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Unauffällig auffällig

Schulschluss. Alle stürmen aus dem Klassenzimmer, nur ich packe entspannt meine Schulsachen ein und gehe gesittet aus dem Raum. Ein Fehler! Meine Klassenlehrerin will mich nochmal sprechen und bittet mich, in ihr Büro zu kommen. Eigentlich finde ich unsere Klassenlehrerin total in Ordnung, also eigentlich haben wir sogar die besten Klassenlehrer, die es gibt. Naja seit etwa zwei Monaten werde ich von ihnen nur noch gemustert und die sind anders als sonst. Also verlasse ich das Klassenzimmer, zieh die Tür hinter mir zu und schlender gemütlich zu dem Büro meiner Klassenlehrerin. Ich klopfe, öffne die Tür und schon sitzen meine beiden Klassenlehrer am Tisch und gucken mich wartend an. Ich setz mich zu ihnen an den Tisch und warte bis einer das Gespräch anfängt. "Also Anna, du hast dich in den letzten zwei Monaten sehr verändert", beginnt Frau Gottland. Ich hab mich verändert? Waren die äußerst unhöflich zu mir oder ich zu denen? "Du bist dünner geworden", fährt Herr Rohmer fort. Die haben wohl Tomaten auf den Augen. Ich und dünner, haha das ich nicht lache. "Willst du dich dazu äußern Anna?", fragen sie mich. "Ich wüsste nicht wieso? Ich bin weder dünner geworden, noch hab ich Zeit für so ein sinnloses Gespräch", wütend nehm ich meine Tasche und verlass das Büro. Rennend flitze ich über den Schulflur, während mich Tränen überkommen. Plötzlich kommt mir unsere Sozialarbeiterin entgegen und wollte mich aufhalten, wahrscheinlich um zu fragen was denn los ist. Aber ich lasse mich nicht stoppen niemals! Mich überkommen Schwindelgefühle, doch auch die ignorier ich.

Am Fahrrad angekommen, hol ich erstmal tief Luft. In aller Ruhe schließe ich mein Fahrrad ab, aber dann muss ich schon wieder schnell los. Heute steht Training auf dem Plan, Bus 15:11 Uhr vom Bahnhof und 15:45 Uhr am Stadion, während 16:00 Uhr das Leichtatlethik-Training beginnt und vorher noch schnell die Hausaufgaben zu Montag erledigen. Alles in größter Hektik, aber sauber und ordentlich und nebenbei noch viel Wasser trinken. Mit Fahrrad zum Hauptbahnhof und den Bus geschafft, pünktlich am Stadion und überpünktlich in der Halle zum Basketball. Bei Basketball sind Eric und ich wie immer ein super Team. Eric ist der größte und für mich sportlichste und hübscheste Typ beim Training, seit zwei bis drei Wochen hab ich mich ein bisschen in ihn verknallt, aber das weis er mittlerweile auch schon. Nach Basketball sind alle total fertig, weil es in der Halle bestimmt 25 Grad waren. Dann gehts auch schon weiter mit Gymnastik und Dehnung in der Laufhalle oder je nach Wetter draußen auf dem weichen Gras. Zum Schluss machen wir, je nach Laune unserer Trainerin und Wetter, Hürden, Laufen, Sprung, Kondition oder was ihr noch so einfällt. Heute haben wir kurze Sprints, leider kann ich das nicht gut. Sie teilt mich auch in die leistungsschwächste "Liga" ein und trotzdem bin ich die Schlechteste. Aber sie sagt, dass ich mir Mühe gegeben hab und das sei das Wichtigste. Mit erneuten Schwindelgefühlen und elenden Magenknurren, lauf ich meine letzte Runde für heute und dehn mich an der Barriere aus. Eric wartet nach dem Umziehen auf mich und begleitet mich zur Bushaltestelle. Wir unterhalten uns und als mein Bus kommt, drückt er mich sanft. Er ist so niedlich und wir beide wären bestimmt echt toll zusammen, aber in so eine dicke Kreatur wie mich, würde er sich bestimmt nie verlieben. Mit Frühlingsgefühlen ins Wochenende starten ist immer gut. Zuhause geh ich gleich unter die Dusche und putz meine Zähne, keine Zeit für Nahrungsaufnahme. Abends gönn ich mir denn Fernseh zu gucken und schreib auf Facebook mit Eric über den Tag und Training. Um 21 Uhr ist denn meine reguläre Schlafenszeit, viel Schlaf ist gut! Heute aber ist das schlafen schwer, mein Magen tut unglaublich doll weh und er knurrt die ganze Zeit, das hab ich in letzter Zeit öfter, aber ich werde einen Teufel tun jetzt etwas zu essen. Dann schlaf ich doch..

Samstags hat entweder jemand Geburtstag oder der Tag gehört mir. Dieses Mal ist es wieder ein Geburtstag, der mich aber eigentlich garnichts angeht. Schon bei dem Wort allein schwebt mir gleich der Gedanke von Kuchen zum Kaffee und Grillen zum Abend ein, wo es für Vegetarier Salat gibt, was eigentlich nicht schlecht ist, aber der in Öl getaucht wurde. Wieder einmal sage ich ab, lieber entspanne ich Zuhause, lern ein bisschen und mach viel Gymnastik und Yoga. Das Essen lass ich heute einfach ausfallen, werfe es einfach weg, die sind eh bis 22 Uhr unterwegs und merken das nicht. Ganz schön kalt heute, obwohl die Sonne scheint. Ich kauer mich in mein Bett und deck mich zu, meinen Hefter hab ich vor der Nase, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Ich nehm mein Hausaufgabenheft und hole aus der Folie hintendran ein kleines blaues Heft heraus. Seit ein paar Monaten führe ich ein Ernährungstagebuch, das hilft mir weniger zu essen, denn 450 Kalorien für eine Hand voll Schokolade oder Gummibären klingt schon extrem viel. Anstatt zu lernen verschöner ich einfach mein Tagebuch, macht auch mehr Spaß, obwohl lernen wichtiger ist.

Sonntag ist dann Omatag, bei mir Wiegetag. Heute kommt mein viel zu hohes Gewicht in mein Tagebuch, in roter Farbe schreibe ich meine 51 Kilo auf. Dann noch schnell Größe messen und auch die wird eingetragen, 1.73m. Es ist traurig, wie dick die Menschheit geworden ist und wie sich so jeder wohl fühlt, aber ich bin anders. Sonntags lass ich Frühstück ausfallen, damit hat meine Mutter sich abgefunden, zum Mittag bei meiner Oma gibts meist Mozarella und Gurken, zum Kaffee bin ich mit dem Hund spazieren und abends macht meine Oma immer Salat. Das war schon immer so und das bleibt wahrscheinlich auch immer so. Abends noch einmal schnell Wechselduschen und nach dem Lernen gleich schlafen.

Montags fahr ich wie immer zur Schule, mit dem Rad bin ich auch in 7 Minuten schon da. Nach all dem nervigen Mathe, Englisch und zu guter letzt auch nach dem Physiktest, werde ich schon wieder von Frau Gottland aufgehalten. "Wieder ins Büro?", frage ich sie. Sie nickt und wir gehen zusammen zum Büro, schweigend. Jetzt muss nur mein Magen ruhig sein und denn wird hoffentlich alles gut. Frau Gottland hält mir die Tür auf, doch als ich sehe wer drin sitzt, will ich am liebsten wegrennen. Sie schiebt mich in den Raum. Da sind alle versammelt, meine Klassenlehrer, unsere Sozialarbeiterin und meine Mutter. Ich hab Angst, ich mag mich nicht setzen, ich steh da und alle starren mich an und sie mustern meinen Körper. Meine Mutter traut sich kaum mich anzugucken, sie guckt einmal, scheint entsetzt und fängt an zu weinen. Ich hab meine Mutter noch nie weinen sehen oder überhaupt dass sie sich für mich interressiert ist unglaublich. Ohne auch nur einmal jemandem ins Gesicht zu gucken, starr ich auf dem Boden. Dann werd ich auf einen harten Holzstuhl gedrückt. Meine Knochen schmerzen auf dem Stuhl, was mich verkrampfen lässt und trotzdem starr ich weiter auf den Boden. "Anna, wie fühlst du dich heute?", fragt Frau Bayer, unsere Sozialarbeiterin. Ich zucke nur mit den Schultern und verkrieche mich immer mehr in meinen großen flauschigen und teilweise warmen Pullover. "Also wir alle denken, dass es dir seit geraumer Zeit nicht gut geht. Vielleicht ist eine Krankheit der Hintergrund dafür und das würden wir gerne von dir wissen", sagt Herr Rohmer. Ich komm aus meinem Pullover hervor: "Mir geht es gut und ich bin auch nicht krank, was soll die Versammlung hier denn?" Klar weis ich, dass ich abgenommen hab, aber das geht die alle garnichts an. Die bezeichnen abnehmen als krank, obwohl es doch nicht verboten ist etwas schlanker zu werden. Auch wenn man für's dünn sein auf vieles verzichten muss, wer es will, nimmt es in Kauf. Mittlerweile hat auch meine Mutter sich beruhigt und guckt mich erwartungsvoll und mit leicht  wütenden Augen an. "Das was du machst ist krank. Du isst kaum noch was und ziehst dich immer mehr zurück. Wir sind uns ziemlich sicher, dass du magersüchtig bist, liebe Anna", kontert Frau Bayer. "Was bin ich? Das stimmt doch nicht", wütend bin ich aufgesprungen, doch mir wurde schwindelig und bin zurück auf meinen Stuhl gesackt. "Das sind Zeichen für eine Mangelernährung", sagt Frau Gottland, streichelt mir über den Rücken und stellt mir ein Glas Wasser hin. Ich sage nichts mehr, genauso wie meine Mutter, sie nickt nur einmal und schmollt sonst auch nur vor sich hin. Die anderen erzählen noch über Magersucht, die unheimlich schlimme Krankheit. Für mich klingt das alles nicht so schlimm, aber wenn ich das jetzt sage, darf ich mir gleich die nächsten Sprüche anhören. Die Lehrer vereinbaren mit meiner Mutter, mich zum Arzt zu schicken und dann weiter zu verfahren. Nach dem Gespräch will meine Mutter noch einmal mit mir reden, doch ich gehe stur in mein Zimmer und schließe die Tür ab.

Schon am nächsten Morgen fährt mich meine Mutter zu meiner Ärztin, bei der ich schon Monate nicht mehr war. Die Ärztin guckt mich entsetzt an und dann geht es wieder los. Wiegen, Messen und dann viele Informationen über Essstörungen und ganz viele Fragen bombadieren mich. Sie klingt nicht als wenn sie mich versteht oder mich verstehen will, sie selber sieht aber auch aus wie eine Tonne. Sie sagt ich müsse in eine Klinik, da es bei mir schon sehr weit fortgeschritten ist. Sie telefoniert noch ein paar Mal und dann ruft sie meine Mutter dazu. Sie erzählen von meinem aktuellen Untergewicht von 49 kg und von einer Klinik, die nur 20 km von hier weg sei und für mich bestimmt gut wäre. Meine Mutter stimmt nach kurzer Zeit zu. Ab nächsten Montag werde ich vorraussichtlich für vier Monate in einer Klinik wohnen, alles Weitere erfahr ich dort. In dem Moment bin ich so sauer auf die Welt, können es nicht ertragen, dass ich dünner als sie es sind bin. Meine Mutter kriegt noch Info-Zettel und anderes und dann fährt sie mich zur Schule.

 

"Klinikaufenthalt muss sein!"

Die ganze Woche verging viel zu schnell, ich hatte noch viele Gespräche mit Frau Bayer und hab viele Wünsche mit auf den Weg bekommen. Auf dem Weg zur Klinik stellt mein Bruder ganz viele Fragen, die weder meine Mutter, noch ich richtig beantworten. Aber meine Mutter beruhigt ihn, dass ich erstmal am Wochenende nach Hause darf, aber mein Essen dokumentieren muss. Mir ist klar, dass mich niemand versteht, aber dass ich, beziehungsweise meine Mutter, mein Essen dokumentieren muss, das ist maßlos übertrieben. 

Von außen sieht die Klinik freundlich aus und nicht wie ein normales Krankenhaus oder so, aber von drinnen ist es eine Klinik. Stationen und krank aussehende Leute. Hier sind hauptsächlich Kinder, mehr Mädchen als Jungen. Manche sehr dick, andere sehr dünn, wieder andere normal figürlich. Wir werden freundlich begrüßt, die scheinen auch gleich zu wissen, wer wir sind. Die Frau, die mir mein Zimmer zeigt, ist hier die Chefärztin und wird wohl auch mich behandeln. Gefühlslos lass ich mich durch die Klinik führen, während sich Frau Dr. Weight mit meiner Mutter unterhält. Wir begegnen sehr vielen schönen dünnen Mädchen und die Ärztin beobachtet mich jedes Mal, wenn ich diese genauer muster. Wenn ich mir diese Mädchen angucke, frag ich mich immer wieder was ich hier soll. 

Weinende dürre Kinder sitzen auf dem Boden, zusammengekauert und hilflos, was soll ich denn hier? Nach einem abschließenden Wort und ein paar letzten Unterschriften meiner Mutter, verabschieden wir uns und ich gehe auf mein Zimmer. Um 17 Uhr kommt Dr. Weight in mein Zimmer, sie stellt unheimlich viele Fragen, über mich und meine Familie, die Schule und meine Freunde. Außerdem gibt sie mir meinen Wochenplan und bittet mich morgen früh um 7 Uhr zur Aufnahmeuntersuchung zu kommen. Nebenbei erwähnt sie auch, dass ich gerne zum gemeinsamen Abendessen der Station 3 eingeladen bin, aber ich lehne es aber ab. Sie tut als verstehe sie mich und findet es für den ersten Abend ok. Dann verabschiedet sie sich und geht. Jetzt sitze ich alleine im Zimmer und warte bis irgendwas passiert. Hier ist noch ein zweites Krankenbett im Raum, dass auch belegt wird, sobald eine neue Patientin eintrifft. Außerdem gibt es ein seperates Bad, mit Toilette Dusche und Waschbecken.

Gedanken im Kopf

 Ich verspüre den Drang nach Bewegung, als ich auf meinem Bett liege und beschließ meine Sachen in den Schrank zu räumen. Die Sachen waren schnell verstaut, doch mein Drang ist noch nicht gestillt. Also verlasse ich mein Zimmer und laufe über die Station. Sie ist noch größer als ich dachte, eigener Essenssaal, Küche, Aufenthaltsräume und vieles mehr befindet sich hier. 

Auf dem Weg zurück zu meinem Zimmer begegnen mir fröhliche und teilweise auch sehr traurige Jugendliche, sie mustern mich und die eine ruft: "Hey Ana", klopft mir auf die Schulter und geht weiter. Woher sie meinen Namen kannte ist mir unbekannt, aber auch dieses grobe Schulterklopfen, war nicht gerade angebracht. Hinter ihr geht ein kleines Kind, vielleicht 12 Jahre und trägt ihr noch volles Tablett mit sich. Frau Weight meinte schon, dass es für manche unmöglich überhaupt etwas vor anderen zu essen und denn noch auf Drang, deswegen kriegen manche ihr Essen mit auf's Zimmer. Doch sollte das denn im Müll gefunden werden oder liegen bleiben, dann wird entschieden ob eine Sonde gelegt wird oder nicht, abhängig vom Körpergewicht meist.

Schon beängstigend sowas, doch ich lass mir was einfallen, mich kriegen die nicht mit ihren Sonden. Gerade wollte ich meine Zimmertür öffnen, schon steht eine Schwester hinter mir. Sie muss das andere Bett beziehen, da eine neue Patientin kommt. Natürlich lasse ich sie mit rein, wir unterhalten uns nebenbei sogar noch ein bisschen und ich erzähle ihr warum ich hier bin.

"So neu und schon auf Station 3? Na denn ess kräftig und du kommst auf die 2, die ist angenehmer für dich, glaub mir", sagt sie und setzt sich noch kurz zu mir aufs Bett. Als ich näher nachfrage erklärt sie, dass es hier "Stufen" gibt. Fünf Stufen und fünf Stationen, die Jugendlichen und Kinder werden je nach Grad der Essstörung in Stufen verteilt. Auf Station 5 sind die tödlich Gefährdeten, die vielleicht auch schon Herzfehler oder sonstiges dadurch haben. Die Kinder auf Station 4 werden ausschließlich durch Sonden ernährt, da sie sich weigern zu essen. Auf Station 3 sind die Fälle, die mal essen und dann wieder nicht und die noch etwas selbstständig sind im Umgang und nicht bettlegerich, da sie keine Kraft mehr haben. Sie warnt mich vor Station 4 und wünscht mir nur das Beste, dann geht sie.

Tage vergehen nicht..

Die Aufnahmeuntersuchung war ganz in Ordnung, mein Gewicht beträgt 48 kg und ich darf erstmal auf Station 3 bleiben. Jedoch schätzen sie mich als Härtefall ein und werden mich genauer beobachten. Nochmals wurde ich zum Thema Sonde aufgeklärt und ich dürfe am Wochenende nur raus, wenn ich ein Kilo pro Woche zu nehme. 

Die Tage vergehen nicht. Jeden Tag das gleiche und immer mehr traurige Gesichter auf Station 3. Ich habe jetzt eine Zimmergenossin. Sie heißt Lara und ist 15 Jahre alt. Lara ist sehr dünn und ist stolze ANA, eine Anhängerin der Magersucht. Man schickte sie aus Station 4 hierher, da sie mittlerweile schon bereit ist, zu essen. Ich kenne ihren Plan, den ich aber nicht bevorzugen würde. Sie macht hier was ihr gesagt wird und nimmt wöchentlich bis zu drei Kilogramm zu, jedoch setzt sie sich nach dem Aufenthalt ab und widmet sich wieder ihrer Sucht.

Heute ist Donnerstag und der Tag ist wie jeder andere hier. Morgens waschen und danach direkt zum Frühstück. Erst wenn alles Essen auf dem Tablett weg ist, darf man raus zur Hofstunde. Da sind dann immer etwa 40 Jugendliche und treiben ganz viel Sport, um die aufgenommenen Kalorien zu verlieren. Ich jogge immer durch den Wald, manchmal kommt Lara mit. Wir laufen so schnell wir können und nach einer Stunde haben wir immer noch nicht genug. Bis 12 Uhr sitzt man denn auf dem Zimmer, beziehungsweise läuft über die Station oder macht heimlich Gymnastik im Bad. Sport ist nach der Freistunde nicht mehr erlaubt, wenn die einen dann erwischen, kriegt man Sperre für den Nachmittag. Und wieder erst nach dem Mittag darf man raus, aber auch nur wer aufgegessen hat und dann nur für 30 Minuten. Wieder viele Kinder die Sport treiben und Kalorien abtrainieren. 

Vor dem Abend ist entweder Gruppentherapie oder Einzeltherapie, keines von beidem macht Spaß. Es wird einem nur eingeredet man sei ernsthaft krank und wenn wir nichts tuen, dann sterben wir vermutlich an der Krankheit. Auf der Station gibt es gemischte Meinungen dazu. Manche sind für's gesund werden, andere wollen immer weiter abnehmen und sehen Anorexie nicht als Krankheit. 

 

1. Wochenende

Heute hab ich 50 Kilo auf die Waage gebracht. Ich war entsetzt und ich musste sogar weinen, aber die Ärzte waren stolz auf mich. Ich soll am Wochenende genauso gut essen wie hier und dann kann ich schonbald wieder normal leben. 

Ich werde Zuhause neue Pläne schmieden und wenn meine Mutter mir mein Handy mitbringt, schreib ich die ganze Zeit mit Lara, die auch Zuhause ist. Meine Mutter fragt nur einmal wie es mir geht und sonst IGNORANZ. Bis zum Abendessen sitz ich wieder in meinem Zimmer und schreib SMS. Lara schreibt mir über Bulimie. Wenn es mir zu viel wird, dann soll ich es probieren, es hilft wohl.

Ich mache meinen Laptop an und informiere mich erstmals genau über ANA und MIA. Mir gefallen diese Arten zu leben, diese Lifestyles. Obwohl MIA nicht unbedingt hilfreich scheint. Wenn ich jetzt Schokolade ess und dann kotze, nehm ich trotzdem zu. Ich ziehe mein Leben weiter durch, ohne MIA nur mit ANA ♥.

Meine Mama hat Essen gemacht, doch ich esse nicht mit. Sie fragt auch nicht weiter, denn ich war ihr noch nie wichtig. Sie knallt meine Tür zu und redet mit meinem Bruder. Mit den Minuten, die ich meiner Mutter lauschte, wurde ich immer wütender. Ich würde ja mit denen essen, aber ich kann nicht. Ich will dünn sein und dafür muss ich vieles opfern, außerdem hat sie selber mal gesagt, dass ich abnehmen sollte. Immer mehr Hass und Wut staut sich in mir und ich schau immer wieder in den Spiegel und seh mein Fett heraus quellen. Ich geh ins Bad und dusche ein bisschen, nebenbei rasier ich mich.

Wütend reiß ich den Rasierer über meine fetten Beine. Das Ergebnis ist Blut, aber schönes. Es tropft mein Bein herunter und ich merke etwas warmes und weichen mich beschützen. 

Neue Pläne

Am Wochenende "rasierte" ich mich noch ein paar Mal. Jetzt hab ich Narben von der Rasierklinge, die meine Beine verschönerte. Mittlerweile hab ich die Rasierklinge auch schon heraus gebaut und ich liebe es, damit über meine Arme und Beine zu fahren. Es befreit mich und ich fühle mich so leer danach. 

Am Montag zeig ich es Lara, die nicht begeistert scheint. Ich bin wütend auf sie, denn eigentlich hat sie mich immer verstanden, bis heute. Nach der Untersuchung war ich ganz stolz auf mich, ein Gewicht von 49 Kilogramm. Sport und Hungern hilft, ich habe es immer gewusst. Lara wusste es auch und in der Hinsicht haben wir auch eigentlich die gleiche Meinung. Sie ignoriert mich aber jetzt so gut es geht und sitzt auch beim Essen nichtmehr neben mir. Ich weis nicht wieso, aber mir ist es recht. 

In der Woche wurde mir die Klinik zu viel. Der Zwang etwas essen zu müssen ist zu groß und die Narben vom Schneiden fielen auch schon auf. Ich dachte wieder an Lara's SMS, das Bulimie erleichtert und man so alles in einem los wird. Ich rannte auf mein Zimmer und schloss mich im Bad ein. Finger im Hals und schon.. Ich hab mich übergeben, mein Essen von heute kam aus mir heraus und ich fühlte mich leichter und befreit. 

In dieser Woche hab ich zwei neue Wege für mich entdeckt, SVV und die liebe Mia. Sie helfen mir mit der Klinik fertig zu werden und sie tuen mir gut. Mit der Zeit kapselte ich mich wieder ab und konzentrierte sich voll und ganz auf mich. Lara hat mittlerweile das Zimmer gewechselt, sodass ich jetzt ein schönes Einzelzimmer hab. 

Am Freitag durfte ich nicht nach Hause. Bei der Untersuchung wog ich 48,5 Kilo, trotz viel Wasser vorher. Mir war es ganz egal, denn Zuhause ist es genauso spannend wie hier. Nagut zu Hause muss ich nicht kotzen und kann mehr Sport machen, aber solang es hier auch funktioniert. Für das Wochenende bekam ich aber Ausgangssperre und musste immer mehr kotzen, um abzunehmen. 

Letze Lebensabschnitte

Auch nach über fünf Monaten viel mein Gewicht immer weiter, mittlerweile bin ich bei 40 Kilo und ANA und MIA begleiten mich täglich. Die Ärzte verzweifeln immer mehr und überlegen auch, ob eine Entlassung sinnvoller wäre. Sie haben es auch mitbekommen, dass ich täglich Gymnastik mache, trotz meiner Sportsperre. Frau Retzer, die Psychologin weiß auch nicht weiter, denn ich rede nicht mehr mit ihr und erscheine auch zur Gruppentherapie nicht mehr. 

Mir ist das recht. Lasst mich doch dünner werden, ihr könnt es ja eh nicht ändern. Ihr habt keine Chance gegen uns, wir drei zeigen es euch, wie dünn Anna Mahnig doch sein kann. Mittlerweile sind ANA und MIA meine besten Freunde und wenn ich mal nicht weiter weiß, dann wissen sie es. Sie helfen mir mit diesem beschissenen Leben weiter zu kommen.

Da ich wieder nicht raus durfte, turnte ich in meinem Zimmer. Ich fühlte mich schwach, doch ich machte immer weiter. Mein Körper ist stark und er hält immer zu mir - dachte ich. Nach 34 Minuten fielen meine Augen zu und ich stürzte zu Boden. 

End-Station 4

Ich wach wieder auf, mein Körper zittert. Schwestern stehen neben meinem Bett und überwachen mich. In meiner Nase juckt es. Man legte mir eine Sonde mit einem kleinen Päckchen voller Kalorien. -Ich schlief wieder ein- Am nächsten Tag hab ich wieder mehr Kraft, ich begreif nicht wieso die mir eine Sonde legen. Ein riss, zack, die Sonde ist schon fast raus. Ich zog weiter bis sie raus war und schmiss sie dann zu Boden. Entsetzte Blicke der Schwestern ließen mich nicht stoppen. 

Ich machte es immer wieder. Immer wieder riss ich die Sonden raus und warf sie und die Päckchen voller Kalorien zu Boden. Einmal schmiss ich sie voller Wut ins Zimmer der Schwestern, die wütend mich zur Rede stellten, ohne Erfolg.

 Sie entlassen mich nicht. Meine Mutter ist in psychischer Behandlung und mein Bruder in der Zeit im Kinderheim untergebracht. Ich hab meiner Familie viel Leid angetan, aber ich habe mein Leben gelebt, wie ich es wollte.

"Es tut mir leid, lieber Bruder. Es tut mir leid, dass du wegen mir leidest, aber anders kann ich nicht leben. Es war mein Wunsch, dem Mobbing zu entkommen und mich zu vervollständigen. Bitte sei mir nicht böse und ich hoffe es geht dir nicht all zu schlecht im Heim. Und Danke für das Geburtstagsgeschenk. Ich liebe dich, deine Schwester Ana!" 

 

Kurz nach dem Brief ist es soweit. Ich bin am Ende meiner Kräfte, mein Körper besteht aus wunderschönen Knochen überzogen von ein bisschen Haut. 

Ende einer 15 Jährigen

Name: ANNA MAHNIG

Alter: 15 Jahre

Gewicht: 31,5 kg

Größe: 1.73 m 

Diagnose: ANOREXIA NERVOSA, BULIMIA NERVOSA

- VERSTORBEN DURCH HERZFEHLER, IHR HERZ STOPPTE

Todestag: 21.06.2012

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

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