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Des Teufels Lachen


In der Zeitung stand, die psychisch kranke Angélique hätte sich eines Tages das Leben genommen. Zurück blieben ihr Mann Heinz Munzfeld und ihr Sohn Sven. Munzfeld ist inzwischen zu einem reichen Mann geworden, dessen kriminelle Machenschaften aber den Verdacht der Polizei wecken. Elena Janowsky, die zustädige Beamtin, kommt ohne es zunächst zu ahnen einer entsetzlichen Geschichte auf die Spur. In dem Dorf im Berner Jura, in welchem auch Angélique gelebt hatte, erinnern sich ein paar Menschen an die Vergangenheit. Erst jetzt wird offensichtlich, was niemand zu sehen gewagt hatte. Schlimme Dinge haben sich vor den Augen aller abgespielt, doch niemand hat realisiert was vor sich ging.

Immer mehr gerät Elena zwischen Gegenwart und Vergangenheit und bringt sich und andere dabei in Lebensgefahr. Auch Sven, der sich nun auf eine Flucht begibt, die ihn näher an sich selbst bringt und näher an seine Mutter.

Eine Geschichte voller Spannung, Leidenschaft und Grauen aber auch voller Hoffnung.

 

 

 

 

 

 

 

Urheberrechtsvermerk


Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Copyright © 2011 Kerstin Jäger, von Belp (BE)

Satz und Layout: Kerstin Jäger

Umschlagbild: Copyright © Kerstin Jäger

ISBN: 978-3-7368-4573-2


Sämtliche Figuren sind frei erfunden. Jede Ähn­lichkeit mit existierenden Personen ist gänzlich  unbeabsichtigt.

 

1

Für Oma

 

Was immer der Mensch sich ausdenkt,

er wird die Gedanken lebendig werden lassen.

Vielleicht nicht jetzt und hier,

vielleicht auch nicht in diesem Leben.

Vielleicht in der vergangenen Generation oder in der nächsten.

Vielleicht aber auch nur an einem anderen Ort.

 

Prolog

Liebe

 

Ausgelassen lachten sie, drehten sich im Kreis, sich gegenüberstehend, die Hände haltend. Beide strahlten über das ganze Gesicht, sahen sich ge­genseitig in die Augen und tanzten. Tanzten bis sie heftig atmend sich in die Arme fielen und sich zärtlich hielten. Hand in Hand bewegten sie sich leicht durch blumengeschmückte Tische und Gäste hindurch. Er zog sie sanft hinter sich her, stolz, gross und gutaussehend mit seinem schwarzen Haar und in seinem eleganten Anzug. Ihr luftig weisses Seidenkleid schimmerte in der Sonne und ihr blondes hochgestecktes Haar und ihre Augen glänzten als sie ihm folgte. Alles um sie herum schien blass und dennoch leuchtend. Alles erschi­en unwirklich in ihrem Traum, indem sie beide wandelten. Die Gäste waren da, bewunderten das schöne Paar und schienen sich dennoch in einer anderen Welt zu bewegen.

Das war die Liebe. Oder?

 

Sven erzählt

Nebel. Oktober.

„Nachts irgendwann. Es hatte an der Türe ge­klopft und ich war noch wach. Ich bin aufgestan­den und habe aufgemacht. Erst war ich erstaunt. Was machte mein Vater um diese Zeit hier. Und er war nicht allein. Sie standen in der Dunkelheit vor meiner Türe, der Andere und er. Was er genau sag­te, ...phu ... auf jeden Fall deutete er auf den Tep­pich am Boden. Das war wie im Film. Ich konnte erkennen, dass da jemand drin eingewickelt war. Und die Hitze in meinem Magen plötzlich. Mir wurde übel. Diese Angst.

Ich glaub’ ich starrte sie mit offenem Mund an. Er sprach. Ich weiss nicht mehr was er sagte, aber ich folgte ihm. Der Weg durch den Wald, den ging ich jeden Tag, seit Jahren. Für den brauchte ich wenige Minuten. Doch diesmal hörte er einfach nicht auf. Das mussten Kilometer gewesen sein. Stunden. Die Zeit ging einfach nicht vorbei. Und ich war wie in einer anderen Welt. Es war nicht real. Der Nebel, die Bäume, und dann… sie stan­den da, dunkel, das kam mir echt vor wie die Wächter der Unterwelt. Hinter ihnen schimmerte das Wasser des Swimmingpools schwarz und wie Eis.

Der Andere sprach zu mir, eindringlich, sagte mir was ich zu tun hatte sobald sie weg seien. Nichts würde mehr zu sehen sein, doch ich solle geduldig warten, es würde einige Minuten dauern. Dann Er, er tauchte plötzlich wieder auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er weggegangen war. Ru­hig war er, trat aus dem Schatten der Hecke her­aus, den Arm leicht angehoben. Er holte zum Schlag aus. Die Keule schnitt durch die Luft und traf den Anderen. Der sackte zusammen. Mehr als der dumpfe Schlag und ein kurzes Stöhnen war nicht zu hören gewesen. Ich war … ich weiss nicht, die Luft war eisig, der Nebel überall. Alles gefror. Und Er, dieser Teufel, hob seinen Fuss und stiess den Leblosen in den schwarzen Pool. Und … entschuldigen sie bitte …. [kurze Unterbre­chung]

Tut mir leid, wenn ich an das Bild denke, wird mir schlecht… es war so entsetzlich…es war wie ein Leuchten zuerst, diese Schwaden, der Schaum, das Sprudeln. Der Pool war … gefüllt… mit Säu­re… oder irgendwas. Und ich stand erst nur dane­ben und starrte dort rein bis ich es begriff. Dann kam es mir hoch und ich kotzte. Weiss nicht mehr wie lange. Es war grauenvoll… Der Nebel… dann das Lachen. Er hat gelacht, stellen sie sich das vor. Dann war er weg.

Irgendwann ging ich zurück. Ich lief quer durch den Wald. Ich lief durch Gestrüpp und spür­te nichts. Ich musste zu dem Teppich. Die Frau, Sie Elena, lebten noch. Ich habe Sie ausgewickelt und gewartet bis Sie zu sich kamen… Und dann meinten Sie, ich solle abhauen. Ja das war ja wohl klar oder! Aber sie sagten nicht „komm, wir hauen zusammen ab, nein, Sie wollten alleine verschwin­den. Ich hab das bis heute nicht begriffen. Sie hat­ten ein Auto, ich nicht. Aber lassen wir das. Ich sass hier fest, mitten in der Nacht, in diesem Kaff. Sie sind in der Dunkelheit verschwunden und ich stand da. Sprachlos. Unter Schock. Dann bin ich endlich auch abgehauen.“

 

Elena Janowsky

Heute ist der 21. November 2011. Ich befinde mich in Bern bei der Kantonspolizei in einem der Büros der Fahndung, Adresse unwichtig. Sven, ein Junger Mann, gerade mal zwanzig, macht bei mir seine Aussage zu einem Fall, der mich bereits seit einigen Monaten beschäftigt. Tatsächlich hatte Svens Vater versucht mich umzubringen, zum Glück ohne Erfolg.

Ich heisse Elena Janowsky, bin zweiundvierzig, arbeite als Polizeibeamtin im Innendienst und bin spezialisiert auf Wirtschaftskriminalität. Meinen Namen kennen die wenigsten Menschen. Meine Freunde und natürlich meine Familie. Meine Adresse ist nicht im Telefonbuch oder im Internet zu finden, denn ich mag es nicht wenn ich mitten im Essen an einem Sonntag angerufen werde und jemand mit verstellter Stimme „dich bringe ich um du Hure“ in den Hörer haucht. Mag ich nicht, und deshalb: raus aus allem. Aber zur Sache.

 

Im März 2010, also vor anderthalb Jahren, wurde ich gebeten ein Berner Hotel mit Bar zu beobach­ten, das von einem Tag zum anderen und ohne er­sichtlichen Grund hohe Gewinne verbuchte. Ich war nicht gerade begeistert, denn ich nahm an, dass es sich um illegale Zuhälterei handelte und so ein Fall langweilte mich. Von solchen Fällen gab es viele. Aber nun lag die Akte hier auf meinem Tisch, vor meiner Nase und ich konnte sie nicht ignorieren. So ist es, man nimmt die Dinge wie sie kommen und geht seiner Arbeit nach und genau das habe ich getan. Ich habe einen Agenten in die Bar geschickt. Einen unauffälligen Mann mittleren Alters, einer der Sorte, die immer leicht nach Zi­garetten und Alkohol riecht. Er ging also in diese Bar, zuerst am Samstag, dann an einem Freitag, dann noch mal und noch mal. Schliesslich berich­tete er mir, dass sich in der Bar nicht ungewöhn­lich viele Frauen aufhielten, und dass er nie von einer angemacht worden sei. Offenbar gab es kei­ne Anzeichen von Zuhälterei. Inzwischen ver­brachte er einige Wochen als Stammgast in der Bar und fand nur gute Getränke.

 

Ich hätte den Fall sicher fallen gelassen wenn nicht bald darauf ein zweites Hotel mit Bar den gleichen Aufstieg erlebt hätte. Diesmal in Genf. Ich schickte meinen Agenten auch dorthin. Nach einigen Wochen als Stammgast kehrte er zurück, ohne spezielle Informationen. Der Fall begann mich zu langweilen und ich hatte Lust die Akte unter den Aktenberg auf meinem Schreibtisch zu schieben. Aus Spass tat ich es, nahm sie aber wie­der hervor: Das kann man ja nicht ernsthaft so durchziehen. Aber ehrlich gesagt wusste ich im Moment nicht genau was ich weiter damit tun sollte. Um trotzdem nicht untätig zu sein gab ich unserem Informatikspezialisten eine Recherche in Auftrag. Der Besitzer beider Hotels war der glei­che: Heinz Munzfeld. Ich wollte wissen ob und wenn ja, wo Munzfeld noch weitere Hotels besass. Ich wollte über ihn auch sonst alles wissen was es zu wissen geben konnte. Geburtsort, Schule, Frau, Kinder, Verhalten, einfach alles. Es würde einige Zeit dauern, bis der Informatiker etwas herausfin­den würde. Aber ich hatte Zeit. Dachte ich jeden­falls. Leider kam es anders denn mein Agent wur­de mitten in der Nacht auf offener Strasse erschos­sen.

Es war unklar in welchem Zusammenhang der Mord zu sehen war. Nach der gerichtsmedizini­schen Untersuchung stand im Be­richt er hätte Alkohol im Blut und mit Glucuron­säure verestertes THC-COOH im Urin gehabt. Sprich Cannabis. Der Alkohol erstaunte mich nicht, nur der Cannabis. Er hatte seit Jahren nur noch Tabak geraucht. Vielleicht hatte er einen Tee getrunken, oder Kekse gegessen. Ich fragte nach, ob es möglich sei festzustellen ob er das Zeugs ge­raucht oder gegessen habe. Es war nicht eindeutig feststellbar. Aber er hatte es mit erhöhter Wahr­scheinlichkeit nicht geraucht, denn in seiner Lun­ge wurde nichts gefunden. Da in seinem Magenin­halt ausser Erdnüssen, Sandwichresten und Flüssi­gem ebenfalls nichts Eindeutiges gefunden wor­den war, konnten es also keine Kekse gewesen sein. Weder Erdnüsse noch die Sandwichreste ent­hüllten einen Hinweis. Auch die flüssigen Anteile enthielten kein Cannabis. Wenn er Kekse gegessen hatte, dann musste es also länger als ein paar Stun­den her gewesen sein. Ein zwei Tage vielleicht. Es war ärgerlich. Ich hatte mir mehr erhofft als Re­sultat.

Ich war überzeugt von zwei Dingen: Es gab einen Zusammenhang zu meinem Fall und er hatte kein Cannabis geraucht. Wenn bei diesen Hotels keine Frauen im Spiel waren, dann mussten es Drogen sein. Voilà! Cannabis war vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Mein Agent musste etwas entdeckt haben, sonst wäre er wohl nicht ermordet worden. Es wurde interessanter. Ich holte die Akte hervor, die mir nichts verriet und wartete ungedul­dig auf die Resultate des Informatikers.

 

Inzwischen war August, fünf Monate seit Faller­öffnung. Na Klasse. Anfang September erhielt ich endlich ein Resultat. So ist die reale Welt. Alles braucht seine Zeit. Wir haben alle noch anderes zu tun nebenbei. Wir sind keine Miss Marples, Sher­lock Holmes, nein, wir sind reale Beamte mit ei­nem grossen Stapel vielerlei Geschichten vor uns. Eine wichtiger als die andere und wir machen je­der unsere eigene Prioritätenliste, auch die Infor­matiker. Reales Zeitmanagement. Aber immerhin, ein Agent ermordet, Drogen, da war schon viel ge­schehen.

Zurück zu Munzfeld. Aufgrund meiner neuen Informationen besass er weitere Hotels im umlie­genden Europa. Paris, London, Rom, alles gute Adressen, alle mit bestechendem Erfolg besonders im laufenden Jahr. Ich schickte meine Hintermänner wieder los. Ihr Auftrag war unauffällig einsteigen, sich raus halten, trinken, sich anschliessend umgehend melden und untersuchen lassen. Ich wollte wissen woher der Cannabis kam. Das war der Volltreffer. Sie hatten es alle intus und alle hatten nur etwas getrunken und Zigaretten geraucht. Da ich auch die Zigaretten hatte untersuchen lassen, musste das Zeug in den Getränken enthalten gewesen sein.

Wochenlang liess ich die Barkeeper beobach­ten. Wann taten sie das Zeug rein in die Getränke. Negativ. Es waren Früchte, Alkohol und alle ande­ren nötigen Zutaten. Da war nichts festzustellen. Es musste bereits vor dem Mixen irgendwo drin sein. Ich liess meine Leute die Schnäpse ohne was dazu trinken, doch da war nichts drin. Also in den Zutaten. Das Rätselraten ging weiter. Wir be­schränkten den Genuss auf jeweils ein Getränk und da war es plötzlich offensichtlich. Es waren nur die Drinks, welche Melonen enthielten. Das war ein Meilenstein. Ein Erfolg. Endlich. Habe so­fort jemanden beauftragt die Zulieferer zu beob­achten. Wann kamen sie, wie oft und woher. Das war ziemlich schwierig. Stellen sie sich vor, die kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt an, laden die Ware aus und fahren wieder weg. Es ist einfach herauszufinden wohin sie danach fahren. Logisch, man steigt in ein Auto und folgt ihnen. Dumm ist nur wenn die Lieferanten mehrere Wa­ren zu den verschiedensten Kunden transportieren und diese nichts miteinander zu tun haben. Dann hilft es nicht zu wissen wohin sie fahren. Inter­essanter wäre es zu wissen woher sie kamen, wo­her sie ihre Lieferung hatten. Ich liess nun jeden Fahrer durchgehend beschatten und hoffte insge­heim, dass wenigstens einer davon mehrmals an Munzfeld liefern würde. Irgendwann musste es so möglich sein, die Herkunft der Melonen zu er­gründen. Leider muss ich gestehen, dass ich schliesslich zu wenig Leute hatte um die Fahrer durchgehend beobachten zu lassen. Für mich ar­beiteten gerade mal fünf Personen. Fahrer gab es bisher sieben. Dazu kam, dass inzwischen die Drinks plötzlich wieder frei von Cannabis waren, was mich etwas verwirrte. Wusste Munzfeld, dass er beobachtet wurde und dass ihm jemand auf der Spur war? Das konnte meiner Meinung nach kaum möglich sein. Aber egal.

Ich beschreibe hier unsere Arbeit in wenigen Sätzen. Tatsächlich dauerte alles lange. Sehr lan­ge. Es wurde eine mühsame Arbeit hinter den Fah­rern herzuschnüffeln, besonders eben als die Zu­sammensetzung der Drinks geändert hatte. Es lief einfach gar nichts mehr. Nicht mal einen Mord gab es. Entschuldigen sie wenn ich zynisch werde, aber so bin ich nun einmal. Zynismus ist eine ge­eignete Waffe gegen die gemeinen Realitäten des Lebens. Zurück zu Munzfeld und seinen Melonen. Ich war bisher ziemlich erfolglos geblieben mit meinem Vorgehen. Wir hatten immer noch nicht herausgefunden woher die Früchte stammten und es ärgerte mich bodenlos, dass alle Bars wieder normal betrieben wurden.

Es wurde schon wieder wärmer draussen und auch die Tage wurden länger, was mir deutlich machte wie viel Zeit bereits vergangen war. Schliesslich stellte ich die Arbeit an diesem Fall ein und kümmerte mich um andere Dinge. Das Le­ben nahm wieder seinen normalen Lauf. Arbeits­beginn morgens um halb acht, ja, ich bin gerne früh auf, dann um neun eine Kaffeepause und schon ist wieder Mittag und nichts getan. Manchmal hatte ich den Eindruck als hätte ich gar nichts getan ausser mich in Pausen mit meinen Kollegen zu unterhalten.

 

Im Mai bekam ich endlich eine etwas gehaltvolle­re Akte zu Munzfeld. Er hatte eine kaufmännische Ausbildung. Seit Ende der Lehre hatte er ein klei­neres Wasserkraftwerk in Betrieb. Ich stellte mir vor wie er dazu gekommen sein mochte. Vermut­lich hatte er es schon als Kind entdeckt, das kaput­te Werk, und es schliesslich dem alten Besitzer für ein Butterbrot abgekauft. Während seiner Ausbil­dung hatte er es restauriert und, nach jahrelangem Kampf mit den Behörden, auch in Betrieb genom­men. Plötzlich verdiente er sehr viel Geld. Ja, als Einzelperson ohne Angestellte, wenn das Kraft­werk automatisch läuft, dann kommt da eine Men­ge Geld zusammen. Wenn auch nicht eine Million, dann doch sicher zwei-, dreihunderttausend Fran­ken pro Jahr.

In dieser Zeit, wenige Jahre nach seiner Lehre, hatte er geheiratet. Seine Frau schenkte ihm einen Sohn, der nun erwachsen sein musste. Sie hinge­gen lebte nicht mehr. Nach der Geburt war sie schwer erkrankt und war wenige Jahre später ge­storben. In der Todesanzeige stand: „Nach langer Krankheit wurde meine Lebensgefährtin und Mut­ter unseres Sohnes, endlich von ihrem Leiden er­löst“. Munzfeld wohnte zu dieser Zeit in einem kleinen Dorf im Jura, Péry bei Biel. Sein geschäft­licher Erfolg war allen bekannt, ebenso wie Teile seiner tragischen Familiengeschichte. Die Leute waren ergriffen, weinten für den kleinen Jungen. Die lokale Zeitung schrieb einen kurzen Artikel darüber im Dorfteil. Da stand, dass die Familie M. nach der Geburt ihres Sohnes zuerst überglücklich gewesen sei. Bald danach sei Frau M. allerdings psychisch schwer erkrankt. Schliesslich sei sie in die Universitätsklinik für Psychiatrie in Bern ein­gewiesen worden und habe nach monatelangem Aufenthalt Suizid begangen und sei auf dem Dorffriedhof bestattet worden.

 

 

 

Verlangen

 

Liebevoll dachte sie an den Mann, der gleich sei­ne Hand durch die dunkle Stille des Raumes nach ihr ausstrecken, ihren Bauch, ihre Brüste liebko­sen und sie leise und vor Lust keuchend an sich heranziehen würde. Sie genoss es leicht ange­spannt zu liegen und auf ihn zu warten. Zu warten bis er sie tatsächlich berührte, es sie dabei wohlig schauderte und sie sich seinen starken sicheren Bewegungen, seinem heissen Atem, seiner Begier­de hingab. Ausgelassen keuchten sie, sich zusam­men wiegend, liebten sich, er kraftvoll, sie weich und ergeben seinem Drang immer wieder nachge­bend, immer wieder. Und immer wieder spürte sie seinen Samen heiss und feucht in sich hineinflies­sen, spürte wie sehr er sie liebte und diese Liebe von neuem bestätigte. Leise entschwebte sie ihren Gedanken, liess sich treiben bis sie einschlief. Und wenn er sie aus ihrem Schlaf an sich zog, sie streichelte und erneut lustvoll in sie eindrang, sie sanft und stetig ein und aus weckte, sie ein und aus erfüllte, erhitzte und wieder benetzte, so liess sie sich gehen, erstaunt und wieder in den Schlaf versinkend um bald erneut in wallende Lust ge­bracht zu werden, wieder und wieder, bis in den frühen Morgen hinein.

 

 

 

Während seine Frau in der Psychiatrie war, hatte Munzfeld Hotels gekauft sowie eine kleine phar­makologische Firma, die Imron. Welch ein Name! Anschliessend hatte er sie auf Pharmaco Student inc. umbenannt und dem Betrieb ein etwas unge­wöhnliches aber interessantes Konzept verpasst: Ausser dem Leiter gab es keine festen Angestell­ten. Die Forschung wurde durch Studierende ver­schiedener Länder betrieben, welche jeweils für ein bis vier Jahre ein Stipendium erhalten hatten. Finanziert wurden die Projekte durch Munzfeld, neue Erkenntnisse und Produkte wurden patentiert und deren Nutzungsrechte verkauft. Der Betrieb war zu klein um selber zu produzieren. Da das Fir­menkonzept für Studenten ein gutes Sprungbrett darstellte, wurden darüber in mehreren Studenten­zeitungen kleinere Artikel veröffentlicht. Vor we­nigen Jahren, nach immerhin fast zwanzig Jahren mittelmässigen Erfolgs, schloss die Firma. Der Leiter war an einem Herzinfarkt gestorben und es gab keinen Nachfolger.

An diesem Bericht war doch einiges dran. Ich fand darin eine Liste mit allen Studenten, welche für die Pharmaco Student inc. gearbeitet hatten, sowie deren Herkunftsländer und Studienrichtun­gen. Ausser einem waren alle angehende Pharma­zeuten. Ich machte einen Exkurs in die Liste der Patente. Ich schaute erst eine Seite an, dann die nächste und nächste. Nachdem mir der Kopf brummte vor lauter Formeln, die mir nichts sag­ten, gab ich auf. Waren diese Formeln wichtig für den Fall? Ich war ratlos und grübelte vor mich hin, verlor mich in Gedanken und schaute schliesslich wieder auf die Studentenliste. Ich fragte mich warum mein Informatiker nicht auch noch deren Adresse hatte mitliefern können. Vielleicht nahm er an, dass ich mich melden würde falls ich mehr wissen musste. Ein Student fiel mir auf weil er ein Biologe war. Vermutlich einer, der mit Mäusen oder sonstigem Getier experimentierte und ihnen Leuchtgene einsetzte. Oder... vielleicht Gene der Cannabispflanze in Melonen? Ich meldete mich bei der Informatik. Sie waren bereit nach Jonathan McKenzie zu forschen.

 

Sven erzählt

„Ok. Ich bin also abgehauen. Das war nicht gerade einfach. Sie wissen ja wo das Dorf liegt. Da fahren zwei Züge pro Stunde. Einer weiter in den Jura hinein, der andere Richtung Biel. Nach elf kommt man nicht mehr weg und es war zwei Uhr mor­gens! Es war immer noch eiskalt und neblig, über­all, und mir war hundeelend. Ich hatte nicht lange überlegt und nicht viel mitgenommen. Etwas Un­terwäsche und Socken, meine Agenda, meine Brieftasche und das Mobiltelefon. Das war alles. Ich hängte meinen kleinen Rucksack über die Schultern, zog die Turnschuhe an. Dann rannte ich los. Zuerst wollte ich Richtung Biel laufen, auch Richtung Bern wohin Sie mir gesagt hatten. Doch dann entschied ich mich plötzlich anders. Das war kein Kopfentscheid. Eigentlich waren es meine Füsse, die einfach los gelaufen sind Richtung Westen, weiter hinauf in den Jura. Wissen sie, ich lief schon als Kind sehr viel und habe das beibe­halten bis heute. Das ist wie meditieren. Sie ver­gessen alles oder aber können in Ruhe über etwas nachdenken, je nach dem. An diesem Abend ver­suchte ich möglichst nichts zu denken. Ich starrte in die Dunkelheit vor mir und versuchte mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Einat­men, dazu zählen, ausatmen und wieder zählen, dann von vorne. Aber ehrlich gesagt, dieses Grau­en, es überkam mich immer wieder. Manchmal er­stickte ich fast, konnte nicht mehr aufhören ein­zuatmen. Ich wollte anhalten und atmen, doch ich spürte Todesangst aus allen Ecken hervor krie­chen, hörte ihr Rascheln, ihr Zucken im Unter­holz, spürte wieder die eisige Kälte und lief wei­ter. Ich wollte nicht eingeholt werden von ihr und trotzdem war sie in mir drin und trieb mich weiter. Jeden Weg, dem ich folgte, jede Kreuzung kannte ich wie im Schlaf, so oft war ich hier seit Jahren unterwegs gewesen. Hatte manchmal bis zu fünf Stunden trainiert, weil es mich erfüllte mit Ruhe und mich leerte von Sorgen. Hatte trainiert um ge­sund zu sein und mich in der Natur zu verlieren, eins zu werden mit ihr. Ich hatte trainiert um Ma­rathon zu laufen und nie an einem teilgenommen. Und jetzt lief ich ihn zum ersten Mal. Je länger ich mich quälte, mich zusammenriss, durchhielt und weitermachte, desto besser gelang mir die innere Flucht. Nach einer Stunde durchwallte mich die Angst noch einen Sekundenbruchteil, dann verdrängte ich sie immer leichter und lief in Trance bis in den frühen Morgen hinein. Ich lief wo es möglich war im Wald und musste auf dem Weg zur französischen Grenze sein. Ich wollte nach Frankreich und weiter, soweit es irgendwie ging. Doch dann konnte ich nicht mehr. Ich musste anhalten, musste mich total erschöpft an einem Baum festhaltend, keuchend, langsam auf die Knie gleiten lassen. Ich wollte mich nicht hinlegen, ich wollte mich nur kurz ausruhen und wieder weiter. Aber es ging nicht. Es war zu viel. Es gelang mir, mich bis zu einer Mulde zu schleppen, dann brach ich zusammen. Ich lag da im Wald, irgendwo, alleine, und wimmerte vom Elend gepackt und zu Tode erschöpft. Meine Welt war zerstört, meine Kraft dahin. Mein Herz, meine Seele lagen offen, ohne Schutz vor Gram und Trauer und Entsetzen, ja.

Ich ergab mich, weinte lange, bis mich der Schlaf übermannte.“

 

Elena Janowsky

Erst Ende Juni tauchten die Cannabis-Melonen wieder auf. Sieh an, sieh an. Na dann mal los Leu­te, hängt euch ran an die Fahrer. Das taten sie, und diesmal hatten sie mehr Erfolg. Einer der Fahrer wurde bis Amsterdam und wieder zurück in die Schweiz verfolgt. Er lieferte in Paris, Genf, Bern und schliesslich Rom. Danach fuhr er zurück nach Amsterdam, zum Hafen und holte, ja, genau, Me­lonen.

 

Nun wusste ich also woher die Melonen stamm­ten. Na ja, aus welchem Hafen in Europa zumin­dest. In Amsterdam hat mein Agent gewartet bis er sah wie der Fahrer neue Fracht bekam. Er hat her­ausgefunden woher das Schiff kam. Die Melonen stammten aus Fortaleza im Nordosten von Brasili­en. Fortaleza-Rio de Janeiro-Amsterdam. Konnte das sein? Woher hatte er diese Information? Ich wollte Beweise sehen, doch es kam nichts mehr von ihm. Funkstille. Ende der Information. Raten sie. Genau: Wieder ein Mord.

Ich ging davon aus, dass sich die Beweise zu ge­gebener Zeit würden finden lassen. Den Toten überliess ich der Gerichtsmedizin und kümmerte mich um den Herkunftsort der Melonen: Fortale­za. Der Nordosten Brasiliens glich nicht gerade ei­nem Melonenparadies. Nicht, dass sie dort nicht wachsen konnten, aber es schien in vielen Gebie­ten trocken bis sehr trocken zu sein, nicht feucht warm wie der Süden. Ich war erstaunt als ich mich über die Gegend schlau gemacht hatte. War doch eher seltsam. Da ging man doch nur hin um zu ba­den oder zum... Nein, das denken wir lieber nicht. Hat nichts mit der Sache zu tun. Hmm. Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen ein paar schöne Ferienangebote anzusehen und ein bisschen zu träumen. Sie sind halt wirklich schön diese Brasi­lianer. Und warm ist es dort im Winter. Und offen­bar hatte es ja auch Melonen, die einem ja auch entspannt und glücklich machen konnten, falls sie tatsächlich Cannabis enthalten sollten. Und wenn es diese Melonen dort tatsächlich gab, und wenn wegen ihnen bisher zwei meiner Leute das Zeitli­che gesegnet hatten, so fragte ich mich ob es sich lohnte noch jemanden mehr für sie zu opfern. Ich begann mich auch zu fragen ob es wirklich mög­lich sein konnte, dass eine Melone den glei­chen Wirkstoff enthalten konnte wie Cannabis. Das war ja erst eine Idee. Hatte ich denn je eine der Melonen oder die Drinks untersuchen lassen können? Nein. Bisher hatte ich keine stichhaltigen Beweise gehabt, die mich dazu bewogen hatten meinen Agenten nach Amsterdam zu schicken. Ich fühlte mich verantwortlich für seinen Tod. Trotz­dem. Mein Bauch sagte mir, dass ich mich auf der richtigen Spur befand.

In meinem Bauch fühlte ich allerdings noch et­was anderes. Ich hatte Angst. Keine bestimmte Angst, vor etwas Bestimmtem. Vielmehr fühlte es sich an wie ein Druck, der mich tagtäglich beglei­tete, manchmal im Magen, in der Herzgegend oder in der Kehle. Natürlich müssen wir in unserem Beruf mit Einigem rechnen und sind entsprechend vorbereitet. Und natürlich haben wir auch Super­vision und manchmal auch unsere heilenden ma­kaberen oder zynischen Sprüche. Trotzdem ver­liess mich der Druck nicht mehr. Das war schlecht, denn in diesem Zustand Entscheidungen zu treffen konnte gefährlich werden. Ich kaute an meinem Kugelschreiber und blätterte nervös in meiner immer dicker werdenden Akte.

 

Womöglich fragen Sie sich inzwischen weshalb ich den Kerl nicht einfach festnehmen liess. Ich hätte ihn danach in Untersuchungshaft nehmen lassen können um die Beweise gegen ihn zu ver­dichten und um zu verhindern, dass er sich davon machte und weitere Beweise vernichtete. Das hört sich gut an, ja. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Doch ich habe es nicht getan. Ich hatte damals nur einen vagen Tatverdacht, aber leider keine konkre­ten Beweise. Keinen einzigen. Dass sein Geschäft Gewinne verbuchte war zwar verdächtig, aber noch lange kein Grund für eine Festnahme. Die beiden Morde wurden untersucht, die Fahndung war angelaufen. Der benutzte Waffentyp konnte aufgrund der Spuren auf der Kugel ermittelt wer­den und war bei beiden Morden derselbe. Bisher schien aber die Tatwaffe nicht bekannt zu sein, war also zumindest in Europa, für keinen weiteren Mord benutzt worden. Es war also nicht möglich zu wissen wer oder weshalb die beiden umge­bracht worden waren, auch wenn es für mich und meinen Bauch auf der Hand lag. Diese Morde mussten zuerst geklärt werden oder aber ich musste eine Melone untersuchen lassen können. Erst dann konnte ich Munzfeld verhaften lassen.

Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen eine dieser Früchte zu beschaffen. Wenn das in Europa nicht möglich war, dann vielleicht in Brasilien. Ir­gend jemand dort würde sich sicher zum stehlen überreden lassen. Zwar galten die Brasilianer als sehr freundlich, offen und herzlich, aber gleichzei­tig auch als korrupt und schnell mit der Waffe. Ei­nem Freund ein Buch oder ein Fahrrad auszulei­hen, konnte leicht bedeuten es ihm zu schenken. Wenn man es wieder haben wollte so musste man damit rechnen ausgelacht oder gar bedroht zu wer­den. Sich an die Polizei zu wenden war entweder sinnlos, oder teuer. Wenn man sich wehrte musste man damit rechnen, dass es einem das Leben kos­tete. Ein Fahrrad gegen ein Menschenleben. Das mag ein Vorurteil sein und ungerecht gegenüber denjenigen, die sich nicht so verhalten. Tatsache war aber, dass meine beiden Agenten wegen ein paar Melonen einfach kurzum beseitigt worden waren und das passte ziemlich gut in dieses Bild.

 

Ich sass noch lange da und dachte nach. In mei­nem Kopf zirkulierten die wildesten Ideen dar­über, wie ich Munzfeld sonst noch auf die Spur kommen konnte. Irgendwann sah ich mich dann in Gedanken selber durch seinen Wohnort schlei­chen. Durch seinen Garten, von einem Baum zum anderen, drang ich schliesslich in sein Haus ein. Natürlich nachdem ich herausgefunden hatte wann er für gewöhnlich sein Haus für längere Zeit ver­liess, und nachdem ich gesehen hatte wie er mit seinem Auto weggefahren war. Ich brach nach gu­ter Filmmanier ein, sprich mit einem Dietrich. Nein, die Türe wollte ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kerstin Jäger, Belp (BE)
Bildmaterialien: Kerstin Jäger, Belp (BE)
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2014
ISBN: 978-3-7368-4573-2

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