeinsame Zimmer der beiden zu sehen und Logans Neugierde gewann. Casey lag auf der Seite und Matt quer über dem Bett. Er hatte seinen Arm um ihn geschlungen. „Hilf mir!“, bat Casey Ryan.
„Matt! Lass ihn los.“
Kurz öffnete dieser die Augen, zog die Stirn kraus und drehte sich anschließend zur anderen Seite. Casey konnte sich befreien und bedankte sich bei seinem Retter.
Die nächste Szene zeigte alle beim Frühstücken. „Du und Matt … Seid ihr jetzt ein Paar?“, fragte Ryan, woraufhin sich Casey an seinen Cornflakes verschluckte und Carrie ihm auf den Rücken schlug. Seine Gesichtsfarbe wurde mit jeder Sekunde röter.
„Ich glaube nicht, dass einer der beiden ernsthaft auf Männer steht, Ryan“, warf Tess vorwurfsvoll ein.
„Für dich würde ich eine Ausnahme machen, Kleiner“, sprach Matt und zwinkerte Casey zu, der nun sein Wasser über den halben Tisch spuckte und damit alle zum Lachen brachte. Nein, Casey ist gewiss nicht schwul. Einen Augenblick lang schämte sich Logan, weil er das in Betracht zog. Er sollte es besser wissen, ihn besser kennen. Nun kam nichts mehr, das war der letzte Clip gewesen.
Nur Sekunden später trat Casey angezogen aus dem Badezimmer und hielt eine kleine Tasche in der Hand. „Den kannst du ausmachen, bin gleich da“, versprach er.
Logan nickte und fuhr den Laptop herunter. Einen kurzen Blick erhaschte er von Caseys Schlafzimmer, ehe dieser die Tür schloss. Mintgrüne Wände also. Das Bett ist auch ziemlich groß. Interessant. – Nein, das ist nicht interessant! Casey ist tabu!, rief Logan sich in Erinnerung und trank sein Wasser aus. Er brachte sein Glas in die Küche und spülte es rasch ab. Sein Freund kam inzwischen mit einer großen Sporttasche bewaffnet zurück ins Wohnzimmer. „So wir können“, verkündete er und ging voraus.
„Soll ich dir tragen helfen?“, bot Logan auf dem Weg zum Fahrstuhl an.
„Geht schon, danke.“
Beim Jeep angekommen, verlud Casey seine Sporttasche im geräumigen Kofferraum. „Da sind wir ja für alles gewappnet“, bemerkte Casey, als er einen Blick auf die restliche Reiseausrüstung warf. Selbst einen kleinen Grill und ein Zelt entdeckte er.
„Das hoffe ich doch“, verkündete Logan stolz und bat ihn einzusteigen. Ja, Casey ist schön und ich werde die nächste Zeit mit diesem attraktiven Mann verbringen. Immerhin habe ich mir das selbst eingebrockt.
Casey
Habe ich auch wirklich alles? Die Frage raste zum wiederholten Mal durch seinen Kopf, ehe er die Kofferraumklappe schloss. Es wäre blöd, wenn wir wegen mir umdrehen müssten. Aber viel mehr als Klamotten brauchte er nicht. Für den gesamten Survival-Kram war Logan zuständig. Immerhin hatte sein Dad die ganze Garage damit vollstehen. Vom Zelt über einen Grill und Schlafsäcke bis hin zur Angelausrüstung. Als Kind hatte Logan immer die abenteuerlichsten Geschichten auf Lager gehabt. Damals war es immer ihr Vater-Sohn-Ding gewesen. Rauszufahren, in die Wildnis. Einmal erzählte er von einem Bären am anderen Ufer des Victory Lakes, den sie beim Fischfang beobachtet hatten. Nur undeutlich erinnerte sich Casey an das eine Mal zurück, als er hatte mitfahren dürfen. Sie hatten geangelt und am Lagerfeuer zusammengesessen. Auf Stöcken hatten er und Logan Marshmallows über den Flammen gegrillt, während Mr. Mason den Fisch zubereitete. Die Nächte waren so klar gewesen, dass sie Tausende von Sternen am Himmel sehen konnten. Logans Dad hatte ihnen mit einem speziellen, vermutlich ziemlich teuren Laserpointer die einzelnen Sternbilder gezeigt. Casey war damals wahrhaft beeindruckt vom Wissen des Mannes gewesen, aber zugleich auch besorgt, dass der Laserstrahl Aliens auf sie aufmerksam machen würde. Glücklicherweise hatte Logan ihm das ausgeredet, sonst hätte er vermutlich nicht einschlafen können.
Damals war alles noch so einfach, erinnerte sich Casey zurück. Sie konnten unbeschwert die Zeit genießen. Heute hingegen waren sie Gefangene eines ewig währenden Kreislaufes. Ohne Job kein Geld, ohne Geld keine Wohnung, Strom und Essen. Umso befreiender war dieser Ausflug. Das wird klasse! Einfach mal nichts tun müssen. In den Tag hineinleben dürfen. Ganz ohne Zwänge und Verpflichtungen zu einer bestimmten Zeit an einem vorgegebenen Ort sein zu müssen. Einfach nur die Seele baumeln lassen.
Casey stieg in den Wagen und legte den Gurt an. Er war mehr als bereit für diesen Ausflug und mit Logan an seiner Seite würde es sicher spaßig werden. Genau wie damals, als sie noch Kinder waren.
Logan
Logan stieg auf der Fahrerseite ein. Casey saß bereits und hatte sich festgeschnallt. Er roch verdammt gut und seine ungeföhnten Haare wellten sich leicht. Verführerisch legte sich die nasse Pracht an seinen Nacken. Sein Tanktop schmiegte sich eng an seinen Körper und ließ nur noch wenig Spielraum für Fantasie. Logan war, als könnte er die Konturen seiner Muskeln mit den Fingern nachzeichnen, wenn er dürfte.
„Erde an Logan!“, riss Casey ihn aus den Gedanken und schnippte mit dem Finger vor seinem Gesicht. Irritiert blickte er auf, was seinen Freund kurz zum Lachen brachte. „Also, wo fahren wir als Erstes hin?“
Frech grinsend startete er den Motor. „Regel Nummer eins bei einem Roadtrip: Plane keine feste Reiseroute.“
Sein Beifahrer stutzte kurz und zog die Stirn kraus. „Also willst du einfach auf den Highway und dann irgendwann abfahren?“
Lachend schüttelte er den Kopf. „Nein. Regel Nummer zwei: Meide große Straßen wie Freeways. Wir wollen doch was vom Land sehen“, antwortete er mit einem Zwinkern.
„Gut, dann fahren wir, bis es dunkel wird und übernachten dann irgendwo?“
„Klingt gut. Am ersten Tag sollten wir es ruhig angehen lassen“, erwiderte Logan. „Irgendwelche Musikwünsche?“
„Nein, mir ist alles recht.“
„Dann schalten wir das Radio ein“, beschloss Logan und tat dies auch gleich. „Was machen eigentlich die anderen aus deiner Gruppe?“
„Also Carrie und Tess wollten eine ausgiebige Shopping-Tour an der Westküste machen, wenn ich das richtig verstanden habe. Matt fährt wohl zu seiner Familie, da seine Schwester mit ihrem Mann und seinem Neffen zu Besuch kommt und Ryan hilft seinem Vater aus, soweit ich weiß.“
„Seinem Vater?“
„Ja, Ryans Dad hat ein eigenes kleines Restaurant und Ryan …“
„… kellnert“, beendete Logan seinen Satz.
„Ganz genau.“
„Schwer vorstellbar.“
„Was? Ryan als Kellner?“, fragte Casey amüsiert.
„Ja, irgendwie schon. Ich meine, er ist so groß und hat ein breites Kreuz. Ich hätte ihn mir eher als Türsteher oder Geldeintreiber vorgestellt.“
„Da hast du recht. Die Hemden, die er dort trägt, spannen auch immer ganz schön um seine Arme. Das sieht immer aus, als würden sie gleich zerreißen, wenn er nur eine falsche Bewegung macht.“
„Hulk als Kellner.“
„Ja, so in etwa“, stimmte Casey zu. Dann sah er eine Weile zum Fenster hinaus und schwieg.
Logan ertappte sich einige Male dabei, wie er ihn fasziniert aus dem Augenwinkel musterte, und zwang sich immer wieder, den Blick zurück auf die Straße vor ihnen zu richten.
Casey
Verträumt dachte Casey an das letzte Mal zurück, als er in der Gaststätte von Ryans Dad gesessen hatte. Die ganze Crew war da gewesen. Sie wollten den Abend gemeinsam in Jasper’s Steakhouse gemütlich ausklingen lassen. Der Anlass war ihr Sieg bei den regionalen Battles von Nebraska. Ein anstrengender Wettkampf, der das Geschick und den Kampfgeist eines jeden herausgefordert hatte. Ihre Gegner waren gut und bis zur Punktevergabe bangten sie um den Sieg. Alle waren total aufgeregt. Niemand konnte abschätzen, ob es reichte, bis die Jury schlussendlich das Ergebnis bekannt gab. Es war ein toller Abend und für Casey eine wertvolle Erfahrung. Er liebte diese Battles, bei denen sie als Team gegen verschiedene Crews antraten. Hier spielte sein Alter keine Rolle, er gehörte einfach dazu und durfte sich an anderen messen. Wie das wohl bei den Einzelwettkämpfen im Herbst sein wird? Dort würde er zum ersten Mal völlig auf sich gestellt sein. Eine Herausforderung, die ihm zugleich auch etwas Angst einjagte. Doch der Herbst lag noch in weiter Ferne. Nichts, worüber er sich schon jetzt den Kopf zerbrechen musste.
Während Casey noch seinen Träumen nachhing, bekam er nur beiläufig mit, dass der Wagen immer langsamer fuhr. Haben wir eine Panne? Verwundert sah er sich um. Zu seinem Leidwesen steuerten sie ausgerechnet auf Jackson’s Survival Shop zu. Er erinnerte sich noch lebhaft an das Gespräch mit der Enkelin des Besitzers. Sie hatte sich im Stammlokal der Crew, dem Nightstar, ständig in seiner Nähe aufgehalten. Sie gehörte definitiv zur aufdringlichen Sorte. Beinahe kam es ihm so vor, als hätte er sich eine persönliche Stalkerin angelacht. Verscheuchen konnte er sie jedoch schlecht. Das hätte nicht nur ein schlechtes Licht auf ihn, sondern auch auf die Crew geworfen. Ein Umstand, den er sich immer wieder bewusst machte, bevor er unüberlegt handelte. Irgendwann im Laufe des Abends hatte sie ihn in ein Gespräch verwickelt und bat ihn augenzwinkernd doch einmal vorbeizukommen. „Da willst du rein?“, fragte Casey, als sein Freund gerade nach einem Parkplatz Ausschau hielt.
Logan
Nun war es Logan, der irritiert schien. Was hatte er nur? Das ist doch ein ganz normales Geschäft. Zugegeben, etwas fernab vom Schuss und macht einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Eben kein moderner US-Army Store, sondern nur ein einfacher kleiner Survival-Shop. Er selbst war schon einmal hier gewesen. Um Angelschnüre zu kaufen und noch ein paar nützliche Utensilien zu beschaffen, genügte dieses Geschäft allemal. Logan wollte Casey gerade sagen, dass er auch im Jeep warten könnte. Der hatte sein Zögern aber schon überwunden und war bereits ausgestiegen.
Rasch sprang er aus dem Wagen, ließ diesen in der prallen Mittagssonne zurück und folgte Casey zum Eingang. Seine Schuhe machten knirschende Geräusche im Schotter, mit jedem Schritt wirbelte er roten Staub auf. Nur zufällig bekam er mit, wie sein Freund einem der Fahrzeuge einen unsicheren Blick zuwarf. Kennt er etwa den Besitzer des Wagens? Hat er deshalb so rumgedruckst? Augenblicklich bekam Logan ein schlechtes Gewissen, er wollte ihn keinesfalls in eine unangenehme Lage bringen. Zu spät, denn Casey war schon im Inneren des Ladens verschwunden.
Casey wippte auf den Ballen und hatte die Hände in den Taschen vergraben. „Also, wonach suchen wir?“, fragte er, als Logan zu ihm aufschloss.
Er wirkt nervös. „Nach einer Karte und einem Gaskocher. Dads war leider kaputt.“
„Gut, dann sehe ich mich mal bei den Landkarten um.“
Logan nickte und sein Freund verschwand zu den Regalen mit den Landkarten am anderen Ende des Shops. Er selbst begutachtete inzwischen die Auswahl an portablen Kochgelegenheiten und begann, zwischen den drei ausgestellten Exemplaren abzuwägen. Die Preisschilder hatten bereits einen gelblichen Touch. Wie lange die hier schon rumstehen? Kurz verglich er die technischen Daten und nahm einen aus dem Regal. Nur Sekunden später konnte er Gekreische ausmachen. Ist irgendetwas passiert? Mitsamt dem Kocher machte er sich auf die Suche nach dem Ursprung des Lärms. Das hörte sich definitiv nach einer Frau an. Ist sie verletzt? Nein, das Schreien klang eher freudig. Er passierte die vier Quergänge und entdeckte seinen Freund mit zwei Mädchen. Erst jetzt dämmerte es ihm. Sie hatten seinetwegen herumgeschrien. Casey hatte einer Blondine sein Cap aufgesetzt, den Arm um sie gelegt und posierte mit ihr. Ein anderes Mädchen fotografierte derweil mit dem Smartphone. Da störe ich wohl besser nicht.
Casey
Es kam genauso, wie Casey es befürchtete. Das blonde Mädchen, an dessen Namen er sich nicht mal mehr erinnerte, lungerte im Laden ihres Großvaters herum. Natürlich hatte sie ihn binnen Sekunden ausfindig gemacht. Er kam nicht einmal dazu, richtig nach den Karten zu schauen, da flippte sie schon aus. Also war der rote Dodge auf dem Parkplatz wohl doch ihrer. Er versuchte, gut gelaunt zu wirken, posierte mit ihr und setzte ihr sogar sein Basecap auf.
„Tausend Dank! Ich fasse es immer noch nicht! Was treibst du bloß hier?“, fing sie auch gleich an, ihn voll zu quasseln. Ihre Freundin, die nicht minder aus dem Häuschen war, hatte sie zu allem Übel auch mit im Schlepptau. [...]
Erschienen bei Amazon am 1. Juli 2017
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2017
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