Cover

- Ein schlechter Mensch? -




Schon wieder Frühling. Schrecklicher Gedanke. Wieder war das erste Quartal vorüber und mit jedem weiteren würde sich ihre Qual verschlimmern, die Schar ihrer Gegner vergrößern, doch zu allem – das war am bedrückendsten - die gefürchtete Vergreisung unbarmherzig fortschreiten. Oder wie soll man ein Leben jenseits der Fünfzig bezeichnen? War das überhaupt noch ein Leben? Bald würde sie zu einer alten Frau verkommen, die mit Mühe ihre Fältchen kaschierte. Ihre lebensfrohe Art würde einem zunehmenden Zynismus weichen und ihr Gebaren die beginnende Unsicherheit eines senilen Greises verraten. Großer Gott, was hat ein solcher Mensch vom Leben noch zu erwarten?
Freilich ist das der Lauf der Dinge, wird man einwenden, und es wäre ihr bestimmt leichter gefallen, hätte sie nicht so viel durchlitten, um endlich dort zu stehen, wo sie jetzt stand, dass heißt, jene Franka Meyer zu werden, deren resolutes Wesen man allseits respektiert, hofiert, delegiert, protegiert, vor allen aber fürchtet und das, je mehr sie alle Widersacher niederrang. Niemand würde ihre Autorität anzweifeln, nur weil sie sich überall auf ihren Vorteil verstand. In einem unfairen Kampf erfüllt von Diskriminierung und Entwürdigung, der ihr fortwährend aufgezwungen wurde, war so etwas nur legitim. Schon lange neidete man ihr den Erfolg, vor allem die vielfältigen Kontakte, die sich im Rahmen ihrer Eigenschaft als Abgeordnete für internationale Beziehungen ergaben. Warum sonst der Argwohn und die boshaften Unterstellungen, nur weil ein Professor nach dem jüngsten Symposium ihren Aufsatz über die Erfahrungen der Konfliktbewältigung im Zuge der Persönlichkeitsentwicklung als ‚sehr couragiert’ bezeichnete? Anstatt sie zu würdigen, wie es nur folgerichtig gewesen wäre, galt sie fortan als überhoben und versnobt, und warum? - weil sie ihre Mund genau dort aufmachte, wo es am wenigsten vertragen wurde. Zugegeben zählten Zurückhaltung und Diplomatie noch nie zu ihren Stärken, was ihr oftmals Kritik, beinahe Krieg, manchmal sogar Gewissensnöte einbrachte, doch war sie deshalb schlecht?
So ist das also, dachte sie, wenn sie wieder einmal über alles nachdachte, und das geschah in letzter Zeit recht oft. Da bemüht man sich und will nur das Beste, muss aber erleben, dass es gar nicht gewollt wird. Selbst leidenschaftliche Vernunftappelle verhallen ungehört, als wolle man mit Macht unvernünftig bleiben. Wer soll das verstehen?
Möglicherweise beschleunigte das jenen Kräfteschwund, der ihre Wehrhaftigkeit herabsetzte und dessen Ursache sie allein dem Fünfzigsten zuschrieb. Aber wer schon kann solche Qualen ermessen? Folglich sucht die gepeinigte Seele nach einem Halt, selbst um den Preis des eigenen Abstiegs. Nur wohin - zur Normalität, zur Durchschnittlichkeit? Niemand war normaler und durchschnittlicher, und hätte jemand ernsthaft daran gezweifelt, sie hätte ihn öffentlich zerfleischt. Darauf verstand sie sich. Nicht weil es ihr Spaß machte, sondern weil es nötig war, was sie zwar ärgerte, doch niemals bedauerte. Eher trat sie noch einmal nach, als schwele eine dumpfe, sinnlose Wut in ihr, die sie in einer Spannung hielt, die nicht immer angenehm war, sie selbst jedoch – und das wusste kaum jemand - am meisten quälte. Aber warum?
Anfangs hielt sie das für vorübergehend, als Folge ihres Kampfes, der sie roh und blind gemacht hatte. Doch schon bald verfestigte sich dieser Zustand derart, dass er ihr den Nachtschlaf raubte. Am Ende konnte sie gar nicht mehr anders denken als in Winkelzügen und begann sich selber zu misstrauen. Der Arzt wusste keinen Rat, meinte, das sei typisch für Menschen in extremen Spannungszuständen und empfahl Ruhe und längere Spaziergänge; auch ein gutes Buch könnte nicht schaden. Wer wollte ihr also ihre häufigen Fehlzeiten und die dienstliche Zurückhaltung verdenken? Schließlich handelte es sich um keine Laune, sondern unverschuldete Notwendigkeit. Zum Glück verstanden es alle, und es gab keinen Grund zu weiterem Ärger.
Dennoch wurde sie zunehmend sensibler, reizbarer und neigte sogar zu hysterischen Anfällen, vornehmlich wenn sie wieder einmal irgendetwas ärgerte. Besonders in Talkrunden, zu denen sie regelmäßig gastierte, spielte sie ihre ganze Verschlagenheit aus. Dabei brachte sie jeden Angreifer schnell in Verlegenheit, sobald sie ihr Taschentuch umkrampfte und schluchzend mit den Tränen rang. Sinnlos jeder Versuch eines Widerspruchs, zumal sie mit der Wirkung einer tief in ihrer Würde gekränkten Frau an elementarste Empfindungen rührte.
O ja, aufs Kämpfen verstand sie sich, sensibilisierte ihren Instinkt selbst für die kleinsten Defizite und ließ nicht locker, bevor sie nicht eingestanden waren. Andererseits konnte sie aber auch liebeswürdig, zuweilen sogar rührselig werden und eine Opferbereitschaft an den Tag legen, die schon an Narrheit grenzte, sobald ihr jemand sympathisch war. Dann gab sie sich sogar bis zu einem gewissen Grade tolerant. Sogar etwas Kritik war dann erlaubt, allerdings nur, so lange sie nicht spüren musste, dass sie anders war. Und anders war sie schon immer, das wusste, oder genauer fühlte sie, wenn auch nur ungern.
Aber was hieß das schon? War nicht jeder irgendwie anders,

und hatte man nicht sogar ein Recht darauf? Niemals würde sie jemanden wegen seiner Eigenarten verurteilen. Dafür war sie viel zu 'large-minded', wie sie es zu nennen pflegte, vornehmlich in Gegenwart höher gestellter Persönlichkeiten, deren Nähe sie gern suchte.
„Eine starke Frau“, urteilten die einen, „verschrobener Querulant“ die anderen. Doch wer wusste schon genaueres über diese rätselhafte Femme fatale, die vielen ein Dorn im Auge, anderen eine Ulknummer, den meisten jedoch ein Rätsel blieb? Einen solchen Menschen zum Freund zu haben, hätte entschieden von Vorteil sein können, wären nicht jene Unannehmlichkeiten, die sich allein schon beim Nennen ihres Namens einstellten und somit eine gewisse Bereitschaft voraussetzten, die damit verbundenen Schwierigkeiten zu tolerieren. Nur, was war es, was sie so vor aller Welt eliminierte, oder genauer, kristallisierte? An ihrem Äußeren mochte es kaum gelegen haben, denn sie war eine durchaus attraktive Dame, welche ihrer Fraulichkeit durch eine stets modische Erscheinung die nötige Betonung verlieh. So glich sie mit ihrer dunklen Löwenmähne, den blitzenden Augen und den üppigen Brüsten eher einer strahlenden Diva, denn streitbarer Amazone, und wäre ihr femininer Touch nicht durch ihre breiten Schulter und die für eine Frau etwas zu knochige Gestalt gemildert worden, sie hätte sich vor Avancen kaum retten können. Auch sah man es gern, wenn sie sich mit verschränkten Beinen auf einem Sessel räkelte und durch den seitlichen Rockschlitz den weißen, unendlich langen Schenkel sehen ließ. Die Wange in die schlanke Hand gelegt, folgte sie mit süffisantem Lächeln den gegnerischen Anfeindungen, jederzeit bereit, selbst die ausgebufftesten Attacken auszukontern. Und doch war auch etwas Unklares, Unstimmiges in ihrem Wesen, das nicht näher zu bestimmen war; etwas, worum sie wusste und fürchtete, weil es ihren Spöttern Nahrung bot und schnell zu Vorurteilen führte, doch was abzustellen ihr unmöglich war.
Hinzu kam, dass sie natürlich nicht frei von einer gewissen Manieriertheit blieb, was insbesondere dann zum Tragen kam, wenn ihr schwermütiger, vereinsamter Verstand vorschnell urteilte. Zwar bedauerte sie das jedes Mal, brachte jedoch nie den Mut zur Selbstkritik auf. Vielmehr pflegte sie ihre Unsicherheit mit betonter Forschheit zu überspielen, was einem Außenstehenden schnell den Eindruck einer leichtfertigen Person vermittelte, welche sich kaum Gedanken um die Folgen ihres Handelns macht. Aber auch das täuschte. Denn obgleich sie sich bisweilen recht frei und ungezwungen gab, erkannte man doch bald eine tiefe Sensibilität, welche ihrer im Lauf der Jahre entstandenen Laxheit zuwiderlief. Doch selbst wenn sie auch die Blicke auf sich zog, hatte sie doch niemals einen Verehrer. Möglicherweise lag das an ihrer Unduldsamkeit gegenüber fremder Dominanz – einer typisch männlichen Eigenschaft. Vor allem aber war sie überzeugt, dass kein Mann einer Frau würdig sei, was zu betonen sie niemals müde wurde. Folglich attackierte sie gerade Männer am häufigsten, selbst wenn sie ihnen nicht abgeneigt gegenüber stand, ja bisweilen sogar vor ihnen kokettierte. Doch gerade das führte zu neuerlichen Anfeindungen.

- Ein falscher Fuffziger -



Da ist zum Beispiel Fischöder, ein adipöser Kollege mit eisgrauem Haar, hängendem Doppelkinn und der verkniffenen Miene eines dispensierten Beamten. Als Mensch fand sie ihn nicht sonderlich interessant (als Mann schon gar nicht), hielt ihn anfangs sogar für degeneriert und zeigte sich geneigt, gelegentlich Spott mit ihm zu treiben. Aufgrund eines Sprachfehlers und seiner plumpen Gestalt eignete er sich ihrer Meinung nach hervorragend dafür. Doch als sie mal in ihrem Übermut ganz offen einen albernen, kaum nennenswerten Vergleich zu seiner Leibesfülle anstellte (wie kam sie nur auf gemästeten Truthahn?) - freilich nur im Scherz - nahm er ihr das übel. Dabei stellte sich zu ihrer Verwunderung heraus, dass er gar nicht so unbedarft war und sogar recht bissig werden konnte. Zwar bemühte sie sich sofort um Schadensbegrenzung, doch die gesamte Belegschaft empörte sich, weil man offenbar keinen Spaß verstand. Kein Wunder, dass sich schon bald eine latente Spannung aufbaute, welche ihr auf Schritt und Tritt entgegenschlug und zur Vergiftung des Arbeitsklimas führte. Dabei hatte sie wiederholt für eine Klärung vor der Behördenleitung plädiert, bot sogar eine Stellungnahme im Kurier an, zu dessen Chefredakteur sie gute Kontakte unterhielt. Dieser hatte auf ihr Betreiben schon so manches aufgedeckt, was den Leuten in der Führungsetage nicht schmeckte. Doch dieses Mal blieb ihr Bemühen vergebens.
Zugegeben war es im Vorfeld zu kleineren Verstimmungen gekommen, weil sie sich entgegen der Absprache in ihrer Ratlosigkeit an die Frauenvertretung gewandt hatte. Dieser hatte wiederum den Personalrat kontaktiert, welcher seinerseits eine entsprechende Untersuchung veranlasste. Bloß wie ihm beikommen, wenn nicht durch öffentlichen Druck? Sperrte er sich doch gegen jedes vernünftige Gespräch, ja hörte nicht einmal zu. Und als sie ihn einmal am Arm zog, um seine Aufmerksamkeit zu erzwingen, endete das in einem Eklat. Von wegen Penetranz. Das war ja wohl das Letzte. Selbst Tage danach konnte sie nicht richtig schlafen und geriet mit jedem sofort in Streit, der sie nur schief ansah. Die Folgen waren verheerend. Man begann sie zu meiden und - noch schlimmer - man bemerkte sie überhaupt nicht mehr. So schlimm war es, dass sie in ihrer Verzweiflung sogar von sich aus die Gespräche suchte, ohne jedoch auf Entgegenkommen zu stoßen. Dabei hatte sie erst vor kurzem um Verständnis für ihre Lage geworben, indem sie ihre Ansichten vom Recht auf eigene Lebensgestaltung in Form eines öffentlichen Skript jedermann zugänglich machte und damit innerhalb der Behörde für reichlich Wirbel sorgte.
Aber war das ihr Problem? Schließlich geschah das nicht aus Renommiersucht, sondern weil es nötig war. Außerdem, wie konnte es falsch sein, etwas auszusprechen, nur weil man es nicht hören wollte? Allenfalls unnötig, wird man einwenden, denn was gingen andere ihre Probleme an. Die nachfolgende Kontroverse bewies jedoch das Gegenteil. Das sie damit die Schar ihrer Gegner nicht unbedingt verringerte, stand zu befürchten, sie jedoch deshalb gleich auszugrenzen, ging nun doch zu weit. Hatte man eine Vorstellung, welche Überwindung so etwas kostete? Nur wie wäre ein allgemeines Verständnis erreichen, wenn nicht durch schonungslose Offenheit? Doch statt Anteilnahme, folgten dümmliche Spötteleien, die einmal mehr den allgemeinen Unverstand bewiesen.
Was war geschehen? Aber gerade hier lag das Problem. Nichts - obwohl längst hätte etwas geschehen müssen, und ausgerechnet diesen Hinweis machte man ihr zum Vorwurf. Sie würde zu weit gehen, hieß es, und die Kollegen mit Dingen belasten, die keinerlei dienstliche Relevanz besäßen. ’Ihr ganzes Problem’, wie man es abfällig nannte, wäre aus moralischer Sicht mit der Integrität eines Behördenmitarbeiters unvereinbar und ihr ’Pamphlet’ - diese 90 Seiten! – eher ein Fall für den Psychiater. Mit diesen Worten knallte man es ihr vor die Füße.
Doch welche Integrität, welche Moral? Allein die Vorhalte beweisen Heuchelei, wenn man bedenkt, unter welchen Mauscheleien man sich in den oberen Rängen die Stellen zuschob. Oh nein, dafür wusste sie zu viel, und ihren wissenschaftlichen Bericht über ihre persönlichen Erfahrungen im Kampf um die Gleichberichtigung von Minderheiten als Pamphlet zu bezeichnen, würde ohnehin noch Folgen haben. Nachdem sie aber in der nachfolgenden Revision ihre Argumente ganz unverhohlen darzulegen begann und das, wie sie fand, nicht mal schlecht, folgte eisiges Schweigen. Das war natürlich unfair, weil es so zu keiner Klärung kam. Was blieb ihr, als die nächst höhere Instanz.
Herr G. ihr übergeordneter Bereichsleiter und Träger des Bundesverdienstkreuzes zweiter Klasse, war ein guter Freund des Herrn F., welchen sie wiederum an einem der letzten Ballabende kennen lernte und der sich, nachdem sie ihm ihre ganze hoffnungslose Situation dargelegt, tief erschüttert zeigte. Selbst dessen Frau, eine durchaus sympathische, wenn auch etwas füllige Mittfünfzigerin, konstatierte tief betroffen: „Ja, ist denn das die Möglichkeit? Herbert, dagegen musst du etwas unternehmen.“
Das pulverte sie nur noch weiter auf. Bereits am nächsten Tag wurde sie bei ‘Herbert‘ vorstellig. Er brachte ihr auch vollstes Verständnis entgegen und zeigte sich empört und besorgt zugleich, letzteres vor allem über ihren Zustand, welchen zu verbergen ihr noch länger unmöglich war. Wiederholt forderte er sie auf, sich zu beruhigen, nannte sich untröstlich und versprach eine rasche Klärung, vor allem, nachdem sie während ihrer emotionalen Schilderung einer Ohnmacht nahe war.
Doch es kam alles nur noch ärger. Weitere Kollegen solidarisierten sich mit ‘ihrem Fischi’, was darin gipfelte, dass man dreiste Lügengeschichten über sie erfand, wonach sie Schuld an allem trüge. F. war gezwungen, den Dingen nachzugehen und überall unangenehme Fragen zu stellen. Aber selbst wenn die erhobenen Behauptungen völlig haltlos und allein dümmlichen Vorurteilen geschuldet blieben, stand am Ende ihre Versetzung in einen anderen Bereich, aus ’rein taktischen Gründen’, wie F. augenzwinkernd hinzu setzte. Das dürfe sie um Gottes Willen nicht missverstehen, versicherte er; vielmehr müsse sie erkennen, dass mancher Schritt voran zunächst einen zurück erfordere.
Das stank doch zu Himmel, denn als es öffentlich wurde und endlich Farbe zu bekennen war, verlor er sich in vielen schönen Reden, die anzuhören zwar ganz tröstlich waren, doch den Kern der Sache niemals trafen. Mit keinem Wort erwähnte er die begangenen Frechheiten, mit keiner Silbe das wirkliche Problem. Und als er dann noch Floskeln wie ’schwierig’ und ‘zerfahren‘ anführte und von einer ‘gütlichen Einigung‘ die Rede war, wurde klar, wohin das ganze lief. Fischöder schwieg genüsslich und der nachfolgende Applaus gab ihr den Rest. Ihr letzter Glaube an Gerechtigkeit war zerstört.
Aber auch wenn sie ihre Enttäuschung zu verbergen wusste und sogar noch zynisch lächelte, schwelte doch eine tiefe Glut in ihrem Herzen. Letztlich blieb ihr nichts, als das Handtuch zu werfen und diesem Fischöder im Hinausgehen noch ein schnödes „falscher Fuffziger!“ zuzuwerfen. Doch kaum zu Hause, warf sie sich aufs Bett, presste das Gesichts ins Kissen und wünschte, auf der Stelle zu ersticken.

Impressum

Texte: Die Geschichte eines Menschen, der im falschen Körper geboren ist und dennoch mit Macht sein Lebens- und Liebesglück zu erzwingen sucht. die ersten beiden Kapitel
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /