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Der Kerker

Ein kühler Wind jaulte die maroden Steintreppen bis hinab zum Verlies, in dem die Kriegsgefangenen an eine Wand gekettet waren. Ein Gemisch aus Männerschweiß, Angst, Urin und Feuerasche lag in der Luft. Schwere gusseiserne Ketten, verankert an den Gewölbemauern des Kerkers, waren verbunden mit den Reifen, die ein jeder von ihnen um die Handgelenke trug. Nur ein winziges Fenster in unerreichbarer Höhe und umzäunt von Gitterstäben, gab Aufschluss darüber, ob es Tag oder Nacht war. Dennoch hatten sie bereits jegliches Zeitgefühl verloren. Jede Hoffnung auf ein Entkommen wurde von Tag zu Tag mehr in den tiefen Schatten der Nacht erstickt. Nur das Dämmerlicht des sichelförmigen Mondes und die Tatsache, dass ihre Augen sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ließen Robin und Azeen überhaupt etwas von ihrer Umgebung wahrnehmen. „Wie lange sind wir schon hier unten?“, fragte der Nomade. Seine Kleider waren zerschlissen, schmutzig und abgetragen, ebenso wie Robins.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der Engländer resigniert. Sein kinnlanges dunkles Haar hing ihm strähnig und verschwitzt ins Gesicht. Er hätte gar nicht hier sein dürfen, war immerhin adliger Abstammung. Wenn seine Peiniger auch nur einen Funken Grips besäßen, wüssten sie um seinen Wert und würden ihn für viel Gold an seinen Vater, den Lord von Locksley, veräußern. Stattdessen saß er hier mit einem Haufen Fremder, die ihm inzwischen gar nicht mehr so fremd waren, und vermoderte in den Katakomben von Jerusalem. Alles an diesem Gefängnis kam ihm düster und erdrückend klein vor. Manchmal glaubte er sogar, die Wände würden sich ihm unaufhaltsam nähern. „Sie kommen“, flüsterte er, als er die Schritte der Wachmänner vernahm.

Zwei antriebslose, grobschlächtige Kämpfer polterten die Treppe hinunter. Wie Vieh warfen sie ihnen das Brot vor die Füße, wissend, dass niemand von ihnen herankäme. Keiner der Gefangenen war durch seine Ketten fähig, sich hinab zu beugen. Scheren tat das die Wärter nur wenig. Erst gestern war wieder einer von ihnen verhungert. Die beiden Männer steckten ihre Fackeln in die dafür vorgesehenen Kerben an den Wänden und zündeten einige Kohlen in einem Kessel an. Mit pervertierter Vorfreude beäugten sie ihre Auswahl an Sklaven. Üblicherweise pickten sie sich einen von ihnen heraus, den es anschließend zu foltern galt. Nicht mehr als ein Spiel, ein Zeitvertreib, der sich jeden Abend aufs Neue zutrug, wie ihre eigene kleine Hölle.

„Den“, sprach der fülligere der Wachmänner und deutete mit dem Finger auf Robin. Mit schmerzerfülltem Blick verfolgte Azeen, wie Robin losgemacht wurde. Der Wärter packte ihn grob an den Schultern und begann ihn zur Mitte des Raumes zu schieben. Mit den Füßen versuchte dieser vergebens Halt zu finden und sich gegen die Richtung zu stemmen, in die er gedrückt wurde. Doch alles, was seine Füße auf dem Boden hinterließen, war eine schabende Schleifspur. Je näher er seinem Schlächter kam, umso mehr versuchte er, sich loszureißen.

„Isch mag es, wenn se zappeln“, nuschelte der Beleibte mit psychopathischem Funkeln in den Augen. Mit der Zange hielt er eine glühende Kohle umklammert und kam Robin damit immer näher. Seine Gelenke wurden steif vor Schreck und er fühlte, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss. Seine Lethargie löste sich, als seine Panik ins Unermessliche stieg. Mit dem Ellenbogen, stieß er seinen Hintermann so heftig er konnte gegen die freiliegenden Rippen. Fluchend riss dieser die Arme nach oben und löste den Griff von Robins Schultern. Der Engländer fiel zu Boden, war zu schwach sich auf den Beinen zu halten. Wütend griff der Wärter nach seinem Handgelenk. Mit aller Kraft, die er noch besaß, trat der junge Lord ihm gegen das Schienbein, als er gerade hochgezogen werden sollte. Sein Peiniger kam ins Wanken, hielt sich an seinem Kumpan fest und riss auch diesen mit nach hinten gegen den Kessel. Schreiend suhlten sie sich in den glühenden Kohlen.

Die Gefangenen grölten und stießen Laute aus, die Robin als Lachen identifizierte. In diesem Augenblick erst realisierte er, was er getan hatte: Er war zu weit gegangen. Diesen Abend würden sie ihn sicher nicht am Leben lassen, keinen von ihnen. Eine Erkenntnis, die den Engländer hart schlucken ließ. Vergebens versuchte er sich aufzurichten und entschied sich schließlich zu kriechen. Er musste nur nah genug an den Gürtel des Aufgedunsenen kommen.

„Ro -bin, Ro -bin, Ro -bin …-“, begann Azeen ihn anzufeuern, als er begriff, was dieser vorhatte.

Schnell stimmten auch die anderen mit ein und feuerten ihn an. Ein Chor aus Zustimmung, der neue Lebensgeister in den angeschlagenen Knochen des jungen Lords weckte und ihm noch bewusst machte, dass er ihre einzige Hoffnung war. Zielstrebig griff er nach dem Schlüssel und kroch schon zurück, als der Wärter seinen Knöchel packte. Erneut keimte Panik in ihm auf. Hastig versuchte er ihn mit dem anderen Fuß hinfort zu treten, doch ihm fehlte es an Kraft. Stattdessen beugte er sich vor, öffnete den Verschluss seines Stiefels und ließ diesen in der Hand des Peinigers zurück, während er sich weiter in die Richtung seines Freundes schleppte. An der Wand angekommen zog er sich mühselig an Azeens Leib hinauf und befreite diesen gerade rechtzeitig. Der Nomade war noch nicht so lange hier und noch gut bei Kräften. Doch dass es ihm nicht nur ein Leichtes war, beide Wärter nacheinander abzuwehren, sondern auch zu entwaffnen, verblüffte Robin. Er musste wohl einer der bewährten Söldner gewesen sein, bevor er an diesen Ort gelangte. Schnell hatte Azeen die Ketten einiger anderer Sklaven aufgeschlossen, die auch noch nicht so lange abhingen wie Pökelfleisch. Mit vereinten Kräften ketteten sie die Wärter an die Wand, ehe sie auch die übrigen Insassen von ihren Fesseln befreiten. Robin verharrte an der Mauer gelehnt, beobachtete das Geschehen. Ein kurzer Blick zum Kerkerfenster verriet ihm, dass es draußen nun stockduster war. Gute Bedingungen für eine Flucht. Nicht nur, dass sie sich einfacher in die Ausuferungen der Nacht davonstehlen konnten, auch mussten sich ihre Augen nicht an das befremdlich grelle Tageslicht gewöhnen. Vorausgesetzt, er kam die Steintreppen hinauf.

Er tat einen beherzten Schritt nach vorn und sackte sogleich auf die Knie. Zu seiner Überraschung waren da plötzlich Hände, die ihm unter die Arme griffen und ihn hochzogen. Verwundert blickte er über die Schulter. Es war Azeen, der ihn stützte und anschließend die Stufen hinaufhalf.

Das Versprechen

Fest rechnete Robin damit, dass sich sein Begleiter alsbald verabschieden und ihn hinter den Gefängnismauern zurücklassen würde. Alle übrigen Insassen hatten sich bereits in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Ihr Brot hatten sie mitgenommen. Doch Azeen blieb treu an der Seite des Engländers.

„Willst du nicht auch fort?“, fragte Robin, als sie kurz Halt machten. Nur schleppend trugen ihn seine Beine, trotz der Stütze, die der Nomade ihm war.

„Ich stehe in Eurer Schuld.“

Robins Stirn zog sich kraus. Wenn es danach ging, standen sie dann nicht alle in seiner Schuld? Und wie viele von ihnen waren nun noch hier? „Du solltest fliehen, Azeen. Ohne mich kämst du schneller fort.“

„Ich weiß doch gar nicht wohin“, gab dieser zurück.

„Das Land ist groß, du wirst schon etwas finden.“

„Und was wird aus Euch? Lasst mich doch mit Euch gehen.“

Robin sah ihn an. Er wusste nicht, ob es der freundliche Blick des Nomaden war oder der Gedanke, dass er einen Freund in diesen finsteren Tagen gebrauchen konnte, der ihn nachgeben ließ. „Also schön.“

Ein Lächeln zog sich über Azeens Gesicht. „Schön und wo gehen wir hin?“

„Nach Hause“, entgegnete Robin ebenso lächelnd und hielt Ausschau nach einem Ruderboot, mit dem sie übersetzen konnten.

Beinahe zwei Monate brachten sie mit der Heimreise zu. In den Dörfern, die sie durchquerten, stahlen sie Kleidung von den Leinen, Früchte von den Märkten und konnten ab und an sogar eine Lammkeule erhaschen. Manchmal gelang es ihnen, sich in die Kutschen und Wägen der Händler zu schleichen, um dort ihre Mägen zu füllen und ihre Füße zu schonen, während sie sich mitnehmen ließen. So lange, bis sie schließlich verjagt wurden oder von selbst die Flucht ergriffen. Die Wälder, die sie durchstreiften, boten einige Bäche an denen sie sich waschen konnten. Eine Tortur, die sich immer wiederholte. Und doch versiegten die Gespräche nie und Robin kam zu der Einsicht, dass es gut war, nicht allein gereist zu sein. Auch Azeen wurde immer neugieriger auf die Heimat seines neu gewonnenen Freundes. Ob das Schloss wohl wirklich so prunkvoll war, wie er es beschrieb? Die Speisen wirklich so vorzüglich schmeckten, wie er es ihm vorschwärmte? Die Ländereien so grün und weit waren, dass man kein Ende sah?

Die Heimkehr

 Kraftlos und gepeinigt von andauerndem Hunger, Mutlosigkeit und Erschöpfung, erreichten sie ihr Ziel. Nur wenige hundert Meter vor ihnen waren die schemenhaften Umrisse eines Dorfes zu erkennen. Mit jedem Schritt, den sie taten, wandelten sich die Konturen zu einem aufgeschwemmten Sumpf aus verbranntem Holz und in sich zusammengestürzte Trümmerhaufen von dem, was einmal Häuser gewesen sein mussten. Ein großer Teil des Dorfes war einfach im Boden versunken, als hätte die Erde selbst ihr Maul weit aufgetan, um sich in einem unbändigen Anfall kaum stillbaren Hungers fast jedes Anwesen einzuverleiben. Es war für beider Augen deutlich zu sehen, dass ein großer Teil der Unterkünfte vorher gebrannt hatte, andere Gebäude waren einfach in ihre Grundrisse eingestampft und zu Schutt zerschlagen. Die Luft war geschwängert vom Geruch verbrannten Fleisches, beträufelt mit einer Note aus Asche und versehen mit einer Nichtigkeit aus Verwesung. Es roch nach Tod und allem, was eine Nase nicht riechen wollte.

Tränen bitterer Verzweiflung bahnten sich ihren salzigen Weg über Robins Wangen, als er die eingerissenen Burgmauern in der Ferne ausmachte. Trauer und blanke Furcht spiegelten sich gleichermaßen in seinem Blick. Das Chaos in seinem Kopf glich der Umgebung des Trümmerdorfes. Ein einzelner Gedanke gelangte ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, schlug dort meterhohe Wellen und trieb ihn schließlich an noch schneller zu laufen, als er dachte, er könnte es. Azeen folgte ihm mit etwas Verzögerung zum Tor und anschließend durch die verwinkelten Gänge der Burg. Hier und dort bröckelten einige Gesteinsklumpen des invaliden Mauerwerks ab. „VATER!“, schrie Robin aus vollem Leibe und lief die Steintreppen zum Turmzimmer hinauf. Die Tür stand bereits offen. Das Zimmer war verwüstet und feiner Staub rieselte von der Decke. Robin brauchte keine zwei Schritte, um den Leichnam seines alten Herren auszumachen. Er lag am Boden, wie ein Stück Abfall. Doch sah dabei so friedlich aus, als würde er schlafen. Nur war der Schlaf, den er angetreten hatte, ein Bündnis mit der Ewigkeit. Eines, aus dem es kein Zurück mehr gab. Entkräftet sackte Robin auf die Knie. „Nein ... Nein, nein, nein, nein! Warum nur? Wa-“, seine Stimme brach weg.

„Milord …“, flüsterte Azeen und legte ihm zum Trost die Hand auf die Schulter. Er ließ ihn Abschied nehmen, seine Trauer bewältigen und half ihm schließlich, sich zu sammeln. Als sie das Zimmer nach Anhaltspunkten durchsuchten, fiel ihnen ein Brief auf dem Schreibtisch von Lord Locksley auf. Mit schwarzen Lettern stand auf vergilbtem Pergament geschrieben: [...]

 

Erschienen am 6. Dezember 2016 bei Amazon

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.10.2017

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