TEIL I
UNTER DER ERDE
Tag 267
Ich lag still, einfach still.
Was hätte ich denn auch tun können?
Schreien und weinen und versuchen meinen geschundenen Körper zum Kämpfen zu bringen? Und was hätte mir das gebracht? Die schwarzen Männer wären hineingestürmt, hätten meinen ausgemergelten Körper auf das sterile Bett gepresst und mir eine Droge eingeflößt, die mich schlafen ließe. Dann kämen die Träume.
Und die Träume waren beinahe das Schlimmste an dieser Gefangenschaft. Denn sie erinnerten mich daran, dass ich mal ein Leben hatte. Als ich frei war, wie jedes andere 14-jährige Mädchen auch. Als ich noch keine Flügel auf dem Rücken hatte und unbemerkt in der Menge blieb. Als ich noch Schmetterlinge im Bauch hatte, wegen diesem süßen Jungen aus der Parallelklasse, dessen Name ich schon längst vergessen habe.
Ja, die Träume brachten mir nichts als Kummer. Denn was brachte es mir zu träumen, wenn es nur Träume waren und ich mich eigentlich in der harten Realität befand?
In einem durch und durch sterilen Raum, tief unter der Erde. Ein Raum mit einem Bett und einer Glasscheibe, die eine ganze Wand abdeckte, damit mich die Professoren auch schön im Auge behalten konnten. Die Wände waren weiß, das Bett war weiß und sogar ich war in Weiß gekleidet.
Deprimierend.
Mein Zeitgefühl hatte ich vollständig verloren. Ich konnte nicht sagen, ob es gerade Nacht oder Tag war. Nur, wenn ein neuer anbrach. Denn dann kam ein Mann in den Raum hinter der Glasscheibe und löste einen anderen ab. Er beobachtete mich dann Stunde um Stunde und führte Protokoll über mein Verhalten.
Ich war nichts anderes als eine Laborratte. Nein, das stimmt nicht. Sogar Laborratten hatten es besser. Sie wurden nicht regelmäßig aus ihrem Käfig gezerrt um ein paar interessierten und wissbegierigen Anzugträgern in einer großen Halle ohne Fenster vorgeführt. Sie wurden lediglich mit Medikamenten vollgestopft oder mussten durch Labyrinthe laufen. Sie wurden auch nicht daran erinnert, dass sie ein Leben vor dem Labor hatten.
Nur ich.
In den ersten paar Wochen, vielleicht auch Monaten, hatte ich geschrien und geweint. Hatte versucht, mir die Federn auszureißen, die so plötzlich an meinem Rücken waren. Wollte mir die Pulsadern aufschlitzen. Aber jedes Mal kamen die Männer in Schwarz und hinderten mich. Egal. Bald, wenn sie merkten, dass ich lebend nicht mehr von Nutzen war, würden sie mich sezieren. Und dann wäre ich endlich weg von diesem schrecklichen Ort.
Vielleicht würde ich sogar die Sonne wieder sehen.
Mein Blick war schon seit Stunden starr auf die Glasscheibe gerichtet, ohne sie oder die Person dahinter wirklich wahrzunehmen, während mein Körper schlaff auf dem Bett lag. Mein Spiegelbild. Es machte mir Angst, die Fremdheit, die darin lag. Ein Mädchen mit verblassten, einst rot-blondem Haar, um das sie jeder beneidet hatte. Die blauen Augen, die damals immer so unvoreingenommen die Welt betrachtet hatten und nun... tot waren. Ein unterernährter Körper, der nur ein Stapel Knochen zu sein schien. Und dann diese Dinger auf dem Rücken.
Diese Dinger, die mir mein Leben genommen hatten und so grausam schön waren. An Engel hatte ich nie geglaubt und tat es auch jetzt nicht. Es war ein Gen-Defekt, redete ich mir immer wieder ein, auch wenn ich nicht so recht wusste, was das war. Und doch war unumstritten, dass auf meinem Rücken ein Paar großer, weißer Schwingen ansetzte. Ich konnte sie fühlen und bewusst bewegen.
Und ich hasste sie!
Wegen ihnen wurde ich eines Tages in einen Wagen mit verdunkelten Scheiben gezerrt und meiner Familie wurde gesagt, ich wäre abgehauen. Wegen diesen Dingern fing ich an, ihre Stimmen zu vergessen.
Ich lag eine weitere Ewigkeit so da – reglos.
Aber dann schob sich ein Teil der mir gegenüberliegenden Wand beiseite und die Männer in Schwarz traten ein. Sie trugen schwarze Ganzkörperanzüge und ihre Gesichter waren wie bei Bankräubern maskiert. Es waren zwei, der eine etwas kleiner und fülliger als der andere aber beide trotzdem sehr muskulös. Ich wusste was jetzt geschehen würde. Und obwohl es schon hunderte von Malen passiert war, brach mir kalter Angstschweiß aus.
Langsam setzte ich mich auf, an die Wand hinter mir gelehnt und die Beine dicht an meinen Körper gepresst. Früher dachte ich mal, diese Kreaturen würden Mitleid zeigen, wenn sie mich weinen sahen. Aber sie taten es trotzdem. Das waren keine Menschen mehr, das waren Roboter, die blind Befehlen gehorchten. Ihnen war egal, was sie einem Kind, einem gerade mal 14-jährigen Mädchen antaten.
Und trotzdem fing ich an zu winseln, in der Hoffnung heute wäre es anders.
"Bitte... Bitte nicht."
Ich sah dabei wie betäubt auf die Bettdecke unter mir. Jedes Mal flehte ich und jedes Mal wurde meine Hoffnung erbarmungslos niedergetrampelt.
"Es t-tut doch so weh... Bitte nicht."
Aber sie kamen auf mich zu, ohne die geringste Spur von Mitgefühl oder dergleichen. Der Kleinere zog ein Paar Handschellen hinter seinem Rücken hervor. Das, was nun geschah, war für diese Monster reine Routine. Der Große presste mich aufs Bett, mein Gesicht voran aufs Kissen. Währenddessen schnallte der andere mir mit den Handschellen die Hände auf den Rücken und riss mir nebenbei zwei Federn aus, die er in ein Reagenzglas stopfte. Ich fühlte, wie sie an der Wurzel entrissen wurden und es tat hundertmal mehr weh als bei einem Härchen. Ich schrie kurz auf, doch der Schrei wurde vom Kissen erstickt.
Zwei starke Arme hoben mich hoch und lehnten mich gegen die Wand. Meine müden Beine konnten mich kaum tragen, aber ich presste mich verzweifelt an die Wand in meinem Rücken.
"Bitte, bitte nicht", wimmerte ich ein letztes Mal.
Der Große zog sich Handschuhe über und der Kleine nahm einen Schlagstock, der in seinem Gürtel steckte.
Kurz erhaschte ich noch einen Blick auf den Mann hinter der Glasscheibe. Auch er sah völlig ungerührt dem Geschehen zu und hielt alles auf Protokoll fest. Er wusste genau so gut wie ich, was jetzt passieren würde. Kurz fragte ich mich ob er eine Tochter hatte und was er tun würde, wenn sie ich wäre. Würde er auch bei ihr so eine Ruhe bewahren?
Als mein Blick wieder zu dem Großen glitt, sah ich gerade noch wie seine Faust ausholte und mir in mein Gesicht schlug. Ein widerliches Knacken war zu hören als er mir meine Nase brach. Schon lange betäubte der Schmerz nicht mehr, ich nahm jede einzelne Faser meines Körpers wahr und es tat höllisch weh! Ich musste durch den Mund atmen um überhaupt noch an Luft zu gelangen, die meine Lungen füllen sollte. Und schon kam der nächste Schlag direkt in die Magengegend. Hätte ich zuvor etwas gegessen, hätte ich mich auf der Stelle übergeben müssen. Mein Zwerchfell krampfte sich schmerzhaft zusammen, als auch dort ein Schlag landete und ich schmerzhaft auf den Boden fiel. Wegen der Handschellen konnte ich mich nicht abfangen und traf mit dem Kopf voraus auf. Doch so augenblicklich, wie meine Wunden sich öffneten, setzte auch schon der Heilprozess ein und sie begannen sich zu schließen. Darum taten sie es. Sie erforschten dieses merkwürdige Phänomen an mir, wie an einem Versuchskaninchen.
Der Schmerz jedoch blieb, genau so wie die Erinnerung an die unzähligen Misshandlungen.
Jetzt war der Kleine an der Reihe. Ich schloss die Augen fest, um nicht sehen zu müssen, wie er mit dem Schlagstock ausholte um mir die Beine zu brechen.
Sofort durchfuhr mich eine Welle des Schmerzes. Fest presste ich meine Lippen zusammen, um den Schrei im Keim zu ersticken. Nein, nicht auch noch diese Genugtuung würde ich ihnen geben. Insgeheim machte das denen doch Spaß und wahrscheinlich war das für sie sogar besser als jeder Porno. Diese kranken Schweine!
"Gefühlstote Wesen seid ihr", gab meine zittrige Stimme von mir.
Der nächste Hieb zerbrach mir das Schlüsselbein.
"Verdammte..."
Jetzt trat mir der Große so fest in die Rippen, dass sofort mindestens zwei von ihnen zerschmettert waren.
Mein Schrei war nicht mehr aufzuhalten. Ein Schrei voller Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Keiner von denen, die Blondinen in einem billigen Horrorstreifen ausstießen, sondern viel lauter, rauer und mit viel mehr Tränen in den Augen.
Ich heiße Natalie.
Ich bin 14 Jahre alt und werde in einer Woche und drei Tagen 15.
Meine Katze heißt Minu.
Ich komme hier raus.
Ich werde das überleben.
Immer wieder musste ich mir das in Gedanken zuflüstern, um nicht völlig in der Grausamkeit der Schmerzen zu versinken.
Ein gezielter Hieb mit dem Schlagstock und meine Hände waren zerschmettert. Die Finger bogen sich in unnatürliche Richtungen und überall war Blut – mein Blut. Es war nicht rot, sondern glodfarben. Und es klebte wirklich an jeder Stelle meines Körpers.
Ich werde das überleben!
Und wieder lag ich allein und regungslos in meinem Bett. Wartete darauf, dass sich meine Knochen wieder von selbst richteten und verheilten und die Tränen endlich versiegten. Ich weinte schon lange nicht mehr bewusst. Es war ein angeborener Reflex des Menschen, nur deshalb konnte ich es nicht aufhalten. Dort wo die Handschellen waren, war jetzt nur noch ein unangenehmer Juckreiz geblieben.
Meine Flügel umarmten mich sachte, sodass die Federn mein Gesicht kitzelten. Wieder viel mir auf, wie schön sie doch waren. Und dafür hasste ich diese Dinger nur noch mehr. Ich hatte sogar schon versucht mir jede Feder einzeln auszureißen. Aber irgendwann brach ich bewusstlos vor Schmerzen zusammen und damit hatte ich diese Idee verworfen.
Ohne es zu wollen und obwohl ich noch so sehr dagegen ankämpfte kam die Dunkelheit in mein Bewusstsein. Sie verdrängte jeden Gedanken und zwang mich in den Schlaf. Und ich gab letztendlich nach, in der Hoffnung heute wären es keine Erinnerungen an die Vergangenheit...
"Mama, guck mal, guck mal!", rief ich ganz aufgeregt.
Mama stand in der Küche und schnitt gerade Lauch für die Suppe heute Abend. Ich zupfte ganz hibbelig an ihrer Schürze, damit sie endlich zu mir herunter sah.
"Was ist denn, mein Schatz?", fragte sie und beugte sich mit einem Lächeln auf den Lippen zu mir herunter.
"Ich weiß jetzt was ich mir zum Geburtstag wünsche, Mama", sagte ich stolz und hielt ihr das gerahmte Bild vor Augen. Morgen war mein fünfter Geburtstag und ich freute mich wie sonst was.
"A-aber mein Schatz", stotterte meine Mama ganz verwirrt,"das ist doch nur ein Bild von Papa... W-was meinst du denn damit?"
Ich wusste nicht warum, aber ich hatte Mama wohl ganz schlimm traurig gemacht. Aber das wollte ich doch gar nicht. Völlig verwirrt sah ich meiner geliebten Mama in ihre schokobraunen Augen.
"Na ich will, dass Papa kommt. Du hast doch gesagt, er passt immer auf mich auf, wo er jetzt ist. Dann muss er doch hier irgendwo in der Nähe sein und kann uns bestimmt mal besuchen kommen. Dann male ich ihm auch ein ganz schönes Bild mit meinen neuen Fingerfarben."
Liebevoll und doch mit so unendlich viel Schmerz in den Augen, blickte Mama mich an und sagte:
"Aber Liebling, Papa kann von da oben erstmal nicht weg, verstehst du? Papa ist doch... Er kann doch nicht..."
Anstatt sie weiterreden zu lassen, schloss ich meine Mama fest in meine kleinen Ärmchen. Sie war am Rande eines Nervenzusammenbruches, das wusste ich sogar als kleines Mädchen.
"Schon gut, Mama. Papa kann von da also nicht weg, das ist okay. Dann habe ich einfach mit dir und Oma und Opa ganz viel Spaß. Wir können Papa ja wieder einen Brief, per Luftballon schreiben und ihm sagen wie toll es war. Und er kann uns ja eh sehen.
Mach dir keine Sorgen, Mama, das ist doch nicht schlimm."
Ganz verzweifelt klammerte sich meine Mama an mich, als wäre ich ihr Rettungsanker. Und das war ich auch von da an. Ich tröstete meine Mama mit Umarmungen und Küssen und sagte ihr so oft es ging, wie lieb ich sie habe, damit sie ja nicht an Papa dachte.
Papa war ja irgendwo da oben und wollte Mama bestimmt nicht weinen sehen.
Tag 268
Der Schmerz hieß mich wilkommen. Wie nach jeder 'Reperatur', wie ich es nannte, spürte ich meinen ganzen Körper, jede einzelne Zelle, viel intensiver. Schon der leiseste Windhauch ließ einen Schauer der Schmerzen meinen Rücken hinunterlaufen. Jedoch nicht schmerzhaft genug, dass ich mich nicht aufgesetzt und den Kopf in die Hände gestützt hätte.
Ich dachte nicht weiter über die Schmerzen von gestern nach. Das würde das Vergessen nur noch erschweren. Und was ich mehr als alles andere wollte, war zu vergessen.
Heute würden sie mich wieder holen kommen. Heute war ich wieder die Hauptatraktion und würde mögliche Investoren unterhalten müssen. Würde ich es nicht tun, würden sie mir nicht nur die Beine brechen, sondern mich in Eiswasser baden und Elektroschocker einsetzen, so wie sie es das letzte Mal getan hatten.
Scheiße verdammt, ich war 14!
Das war doch nicht fair!
Ein paar gefühlte Stunden später, in denen ich einfach nur auf einen sich lösenden Faden meiner Bettdecke gestarrt hatte, öffnete sich die unsichtbare Tür in der Wand und zwei Männer in Schwarz traten ein. Es waren nicht dieselben wie gestern, aber ich war mir sicher, dass die beiden mich auch schon verprügelt hatten. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen. Gleiche Statur, gleiche Haltung. Auch sie hatten ihre Gesichter verdeckt.
Verzweifelt suchte ich nach der alten Natalie in mir, die sich wehren wollte. Aber das Einzige was ich fand, war ein verängstigtes, kleines Mädchen, das nach Hause wollte.
Die beiden Männer führten mich hell beleuchtete Gänge entlang, die ich schon in- und auswendig zu kennen schien. Es war ja auch immer derselbe Weg. Wo ich auch hinging, warfen vorbeigehende Menschen in weißen Kitteln mir verstohlene Blicke zu. In dem Blick einer Frau schien ich soetwas wie Mitleid zu erahnen. Die konnte mich mal. Bestimmt analysierte sie mein Blut oder sonst was von mir.
Wir hielten vor einem riesigen Tor aus Edelstahl und einer Titanversiegelung. Es ging um die 15 Meter in die Höhe und zehn in die Breite. Der Mann rechts von mir gab einen Zahlencode in einen winzigen, am Tor angebrachten Monitor ein. Daraufhin öffnete sich die Pforte gerade so weit, dass ein kränkliches Mädchen wie ich hindurchpasste. Der links von mir gab mir einen groben Schubs, sodass ich in die große Halle hineinstolperte. Sobald ich über die Schwelle getreten war, schloss sich das Tor auch wieder. Jetzt stand ich in einer so großen Halle, von der man annahm, dass in ihr Jumbojets oder sowas gelagert wurden. Stattdessen war sie völlig leer, bis auf ein paar Plattformen, die scheinbar in der Luft hingen. In Wirklichkeit standen sie auf durchsichtigen Säulen aus einem bestimmten Kunststoff, der mir nicht bekannt war, aber anscheinend sehr belastbar war.
Die einzigen anderen anwesenden Lebewesen standen mir, in zehn Metern Entfernung, direkt gegenüber. Wie schon gedacht waren es verhasste Anzugträger. Keines von ihren Gesichtern war mir bekannt aber sie sahen mich an, als hätten sie mich schon sehr lange studiert. Eben so, als dächten sie, alles über mich zu wissen. Schon allein diese Blicke brachten die Wut in mir zum Kochen. Aber das ließ ich mir nicht anmerken. Ich starrte starr auf einen Punkt weit hinter diesen Männern.
Insgesamt waren es fünf. Fünf Soziopathen, die gekommen waren um mich schreien zu hören. Dabei sahen sie völlig durchschnittlich aus. Alle waren in einem Alter von vielleicht höchstens 35 Jahren, also verhältnismäßig jung für Forscher dieser Sektion.
"Objekt 7", dröhnte eine Stimme aus versteckten Lautsprechern.
Wie ich diese Stimme hasste.
"Das sind alles gelehrte Professoren von je unterschiedlichen Fachgebieten, die jedoch eines verbindet – die Forschungssektion. Und du, Objekt 7."
Ich heiße Natalie, ich heiße Natalie!
Nicht Objekt 7, das bin ich nicht.
Ich würde so lange nicht reagieren, bis sie mich entweder foltern würden, oder bis dieses Arschloch mich mit meinem wahren Namen ansprach. So weit hatte ich es noch nie getrieben. Es war ein riskantes Spiel die Monster zu verärgern, vor allem, wenn ich Kunststücke vorführen sollte.
"Objekt 7, spreize deine Flügel", wies die Stimme mich an.
Erwartungsvoll sahen mich die Männer an. Als sie merkten, dass sich nichts bewegte sahen die meisten erst verwundert und letztendlich verärgert aus. Nur einer nicht. Der lächelte.
Ich bemerkte das nur aus dem Augenwinkel, da mein Blick immer noch auf den Punkt weit hinter
den Männern fixiert war.
"Objekt 7! Spreize deine Flügel - sofort!"
Es war ein leises Drohen, sozusagen sie Ruhe vor dem Sturm, der aufzog.
Ich rührte immernoch keinen Muskel. Was trieb mich nur dazu? Was war an diesem Tag anders? Aber ich konnte nicht damit aufhören. Ich wollte, musste sie herausfordern. Wie weit würden sie gehen, wenn Publikum dabei war?
"Deens", rief einer der Männer aufbrausend in die elektrisierende Stille hinein,"Sie haben uns versprochen, wir könnten sie näher untersuchen. Sie sagten, sie würde bereitwillig kooperieren. Aber was ich sehe ist eine Rotzgöre, die nicht weiß, wann man Befehlen folgen sollte."
Ich kniff auf diese Worte hin leicht die Augen zusammen. Ich sollte nicht wissen, wann Befehlen Folge zu leisten war? Gerade ich wusste das am besten von allen Anwesenden. Und genau deswegen bewegte ich noch immer keinen einzigen Muskel für diese Monster.
"Objekt 7! Tu was man dir sagt! Oder willst du, dass die Soldaten kommen?" Am Ende wurde seine Stime so wiederlich aalglatt, dass ich ihm am liebsten in die Eier getreten hätte – falls er denn welche hatte. Mit Soldaten meinte er die Männer in Schwarz.
Der Mann, der vorher gelächelt hatte musterte mich nun interessiert. Er wartete auf meine Reaktion auf diese Ansage. Es kam keine.
Verprügeln würden sie mich heute eh noch. Die Frage war nur, ob sie mich auch kriegen würden. Ich ließ meinen Blick kurz schweifen. Die höchste Plattform war in einer Höhe von etwa 80 Metern angebracht. In Ordnung.
"Dann ruf sie doch, du ach so bedeutender Professor!"
Alle sahen mich geschockt an. Wahrscheinlich blickte sogar der Kerl vom Lautsprecher geschockt auf das Kamerabild. Es war das erste Mal, dass ich irgendetwas auf seine Anweisungen erwidert hatte. Sonst tat ich immer entweder das, was er mir sagte oder streikte. Aber ich hatte noch nie mit ihm gesprochen. Das war viel schlimmer als zu streiken. Denn jetzt hatte ich quasi eine Kriegserklärung abgegeben.
Mein altes Ich sprach aus mir.
"Ed, Carl, kommt rein!", dröhnte die Stimme kühl.
Ich hörte wie sich das Tor hinter mir wieder einen Spalt öffnete. Bevor sie mir aber Handschellen anlegen konnte, spreizte ich schon meine Schwingen und stieg empor.
Mehrere erstaunte "Oh" und "Ah"s waren zu hören. Für die war das ja ein riesen Spaß.
Ich hielt mich kurz in der Luft und sah nach unten. Die Soldaten schienen verwirrt und wussten ganz offensichtlich nicht, wie sie reagieren sollten. Ich dagegen um so besser. Im Sturzflug, sodass mir der Gegenwind ins Gesicht peitschte, flog ich auf sie zu. Der eine machte ein paar erschrockene Schritte nach hinten und stolperte. Harrscharf über ihren Köpfen, zog ich wieder hoch, Richtung Plattformen. Zuerst landete ich auf einer etwa zwei Quadratmeter großen in 15 Metern Höhe. Schon komisch, dass ich jetzt flog, wenn man bedenkt, dass ich früher Höhenangst hatte.
Jetzt sah ich wie ein aufemerksamer Adler auf meine Beute herab.
"Objekt 7!", rief die Stimme nun mehr als wütend,"wenn du nicht sofort da runter kommst, setzen wir Pfeile ein. Du weißt genau, was dich in deiner Zelle erwarten wird!"
Aber anstatt runter zu kommen, zeigte ich in eine auf mich gerichtete Kamera einfach nur den bösen Mittelfinger. Das tat ich früher immer, wenn mir jemand blöd kam.
Beinahe hätte ich sogar noch gegrinst, als aus den Lautsprechern ein wütendes Schnauben ertönte.
"Du hast es nicht anders gewollt, Objekt 7.
Ed, schieß!"
Noch bevor ich überhaupt reagieren konnte, wurde ich von einem kleinen Pfeil getroffen. Solche, mit denen man Wildtiere im Zoo betäubte. Er steckte tief in meiner Luftröhre und ein Röcheln entwich mir. Während meine Finger noch danach suchten um den Fremdkörper herauszuziehen, fiel ich auch schon zu Boden. Ich fiel mehrere Meter in die Tiefe – niemand fing mich auf. Zu guter letzt spürte ich noch, wie mein Kopf schmerzhaft aufschlug.
Das würde beim Aufwachen Kopfschmerzen geben.
Meine Augen blieben fest verschlossen. Ich spürte mein Bett unter mir und wiederlich scheuernde Handschellen an Fuß- und Handgelenken. Meine Hände und Füße waren ganz offensichtlich an das Bettgestell gefesselt, sodass ich der Strafe schutzlos ausgeliefert sein würde.
Jemand saß an meinem Fußende, dort, wo die Matraze unter dessen Gewicht nachgab. Vielleicht, dachte ich, würde die Bestrafung warten, wenn ich mich weiter schlafen stelle.
Dummer Gedanke, sie würden so oder so beginnen.
Da konnte ich eigentlich auch gleich wieder die Augen öffnen. Tat ich aber nicht. Irgendwo war eben noch diese sinnlose Hoffnung.
Aus einer der Ecken war ein Rascheln von Stoff und kurz darauf ein Hüsteln zu hören. Also waren es mindestens zwei.
"Wie lange ist sie hier schon eingesperrt?"
Sie redeten über mich. Die maskuline Stimme gehörte, dem Mann, der an meinem Fußende saß. Seine Stimme klang kühl und distanziert, eben wie die aller 'Menschen', die soetwas zuließen. Bemüht keinen einzigen Muskel zu rühren und gleichmäßig zu atmen, lauschte ich dem nun beginnenden Gespräch.
"Noch kein Jahr."
Die Antwort kam von dem Mann aus der Ecke. Es war die Stimme dessen, der durch die Lautsprecher zu mir gesprochen hatte. Ich hatte noch nie sein Gesicht gesehen, hatte immer nur seine Stimme gehört.
"Und schon so beschädigt?"
Sie redeten über mich tatsächlich wie über einen Gegenstand, ein Objekt. Objekt 7.
"Was meinen Sie mit 'beschädigt', Mr. Greenwood? Ihre Sinne und der Körper funktionieren ganz korrekt. Sie hat, wie wir heute sehen konnten, leider sogar noch ihren freien Willen. Aber keine Sorge, der wird auch bald gebrochen sein."
Angespannte Stille.
"Und wieso holen Sie dann mich? Einen Psychiater mit mehrfachen Diplomen, der darauf aus ist zu heilen
anstatt zu zerstören?"
Unterschwellige Wut und eine unüberhörbare Anklage lagen in der Aussage, des Fremden.
"Weil wir Objekt 7 eben nicht volkommen zerstören wollen, wie Sie mir das anscheinend vorwerfen. Im Gegenteil. Es ist für unsere Versuche mehr als wichtig, dass ihr Geist noch funktioniert, da wir ja nicht wissen, was eine zerstörte Psyche für Auswirkungen auf den Heilprozess und all die anderen seltsamen Dinge an ihr hat. Es könnte sein, dass ihr Körper beschließt zu sterben und den Prozess des Heilens ganz außer Acht lässt. Das hätte natürlich fatale Folgen. Denn tot nützt sie uns kaum was."
Eine Hand krallte sich in meine Bettdecke.
"Sie erwarten also von mir, dass ich zusehe, wie ein Kind misshandelt wird, Tag für Tag. Und dann soll ich versuchen ihr glaubwürdig zu verkaufen, dass die Welt nicht schlecht ist und es sich zu leben lohnt? Ich hoffe Sie hören den offensichtlichen Sarkasmus in meiner Stimme, Herr Kollege!"
Es gab also auch noch Monster mit Seele.
Trotzdem blieben es Monster.
"Haben Sie sich mal Ihr Gehalt angesehen, Mr. Greenwood? Dieses könnten wir ganz einfach verdoppeln oder verdreifachen, wenn Sie das wünschen. Mir ist klar, dass dies eine seelische Belastung für Sie sein muss. Aber dies wird Ihnen ja alles durch ein eigenes Waldstück für Ihre Forschungen und ein hohes Gehalt entschädigt."
Wieder dieses angespannte Schweigen.
Der Fremde und ich wussten beide, dass er das Angebot nicht ausschlagen würde, geschweige denn könnte.
Einen Seelenklemptner wollten die mir also bereitstellen? Wozu? Meine Psyche war vielleicht noch nicht zerstört, aber ich wusste genau, dass dies bald passieren würde, wenn die Misshandlungen weitergingen. Da half kein Psychiater, der mich einmal in der Woche oder am Tag fragte, ob es mir gut ginge.
"Außerdem", die Stimme des Lautsprechermannes wurde leise und schleimig,"habe ich gehört, dass es ihrem Sohn nicht besonders gut ginge. Er wäre Bluter und die Medikamente bei ihnen würden immer knapper werden, weil die Kasse nicht zahlen wolle. Die Krankenkasse, die diesem Unternehmen gehört, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Wiederlicher Drecksack!
Die Medikamente waren also ihr eigentliches Druckmittel. Vermutlich würden sie den Doc sogar kostenfrei arbeiten lassen und das einzigste, was er im Gegenzug bekäme, wären die Medikamente. Meine Freundin von früher war Bluterin, weshalb ich wusste, wie gefährlich es war ohne bereitstehende Spritzen irgendwas zu tun. Schon eine kleine, unbemerkte Blutung unter der Haut kann fatale Folgen haben, da ihnen ein wichtiger Gerinnungsfaktor fehlt, den sie sich sozusagen spritzen müssen. So zumindest, hatte es mir meine damals achtjährige Freundin erklärt.
Der Doc schien das auch zu wissen.
"Ich schätze wir verstehen uns, Mr. Greenwood." Unverholene Schadenfreude über diesen kleinen Sieg schwang in der Stimme mit.
"Unter einer Bedingung", sprach der Mann langsam, in bemüht ruhigem Tonfall.
"Und die wäre?"
"Wie bei jedem anderen meiner Patienten werden die Informationen vertraulich behandelt. Das heißt, dass ich Ihnen nicht sagen werde, worüber wir geredet haben. Das Abhörgerät wird abgestellt und die Männer hinter der Scheibe verlassen den Raum. Ich werde alle diese Faktoren vor dem Beginn der Sitzung sorgfältig überprüfen, damit Ihnen das klar ist."
Am liebsten hätte ich bei diesen Worten laut aufgelacht. 'Mr. Greenwood' stellte doch tatsächlich Forderungen! Trotzdem blieb ich ruhig und wartete auf eine Antwort.
"Und warum glauben Sie, werden wir auf diese Forderungen eingehen?"
"Sie werden nicht auf sie eingehen, Sie werden sie akzeptieren."
Ein Knurren aus der Ecke war die Antwort, zusammen mit einem gepressten "Arschloch". War das ein Ja oder ein Nein? Es war die erste richtige Konversation seit langem, der ich lauschte, weshalb ich jedes Wort, schon allein wegen seines Klanges, wie ein Schwamm aufsog.
Schritte aus der Ecke. Er kam auf mein Bett zu! Kurz vor meinem Gesicht blieb der Lautsprechermann stehen.
"Sie ist wach."
Verdammt! Langsam öffnete ich die Augen... Und starrte in ein wiederlich girnsendes Gesicht. Das Gesicht eines Sadisten. Ich war mir sicher, dass es ihm Spaß machte mich leiden zu sehen.
Der Mann an meinem Fußende stand auf und gesellte sich neben den Sadisten, sodass ich sie beide im Blickfeld hatte. Der Sadist war schon um die 50, während der Seelenklemptner nicht älter als 40 sein konnte. Der sah mich irgendwie mitleidig an und blickte immer wieder von meinen Flügeln, zu meinem Gesicht und dann wehleidig zu den Handschellen. Das konnte der sich sparen! Seine dunkelbraunen Haare hatten schon etwas länger keine Schere mehr zu Gesicht bekommen und fielen ihm in unregelmäßigenSträhnen in seine grasgrünen Augen. Insgesamt sah er sehr vertrauenserweckend aus – eben wie so ziemlich jeder Psychiater.
Der Sadist hatte schon eine Halbglatze und einen starken Bauchansatz vorzuweisen. Er besaß schwarze Schweinsäuglein und ein ziemlich faltiges, viel zu breites Gesicht.
Beide waren in weiße Kittel gekleidet.
Das Schwein grinste immernoch.
Ohne groß darüber nachzudenken, spuckte ich ihm ins Gesicht. Zuerst lief er rot an. Und dann holte er als Antwort mit der Faust aus und... Traf nicht. Der Seelenklemptner hielt seine Faust in der seinen und blitzte seinen Gegenüber wütend an.
"Mr. Deens. Meine erste Sitzung mit ihr beginnt jetzt. Verlassen Sie und der Mann hinter der Glasscheibe den Raum. Befolgen Sie meine Forderungen und stellen Sie das Abhörgerät ab."
'Mr. Deens' funkelte zurück, verließ dann aber eilig den Raum. Genau wie auch der Mann hinter der Scheibe.
Jetzt war ich allein mit dem Professor.
Um nicht in seine Augen sehen zu müssen, starrte ich an die Decke und suchte nach Unregelmäßigkeiten.
"Du kannst mich Drake nennen, wenn du möchtest.", kam es von ihm, Drake Greenwood.
Sollte das vielleicht mein Vertrauen in ihn stärken? Als ob denen Vertrauen wichtig wäre. Die wollten doch nur an Informationen kommen, von denen sie wahrscheinlich dachten, ich hätte sie.
"Und wie heißt du?"
Seine Stimme war weich und dunkel. Ich konnte mir gut vorstellen, wie ihm andere an meiner Stelle all ihre Geheimnisse anvertrauten, nur wegen dieser Stimme. Ich aber nicht.
"Objekt 7", antwortete ich dennoch mechanisch, weiter an die Zimmerdecke über mir starrend.
"Ich meine, wie du wirklich heißt", kam es wieder ruhig.
"Objekt 7."
Das entsprach ja hier, an diesem Ort, auch der Wahrheit.
Ein Seufzen und ein Geräusch, als würde er sich mit der Hand durchs Haar fahren.
"Na gut, Objekt 7. Wie alt bist du?"
Kurz musste ich selbst nochmal nachrechnen, bevor ich antwortete:
"268 Tage bin ich, Objekt 7, jetzt schon alt."
"Du hast mitgezählt?", fragte die Stimme halb erschrocken und dennoch distanziert.
"Ja."
Dann kam die Frage, dessen Antwort Mr. Greenwood selbst schon wusste:
"Und wie wirst du hier behandelt?"
Mein Blick klebte weiter starr an der Decke.
Er wusste es doch selbst, warum fragte er also?
"Ich bekomme alle zwei Tage etwas zu essen und alle vier Tage stellen sie mir eine Flasche Wasser hin. Wenn ich nicht esse, schlagen sie mich. Wenn ich mehr essen will, schlagen sie mich. Der Mann hinter der Glasscheibe protokollisiert das alles, Sie können es nachlesen. Alle drei Tage kommen die Männer in Schwarz, nehmen eine Blutprobe, zwei Federn und sorgen dann dafür, dass mein Heilungsprozess die nächsten 24 Stunden danach gut beschäftigt ist.
Ist das eine gute oder schlechte Behandlung, Mr. Greenwood?"
Den letzten Satz sprach ich mit so viel Sarkasmus, wie mir möglich war.
"Wie empfindest du dabei, wenn sie dich schlagen oder dir das Essen verweigern?"
Ich beschloss das Spiel mitzuspielen.
"Hass. Schmerz. Manchmal aber auch einfach nur Gleichgültigkeit."
Das ganze weitere Gespräch verlief so.
Er fragte mich nach Geschehnissen und wollte dann wissen, wie ich mich dabei fühlte.
Ich wusste wirklich nicht, was das bringen sollte. Es brachte einzig und allein, dass ich mich nur noch schlechter fühlte, noch hilfloser.
Nach einer gefühlten Stunde (soweit ich mich auf mein Zeitgefühl verlassen konnte) ging die Tür auf und drei Männer in Schwarz, mit nassen Schwämmen, Elektroschokern und Schlagstöcken kamen rein. Ihnen gingen wohl langsam die Ideen aus.
Etwas erschrocken blickte Greenwood auf die Schlagstöcke und dann wieder zu mir. Er schluckte schwer und senkte den Blick.
"Auf Wiedersehen, Objekt 7", wollte er sich verabschieden.
Aber noch bevor er die Tür erreichte, stellte ich ihm noch eine Frage, die ihn ganz offensichtlich verwirrte:
"Bekommen Sie jetzt die Mediakmente für Ihren Sohn?"
Zum ersten Mal sah ich ihm ganz offen in die Augen.
"Ich weiß nicht, mal sehen."
Und dann war er weg. Die Tür schloss sich hinter ihm und ich war mir zu diesem Zeitpunkt sicher, dass er noch lange über meine Frage nachgrübeln würde.
Die Schritte der Männer kamen näher und ich starrte wieder wie gebannt an die Decke. Mir war klar, dass ich schreien würde – ich war noch nie wirklich tapfer gewesen. Ich würde sogar weinen und Schluchzer ausstoßen.
Aber ich würde nicht um Gnade winseln!
Don't cry, my little Girl...
Tag 269
Die ganze Nacht über hatte ich wach gelegen. Die Handschellen hatten sie mir abgenommen, nachdem sie fertig waren. Jetzt schmerzte mein Körper zwar noch, aber viel schlimmer war, dass ich wirklich kurz vorm Einschlafen war. Und das bedeutete wie gesagt zu träumen. Das wollte ich nicht.
Um den Schlaf also zu vermeiden, sang ich leise Linkin Parks Robot Boy vor mich hin. Es war nunmal das einzige Lied, welches ich auswendig konnte. Als ich damit anfing, sah der Mann hinter der Glasscheibe kurz auf und tippte dann eifrig weiter etwas in den PC vor sich ein.
Während ich so weiter vor mich hin sang, erinnerte ich mich daran, wie ich früher mal mit meiner besten Freundin Melanie Karaoke gesungen hatte. Zusammen sangen wir Wind of Change von den Scorpions. Melanie war schon immer die, die weniger Hemmungen hatte und mich überall mit hineinzog. Obwohl sie, wie allen bekannt war, von ihrem Vater nicht unbedingt gut behandelt wurde und oft mit blauen Flecken in die Schule kam, hatte meine Mutter sie immer getröstet und wollte auch schon des öfteren das Jugendamt einschalten. Aber jedes Mal hatte Melanie dann bitter geweint und gemeint, wie sehr sie ihren Vater doch liebte. Damals konnte ich das nicht verstehen. Aber heute...
Als mir das mit meiner Mama passiert war, vor 269 Tagen, fühlte ich mich einfach nur verloren. Dieser Tag, der alles änderte.
Eine kalte Brise wehte Melanie und mir entegen. Es war recht frisch für Mitte September, weshalb wir uns auch beeilten nach Hause zu kommen. Die Stadt war groß und bis zu der Bushaltestelle, an der mein Bus kam waren es um die 3 Km Luftline, jedoch fast doppelt so viel zu Fuß. Melanie hatte ja Glück! Sie wohnte fast gegenüber der Schule in einem Sozialbau. Ich musste dagegen in einer sehr knappen Jeans und einem himmelblauen Top ohne Jacke fast 7 Block durchqueren. Und das bei diesem Wind!
"Na dann ciao! Und grüß deine Mutter von mir – der Schokokuchen gestern war total lecker!", rief mir Melanie noch zu, als sie die Straße überquerte.
"Ja, mach ich. Und vergiss bitte nicht Minu zu füttern, wenn ich mit Mama übers Wochenende weg bin. Du weißt ja wo der Schlüssel liegt."
Ich winkte ihr noch ein Mal kurz nach und dann verschwand sie auch schon im Treppenhaus. An diesem Wochenende würden wir nämlich meine Oma besuchen. Ich konnte den leckeren Apfelkuchen gerade zu schon riechen. Beflügelt von dem Gedanken an warmes Gebäck mit halb verbranntem Boden ging ich meinen Weg zur Haltestelle entlang.
Melanie und ich waren wegen eines Schulprojekts bis halb acht geblieben – es dämmerte schon. Wahrscheinlich wäre es schon dunkel, wenn ich zu Hause ankam. Dann würde Mama mir zurufen, dass ich beinahe unsere Lieblingstelenovela verpasst hätte und mir den Rest vom Mittagessen nochmal aufwärmen. Und ganz vielleicht wäre Ole, unser Nachbar, auch da. Es war ja schon beinahe peinlich wie die beiden sich anschmachteten, es aber nicht fertig brachten den Anderen mal um ein richtiges Treffen zu bitten. Mal ehrlich! Ich war hier der pubertierende Teenager, nicht die. Jedenfalls war Ole echt nett und hatte seit Papas Tod immer versucht mir und meiner Mutter zu helfen. Und schlecht sah er ja auch nicht aus – für sein Alter.
Ich kam an meiner Lieblingsbuchhandlung vorbei und warf einen kurzen Blick in das beleuchtete Schaufenster. Gab's ja nicht! Eine Sonderaktion: Zwei Stephen Kings für einen und zwar brandneu! Schnell suchte ich nach meinem Portemonnaie und schaute, wie viel ich dabei hatte.
Noch zwanzig Euro, mein Rest an Taschengeld.
Ich war so ein Stephen-King-Fanatiker, für den verprasselte ich liebend gern meinen Rest an Taschengeld. (Auch wenn Mama immer sagte, ich sei viel zu jung für solche Bücher.) Darum stürmte ich gerade zu in die Buchhandlung und krallte mir "der Anschlag" sowie "Es" im Taschenbuchformat. Noch bevor ich bezahlte, ließ ich mich in einen der bereitstehenden Sessel fallen und begann genüsslich "Es" zu lesen:
"Der Schrecken, der weitere achtundzwanzig Jahre kein Ende nehmen sollte – wenn er überhaupt je ein Ende nahm - , begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen von Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb..."
Völlig vertieft in das Buch, gierig die Seiten blätternd, merkte ich gar nicht, wie sich die leichte Dämmerung zur Nacht wandelte und immer mehr Leute die Buchhandlung verließen.
"Nat... Nat, wir schließen."
Eine junge Frau – Angela – riss mich aus meiner kleinen Welt indem sie mich an der Schulter rüttelte. Etwas erschrocken und auch leicht verärgert blickte ich zu ihr auf. Da bemerkte ich, dass wir die einzigen Personen im Laden waren.
"Ähm, wie viel Uhr haben wir denn?"
Sie lächelte mich verstehend an, denn ich war hier sozusagen Stammkunde und blieb oft bis spät in den Abend.
"Halb Zehn. Wir haben offiziel eigentlich schon seit Acht geschlossen. Aber ich musste noch Abrechnungen machen und ein paar Bücher sortieren, also hab ich dich weiter lesen lassen."
Verdammt!
Mama wartete bestimmt schon lange mit dem Essen und fragte sich bestimmt schon so absurde Fragen, ob ich von einem kranken Perversen entführt wurde oder so. Ja, meine Mutter neigte manchmal zur Übertreibung.
"Ah, sorry! Kann ich die Bücher noch schnell bezahlen und dann gehen? Weißt du, ob jetzt noch ein Bus fährt?"
Völlig alarmiert sprang ich auf und hätte dabei beinahe das Buch fallen lassen.
Angela sagte mir, dass um viertel vor Zehn angeblich noch einer fahren würde und ich die Bücher selbstverständlich noch zahlen könne.
Also bezahlte ich fix und rannte schnell auf die nun sehr spärrlich beleuchtete Straße hinaus. Es war angenehm kühl und der Wind hatte sich auch gelegt. Kaum ein Auto fuhr an mir vorbei, nur gelegentlich die Straßenbahn mit kaum besetzten Bänken. Um zur Bushaltestelle zu kommen musste ich an ein paar übel riechenden Bars vorbei, die am Tage kaum auffielen, in der Nacht dafür aber um so mehr. Nervös grapschte ich nach meinem Handy in der Hosentasche. Meine Mutter wäre bestimmt nicht sauer gewesen, hätte ich sie angerufen und gefragt, ob sie mich abholen könne. Natürlich war ich schon öfter spätabends mit dem Bus oder der Bahn gefahren, aber heute... Heute machte mich das irgendwie nervös und ließ mir kalte Schauer den Rücken hinunter jagen.
Ha! Gefunden.
Ich zog das noch ziemlich neue und doch schon ganz schön zerkratzte Smartphone aus meiner Tasche und tippte schnell unsere Nummer.
'Tuut, tuut...'
Niemand ging ran.
Vermutlich war wirklich Ole da und die beiden hatten mal wieder nur Augen und Ohren für einander. Und bestimmt lag das Telefon wie sonst auch in meinem Zimmer unter meinem Kissen, wo es sowieso niemanden störte.
Na toll.
Schlecht gelaunt ging ich meines Weges weiter, darauf bedacht, den teilweise schon angetrunkenen Gestalten aus dem Weg zu gehen. Es war noch nichtmal zehn und es liefen schon Betrunkene herum. Was sagte das einem wohl?
Und dann ging alles ganz unerwartet schnell und plötzlich...
Gerade dachte ich noch an das Wochenende mit Oma und den zum dahinschmelzenden Apfelkuchen, da wurde ich in eine enge Gasse gezerrt. Ich wollte vor Schreck schreien, wurde aber gehindert, indem man mir den Mund zuhielt. Panik kam auf. Ich biss in die Hand, woraufhin jemand einen heftigen Fluch ausstieß, mich aber nicht los ließ. Was passierte hier gerade?
Auf der Straße, direkt vorm Eingang zu der Gasse, hielt ein schwarzer Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben. Jetzt begriff ich: ich wurde entführt!
Ich versuchte zu schreien, zu treten und zu beißen – nichts brachte es mir. Der Mann zog mich mit der einen Hand an den Haaren auf den Wagen zu und die andere hatte er mir fest an den Mund gepresst.
Gott im Himmel, was geschah hier gerade?!
"Die will einfach nicht ruhig bleiben", hörte ich den Mann, der mich hielt raunen.
"Dann gib ihr 'ne Dosis von dem Zeugs, das die uns gegeben haben, verdammt! Mach schon, bevor uns jemand sieht", kam es aggressiv aus dem Wagen zurück.
Was? Was für eine Dosis, etwa Drogen?!
Noch mehr Panik, noch mehr Hysterie und Angst kamen in mir auf.
Wieso ging das alles so schnell, wieso kam nicht ausgerechnet in diesem Moment ein Passant und eilte mir zur Hilfe?
Etwas spitzes stach in meinen Hals – so spitz, dass ich es kaum spürte. Kurz hob ich den Blick zu dem maskierten Mann über mir und sah, wie er eine Spritze, die in meinem Hals steckte, abdrückte. In dem Augenblick, in dem der letzte Tropfen die Spritze verlassen hatte, fielen mir die Augen zu. Ich spürte noch, wie mir die Tüte mit den Büchern entglitt und zu Boden fiel.
Mein letzter Gedanke: Hoffentlich ist Mama nicht so arg sauer, wenn ich noch etwas später komme...
"Aufwachen... Du musst aufwachen...", hörte ich eine Stimme rufen.
Widerwillig öffnete ich meine Augen, die Gedanken an den Traum verdrängend, und starrte in Greenwoods Gesicht. Ein Gähnen konnte ich mir nicht verkneifen, weshalb er – hinsichtlich meines stinkenden Atems – den Mund verzog.
Ich schmämte mich wegen des Atems ziemlich und setzte mich etwas befangen auf.
"Haben wir schon wieder eine neue Sitzung?", fragte ich deshalb schnell, um nicht weiter über meine sonstigen Ausdüngstungen nachdenken zu müssen. Das kam eben davon, wenn man nur einmal in der Woche notdürftig mit dem Schlauch abgespritzt wurde.
"Ja, du hast wohl ziemlich lange geschlafen", erwiederte er und setzte sich auf den Bettrand.
Nicht wirklich, aber ich hatte ja keine Uhr um dies zu messen.
Der Traum hatte wieder ziemlich viele, tief vergrabene, Gefühle an die Oberfläche geholt. Am liebsten hätte ich mich wieder hingelegt und hemmungslos geweint. Doch ich hatte schon seit Monaten nicht mehr bewusst geweint. Ja, mein Körper hatte Tränen herausgepresst, aber eben nie, weil ich es wollte.
"Heute würde ich gerne deinen wahren Namen erfahren. Den, den du vor all dem", er machte eine umfassende Bewegung mit den Armen,"hattest. Ich möchte wissen, wie es dir früher ging. Ob du ein glückliches Kind warst und all das."
Meinte er das ernst? Glaubte Greenwood wirklich, ich würde mit ihm über meine Kindheitserlebnisse reden? Nein, das würde ich nicht. Ich wollte ihm auch nicht meinen Namen verraten. Vielleicht war es ja abergläubisch, aber ich maß Namen, richtigen Namen, große Bedeutung an. Sie waren das, was wir vom ersten Moment an besaßen und bis zum letzten haben würden. Ich wollte nicht, dass ihn mir jemand nahm.
"Ich werde Ihnen aber nichts dazu sagen", meinte ich mit fester Stimme.
"Wozu genau?", fragte er mit gelassenem Blick und ruhiger Stimme.
Nichts sagte ich. Gar nichts.
Er seuftzte und stützte den Kopf in die Hände. Auch er blieb still und sagte nichts. Desinteressiert lies ich meinen Blick durch den Raum schweifen.
"Ich kann Ihnen sag, was an meinem ersten Tag hier alles mit mir gemacht wurde, wenn Sie möchten...", begann ich dann doch zögerlich.
Lieber redete ich mit ihm, anstatt dass er eine ganze Stunde still auf meinem Bett sitzen würde.
Sein Blick wurde wieder aufmerksam und richtete sich auf mich.
"Erzähl", forderte er freundlich auf.
"Ich... wachte in diesem Raum hier auf. Ganz genau wusste ich, dass der Raum unter der Erde lag – ich fühlte mich so erdrückt. Meine Hände und Füße waren an das Bett hier gefesselt, sodass ich ausgestreckt da lag und an die Decke starrte. Irgendetwas unbekanntes war da auf meinem Rücken, was ich ganz deutlich spürte. Als... würde man gerade begreifen, dass man eine Hand hatte, die man auch bewegen konnte. Langsam drehte ich den Kopf nach links und sah einen mir unbekannten Mann hiter einer Glasscheibe sitzen. Ich wusste genau, dass ich in Panik ausbrechen sollte, konnte es aber wegen der Drogen nicht. Völlig ruhig starrte ich den Mann an und er starrte überrascht zurück. Eifirg tippte er draufhin etwas in den PC vor sich und sprach ein paar Wörter in eine Sprechanlage. Etwas von wegen, dass Objekt 7 wach wäre. Mir kam der Gedanke, dass ich wohl Objekt 7 war..."
Kurz streichte ich über meine Flügel, was mich seltsamer Weise beruhigte. Ich konnte einfach nicht weitersprechen. Dabei war ich noch nichtmal an einem kritischen Punkt angelangt. Mein Mund bewegte sich nicht mehr und meine Finger streichelten ganz automatisch meine Flügel.
Greenwood schien zu warten, er drängte mich kein winziges bisschen.
Die Tür glitt zur Seite und eine Gestalt stellte zwei volle Plastikflaschen mit Wasser auf den Boden. Direkt dannach verließ sie den Raum wieder und die Tür schloss sich hinter ihr. Kurz hatte Mr. Greenwood sich gedreht und das Gesicht verzogen, als er das Wasser sah.
"Weißt du eigentlich, dass sie dir Beruhigungstropfen da reinmischen?", fragte er abwesend.
Ich dachte über die Antwort nicht nach, sondern sagte es ihm einfach:
"Das wirkt bei mir nicht. Ich weiß, dass da Beruhigungszeugs drinnen ist, schmecke es auch, aber es zeigt keine Wirkung."
Erstaunt sah mich der Seelenklemptner von der Seite an, während ich jetzt selber nachdenklich auf das Wasser starrte. Genau genommen, hatte ich mich nie gefragt, warum das so war. Hatte ich mich daran gewöhnt? Oder war ich schon so kaputt, dass mir nicht einmal Drogen helfen konnten?
"Das ist seltsam", sprach er unseren gemeinsamen Gedanken aus,"sehr seltsam sogar. Immerhin soll die Droge angeblich geruchs- und geschmacksneutral sein, wie man mir sagte."
"Sagen Sie mal", versuchte ich das Thema zu wechseln,"haben Sie nur einen Sohn?"
Am liebsten hätte ich mir für diese Frage die Zunge abgebissen. Warum fragte ich ihn nach seiner Familie, was interessierte mich das denn?!
Ein Lächeln glitt über seine Züge und lies ihn um so vieles jünger aussehen.
"Drei. Vier, sieben und 16 Jahre alt. Alles Jungs."
In seiner Stimme schwang eine Menge Stolz mit, obwohl er mir gerade mal ihr Alter verraten hatte. "Und wie heißen die?", fragte ich gegen meinen Willen weiter.
Mit irgendwas musste ich mir ja die Zeit vertreiben.
"Der jüngste Maik, der nächste Newen und mein ältester heißt Lucas."
"Hört sich irgendwie alles so amerikanisch an... Sind Sie Amerikaner?"
Ein raues Lachen von seiner Seite.
"Meine Frau", erzählte er glücklich weiter,"meine Frau war Amerikanerin. Und jetzt leben wir auch in Amerika."
War? War sie etwa tot?
Ich ging auf die Zeitangabe nicht weiter ein, sondern dachte ein wenig an meine Mutter. Was wenn sie auch...? Ein Autounfall oder ein Herzinfarkt? Ich konnte ja nicht bei ihr sein, um es zu wissen.
"Wissen Sie ob... Lebt meine Mutter noch?", fragte ich kaum hörbar.
Dabei starrte ich auf meine Hände, wich seinem forschendem Blick aus. Er räusperte sich kurz, als würde ihm ein dicker Klos im Hals stecken.
"So weit ich weiß lebt sie noch. Sie lassen sie in Ruhe. Ab- es ist schwer ein Kind zu verlieren, weißt du?"
Nein, wusste ich nicht. Ich wusste nur, wie es war sein gesamtes Umfeld, sein ganzes Leben zu verlieren.
"Was meinen Sie damit?"
Er haspelte nervös am Saum seines Kittels herum, sah mir aber mit festem Blick in die Augen.
"Meines Wissens nach, hat sie geheiratet und erwartet demnächst ein Kind."
Die Luft wollte nicht kommen. Sie blieb einfach weg und lies mich wild japsen. Mein Bauch fing plötzlich an Purzelbäume mit dreifachen Saltos zu schlagen.
Was meinte er mit heiraten und ein Kind erwarten?
Mein Körper begann so wild zu zittern, dass ich meine Arme um die Beine schlung, weil ich Angst hatte, ansonsten auseinander zu fallen. Mama konnte doch nicht... Das würde sie doch niemals tun! Es waren doch gerade mal 269 Tage, dass ich weg war! Wie konnte man da so schnell heiraten und dann auch noch ein Kind erwarten, wenn das eigentlich weg war?!
Ein Ziehen in der Herzgegend. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich anscheinend eine Panikattacke hatte.
Meine Mama, die mit der ich immer bis spät in die Nacht Telenovelas gesehen hatte, konnte mich doch nicht einfach vergessen und neu anfangen! Sie...! Nein, das konnte sie doch nicht machen, das durfte sie einfach nicht!
Sie war doch meine Mama und nicht die eines noch ungeborenen Babys, sie war meine! Meine, meine, meine!
"Meine, sie ist doch meine Mama!", schrie ich, mit dem Nebeneffekt, dass ich noch weniger Luft bekam und die Bauchkrämpfe noch heftiger wurden.
Zwei starke Arme schlangen sich um mich und hielten mich in einer stählernen Umarmung.
"Beruhige dich. Beruhige dich...", flüsterte man mir immer wieder ins Ohr.
Aber es war nicht meine Mama. Es war ein eigentlich wildfremder Mann, der mich mit einer Organisation gefangen hielt. Ich wurde misshandelt und meine Mutter heiratete einfach!
Ich liebte sie doch so sehr, sie mich etwa nicht?
Tag 277
Ich redete nicht, vergoss keine Träne und starrte immer nur durch die Glasscheibe, ohne wirklich etwas zu sehen. Greenwood kam trotzdem regelmäßig in meine Zelle und versuchte mit mir zu reden. Ich nahm kaum Nahrung zu mir, weshalb ich noch ausgehungerter war als sonst. Das Warum, fragte ich mich schon lange nicht mehr. Warum heiratete meine Mutter? Warum vergaß sie mich einfach? Warum musste ausgerechnet mir das alles passieren?
Diese Fragen würden nur dazu führen, dass ich verzweifelt nach Antworten suchen würde. Und diese Antworten gab es einfach nicht. Mama wollte weiterleben. Und ich hatte einfach Pech, so einfach war das. Ich hätte damals einfach nicht den Bus verpassen sollen und die Bücher im Regal stehen lassen. Vielleicht würde ich mich dann heute sogar auf mein kleines Geschwisterchen freuen und mit meiner Mutter gemeinsam Babysachen kaufen gehen.
Ja, hätte ich nur...
Heute war mein 15. Geburtstag. Andere in meinem Alter schlichen sich in Diskotheken und bekamen ihren ersten Alkoholrausch. Sie verliebten sich zum ersten Mal richtig und lernten, was Herzschmerz war. Sie schrieben Arbeiten und überlegten sich, was sie später mal machen wollten.
Taten eben das, was man mit 15 so tat.
Ich fragte mich, ob meine Mutter wohl an mich dachte. Zündete sie vielleicht eine Kerze für mich an? Aber ich war ja in ihren Augen nicht tot oder entführt, sondern weggelaufen. Für Ausreißer zündete man keine Kerzen an.
Wann käme wohl das Baby?
Die Tür öffnete sich und – Überraschung – der komische Seelenklemptner, mein Seelenklemptner, trat ein. Ganz selbstverständlich setzte er sich wie immer auf den Bettrand. Ich machte keinerlei Anstalten aufzustehen, sondern blieb liegen.
"Wissen Sie, Greenwood, was heute für ein Tag ist? Heute ist der 28. Juli, mei- Natalies Geburtstag."
Ich verspürte einfach das dringende Bedürfnis zu reden. Über irgendwas, von mir aus sogar über das Wetter.
"Nein", antwortete Greenwood ruhig,"das wusste ich nicht. Wie alt wurde sie denn?"
"Wäre ich noch Natalie, wäre ich jetzt 15."
Der bittere Beigeschmak, der mit diesen Worten kam lies mich mein Gesicht schmerzlich verziehen. Es stimmte ja, ich war nicht mehr Natalie. Hier unten war ich einfach Objekt 7.
"Darf ich dich denn auch Natalie nennen?", fragte er mich zögerlich.
"Wenn Sie das glücklich macht."
"Natalie, ich habe ein mehr als gute Nachricht für dich."
Ein spöttisches Lächeln trat auf meine Züge und ich blitzte ihn an.
"Was denn? Fällt die Folter heute aus und die gute Fee kommt mich besuchen?"
Es klang etwas bitterer als gedacht, aber was machte das schon.
Er seuftzte leicht erschöpft auf und sah mir fest in die Augen.
"Sie haben sich die Haare geschnitten", bemerkte ich nebenbei. Sie hingen jetzt nicht mehr in wilden Strähnen in sein Gesicht, sondern waren sauber zurückgekemmt und die Spitzen waren geschnitten.
"Ich hatte ja auch einen wichtigen Termin", etwas verlegen strich er sich mit seiner Linken durch das nun viel gepflegtere Haar.
"Aber", erzählte er weiter,"das tut jetzt nichts zur Sache."
Ja, das tat es wirklich nicht. Um ihm besser ins Gesicht sehen zu können, wechselte ich in den Schneidersitz und beobachtete Greenwood genau.
"Viel wichtiger ist das: Ich konnte den Vorstand dieser Organisation überzeugen, dass du psychisch labil bist und dich sehr wahrscheinlich umbringen möchtest!"
Er klang, als hätte er gerade einen Wirkstoff gegen Krebs entdeckt und nicht, wie wenn er sagen würde, dass ich 'psychisch labil' wäre und mir schon bald das Leben nehmen wollte. Wobei das ja auch gar nicht stimmte! Ich hatte vor noch zu leben und diesen Monstern gehörig eins auszuwischen. Auch wenn der größte Teil davon in meiner Fantasie statt fand.
Vielleicht, überlegte ich, ist dieser Dr. Greenwood ja doch kein so guter Psychater.
Ich konnte nicht anders als ihn nur sprachlos anzustarren.
Und dann lachte er. Warum lachte er? Es war das erste Lachen seit Monaten, das ich hörte und es war wunderschön. Dabei war es ein gar nicht so ausergewöhnliches Lachen. Es war einfach nur schön, noch mal jemanden Freude empfinden zu sehen.
"Warum lachen Sie?", fragte ich also doch etwas verwirrt.
"Manchmal vergesse ich es", antwortete er und strich sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.
"Was denn?"
"Na, dass du noch ein Kind bist. Wenn ich mit dir spreche und nur auf deine Worte und Stimme achte, denke ich oft, ich würde mit einer Erwachsenen sprechen, dabei bist du gerade mal 15"
Ist das jetzt gut oder schlecht?, fragte ich mich noch um einiges wirrer im Kopf.
"Aber", meinte er dann ernst,"um auf das eigentliche Thema zurück zu kommen. Es ist das Beste, was dir bis jetzt überhaupt passieren konnte, dass sie dich für gefährdet halten! Denn so konnte ich ihnen einen Vorschlag unterbreiten, den sie sogar nach langem hin und her annahmen."
Greenwood grinste wie ein Honigkuchenpferd und ich verstand immer noch nichts als Bahnhof.
"Und der wäre", forderte ich ihn auf weiter zu erzählen.
"Sie haben mir doch als Gegenleistung dafür, dass ich Stillschweigen bewahre und meinen Job gewissentlich erledige, mir unter anderem ein großes Waldstück zuschreiben lassen. Dort lebe ich momentan mit meinen Söhnen und arbeite daran eine Klinik aufzubauen. Ja, das klingt unmöglich, als einzige Person, aber die haben mein Einkommen richtig schön aufgehüpscht, sodass ich es mir wenigstens erlauben kann zu träumen."
"Freut mich, wie sich meine Gefangenschaft für Sie auswirkt", kommentierte ich trocken.
"Zieh nicht so ein Gesicht, Natalie. Wenn du erstmal hörst, was ich meine da-"
"Dann sagen Sie es doch einfach!", brach es aus mir heraus.
Ich konnte es einfach nicht leiden, wenn Leute um den heißen Brei herumredeten.
"Aber ich kann es dir nur einmal sagen und werde dein Gesicht dann nur einmal in einem solchen Moment sehen", strahlte er mich an.
"Meinen Sie mit einem 'solchen Moment' zufällig abgemagert, kränklich und dabei eine schwere Depression zu bekommen? Wenn ja, von diesen Momenten gibt es hier viele – durchsuchen Sie einfach das Bildmaterial und Sie werden schon ein geeignetes Foto finden, dass sie an Ihre Pinnwand hängen können."
Ich sah dem Doc an, dass es für ihn immer schwerer wurde, das Grinsen beizubehalten.
"Natalie, jetzt hör doch mal zu ich-"
"Nein", unterbrach ich ihn fosch, "Sie hören mir jetzt mal zu! Das ist immerhin Ihr Job, oder?
Ich, Ihre Patientin, fühle mich mehr als beschissen und würde am liebsten einschlafen, nur um nicht wach zu sein. Aber das geht nicht, weil dann diese Träume, Erinnerungen, kommen und ich dann an mein Zuhause denken muss, sobald ich aufwache. Diese Träume sind jetzt um einiges gefährlicher geworden, denn jetzt wache ich auf und weiß, dass selbst meine Mutter scheinbar die Hoffnung aufgegeben hat, mich je wieder zu sehen und in die Arme zu schließen. Sie bekommt ein Baby, was ja wohl heißt, dass sie neu anfangen möchte. Gut, soll sie doch. Aber ich habe diese Möglichkeit leider nicht. Ich weiß, dass ich hier, vermutlich sogar in diesem verdammten Raum, elendlich vor die Hunde gehen werde. Ich werde sterben, so viel ist mir klar.
Und wissen Sie was? Das schlimmste ist, dass ich mich an jeden einzelnen Tag hier bis ins kleinste Detail zurückerinnern kann, wenn ich wach bin. Aber sogar in meinen Träumen verschwimmen die Gesichter meiner Freunde, meiner Familie immer mehr und ihre Stimmen werden mir immer fremder.
Ich möchte, dass Sie jetzt Ihren Job machen und irgendwas sagen, das mich heilt, das mich vergessen lässt, was hier geschah und mich daran erinnert, was davor war. Ich möchte, dass Sie Ihre gottverdammte Pflicht Ihrer Patientin gegenüber erfüllen und mich heilen!"
Meine Stimme wurde gegen Ende immer lauter und hätte ich gekonnt, wären mir wahrscheinlich Tränen in die Augen gestiegen.
Greenwoods Grinsen war Vergangenheit. Ernst sah er mich an und sagte einen einzelnen Satz, der alles auf den Kopf stellte, vier kleine Worte:
"Du kommst hier raus."
Perplex starrte ich ihn an.
"Was?"
"Du. Kommst. Hier. Raus", wiederholte er langsam und nachdrücklich. "Morgen, um genau zu sein. Ich habe mit dem Vorstand geredet und nicht zuletzt auch eine hitzige Diskusion mit dem Vorsitzenden gehalten. Habe ihnen klar gemacht, dass du raus musst, an die Oberfläche. Und da mein Waldstück eh eingezäunt und strengstens per Viedeokameras und Patroulien überwacht wird, bietet es sich an, dass du zu mir kommst. Ich habe ihnen erklärt, dass du Kontakte brauchst, Beziehungen aufbauen musst, um emotional nicht völlig zu verkümmern. Wie gesagt habe ich drei Kinder. Also, verabschiede dich von diesem Raum, morgen hol ich dich hier raus."
Und mit diesen Worten verlies er den Raum und ließ mich allein und völlig verwirrt zurück.
Vielleicht, dachte ich, sterbe ich ja doch nicht so bald.
Tag 278
Den Traum nur noch schwach in Erinnerung wachte ich auf, öffnete langsam die Augen... Und starrte in ein ein Paar schwarzer Schweinsäuglein, wie ich sie bisher nur einmal gesehen hatte. Ich versuchte gar nicht erst mich aufzusetzen und an die Wand hinter mir zu pressen, da ich von Anfang an die Fesseln um Fuß- und Handgelenke spürte.
"Da ist mein Engel also endlich aufgewacht", lächelte mich der Lautsprechermann, Mr Deens, an.
Ausdruckslos starrte ich an ihm vorbei und suchte nach dem Fleck an der Decke. Als mein Blick nach oben schweifte, bemerkte ich nebenbei, dass kein Mann hinter der Glasscheibe saß und der Raum dahinter im Dunkeln lag.
"Nein, nein, nein, mein Engel", grob griff Deens nach meinem Kinn und zwang mich ihn anzusehen, "ich möchte dein hübsches Gesicht sehen. Und du weißt doch, dass man jemanden ansieht, wenn man mit ihm spricht."
Er grinste immer weiter und weiter, was mir – wie alles an ihm - Angst einjagte. Oh Gott, hilf mir doch!
"Hör zu, mein Engel", sagte Deens, mein Kinn immer noch in seiner Hand, "auch wenn du das vielleicht denkst, werde ich dich nie verlassen. Nein, wir zwei bleiben für immer zusammen, bis zu deinem Tod. Und selbst dann wird dein Körper immer noch hier sein – genau wie ich. Greenwood hofft zwar, dass er dich von mir weg bekommt, aber wir wissen beide, dass das nicht geschehen wird. Irgendwie werde ich immer bei dir sein. Es gibt Videokameras, Mikropeilsender, womit ich dich aufspüren kann und Sachen, von denen du nicht mal träumen kannst."
In seinen Augen lag ein bedrohliches Funkeln, als er von "unserer" Zukunft sprach und ich versuchte nicht laut aufzuschreien, vor lauter Panik in mir. Es war als würde ein riesiger Fels auf meiner Brust liegen: Ich konnte gerade so noch atmen, aber das Leben wurde immer mehr aus mir herausgepresst.
"Aber, aber, wein doch nicht, meine Schöne."
Noch nie war ich so sauer über meine Tränen gewesen. Denn anstatt mich einfach weiter weinen zu lassen, befeuchtete dieser Kerl seinen Daumen und wischte mir widerlich langsam die Träne aus dem Gesicht, die sich gerade auf den Weg zu meinem Kinn gemacht hatte.
"ich möchte nur, dass du weißt, dass du nie allein sein wirst. Ich werde immer bei dir sein, dir wie ein Schatten folgen und...."
Ich hatte das Gefühl, dass er ewig so weiter reden würde und doch immer dasselbe sagte. Irgendwann hörte ich nur noch, das er mich nie verlassen würde, niemals, niemals, niemals...
Nur nebenbei hörte ich, wie sich die Tür gleitend öffnete und jemand wild rumbrüllte. Mr Deens wurde von meinem Bett gerissen und ich hörte den Aufprall, als er gegen die Wand geschleudert wurde. Jetzt saß nicht mehr er, sondern Greenwood an meinem Bett. Und vor ihm hatte ich keine Angst. Ich hörte wie durch Watte, als Greenwood auf mich einredete:
"Du kommst jetzt hier raus, Natalie. Bleib bei mir, okay?! Du kommst jetzt hier raus, also halt dich noch ein wenig fest. Objekt 7 halt dich an Natalie fest!"
Warum denn? Es war doch viel einfacher zu verschwinden, wie Nebel. Eine Hülle zurücklassen, die leer ist und selbst irgendwo anders sein, das war mein Gedanke.
Aus dem Blickwinkel sah ich, wie Deens sich aufrichtete und an der Wand hinauf rutschte, um nicht gleich wieder umzukippen.
"Was haben Sie zu ihr gesagt?", schrie Grenwood ihn voller Hass an und schüttelte mich wild an den Schultern. Die Ketten rasselten und erinnerten mich daran, was Deens gesagt hatte: Dass ich nie wirklich von hier weg käme.
"Nichts als die süße Wahrheit, Mr Greenwood."
Deens hielt sich die Wange, mit der er gegen die Wand gekracht war und verließ schnell den Raum. Wahrscheinlich dachte er, dass Greenwood ihn ansonsten auseindanernehmen würde.
"Natalie, bleib noch da, nur für zehn Minuten, bleib einfach da drinnen und zieh eine Mauer, hörst du?"
Ich starrte ihn aber nur an.
"Zieh eine Mauer mit Scharfschützen, die niemanden zu dir durchdringen lassen, sonst wirst du das hier nicht überleben, du wirst einfach verschwinden."
Aus seinem Mund hörte sich das so schlimm an, das mit dem Verschwinden.
"Leg ein Minenfeld, so dicht und groß wie das Meer..."
Vielleicht schrie er ja, aber für mich war es nur ein Flüstern. Ein Flüstern, das immer leiser wurde und sich wie Rauch aufzulösen schien.
Mein Blick schweifte durch den Raum, ohne irgendwas wahrzunehmen. Ich merkte nicht mal richtig, wie zwei Männer in Schwarz kamen und Greenwood mit aller Gewalt aus dem Raum zerren mussten.
Und sie kamen wieder.
Wie Schatten traten sie an mein Bett und nahmen mir die Fesseln ab. Einer sagte etwas zu mir, aber ich hörte es nicht. Der andere gab mir eine Ohrfeige, da ich nicht reagierte, aber ich spürte es nicht. Letztendlich zogen sie mich an den Armen aus dem Bett und lehnten mich an die Wand. Ich wusste, dass jetzt etwas viel schlimmeres passieren würde, als das sonstige Prügeln. Schwach hob ich den Blick und sah.... Schwarz. Meine Erinnerungen an diesen Moment liegen in tiefen Schwarz. Und das ist auch besser so. Ich will nicht wissen, was da mit mir passiert ist, will dass es in diesem tiefen Schwarz bleibt. Die Scharfschützen schossen mit scharfer Munition, die Minen gingen eine nach der anderen in die Luft und die Gitter vielen und schlossen mich in meiner Festung ein.
Ohne Licht, ohne jemand anderen.
Danke an alle Leser, Kritiker und vielleicht sogar den einen oder anderen Fan. Das nächste Kapitel ist schon fast fertig und muss dann nur noch mal kurz auf Schreibfehler untersucht werden. Da ja Ferien sind werden demnächst vermutlich noch mehr Kapitel kommen also nicht denken, dass es wieder Monate braucht :)
Danke an alle ♥
Maria
TEIL II
FREIHEIT?
Tag 280
Das Bett war irgendwie weicher. Die Decke nicht so kratzig wie sonst und das Kissen duftete nach Rosen. Ich ließ meine Augen geschlossen und atmete diesen Geruch tief ein. Ein wenig erinnerte er mich an den Rosengarten meiner Mutter.
Auch wenn ich gleich vermutlich aus dem Bett gezerrt werden würde, kuschelte ich mich so fest wie möglich in die Decke und vergrub den Kopf unter dem gut riechenden Kissen. Fast so, als wäre Schule und ich wolle den Wecker ignorieren. Mir fiel auf, dass ich diese Nacht nicht geträumt hatte oder mich zumindest nicht daran erinnern konnte. Das war ein seltsam schönes Gefühl, nach all den Träumen, die ich in letzter Zeit hatte.
Ich bemerkte auch, dass das Licht nicht so grell wie sonst durch meine geschlossenen Augenlider drang und das Bett kein metallenes Quietschen von sich gab, wenn ich mich von der einen Seite auf die andere drehte. Mich überkam dieses Gefühl, das man manchmal in den Sommerferien hatte: Nichts zu tun, den ganzen Tag einfach im Bett liegen bleiben und vielleicht ein wenig fernsehen. Das wäre schön!
Die Tür ging auf. Nur kratzte sie diesmal über den Boden und die Scharniere quietschten leise. Wann wurde denn die Tür ausgewechselt? Und warum gegen so eine alte, offensichtlich nicht mehr ganz heile?
"Natalie?"
Als wäre Greenwood meine Mutter, die mich Sonntags zum Frühstück wecken wolle gab ich nicht mehr als ein Grummeln von mir und vergrub mich noch tiefer in diesem kuschligen Bett. Erst da merkte ich, dass ich ja gar nicht wie sonst ans Bettgestell gefesselt war.
Er kam zu meinem Bett und setzte sich wie sonst auch.
"Bist du denn jetzt endlich wach?", fragte mein Seelenklempner mit einem leichten Lächeln in der Stimme.
Antwort: Grummeln.
"Und weißt du, wo du gerade bist?"
Grummeln.
Seine Hand tastete nach meinem Arm und ich zuckte sichtlich zurück, als wäre sie aus heißem Eisen. Weg war der Rosenduft und das kuschlige Bett. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich wusste, dass ich kurz vor einer Panikattacke stand, konnte mir aber nicht erklären weshalb. Ich hatte doch gar nicht Angst vor Greenwood. Warum jagte eine Berührung meinem Körper also solche Angst ein? Er schien das Zittern durch die dicke Decke nicht zu bemerken, ließ aber seine Hand bei sich. Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht ein Wimmern von mir zu geben und hoffte nur, dass Greenwood einfach weiterreden würde.
"Du bist jetzt nicht mehr unter der Erde. Hier gibt es bis auf mich auch keine Doktoren."
Deens, Deens würde immer da sein.
Ohne unter dem Kissen hervorzukommen fragte ich:"Und wo bin ich jetzt?"
"Tief im Wald, nicht sehr weit von Seattle weg. Uns stehen 15 Quadratkilometer zur Verfügung. Umzäunt und videoüberwacht."
"Sind nur wir beide hier?"
Eine 24-stündige Sitzung wäre dann vielleicht doch zu viel. Das Zittern ließ nach und meine Atmung beruhigte sich. Der Rosenduft kam wieder und hielt mich fest umschlungen, fern von der Schwärze.
"Nein, natürlich nicht. Wir befinden uns hier auf meinem eigenen Stück Land. Weißt du noch, wie ich dir davon erzählt habe? Meine drei Söhne sind auch noch da."
"Ist das nicht zu gefährlich? Ich meine, zu gefährlich für die Organisation. Wenn sie sich in der Schule oder bei den Freunden verplappern, dann..."
Ich ließ den Satz unbeendet, da wir beide wussten, was dann passieren würde.
"Das ist kein Problem. Heimunterricht und Facebook sorgen dafür, dass sie sozial und mental nicht völlig verkümmern."
Beinahe hätte ich gelächelt, aber auch nur beinahe.
"Die beiden jüngsten und ich gehen jetzt ein wenig spazieren, Natalie. Ich habe dir auf den Nachttisch Klamotten gelegt, die du anziehen kannst. Es ist schon später Nachmittag, also bist du wohl ziemlich hungrig. Unten in der Küche haben wir noch Obst, Kornflakes und sogar noch ein wenig Hackbraten, den du dir aufwärmen kannst. Fühl dich wie zu Hause."
"Mal sehen."
Gerade als Greenwood gehen wollte, viel mir noch etwas ein:
"Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?"
"Einen ganzen Tag durch", antwortete Greenwood und verließ damit endgültig den Raum.
Noch ein letztes Mal atmete ich den Rosenduft tief ein und setzte mich dann auf. Das Zimmer war schön. Altmodisch aber schön. Es war nicht sehr groß, vielleicht ein paar Quadratmeter größer als meine Zelle unter der Erde. Die Wände waren mit Holz verkleidet und mit zig Bildern behangen. Landschaften, Stillleben, Porträts... Mein Bett auf dem ich saß war genau so altmodisch wie der Rest der Einrichtung. Dunkles Holz mit feinen Schnitzereien am Kopfende, die ein Mädchen zeigten, das einen Apfel pflückte. Nicht sehr tiefgründig. Es war ein schmales Bett, kein großes, wie ich es zu Hause hatte. An der Wand gegenüber stand ein Schreibtisch auf dem ein neuer Notizblock und ein Füller lagen. Ich stand auf und betrachtete den Notizblock näher. Eine Nachricht stand darauf in schlampiger Schrift geschrieben: Schreib deine Träume auf!
"Mal sehen", war mein einziger, laut gedachter Kommentar dazu.
Die Klamotten, die Greenwood auf den Nachttisch gelegt hatte bestanden aus einer einfachen Jeans, einem Paar Socken und einem weißen T-Shirt, das hinten teilweise so Rückenfrei war, dass ich mit den Flügeln kein Problem haben würde. Neben dem Bett stand auch noch ein Paar schwarzer Hausschuhe.
Ich hörte eine Tür zuschlagen und aufgeregtes Gelächter, das sich immer weiter entfernte – Greenwood und die Kinder.
Ohne also viel zu überlegen streifte ich den weißen Kittel von mir ab, was sich anfühlte als würde ich mich aus meiner Haut schälen und wechselte die Kleider. Sogar Unterwäsche hatte der Gute mir hingelegt, von der ich gerne wüsste, woher er die hatte. Bei dem Gedanken wie der leicht verklemmte Greenwood an einer Kasse steht und einer jungen Kassiererin einen Packen Damenuntewäsche hinwirft, huschte ein kurzes Lächeln über mein Gesicht.
An der Tür hing ein großer Spiegel, in dem ich meinen ganzen Körper sehen konnte. Ein wenig ängstlich betrachtete ich mein Spiegelbild. Ich war gewachsen, nicht viel aber ich war gewachsen. Und die Flügel mit mir. Sie waren immer noch wunderschön und reichten mir bis zum Hinterteil. Kurz bewegte ich sie einmal spielerisch, ließ aber sofort wieder bleiben, als mir einfiel, dass ich nur wegen ihnen in dieser Lage war. Meine Augen waren immer noch Blau und doch irgendwie anders. Irgendwo hatte ich mal die Wörter "vertraute Fremde" gelesen – genauso fühlte ich mich.
Sogar mein Körper war mir fremd. Seit wann herrschte bei mir nicht mehr totales Flachland? Wäre Melanie jetzt hier wären wir beide im Kreis auf und ab gesprungen, hätten ein dämliches Grinsen im Gesicht und würden blöde Witze über das nicht mehr vorhanden Flachland machen. Wahrscheinlich würde Melanie sowas wie "Achtung, Erdplattenverschiebung mit fatalen, riesigen Folgen in den Alpen!" sagen. Und ich hätte ihr spielerisch in den Arm geknufft und etwas schlagkräftiges darauf erwidert.
Ich wurde von einem lauten Knall schlagartig aus meinen Gedanken gerissen. War noch jemand im Haus? Es hatte sich wie eine viel zu heftig zugeworfene Tür angehört, wie ich es auch manchmal tat, wenn ich auf meine Mutter sauer war. Stimmt ja, Greenwood hatte drei Söhne. Mit den zwei jüngsten war er spazieren, also war der älteste, Lucas, noch hier.
Vorsichtig öffnete ich die Tür und trat hinaus auf den Flur. Auch hier waren die Wände mit Holz verkleidet und die Dielen knarzten mit jedem Schritt. Ich befand mich im oberen Stock und stand auf einer kleinen Galerie, von der aus mehrere Türen abgingen und direkt gegenüber meines Zimmers war eine Treppe (natürlich auch aus Holz) ohne Geländer angebracht. Von hier oben konnte man das gesamte Wohnzimmer und den Eingang überblicken. Ein normalgroßer Flatscreen stand an der Wand, ein paar Meter von der Eingangstür entfernt. Dem gegenüber war eine kleine Sessellandschaft, die einen sofort zum hineinkuscheln aufforderte. Vereinzelt gab es auch ein paar Zimmerpflanzen, die aber vermutlich nicht mal mehr den nächsten Tag erleben würden.
Rechts von mir führte ein schmaler Gang auf eine Tür zu, durch die ein wummernder Bass dröhnte und das Gekreische irgendeines zweitklassigen Heavy-Metal-Sängers. Was ist nur aus AC/DC geworden, fragte ich mich wie schon so oft, wenn ich dieses Gekreische hörte.
Ich entschloss mich die viel zu laute Musik und damit auch Lucas zu ignorieren und nahm die Treppe nach unten. Es war irgendwie schön dieses Knarzen zu hören, sobald ich meinen Fuß wo aufsetzte. Als ich dann unten angekommen war, trat ich prompt auf ein kleines, gelbes Spielzeugauto, das direkt vor der Treppe lag. Wenn ich mich so umsah, lag überall, auf dem Boden verstreut solches Spielzeug; Bauklötze, Playmobilfiguren, das ein oder andere Kuscheltier... Ja sogar eine volle Windel lag neben dem Sofa! Während ich mich noch fragte, ob man mit vier tatsächlich noch in die Windel machte, ging ich ganz automatisch auf diesen Behälter menschlicher Exkremente zu, hob ihn auf und rannte damit ganz schnell in die Küche um ihn in den Müll zu werfen.
Nachdem ich mich erstmal von dieser Stinkbombe erholt hatte, betrachtete ich auch die Küche etwas eingehender. Es war eine offene Küche von der aus man das gesamte Wohn- und Esszimmer sehen konnte. Modern eingerichtet und doch wirkte auch sie im Gesamtbild altbacken. Es gefiel mir. Ich war damals zu Hause eine richtige Hobbyköchin. Da meiner Mutter ja schon einfache Pfannkuchen anbrannten war ich immerhin auch regelrecht dazu gezwungen das Kochen zu lernen, sofern ich mich nicht nur von Fastfood ernähren wollte.
Da die Arbeitsflächen bemerkenswert sauber waren und der Mülleimer vor lauter Verpackungen von Mikrowellenmahlzeiten und Pizzakartons überquoll, war klar, dass hier niemand freiwillig den Kochlöffel schwingen würde. Und auch der Kühlschrank war vollgestopft mit Energydrinks, Softgetränken, Eis, Schokolade, Salzadips, billigen Gebäck und ein wenig Obst und Gemüse, das aber deutlich in der Unterzahl war.
Als mir der Geruch von irgendwas vergammelten entgegenkam, schloss ich den Kühlschrank schnell wieder und rümpfte etwas schockiert die Nase. Ich hatte mir zwar gedacht, dass Greenwood ein Arbeitstier war, aber nicht, dass er deshalb nicht mal die Zeit fand aufzuräumen, eine Kleinigkeit zu kochen oder auch nur den Müll raus zubringen. Dieser Spaziergang heute musste ja eine echte Seltenheit sein.
Die Rolladen waren noch alle unten, weshalb nur ein leichtes Dämmerlicht durch die Spalten viel. Langsam, ganz langsam ging ich zum Küchenfenster, das über der Spüle angebracht war. Wenn sie einem lange weggenommen worden war, dann merkt man, dass die Sonne einen ganz eigenen Geruch hat. Sie riecht nach den vier Jahreszeiten, riecht nach Wärme und Wohlwollen, Licht und Hoffnung, nach so viel... positivem! Bevor ich so lange eingesperrt war, kannte ich diese Gerüche nicht, dachte es wären nur Wörter und keine, in der Nase kitzelnde Gerüche. Ich war mit Strom geladen, der mir in den Fingerspitzen juckte und meine Finger zu dem Knopf drängte, der dem Rolladen befehlen würde, hoch zu fahren.
Klick.
Suuuuum....
Der Rolladen fuhr hoch und ich – ich stand da. Atmete den Geruch der Sonne ein und ließ sie genüsslich auf mich scheinen... Mit jeder einzelnen Faser meines Bewusstseins war ich mir des warmen und natürlichen Lichtes bewusst, das durch meine geschlossenen Augenlider drang und mich voll und ganz auszufüllen schien. Wie lange schon hatte ich die Hoffnung auf einen solchen Moment aufgegeben? Für einen kleinen Moment war Natalie wieder vollkommen da, während sich Objekt 7 in eine dunkle Ecke meines Geistes drängte. Ich sagte ihr hallo, hieß sie herzlich willkommen und lud sie ein zu bleiben. Aber da war sie auch schon wieder verschwunden.
"Weg da!"
Eine Stimme (eine wirklich unfreundliche Stimme) riss mich aus meinem Tranceartigen Zustand, von dem ich nicht wusste, wie lange ich in ihm geweilt hatte. Als würde ich gerade erst aufwachen , öffnete ich langsam die Augen, drehte mich Richtung Kühlschrank und somit auch zur Quelle der Störung.
Ein Blonder Junge, der schon mehr Mann als Kind war. Sein Haar war lockig und die eisblauen Augen blickten feindselig drein. Er war groß. Zwar nicht riesig, aber trotzdem groß. Ich schätzte ihn auf 1.90 Meter. Sein kantiges Gesicht hatte noch ein paar Züge eines Kindes vorzuweißen, was ihn noch ein Stückchen attraktiver machte. Vor allem das kleine Kinngrübchen lies ihn ein wenig Jungenhaft aussehen.
Aber mal abgesehen vom Gesicht, sah er eher ungepflegt aus. Die Haare standen in alle Richtungen ab und täten gut daran, einmal durchgekämmt zu werden. Und mehr als eine weite Boxershort und einen übergeworfenen grauen Bademantel trug er auch nicht. Da der Bademantel offen war, erhaschte ich einen klitzekleinen Blick auf ein gut antrainiertes Sixpack. Ich wusste nicht, wann in meiner Gefangenschaft das passiert war, aber plötzlich fand ich Sixpacks und blaue, wütende Augen richtig gut.
"Lucas", War das einzige, was ich in dem Moment zu erwidern wusste.
Abschätzend ließ Lucas seinen Blick über mich schweifen, wobei er meine Flügel ein paar Sekunden länger musterte. In seinem Blick lagen weder Abscheu noch Mitleid, wofür ich mehr als dankbar war. Er stieß mich grob von der Spüle weg und drehte den Wasserhahn voll auf.
"Freak."
Es schien Begrüßung und Beleidigung zugleich zu sein. 'Freak' fand ich nicht so schlimm. Es war besser als Missgeburt oder etwas ähnliches. Ja, in Wahrheit hatte ich mich selbst auch schon oft als Freak gesehen.
Trotzdem traf mich das Wort natürlich leicht und ich ließ den Blick verunsichert auf den Boden gleiten. Lucas ließ weiterhin Wasser in das Spülbecken laufen und ging währenddessen zu dem großen Esstisch, wo noch dreckige Teller und schmutziges Besteck lagen. Wieder zurück warf er alles etwas zu stark in das nun volle Becken und drehte den Wasserhahn zu. Alles an ihm strahlte Missmut aus.
"Was stehst du da so rum?", schnauzte er mich an, den Blick auf das Becken gerichtet, während seine Hände mit einem Schwamm Teller schrubbten.
Da ich schlimmeres gewohnt war zuckte ich nicht zusammen, auch wenn ich ein wenig erschrak.
"Kannst du kochen?"
Ja, sagte ich in Gedanken, doch kein Laut kam mir über die Lippen. Mit Greenwood war es leichter gewesen zu reden.
Da Lucas nichts hörte drehte er den Kopf zu mir und sah ein blasses und mageres Mädchen mit Flügeln, das den Blick scheinbar verängstigt auf den Boden gerichtet hatte.
Er stöhnte einmal kurz auf. Es klapperte und dann stand er auf einmal direkt vor mir. Unsicher sah ich zu ihm hoch. Lucas sah mir fest in die Augen, immer noch zornig, aber nicht mehr ganz so stark.
"Hör mal, Freak. Ich weiß ja nicht, was du durchgemacht hast und das will ich auch gar nicht, weil mich das gar nicht interessiert. Aber jetzt bist du hier. In meinem Haus, bei meiner Familie. Glaub also bloß nicht, dass du die ganze Zeit rumsitzen und nichts tun kannst. Mach dich nützlich, dann verstehen wir uns. Kapiert?"
Seine Stimme war beherrscht ruhig gewesen und er war sichtlich darum bemüht mich mit seiner Größe nicht zu sehr einzuschüchtern. Plötzlich blitzte Deens Gesicht vor meinen Augen auf. Gott, ich hatte schon schlimmeres als einen pubertierenden Teenager durchgemacht! Und zur Hölle, ich würde dahin nicht zurückgehen!
Mein Blick verfestigte sich und starrte Lucas fest in die Augen.
"Also, kannst du kochen, Freak?", fragte er ein letztes Mal.
Ein Nicken.
"Gut, vor der Tür stehen zwei große Boxen mit Einkäufen. Frisches Obst und Gemüse. Mit etwas Glück auch ein wenig Fleisch. Hol die rein, verräume sie und dann kochst du das Abendessen. Ich geh duschen und räum vielleicht noch ein wenig auf."
Er testete die Grenzen aus. Wie weit konnte er wohl gehen, ohne mich zu verärgern und wie weit würde ich ihm folgen?
Ich schüttelte den Kopf.
"Nein", sagte ich mit fester Stimme, "du räumst nicht nur vielleicht und nicht nur ein bisschen auf. Nach dem Duschen und wenn du angezogen bist, räumst du das Wohnzimmer ganz auf. Mit staubsaugen. Ich koche währenddessen."
Kurz sah er mich noch abschätzend an, suchte nach Unsicherheit in meinem Blick. Aber da war nichts. Er drehte sich um und ging. Als er dann die Treppe hoch war, löste auch ich mich aus meiner Starre.
Wie Lucas gesagt hatte standen vor der Haustür auf einer kleinen Veranda zwei große Kühlboxen mit der Aufschrift: "Haushalt Greenwood – Lebensmittel". Bedacht darauf den Blick nicht schweifen zu lassen, trug ich die Boxen herein und stellte sie auf der Küchentheke ab. Hätte ich mich draußen auch nur eine Millisekunde umgesehen, wäre ich vermutlich Stunden wie erstarrt gewesen. Schon der Geruch nach Grün hatte mich beinahe nicht mehr reingehen lassen.
Nun öffnete ich beide Boxen und besah mir ihren Inhalt genauer. Fleisch war tatsächlich Mangelware aber das bunte Angebot an Obst und Gemüse glich das wieder aus. Da waren normale Bananen und Äpfel, aber auch Ananas und Mangos.Karotten und Paprika, Eier und Zitronen. Und noch viel mehr. Ja sogar Zutaten für Backwaren ließen sich finden.
Nachdem ich also alles verräumt hatte, suchte ich vergebens nach Kochbüchern. Nichts. Mir wurde langsam klar, weshalb sich diese Familie noch fast ausschließlich von Fastfood ernährte. Ich bezweifelte nämlich dass Greenwood oder Lucas besonders gut kochen konnten.
Also, was mochten kleine Kinder, ein pubertärer Teenager und ein überarbeiteter Psychologe besonders gern? Es dauerte nicht lange, da fiel es mir auch schon ein.
Während im oberen Stockwerk die Dusche zu hören war, ließ ich Wasser kochen, schnippelte Lauch und Tomaten und suchte nach sauberem Besteck und Tellern. Ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Letztendlich wusch ich einfach das Geschirr, das noch in der Spüle lag und benutzte dieses. Ungefähr eine viertel Stunde später kam Lucas herunter – angezogen. Kurz schnüffelte er wie ein Hund in der Luft und kam dann neugierig zu mir in die Küche.
"Was riecht denn hier so lecker?",
Als er von der Soße naschen wollte, klopfte ich ihm einmal stark mit dem Kochlöffel auf die Finger und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er aufräumen sollte.
"Wenn du das sagst, Freak."
Und schon war die Neugier wieder verschwunden und an deren Stelle war der altbekannte Missmut in Lucas' Blick. Trotzdem machte er sich sofort daran aufzuräumen, wofür ich wirklich dankbar war (das Wohnzimmer sah richtig schlimm aus).
Eine gute Stunde später, als längst alles fertig war, saß ich zusammen mit Lucas vor dem Fernseher und wartete mit ihm gemeinsam auf Greenwood und die Kleinen. Es liefen gerade die Simpsons auf einem unbekannteren offensichtlich deutschen Kanal. Ich war beinahe schon dankbar, dass hier deutsche Fernsehen empfangen wurde, da ich so immerhin Ablenkung hatte.
Während Lucas fast das ganze Sofa einnahm saß ich in einem gemütlichen Sessel daneben. Lucas sah gebannt auf den Fernseher während mir etwas unbehaglich war.
Wie war es eigentlich so weit gekommen?
Ich befand mich in einem fremden Land, saß in einem fremden Haus bei einem fremden Jungen und sah mir mit ihm zusammen die Simpsons an.
Vor ein paar Tagen schien mir das unmöglich.
Ein kurzer Blick zu der Uhr über dem Fernseher verriet mir, dass es schon halb sieben war. Die drei machten anscheinend sehr lange Spaziergänge. Neben mir auf dem Sofa raschelte es und als ich rüber sah, bemerkte ich, dass Lucas sich aufgesetzt hatte und mich mit undeutbaren Blick ansah. Es war mir nicht unangenehm, so angesehen zu werden. Vor wenigen Tagen, gehörte das zu meinem Alltag dazu.
"Verstehst du, was die da reden?", fragte er mit einer Geste zum Fernseher.
Ein kurzes, verwirrtes Nicken als Antwort.
"In welche Klasse bist du gegangen?" Er stellte den Fernseher auf lautlos, legte einen Arm auf die Rückenlehne und stützte seinen Kopf auf der Hand ab.
Mit meinen Fingern gab ich "neun" an.
Mir kamen immer noch nicht so leicht Worte über die Lippen wie bei Greenwood.
"Warst du sehr gut in Englisch?"
Oh nein, auf gar keinen Fall! Wegen Englisch wäre ich beinahe sitzen geblieben. Zum Glück war Ole, unser Nachbar, nicht ganz so schlecht wie meine Mutter und ich und hatte mir bei den Hausaufgaben geholfen.
Ein entschlossenes Kopfschütteln meinerseits.
Daraufhin musterte Lucas mich noch eindringlicher. Er schien zu denken, ich würde lügen, kam es mir in den Sinn.
Er schaltete den Ton wieder an.
"Was reden die da gerade?", fragte er, wieder mit einer Geste zum Fernseher. Die Simpsons waren vorbei und stattdessen lief jetzt irgendeine Sendung, in der die Moderatoren aufgeregt über Robert Pattinson und Kristen Steward diskutierten.
"Fuck! Wann haben die sich denn getrennt?!", kam es aus mir herausgeplatzt.
Oh Gott, ich hoffte nur, dass das Melanie nicht zu hart traf – sie war Twillights absolut größter Fan gewesen. Ihr Zimmer war mit Postern von "dem Traumpaar schlecht hin" vollgekleistert gewesen.
Als mir circa drei Sekunden später klar wurde, was ich gerade gesagt hatte, schnappte ich erschrocken nach Luft und versuchte dafür zu sorgen, dass so schnell nichts mehr über meine Lippen kam
"Cool, du kannst also doch reden. Und das gar nicht mal so schlecht", grinste Lucas mich an. Oh hätte Melanie jetzt neben mir gesessen wäre sie bei diesem Lächeln vermutlich in Ohnmacht gefallen. Ich natürlich nicht... Jedenfalls nicht sofort.
Als er merkte, dass ich nicht weiter reagierte, sprach er weiter:
"Also verstehst du, was die da sagen? Fliesend?"
Natürlich! Ich war immerhin nicht so zurückgeblieben, dass ich die Sprache, die ich seit meiner Geburt sprach, auf einmal verlernt hatte.
Ein heftiges Nicken.
"Wie kommt's, dass du in Englisch dann so schlecht warst?"
Er schien verwirrt, warum?
Was hatte deutsches Fernsehen denn mit Englisch zu tun?
Lucas schien zu merken, dass ich nicht so recht wusste, wovon er sprach.
"Kapierst du 's nicht? Das hier ist kein deutscher Kanal. Und alles was ich jetzt gerade sage, sage ich auf Englisch zu dir. Und jetzt rede ich Deutsch. Merkst du echt keinen Unterschied?"
Ja klar.
Ich zog die Augenbrauen hoch um zu verdeutlichen, dass ich ihm kein Wort glaubte.
"Glaubst mir wohl nicht, hm? Na gut, dann schau dir das mal an..."
Er wechselte auf einen Nachrichtenkanal, den ich nicht kannte.
"Verstehst du auch, was die da sagen?"
"Das waren die Nachrichten um kurz vor Sieben. Ich wünsche Ihnen allen hier aus Seattle noch einen schönen Abend und eine gute Nacht. Schalten Sie auch morgen wieder ein...
"
Dann wurde eine Schampoowerbung eingeblendet.
"Also, Freak, hast du das auch verstanden?"
Kurzes Nicken.
"Ich versichere dir, dass das gerade alles auf Englisch gesagt wurde."
Ich deutete Lucas mit der Hand, dass ich die Fernbedienung wollte. Nachdem er sie mir bereitwillig gegeben hatte schaltete ich von Kanal zu Kanal. Er hatte Recht... CNN war eindeutig ein amerikanischer Sender, das wusste ich. Und ich verstand jedes einzelne Wort, als würden sie dort fliesend deutsch reden.
"Und, was sagst du jetzt?"
Meine Antwort kam prompt und unüberlegt, leise geflüstert wie ein Windhauch:
"Heilige, dreifach gepriesene Höllenscheiße!"
"Geb' ich dir vollkommen Recht."
Noch bevor Lucas mich noch etwas anderes fragen konnte, wurde die Haustür aufgestoßen und zwei rothaarige kleine Teufel stürmten herein.
"Achtung, der Brache kooooommt!", kreischte der kleinere und rannte auf Lucas zu.
"Ja, der Drache ist hinter uuuuns!", schrie der andere und versteckte sich hinter Lucas, während der Jüngste sich in die Arme seines großen Bruders warf.
"Du musst uns beschützen!"
Völlig verschreckt sah ich der ganzen Szene aufmerksam zu.
"Raaawr", kam es von der Tür,"ich bin der große, böse Drache und werde euch alle fressen!"
Als der große böse Drache eintrat, musste ich mir energisch ein Lachen verkneifen. Greenwood kam gebückt und die Hände zu Klauen gebogen hereingestürmt, begleitet von dem aufgeregten Gekreische der Jungs. Ja, sogar Lucas ließ sich dazu herab und stieß einen kurzen, gespielt erschreckten Schrei aus.
"Befütz uns, Lucas", schrie der Kleine in seinen Armen, "befütz uns!"
"Wo sind die kleinen Monster", rief Greenwood und drehte den Kopf in alle Richtungen.
"Ich armer alter Drache bin schon längst erblindet und taub!... Nur riechen tu' ich sie."
Aufgeregtes Gelächter folgte auf dieses Bekenntnis.
Lucas schien allerdings eher genervt, was ich ihm nicht verübeln konnte. Wenn sowas ähnliches jeden Abend passierte, wäre ich vermutlich irgendwann auch nicht mehr so begeistert wie die Kleinen.
"Hat der Drache Hunger?", fragte ich schüchtern in Greenwoods Richtung.
"Oh, der Drache hat so großen Hunger auf kleine Kinder", schrie der arme Drache gequält.
Während Lucas noch schnell einwarf, dass der Drache doch eigentlich taub war, ging ich schon in die Küche.
"Ich hoffe Spaghetti reichen dem Drachen auch?", rief ich von dort aus und war schon dabei die Herdplatten auszuschalten und Nudeln und Soße in Servierschüsseln umzufüllen
"Baghetti!", kreischte Maik, der Jüngste.
"Juhu!" folgte ein Freudenschrei seines älteren Bruders, Newen.
"Oh ja", antwortete Greenwood nun wieder mit normaler Stimme,"Spaghetti sind vollkommen in Ordnung."
Ich saß auf meinem Bett und spielte mit meinen Federn. Greenwood hatte sich einen Stuhl herangezogen und saß mir gegenüber. Es war im allgemeinen ein schöner Abend gewesen. Maik und Newen wollten die ganze Zeit mit meinen Flügeln spielen und hatten sich durchgehend mit Soße bekleckert. Lucas war schweigsam gewesen und ist nach dem Essen direkt oben in seinem Zimmer verschwunden. Das tat der guten Laune unten aber nichts ab. Greenwood hatte es den beiden Teufeln so erklärt, dass ich eine Art Arbeitskollegin wäre und für längere Zeit hier bei ihnen wohnen würde. Das fanden die beiden richtig toll und so zeigten sie mir sofort ihr Zimmer, das direkt an meines angrenzte.
Jetzt war ich völlig erschöpft und würde am liebsten schlafen, aber Greenwood schien das egal zu sein.
"Wie gefällt es dir hier?", begann er die Sitzung.
Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Wie konnte ich Greenwood all das sagen, was mir durch den Kopf ging, ohne bis in den Morgen zu reden? Womit sollte ich beginnen, was war das wichtigste, was er unbedingt wissen musste?
Und so war es nur ein Wort, das über meine Lippen kam:
"Danke."
Tag 281
Diesmal wusste ich sofort, wo ich war als ich die Augen aufschlug. Es war wundervoll zu wissen, dass das kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Und trotzdem kniff ich mich zur Sicherheit in den Arm.
"Aua."
Dem Wecker auf dem Nachttisch nach zu urteilen war es acht Uhr am Morgen. Immer noch in die weiche Decke gehüllt lauschte ich aufmerksam den Geräuschen des Hauses. Hier schien niemals Stille zu herrschen – es knarrte immer eine Diele und Lucas' CD-Player lief wohl 24 Stunden am Stück ohne Unterbrechung. Aber das störte mich nicht, im Gegenteil: Es war beruhigend das Leben zu hören.
Kurz überlegte ich, ob ich einfach weiterschlafen sollte... Dieses Bett war so verführerisch. Doch dann glitt mein Blick zu dem Schrank, der ebenfalls aus dunklem Holz gefertigt war und ein paar Meter neben der Tür stand.
Wie von selbst erhebte ich mich aus meinem Bett und ging auf den Schrank zu. Langsam griff meine Hand nach dem altmodischen Knauf und ich öffnete die rechte Tür.
Als ich den Inhalt sah entwich mir ein Lachen und kurz darauf ein Freudenschrei.
Kein Weiß.
Bunt.
Farben.
Freudig wie ein kleines Kind, das Weihnachtsgeschenke auspacken durfte riss ich alles was mir in die Finger kam aus dem Schrank und warf es auf den Boden. Da war ein gelbes Top, ein roter Pullover, Kleider in den schönsten Farben und Schnitten, kurze Röcke für den Sommer und dickere für den Winter und – Jeans, schöne, vertraute Jeans. Es war albern, aber mir stiegen schon fast Tränen in die Augen. 280 Tage lang herrschte Weiß in meinem Leben, Eintönigkeit und Farblosigkeit in allen Lebenslagen.
Und dieser Schrank schien fast zu platzen, so voll war er!
Alles was weiß war, wurde von mir umgehendst in den Papierkorb geworfen. Den Rest legte ich, so albern es auch klingt, fröhlich vor mich hinpfeifend wieder ordentlich zusammen und in den Schrank. Ich entschied mich für eine helle Jeans und ein blassgelbes Sommertop. Greenwood hatte beim Einkauf scheinbar sorgfältig darauf geachtet, dass die Oberteile Rückenfrei waren, wofür ich ihm sehr dankbar war.
Aber als ich kurz in den Spiegel an der Tür sah, erstarrte ich vollkommen. Die Jeans, die eigentlich eng anliegen sollte, hing schlaff an mir herunter. An meinem Rücken konnte man ohne Probleme jeden Wirbel und jede einzelne Rippe zählen. Ich war blass, schon fast anämisch, weshalb das blassgelb mich noch kränklicher aussehen lies. Kein Mensch ist frei von Eitelkeit. In diesem Moment hätte ich den Spiegel am liebsten zerschlagen um dann danach unter meine Bettdecke zu flüchten.
Doch stattdessen wandte ich langsam den Blick ab, zog mir die Klamotten wieder aus und griff nach einer weiten Jogginghose und einen dicken Kapuzenpullover (in den hinten zwei Löcher für meine Flügel eingeschnitten waren).Während ich mich umzog versuchte ich, so gut ich konnte, die Tränen zu ignorieren, die unaufhörlich auf den Boden unter mir tropften.
Es war Montag und Greenwood befand sich auf der Arbeit (Gott wusste, was er da tat), die Kleinen spielten in ihrem Zimmer und Lucas machte am Laptop neben mir auf dem Sofa Hausaufgaben. Ihn schien es nicht zu stören, dass ich unaufhörlich die Nachrichtenkanäle wechselte. So viel war passiert. Gerade hörte ich einen Bericht über Griechenland und wie versucht wurde, die Schulden zurückzuzahlen, da meldete sich Lucas zu Wort:
"Verstehst du immer noch alles?"
Ich sah zu ihm. Den Laptop hatte er zugeklappt und starrte auf den Fernseher. Entweder er wollte mich nicht ansehen, oder es war ihm tatsächlich egal.
Ihm fiel wohl ein, dass ich nicht viel redete und von mir fast nur Nicken und Kopfschütteln kam, denn er drehte den Blick wieder zu mir.
Ein unsicheres Nicken meinerseits.
Etwas nervös blickte ich auf meine Nägel und pulte den Schmutz unter ihnen heraus. Mir war nicht unwohl, aber wenn ich ehrlich sein sollte... Früher hatte ich kaum mit Jungs geredet. Miri war die Offene und ich das schüchterne Entlein gewesen. Ich wusste einfach nicht, worüber ich mit denen reden sollte. Ja, klar gab es Ausnahmen. Wie zum Beispiel Simon. Simon zählte ich aber auch nie wirklich zum anderen Geschlecht. Ich war mit ihm zusammen aufgewachsen, hatte als kleines Kind mit ihm zusammen nach einer Schlittenfahrt in der Badewanne gesessen und all das.
Aber Lucas konnte man in keiner Weise mit Simon vergleichen.
"Denkst du, dass du auch andere Sprachen verstehen würdest? Japanisch, Französisch?"
Schulterzucken.
"Willst du's mal probieren?"
In Lucas' Stimme schwang schon fast sowas wie Neugier mit, anstatt der ständigen monotonen Langeweile.
Ich sah von meinen Fingernägeln auf und sah dem Jungen vor mir in diese wunderschönen eisblauen Augen.
"Okay", flüsterte ich kaum hörbar.
"Na dann..."
Lucas klappte seinen Laptop wieder auf.
Er tippte ein paar Sekunden, als dann eine mechanische Stimme auf einmal sagte:
"Verstehst du mich?"
Ich zog die Brauen zusammen und starrte verwirrt auf den Laptop auf Lucas' Schoß.
"Google Übersetzer. Japanisch", erklärte er.
Er tippte noch einmal und wieder sprach die Stimme:
"Wie heißt du?"
"Immer noch Japanisch. Und, hast du's verstanden?", wollte Lucas neugierig wissen.
Ich nickte.
"Kannst du auch sprechen?"
Wieder nickte ich.
"Und warum sprichst du dann nicht, anstatt immer nur zu nicken?"
Es war komisch sich mit einer Computerstimme zu unterhalten.
Ein Schulterzucken.
"Sprichst du mit Drake?"
Kurz musste ich überlegen, wer Drake war, bevor mir einfiel, dass die Stimme damit Greenwood meinte.
Ein kurzes Nicken.
"Und warum dann nicht auch mit Lucas?"
"Ich habe in's Latein gewechselt", bemerkte dieser.
Mit einem Schulterzucken antwortete ich auf Googles Frage.
"Wie alt bist du?"
Mit den Fingern gab ich 15 an.
Da meldete sich Lucas wieder zu Wort:
"Also für 'ne 15jährige bist du echt zu dürr. Hast du Hunger?"
Ich zuckte bei seinen Worten zusammen, als hätte er mich geschlagen.
Ohne auf mich zu achten klappte er den Laptop zu und stellte ihn ab. Dann lief er schnell in die Küche und riss (den Geräuschen nach zu urteilen) Verpackungen auf und schaltete kurz darauf die Mikrowelle ein.
Vor mir stand nun Lucas' Laptop.
Sollte ich...?
Ich warf einen Blick in die Küche, wo Lucas damit beschäftigt war aufzuräumen und den Geschirrspüler vollzuräumen.
Kurzerhand entschloss ich mich also. Vorsichtig hob ich den Laptop auf meinen Schoß und klappte ihn auf. Der Browser war immer noch offen und damit auch der Übersetzer.
Ich öffnete einen neuen Tab. Einen klitzekleinen Moment zögerte ich.
Unter Lucas' Favoriten war natürlich auch Facebook aufgelistet. Mit einem Klick öffnete ich die Seite und gab E-Mail-Adresse und Passwort ein.
Selbst Facebook hatte sich verändert...
Ohne groß nachzudenken klickte ich sofort auf das Profil meiner Mutter, Tatjana Barku. Auf dem Titelbild war sie mit Ole Arm in Arm zu sehen. Ich hatte mir schon gedacht, dass er es war, den sie heiraten würde. Ihr letzter Status lautete:
Gehen jetzt zum Arzt wegen der Ultraschallbilder.
Bin ja so aufgeregt ^.^
Wie es aussah hatte sie es gut verkraftet, dass ihre Tochter weg war. Baby, Mann und vermutlich auch neue Wohnung. Ihr ging es scheinbar nie besser. Wie betäubt starrte ich auf den Bildschirm.
Dududd!
Ein Geräusch machte mich auf den blinkenden, kleinen Kasten in der unteren rechten Ecke aufmerksam, den Chat. Miriam Weber, stand darauf.
Ich konnte nicht widerstehen und klickte drauf, um zu sehen was sie geschrieben hatte.
Nat?
Bist du Natalie oder 'n Hacker?
Ohne auf ihre Nachricht zu antworten klickte ich auf ihr Profil. Auch sie hatte sich verändert. Ihre braunen Haare hatte sie im kurzen Franzenlook geschnitten durch ihre rechte Augenbraue war ein kleines Piercing gestochen. Aber ihre Augen waren immer noch genauso waldgrün wie früher und ihre Haut hatte auch noch ihre natürliche Blässe, die sie wie eine Porzelanpuppe aussehen ließ.
Das Klingeln der Mikrowelle ließ mich zusammenzucken und als ich Lucas' Schritte hörte, klappte ich den Laptop blitzschnell wieder zu und stellte ihn zurück auf den Tisch.
"Fertig", sagte er zufrieden und stellte zwei aufgewärmte Tiefkühlpizzen vor mir ab. Beide mit viel Fleisch und Käse.
Aber ich achtete darauf kaum. Mein Blick haftete an dem kleinen, schwarzen Ding auf dem Tisch, das mir gerade so viel offenbart hatte.
"Also", grinste Lucas, "ich werde jetzt die Zeit stoppen, in der du diese zwei Pizzen verdrückst. Schummeln gilt nicht, ich durchsuche später die Mülleimer und wenn ich da auch nur ein Stück Pizza finde, wirst du nochmal vier essen müssen."
Keine Reaktion, nicht mal eine Bewegung. Die ganze Zeit über starrte ich auf den Laptop.
"Na komm schon, Freak. Ess-en, ess-en, ess-en!"
An einem anderen Tag hätte ich vermutlich gelächelt und angefangen zu essen, aber heute bemerkte ich nicht mal Lucas' untypische Bemühungen.
Stattdessen stand ich abrupt auf drehte mich um und ging. Im gehen sagte ich noch ein letztes Wort zu Lucas:
"Natalie."
Ich saß auf meinem Bett und starrte ins Nichts. Meine Mutter hatte sich damit abgefunden, dass ich weg war. Miriam schien auch einfach weiterzuleben.
Nur ich saß hier fest. Ohne es zu wollen stellte ich mir die verhassteste aller Fragen:
Warum ich?
Gott, es war einfach nicht fair, verdammt! Konnte nicht jemand anders mit diesen Dingern auf dem Rücken aufwachen?
Warum, warum, warum?!
Ich war immer normal bis zu jenem Tag. Kein komisches Kribbeln, wie in Filmen oder Büchern, das mir verraten hätte, dass ich anders war. Weil ich eben nie anders gewesen bin! Ich war normal
. Ein bisschen Schulstress, manchmal ein kleiner Streit mit der Mutter und eine beste Freundin. Was war denn bei mir nur so besonders, dass ich diese Flügel bekommen musste?
Na klar war ich nicht der beste Mensch auf Erden gewesen, aber es gab auch schlechtere.
Es war einfach nicht fair...
Ich hatte wohl etwas länger geschlafen, denn als ich aufwachte und aus dem Fenster sah war es draußen schon dunkel. Das Licht des Mondes schien silbern in mein Zimmer ließ alles auf seltsame Weise verzaubert aussehen. Minuten, vielleicht aber auch Stunden sah ich auf den Boden, wo sich eine silberne Lache aus Mondlicht sammelte.
Schritte. Es klapperte vor meiner Tür und dann wieder sich entfernende Schritte. Wiederwillig und gleichzeitig getrieben von Neugier schritt ich zur Tür und öffnete sie.
Als ich sah, was da vor meinen Füßen stand konnte ich mir ein Zucken der Mundwinkel nicht verkneifen.
Vier dampfende Tiefkühlpizzen.
Und für einen kurzen Moment tat es mir in der Brust nicht mehr ganz so weh.
Ich saß in meinem alten Quietschsessel in unserem Wohnzimmer. Ole saß mir gegenüber und starrte auf den Fernseher. Gerade lief unsere Lieblingssendung (Dr. House) und meine Mutter bereitete in der Küche noch ein paar Snacks zu.
Ole kam in letzter Zeit immer öfter zu Besuch und das freute meine Mutter und mich natürlich. Es war vielleicht bei vielen Frauen nur ein Vorurteil, aber meine Mutter hatte wirklich keine Ahnung, wie man auch nur eine Glühbirne austauscht. Für sowas hatte sie den sexy Nachbarn von neben an, wie ich immer sagte um sie aufzuziehen.
Miri würde heute Abend noch vorbeikommen und dann wollten wir unsere SUPERNATURAL-Seriennacht starten. Ich mochte diese Serie nicht wirklich, Miriam war die, die das Übernatürliche liebte und gleichzeitig davor zurückschreckte. Sie hatte sogar eines dieser komischen Bretter, mit denen man angeblich Kontakt zu Geistern aufnehmen konnte. Auch wenn es in den Horrorfilmen klappte, muss ich leider sagen, dass mit uns noch kein Geist sprechen wollte.
Und wer denkt, dass sei nur eine Phase bei Miriam gewesen, der täuscht sich. Es fing bei ihr mit Hexe Lilli an und ging heute noch mit den Wahrsagerinnen aus dem Fernsehen weiter. Auch wenn sie mir geschworen hatte, dort noch nie angerufen zu haben, so beschwerte sie sich dennoch jeden Monat, dass ihre Handyrechnung mal wieder viel zu hoch war, wo sie doch nur ein paar SMS verschickt hatte.
Ich glaubte jedenfalls nicht an Voodoo, Hexen oder Geister. Und schon gar nicht an Wahrsagerinnen, die im Fernsehen die Karten legten und einem im nächsten Moment einen Staubsauger verkaufen wollten.
"Wollt ihr eure Dips scharf oder mild?", kam es von meiner Mutter aus der Küche.
"Scharf", antworteten Ole und ich gleichzeitig, weshalb wir uns beide kurz angrinsten.
Auch für ihn schien es schon selbstverständlich, dass er ein, zwei mal in der Woche mit uns zusammen zu Abend aß. Und manch mal erwischte ich ihn auch dabei, wie er unsere Wohnung erst am nächsten Morgen verließ. Da grinste er dann nur und schloss leise die Tür.
In der Küche hörte man ein kurzes Scheppern und das Zerbrechen von Glas. Leicht genervt schloss ich kurz die Augen.
"Scheiße!", hörten Ole und ich meine Mutter zischen.
Ich wusste, dass ich die Snacks hätte vorbereiten sollen. Meine Mutter befand sich in der Küche quasi in feindlichem Gebiet. Wahrscheinlich wollte sie Ole heute nur beweisen, dass auch sie kochen konnte – dem war aber eben leider nicht so.
Ole und ich versuchten unser bestes bei den verschiedenen Flüchen und Kraftausdrücken, die meiner Mutter aus dem Mund kamen, nicht zu erröten.
Gerade wollte ich aufstehen um sie zu beruhigen, da klemmte auf einmal der Fernseher und das Bild blieb stehen.
Ein genervtes Stöhnen entwich mir und ich sah zu Ole hinüber. Der starrte immer noch wie gebannt auf den Fernseher, seine Flasche Bier in der Linken.
"Ole?", sprach ich ihn an.
Aber er rührte sich nicht.
"Komm schon, du weißt, dass ich mich mit dem ganzen Tecknikkram nicht auskenn'. Kannst du das wieder in Ordnung bringen?"
Er sah nicht mal in meine Richtung.
Ein kalter Luftzug strich mir über mein Gesicht und ich bekam eine Gänsehaut. Ich stand auf und lief zu Ole rüber.
"Halloho? Winke-winke!"
Ich fuchtelte wie wild mit der Hand vor seinem Gesicht herum, aber er blinzelte nicht mal. Seine faule Einstellung quittierte ich mit einem Schulterzucken und versuchte gleichzeitig das ungute Gefühl in meinem Bauch niederzudrücken.
Da ich nichts mehr von meiner Mutter hörte, entschloss ich mich lieber mal nach ihr zu sehen. Was ich dann in der Küche sah, ließ mich nach Luft schnappen:
Meine Mutter bückte sich gerade nach den Scherben auf dem Boden und auch sie schien dabei wie eingefroren. Nein, es sah nicht nur so aus, sie war tatsächlich in der Bewegung erstarrt. Eine ihrer vielen braunen Locken stand durch den geringen Luftwiderstand beim Bücken noch irrwitziger Weise nach oben ab und ihr Blick war fest und ohne abzuweichen auf den Boden gerichtet. Ihre Hand streckte sich Sekunden lang nach den Scherben aus, ohne auch nur zu zittern.
Es sah gespenstisch aus.
"M-ama?"
Ich stand immer noch im Türrahmen, nicht fähig mich abzuwenden, und starrte sie einfach nur an.
Da bebte auf einmal der Boden unter meinen Füßen. Die Wände zitterten und das ganze Haus schien kurz vor dem Einsturz zu stehen. Ich spürte die Vibration in meinen Füßen, und schmeckte den kupfernen Geschmack meines Blutes. Erst da merkte ich, wie fest ich mir auf die Lippen biss. Putz bröckelte von der Decke und Teller vielen aus dem offenen Küchenschrank.
"Mama!"
Immer wieder kreischte ich ihren Namen, aber sie bewegte sich nicht. Und ich konnte nichts anderes tun, als zuzusehen und mich ängstlich an den Türrahmen zu klammern. Die Fenster zersprangen ohne ersichtlichen Grund , die Glühbirnen zerbarsten und ich schrie und schrie. Die Angst überwältigte mich und plötzlich wurde das Dach weggefegt und ich konnte direkt in den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel sehen. Wind peitschte mir ins Gesicht und nun hielt ich mich nicht mehr aus Angst an dem Türrahmen, sondern weil ich ansonsten davongerissen werden würde.
Die Wände wurden davongerissen und flogen nach oben, genau wie auch unzählige Topfpflanzen, Regale und mein Sessel. Panik überkam mich in Wellen und ich sah zu meiner Mutter.
Sie bewegte sich immer noch nicht, doch ihre Haar peitschte ihr nun wild ins Gesicht. Kurz zitterte sie und schien wie ein Sack umzufallen, doch dann wurde auch sie vom Sturm mitgerissen und flog weg.
"NEIN!"
Tränen der Verzweiflung flossen mir über die Wangen und ließen mich nur noch verschwommen sehen.
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und sah nach oben. Dunkle Schweinsäuglein hießen mich willkommen. Deens ragte übermächtig über dem Himmel auf und ich kam mir vor wie in einem Puppenhaus eingesperrt. Immer noch flogen Gegenstände wild um mich herum, auf dem Weg nach oben. Doch anstatt dem Himmel entgegen, wurde alles in Deens riesigen, offenen Schlund gesogen. Die Tapete löste sich von den Wänden, aber fiel sie nicht herunter, sondern folgte dem Rest meines Zuhauses in Deens weit geöffnetes Mundwerk.
Auch ich konnte dem Sturm nicht ewig standhalten. Meine Füße lösten sich vom Boden und das einzige, das verhinderte, dass ich meiner Mutter und Ole folgte, waren meine Finger, die sich krampfhaft um den Türrahmen schlossen.
Also ergab ich mich meinem Schicksal. Ich kniff meine Augen fest zusammen und... ließ los.
Der Wind nahm mich in seine wilden Ströme auf und schleuderte mich auf dem Weg nach oben wild herum. Aber statt zu schreien und mich zu wehren legte ich einfach die Arme über den Kopf und hoffte, dass es schnell enden würde.
Etwas schlug gegen meinen Kopf und ich spürte wie warme Flüssigkeit aus der Wunde tropfte. Ein letztes Mal öffnete ich die Augen und bemerkte, dass ich tiefes Rot blutete.
"Natalie... Natalie..."
War ich tot?
"Natalie..."
Wo war ich?
"Tochter..."
Mama?
"Öffne deine Augen, geliebte Tochter."
Und ich tat wie geheißen.
Die weiche Stimme, kam von einer Frau. Nicht meine Mutter.
Sie sah aus wie... ein Engel.
Rotes, lockiges Haar, das ihr in einem seidenen Fluss bis zur nackten Hüfte fiel. Makellose Haut, so weiß wie Schnee. Ihre Augen waren von einem warmen Braun und blickten liebevoll zu mir hinunter, die ich auf dem Boden lag. Ihre blutroten Lippen waren zu einem Lächeln geschwungen, das strahlender nicht hätte sein können.
Aber weshalb sie am meisten einem Engel und darum auch mir glich, war wegen der Flügel auf ihrem Rücken. Wunderschöne, weiße Schwingen, die ihr schon fast bis zu den Füßen reichten.
Ich musste diese Frau nur ansehen und schon fühlte ich mich geborgen und aufgehoben.
Um uns herum war nichts als Schwärze, sodass sie in meinen Augen die rettende Insel aus Licht und Hoffnung war.
Auch meine Flügel waren wieder da und in diesem Moment hasste ich sie kein bisschen. Ich wollte sie nie wieder hergeben.
Wie die Frau vor mir war ich ebenfalls nackt. Aber daran war nichts schmutziges. Es war als wäre ich ein kleines Kind, das mit seiner Mutter beisammen war – was sollte daran schmutzig sein, ob bekleidet oder nicht?
Sie schien zu schweben, meine Mutter, der Engel vor mir.
"Oh, wie lange suchte ich nach dir, meine Tochter", sprach sie mit seidig weicher Stimme zu mir.
Ich konnte nicht sprechen, viel zu sehr raubte mir ihre Anwesenheit den Atem.
"Tochter, vergiss wer du warst und sei was du bist. Verbanne den Schmerz an alte Zeiten und heiße mich willkommen. Denn von nun an bin ich deine liebende Mutter. Und sei dir sicher, eine Mutter schützt ihr Kind. Lieben werde ich dich, bis an's Ende der Zeit und schützen will ich dich gegen Schatten die hinterlistig in den dunklen Ecken lauern. Immer werde ich bei dir sein und dir schützende Hand sein.
Dafür verlange ich nur dies eine von dir:
Sei meine Tochter und lebe für mich."
Ihre Wärme überkam mich. Überwältigt schloss ich die Augen. Es war als würde man nach sechs Monaten Kälte plötzlich einen Strahl Sonne auf der Haut spüren. Darin baden wollte ich und dieses Gefühl, diesen einzelnen Sonnenstrahl, für immer behalten.
"Mutter."
Texte: Maria B.
Bildmaterialien: beautifuul
Lektorat: lestat.ch
Übersetzung: /
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2012
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