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Unabdingbare Besonnenheiten




Statt Erleichterung befiel mich bei meiner Ankunft eine unbestimmte, beinahe schmerzhafte Schwermut, die ich mir partout nicht erklären konnte. Hatte ich mir doch meine Empfehlung

dorthin – und das sage ich ohne jede Ironie – durchaus redlich erworben. Damit meine ich weniger meine Uneigennützigkeit in dienstlichen Belangen bzw. mein Engagement im Amt, wobei mir übrigens mein Mentor, Oberleutnant Grünfeld, beratend zur Seite stand. Selbst noch jung an Jahren, muteten seine väterlichen Ratschläge zwar manchmal etwas albern an, waren aber immer fundiert. Vielmehr hatten die damit verbundenen Erwartungen etwas Verpflichtendes, was sich in unangenehmen Zwängen äußerte, denen zu entsprechen nicht immer einfach war. Mehr als einmal sah ich mich deshalb zu Dingen genötigt, die ich unter anderen Umständen sicherlich vermieden hätte.
So gesehen wurde ich von Anfang an Opfer gewisser Faktoren, die mich in meiner Entscheidungsfreiheit, teils aus falsch verstandener Kollegialität, teils aus Scham, merklich beeinflussten. Dabei will ich nicht verhehlen, dass jeder Erfolg neben Selbstvertrauen auch Kompromissfähigkeit erfordert, freilich dosiert,

will man keine Gewissennöte riskieren. Aber gerade in dieser Frage habe ich mir nichts vorzuwerfen, ausgenommen dem Umstand, in der Wahl meiner Mittel, verglichen an anderen, stets unter dem Möglichen geblieben zu sein. Vor diesem Hintergrund wird sicher deutlich, weshalb es für mich sehr ernüchtern war, plötzlich in eine Situation zu kommen, in welcher mein zuvor mühsam erworbener Bonus von heute auf morgen wegbrach. Nicht das ich mir etwas darauf einbildete, aber ich finde diesen Umstand schon erwähnenswert.
Übrigens hatte die Trennung von meiner Freundin damit absolut nichts zu tun, auch wenn es vielleicht aufgrund der zeitlichen Überschneidung so scheinen mag. Ich kann nur versichern, dass ich mich niemals habe beirren lassen. Auch das sage ich, weil man mir einige im Vorfeld gemachte Andeutungen hinsichtlich dieser, wie es hieß ‘unvorteilhaften Verbindung’, später in einem anderen Zusammenhang zum Vorwurf machte. Für mich war das kein Thema. Denn wenn man bedenkt, dass ich ihren politischen Unverstand ebenso tolerierte wie ihre notorische Unzugänglichkeit zu diesen Dingen, dürfte das meinen Langmut genug beweisen.
Später fragte ich mich, wie ich das überhaupt konnte, ganz zu schweigen von ihrem kleinkarierten Elternhaus. Dem Vater, eine gescheiterte Existenz mit kümmerlichem Einkommen, mangelte es an abstraktem Vorstellungsvermögen; die Mutter, eine geltungssüchtige Frau mit durchaus scharfem, aber einseitigem Verstand, verweigerte sich ebenfalls allem Positiven, selbst wenn man es ihr noch so deutlich antrug. Mit solchen Leuten kann man einfach nicht diskutieren, ihre Meinung wird von Oberflächlichkeiten diktiert. In ’höheren Kategorien’ zu denken ist ihnen unmöglich. Folglich mochten sie mich nicht, und das nicht nur wegen meiner fortschrittlichen Gesinnung.
Aber das war für unser Scheitern nicht ursächlich. Vielmehr glaube ich, dass wir uns mehr hassten als liebten, nur unseren Hass aufgrund unserer Naivität für Liebe hielten. So etwas kommt vor, wenn man einander zu sehr ähnelt. Das meinte auch Grünfeld. Tatsache war, dass wir einander immer mehr entfernten, da wir im Grunde noch nie zueinander gefunden hatten; schon deshalb nicht, weil wir in einer, wenn ich es mal so nennen darf, permanenten Konkurrenz zueinander standen, die niemand dauerhaft neben sich duldet.
Nicht das ich meine Entscheidung bereute. Im Gegenteil, hatte ich doch endlich meine Freiheit zurück, leider aber auch meine Einsamkeit. Und diese empfand ich niemals bedrückender, als in jenem Moment, da sich das Tor hinter mir schloss. Alles wirkte plötzlich so trist und grau, als gäbe es nur diese eine Farbe. Hinzu kam, dass ich bereits im Zug von einem künftigen Mitkommilitonen (einem Obermeister, der mir durch sein rüpelhaftes Auftreten bereits aufgefallen war) in ziemlich unflätiger Weise angepöbelt wurde. Offenbar nicht mehr ganz nüchtern, blieb er im Gang neben mir stehen, verzog das Gesicht und bemerkte despektierlich: „Oho, schon das Verdienstabzeichen“. Die nachfolgende Lachsalve sorgte für den Rest. Es erübrigt sich, dass ich darauf nicht reagierte. Doch auch wenn dieser Zwischenfall völlig harmlos, im Grunde lächerlich war, berührte er mich überaus unangenehm.
Das war nicht nur abgeschmackt, sondern geradezu unverschämt. War es etwa verboten, seine Auszeichnungen zu zeigen? Plötzlich fühlte ich mich auch von den anderen begafft. Was denn? Schaute ich ihnen auf die Bluse und sagte: ‚Oho’? Das interessierte mich nicht, und ich konnte nicht verstehen, was es da zu lachen gab. Hätte er gesagt: ‚Ah, das Verdienstabzeichen’, wären wir ins sicher Gespräch gekommen, aber so? Am Ende wusste ich nicht, warum ich mich so erregte. Es endete damit, dass ich meine Interimsspange abnahm und in die Tasche steckte. Ich tat das mit dem bitteren Trotz eines in seiner Würde gekränkten Menschen, der sich nicht um die Folgen schert, auch wenn das den eigenen Schmerz nur noch verschlimmert.
Selbstverständlich war das dumm, wie sich bald herausstellen sollte, denn kaum im Objekt, wo wir uns in langer Reihe aufzustellen hatten, bemerkte ich diesen Frechling unweit neben mir. Und wie groß mein Erstaunen, nun ausgerechnet bei ihm genau die gleiche Spange zu entdecken. Jetzt aber war er wie verwandelt. Sein schlaksiges Benehmen war einer tadellosen Haltung gewichen und er wirkte überaus servil. Der Grund war schnell ausgemacht. Es näherte sich ein Offizier in Stiefelhose mit eingearbeitetem Lederschritt. Würdevoll stolzierte er an uns vorbei und laberte dabei in markigen Worten etwas von Disziplin, Gehorsam und Pflichterfüllung. Dabei beargwöhnte er uns mit strenger Miene und ergötzte sich an unserem Anblick, gleichsam erfreut, uns maßregeln zu können.
Irgendwann blieb er vor dem Obermeister stehen, an dessen stolzgeschwollener Brust die Spange prangte. Das machte Effekt. Doch anstelle des erwarteten Respekts, nahm seine Miene einen abschätzigen Ausdruck an. Und als er auch noch in einem Tonfall, der die Antwort soufflierte, fragte, ob er die überhaupt verdiene, begann ich innerlich zu triumphieren. Warum er sich dann allerdings mir zuwandte, blieb unklar. Unnötigerweise wiederholte er seine eben gemachten Ausführungen, nur prononcierter, worauf nunmehr der Obermeister ins Grinsen kam.
Währendessen stierte mich der Offizier an, nur darauf aus, mich bei irgendetwas zu ertappen. Wie hinterhältig, gerade in jeden Moment von hinten ein geflüstertes „Lederarsch“ zu hören. Man stelle sich vor, - ein solcher Hornochse, dazu diese albernen Hosen und dann noch diese Bemerkung. Ich kämpfte mit mir, konnte aber ein gelegentliches Zucken meiner Mundwinkeln nicht verhindern.
Das schien ihn nur noch weiter aufzubringen, denn anstatt den Spötter ausfindig zu machen, verlangte er meinen Namen. Das verstand ich zwar nicht, nannte ihn aber. Als er ihn jedoch notierte, ging mir das zu weit. Ich protestierte, oder besser, äußerte höflich mein Unverständnis, kam jedoch nicht weit, denn augenblicklich brüllte er mich nieder. Ich war völlig verstört. Und obgleich ich ihm keinerlei Anlass bot, echauffierte er sich nur noch mehr. Da erkannte ich die Sinnlosigkeit weiteren Aufbegehrens und tat das einzig Richtige - ich hielt meinen Mund.
Glücklicherweise begannen jetzt einige zu schmunzeln, was mich sofort aus der Schusslinie nahm. So war ich geradezu erleichtert, als er meinem Nebenmann wegen dessen faltiger Bluse anranzte. Und als er seinen Namen ebenfalls notierte und die nötige Auswertung versprach, fühlte ich mich fast schon wieder rehabilitiert. An einem anderen kritisierte er die schlechte Haltung, monierte sogar dessen schiefe Schulter, schien jedoch etwas irritiert, nachdem ihn jemand darauf hinwies, dass der Betreffende situationsbedingt auf einer Unebenheit stünde. Ohne weiter drüber zu befinden, grummelte er etwas von ’Sauhaufen’ und ’Anbraten’ und knöpfte sich den nächsten vor. Dabei handelte es ich um einen gewissen K.- Dorf, mit dem ich in nächster Zeit noch ein Zimmer teilen sollte. Zu allem Ärger trug er einen Oberlippenbart und besaß auch noch die Kühnheit, dies zu verteidigen. Kreidebleich musste Lederarsch mitanhören, wie sich dieser Kerl erdreistete, auf eine Weisung des Ministers zu verweisen, die selbiges gestattete. Die nachfolgende Standpauke hallte über den ganzen Appellplatz.
Ich verstand das nicht, denn auch ich hatte von dieser Weisung schon gehört, hütete mich aber vor Beistand. In diesem Moment machte ich eine erstaunliche Feststellung. Anstatt Empörung, empfand ich so etwas wie Erleichterung, fast Genugtuung, weil es ein Gefühl von Gleichheit vermittelte. Und obwohl es nichts am Unrecht änderte, relativierte es sich alleine dadurch, weil es alle gleichermaßen traf. Diese Gefühl half mir fortan, meine künftige Vorsicht als unabdingbarer Besonnenheit zu begreifen und in der Folgezeit vieles emotionsloser zu nehmen.
Aber vielleicht ein Wort zu diesem Lederarsch, dessen permanente Reizbarkeit nichts anderes als konzentrierter Ausdruck unterdrückten Selbstwertes war – übrigens ein Merkmal aller Niederen. Ich möchte ihn stellvertretend für all diejenigen herausgreifen, welche durch ihre blinde Ergebenheit das Funktionieren dieses Systems erst ermöglichten. Für einen solchen an Urteilskraft armen, allein auf Vorgaben fixierten Menschen, reduzierte sich Ordnung lediglich auf Unterordnung, die Kausalität zwischen Befehl und Ausführung bestimmt den Lauf der Dinge. Der ausführende Teil eines höheres Willens zu sein, war für ihn Ehre und Verpflichtung zugleich und dominierte seine durchaus anständigen, von tiefem Zweckoptimismus geprägten Lebensgrundsätze. Denn obgleich er als Wachhabender in der Schulhierarchie einen eher undankbaren Platz belegte, füllte er diesen mit um so größerer Verbissenheit aus. Dabei wäre es einfach ungehörig, ihn mit einem Pförtner zu vergleichen. Immerhin besaß er die Befehlsgewalt für eine ganze Kompanie, ganz zu schweigen von gewichtigen Aufgaben wie der Abwicklung des Besucherverkehr oder des Trainings von Gefechtslagen, nicht zu vergessen der morgendliche Weckruf mit dem Heraustreiben zum Frühsport. Doch seine vornehmste Pflicht bestand in der ordnungsgemäßen Wachverrichtung. Diese gliederte sich in eine straffe Musterung mit nachfolgender Vergatterung, bis hin zu akribischen Postenkontrollen. Unvergessen das Bild, wenn er aus dem Wachlokal trat und dabei aufgeplustert wie ein Pfau mit tiefer Genugtuung der Ablösung beiwohnte - einem nach strengem Reglement zelebrierten Ritual. Niemals gelang es auf Anhieb und musste mindestens einmal wiederholt worden. Alles andere wäre ein Affront gewesen. Oh nein, erst wenn das Geschirr so richtig scheppert und die Stiefel poltern, dass der Asphalt stöhnt, zeigte er sich befriedigt.
Er war nicht sehr groß, dafür aber sehr beleibt. Sein Doppelkinn war von frischer, rosiger Farbe und verdeckte den Hals völlig. Irgendwie erinnerte er in seiner moosgrünen Jacke, die im Bauchbereich stets etwas spannte, an einen Portier. Seine Augen waren klein und böse und schienen immer auf der Suche nach etwas Unbestimmten. Manchmal lag sogar eine Spur von Sentimentalität darin, wenn auch nicht von unbedingter. Kaum ein anderer Offizier legte so viel Wert auf Autorität und kaum jemand besaß so wenig. Allein die Uniform entschied über seine Wertigkeit und erhöhte ihn bis zu jenem Rang, in dessen Rahmen er Macht und Respekt genießen konnte. Ohne sie war er nackt. Ich bin ihm einmal derart ’nackt’, dass heißt in ausgebeulter Hose und einem altmodischen Blouson in der Stadt begegnet. Auf dem Kopf trug er ein albernes weißes Camperhütchen. Auf meinen lautstarken Tagesgruß sah er sich nur erschrocken um. Als er mich erkannte, errötete er und verschwand sogleich in einem Geschäft.
Zweifellos gehörte er zu jenen, deren Lebensinhalt im Pendeln zwischen Wohnung und Dienststelle bestand und welche sich abends mit einem Gefühl der Leere mit einem Bier vor den heimischen Fernseher lümmelten (soweit das seine Frau überhaupt zuließ, die ihn offenbar jedes mal zum Dienst jagte, wenn sie die Wohnung putzte). Aufgrund seiner übertriebenen Dienstbeflissenheit und Pedanterie, konnte er natürlich bei den Mannschaften nicht beliebt sein. Das wiederum machte sein Leben nicht einfacher. So weiß ich von einem Fall, wo er geschlagene zwei Stunden in einer Pfütze liegen musste, nur weil er sich bei einer nächtlichen Postenkontrolle nicht rechtzeitig zu erkennen gab (das geschah durch Blinken mit der Taschenlampe auf die Armbinde). Der Posten hielt ihn daraufhin für einen Eindringling und zwang ihn unter vorgehaltener Waffe mit den Händen im Nacken vorschriftsmäßig zu Boden und zwar so lange, bis der nächste Aufzug kam – zwei Stunden später.
Überhaupt soll Postenkontrolle früher sein Steckenpferd gewesen sein, wobei die Anzahl festgestellter Wachvergehen Gradmesser seiner Effizienz war. Zu einem besonders delikaten Zwischenfall kam es einmal, als er sich im Winter des nächtens an einen Postenturm anschlich. Und da der Posten von unten nicht auszumachen war, konnte dieser nur auf dem in Kniehöhe installierten Heizkörper hocken. Nachdem er nun eilends die Leiter erklommen und schnaufend die Tür aufgerissen hatte, stand der Posten jedoch schon wieder. Derart getäuscht, konnte er nicht widerstehen, ihn ans Gesäß zu greifen, um sich von der verräterischer Wärme zu überzeugen. Das verstand der Posten natürlich miss und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Die Angelegenheit verlief übrigens im Sande.
Bei einer anderen Begebenheit traf es ihn noch ärger. Damals lümmelte er nachts im Wachlokal, einem dustren, verräucherten Raum mit gelben Wänden und übervollen Aschern. Und während sein Gehilfe irgendeine Weisung studierte, oder besser, zu studieren hatte, döste er, die Beine auf den Stuhl, mit geöffneter Jacke und nach hinten gefallenen Kopf. Alles schien wie erstorben, nur sein Schnarchen und das gleichmäßige Wispern der Dienstuhr störte die nächtliche Stille. Da läutete es am Besucherfenster (ein 90 x 40 cm großer Riffelglaseinsatz, der sich in Hüfthöhe befindet und nach dem Heraufschieben seitlich arretiert werden muss). Wegen des Fehlens einer Wechselsprechanlage war der Diensthabende genötigt, sich nach dem Hochschieben der Scheibe durch das Luk zu quälen, um zu sehen, wer dort ein Anliegen begehrt.
So geschah es auch. Derart aus dem Schlaf gerissen, wankte er noch völlig benommen zum Fenster. Nachdem er es hochgerissen, steckte er wie beschrieben seinen Kopf hindurch. Zu seiner Verwunderung bemerkte er eine mittelgroße Person im roten Trainingsanzug mit silbernem D auf der Brust. Diese hatte eine Schutzmaske über den Kopf gezogen und sagte – seiner späteren Aussage zufolge - ‚Keinen Meff!’. Das Nachfolgende geschah in Sekundenbruchteilen. Kaum der Situation gewahr, beförderte ihn auch schon ein kräftiger Faustschlag ins Wachlokal zurück. Durch die Wucht des Hiebes war ihm die Prothese aus dem Mund geflogen. Völlig benommen schlug er rücklings aufs Parkett und konnte sich nur mittels seines Gehilfen wieder aufrichten. Dieser nötigte ihn sogleich gegen seinen Willen auf eine Pritsche, anstatt den Schläger zu verfolgen.
Ein sofort ausgelöster Alarm blieb erfolglos. Der Täter war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte etwas bemerkt, was einen ganz bestimmten Verdacht nährte. Man stellte die Ermittlungen jedoch bald ein. Die Klasse wurde kollektiv bestraft und fortan die Weisung erlassen, wonach dieses Fenster nur noch durch den Gehilfen zu öffnen ist. Seitdem war das auch nicht mehr passiert.

Impressum

Texte: Rückblicke eines gescheiterter Karreristen
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2008

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