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Kapitel 1



Nordamerika, Cassandra Wetherfield.


Um mich herum war es dunkel. Mein Kopf fühlte sich an als wäre er mit Watte gefüllt. Wo war ich? Und wo war Benny? Langsam wurde es heller um mich herum und das taube Gefühl ließ nach. Ich spürte, das ich auf etwas Kaltem lag. Es fühlte sich an wie Metall. Ich öffnete die Augen, doch noch konnte ich nur Schwarz erkennen. Leise Wortfetzen drangen an mein Ohr.
„Sie bekommt … zu intelligent. Nicht … aber trotzdem … nützlich!“
„Kein Tattoo? Bist ... irre? Wenn ... erinnert, ... ihre Fähigkeiten ..., … sie eine Gefahr für ... gesamte Menschheit! ... eine Mutation, ... Monster!“
Langsam wurde alles etwas klarer, die Schwärze verschwand ganz allmählich aus meinem Blickfeld, wie Nebel, der sich langsam verzog. Das erste was ich sah, war ein grelles Licht. Schmerzhaft hell stach es mir in die Augen, so dass ich diese lieber wieder zu machte.
„Ich glaube, sie wacht auf!“, erklang eine tiefe Stimme. Ich versuchte mich aufzusetzen und mir fiel auf einen Schlag alles wieder ein: Das leerstehende Hochhaus; die hallenden Schritte, welche mich verfolgten; die lauten Stimmen; mein schmerzender Fuß.
Jetzt wo ich mich darauf konzentrierte, bemerkte ich allmählich, das mir nichts wehtat. Ich hatte keine Schmerzen, ein angenehmes Gefühl. Doch als ich weiter darüber nachdachte was geschehen war und die Erinnerungen noch einmal durchlebte, dämmerte mir langsam wo ich mich befinden musste. Ich war nicht gefallen. Ich war auch nicht in dem Haus geblieben. Irgendwann auf dem Weg zu diesem Ort musste ich das Bewusstsein verloren haben, doch wo auch immer ich jetzt war, diese Leute meinten es nicht gut mit mir. Sie waren vom Departement S, ganz sicher. Ich musste bei ihnen sein. Sie waren anders als ich und damit kamen sie nicht klar. Sie hatten Angst vor solchen wie mir. Doch sie hatten eine Lösung gegen ihre Angst gefunden, eine Lösung die einfach alle gleich machte. Gleich und gut. Departement S hatte die Tattoos erfunden, weil die Menschheit damals untereinander gemordet hatte. Sie hatten sich in der eigenen Familie umgebracht und sich eingesperrt. Sie hatten Öl verbrannt um zu heizen und Bäume gerodet um Holz zu gewinnen, aus welchem sie dann Papier hergestellt hatten. Sie hatten beinahe die Erde zerstört. Jetzt 300 Jahre später war eine Organisation namens Departement S dafür verantwortlich dass so etwas nicht noch einmal geschah. Und sie sahen in solchen wie mir eine Bedrohung für die heutige Menschheit, weil wir Fähigkeiten hatten gegen die sie mal machtlos waren. Bis sie die Tattoos erfunden hatten mit denen sie die gesamte Menschheit unter Kontrolle hatte.
Die schwarzen Tattoos, meistens in Form eines fremdartigen Schriftzeichens, wurden mit einer Art Feuerzeug in die Haut eingebrannt. Sie machten die Menschen gefügig.
Es gab viel weniger Böses auf der Welt; viel weniger Morde, weniger Einbrüche und überhaupt war die Zahl der kriminellen Taten weit zurückgegangen. Denn das was Departement S tat, zählte nicht als illegal. Obwohl sie einem doch auch die Freiheit raubten. Der Gedanke an meinen kleinen Bruder, den ich schon immer beschützt hatte und der Gedanke an Nick gaben mir ein bisschen Hoffnung. Solange es ihnen gut ging konnte ich alles durchstehen. Doch noch wusste ich nichts über ihr Verbleiben. Benny! Nick! Was war mit ihnen geschehen? Ich versuchte mich zu erinnern, was davor passiert war. Bevor sie mich geschnappt hatten.

„Geh' nicht!“, bittet Benjamin mit leiser Stimme. Ich streichle ihm über den Kopf.
„Im Ernst, Cas!“, beginnt jetzt auch Nick wieder, „Das ist albern. Warum willst du das machen?“
„Das haben wir doch jetzt noch x-mal durchgekaut“, antworte ich, „Vielleicht kann dieser Jemand uns helfen. Er hat mir diesen Brief doch nicht umsonst auf so umständliche Weise zukommen lassen, wenn er nicht auch wie ich wäre.“
„Das sagst du! Vielleicht ist es eine Falle!“, sagte Nick aufgebracht, „Du weißt doch ganz genau wozu sie in der Lage sind!“
„Benny, du musst schlafen!“, sage ich streng.
„Na, auf geht’s, Kleiner. Du hast deine Schwester gehört.“
Mein Bruder marschiert brav ins Nebenzimmer und lässt sich auf der Matratze nieder. Wir wechseln das Quartier spätestens alle zwei Wochen. Meistens sind wir bei Leuten, die gerade im Urlaub sind. Die Nachbarn werden zuerst nicht misstrauisch, weil wir meistens sagen, das wir auf das Haus aufpassen und sie nur an das Gute im Menschen glauben. Doch die Menschen sind darauf trainiert solche wie mich zu erkennen. Und wenn es soweit ist, dann wird es Zeit uns etwas Neues zu suchen.
Ich breite die Decke über meinem Bruder aus und küsse ihn auf die Nase.
„Gute Nacht, Ben“, flüstere ich leise, doch er ist schon eingeschlafen.

„Ich muss es versuchen. Vielleicht sind wir dann endlich sicher, möglicherweise gibt es wirklich andere wie mich“, mache ich mit dem alten Thema weiter, als ich zurück im Wohnzimmer bin und mich neben Nick auf die Couch sinken lasse.
„Ich will dich nicht verlieren, Cas“, murmelt er eindringlich, „Ich liebe dich!“
„Ich weiß. Ich liebe dich auch, aber genau deswegen muss ich es doch wenigstens versuchen“, versuche ich ihn zu überzeugen.
„Okay“, stimmt er mir endlich zu, „Aber wir warten vor dem Haus und wenn etwas ist, dann schreist du, versprochen?“
„Lass Benny lieber hier. Es ist nicht sicher wenn er auch mitkommt. Wenn etwas passiert, dann holst du ihn und ihr flieht.“
„Versprich mir das du schreist!“
„Ohne mich!“, füge ich hinzu, „Ihr flieht ohne mich!“
„Versprich es mir!“
Ich kreuze die Finger in meinem Schoß, so dass er es nicht sehen kann. Wenn das wirklich eine Falle sein sollte und sie hinter mir her sind, dann würde ich den Teufel tun und Nick auch noch darauf aufmerksam machen, damit er in sein Ende rannte um mich zu retten. Niemals!
„Ich verspreche es.“ Die Lüge geht mir verhältnismäßig leicht über die Lippen, denn ich weiß das ich es für ihn tue. Für ihn und für Benny.
„Gut“, sagt er und lächelt mich erleichtert an, er glaubt mir und ich fühle einen Kloß in meinem Hals. Er vertraut mir und ich nutze es einfach aus. Um ihn zu retten, falls es soweit kommen sollte, aber das ist nur eine Ausrede um mich selbst zu überzeugen, denn eigentlich weiß ich ganz genau, das er lieber sterben würde als mich zu verlieren. Ich lüge ihn an und ich hasse mich dafür, aber ich kläre es nicht auf.
„Was denkst du?“, fragt er und streicht mir leicht mit zwei Fingern über die Wange.
„Nichts, nichts“, sage ich und versuche locker zu klingen, doch eigentlich habe ich fürchterliche Angst.
„Du hast doch was!“
„Nichts. Nichts. Schon gut! Wirklich.“
„Ich möchte es aber gern wissen“, bittet er.
„Ach, es ist wirklich nicht so wichtig. Ich habe mir nur gerade gedacht, das ich nicht weiß was du an mir findest“, antworte ich.
„Ah ja“, sagt er und versucht sich ein Lachen zu verkneifen, „Und du denkst das liegt an der Gefahr der ich mich aussetze, indem ich mit dir zusammen bin?“
„Manchmal.“
„Das ist Schwachsinn und das weißt du“, sagt er und plötzlich wird er wieder ernst. „Cassy, du bist das einzige Mädchen das ich jemals wieder lieben kann. Seit ich dich kenne, ist alles andere unwichtig geworden.“
„Ach, jetzt tu nicht so melodramatisch“, winke ich ab. Ich fühle mich immer etwas komisch, wenn er so ist.
„Ich bin nicht melodramatisch. Das ist nur die Wahrheit. Du hast ja keine Ahnung, was du für eine Wirkung hast. Du bist wunderschön, intelligent, lieb und du würdest dich für andere aufgeben. Das sind alles Eigenschaften die dich einfach zu etwas ganz besonderem machen.“
Ich verkrampfe in seinem Arm.
„Ich bin doch schon anders genug! Ich will normal sein.“
„Cas. Das habe ich doch nicht so gemeint“, sagt er dann.
„Bin ich ein Experiment für dich? Ist total spannend mit einer Irren zusammen zu sein, oder? Na klasse.“
Ich stehe auf und gehe zum Fenster, mir ist plötzlich kalt. Eigenschaften die dich anders machen – anders als andere. Er steht auf und stellt sich hinter mich. Dann rubbelt er mir über die vor der Brust verschränkten Arme.
„Cassy. Du weißt doch was ich meinte!“, sagt er leise, „Entschuldigung. Du bist natürlich kein Experiment. Man kann auch anders sein und trotzdem normal. Normal sind Menschen die Gefühle haben und für das kämpfen was sie lieben – so wie du. Departement S ist nicht normal, auch wenn sie alle das glauben machen. Sie sind die Verrückten, weil sie glauben alles ausrotten zu müssen, was stärker ist als sie. Weil sie Angst haben Cassie.“
Ich lächle mein Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Er schafft es immer wieder mich aufzumuntern. Ich kann ihm nicht lange böse sein, denn eigentlich ist es doch auch gar nicht schlimm, was er gesagt hat, weil ich ja weiß wie er es meinte. Draußen ist die Nacht schwarz und kalt. Ich bin froh, drinnen zu sein. Hier mit ihm. Ich drehe mich um.
„Ist schon gut“, sage ich.
„Dann komm wieder mit. Es ist so kalt hier am Fenster“, flüstert er, während er meine Hand nimmt und mich zurück zum Sofa zieht.
Ich lasse mich im Schneidersitz in das weiche Polster sinken und lehne mich an ihn. Er legt einen Arm um meine Schultern.
„Ich passe auf ihn auf, nur falls etwas passieren sollte“, sagt er sanft.
„Natürlich, Nick, das weiß ich. Aber es wird nichts geschehen. Hör' auf dir Sorgen zu machen“, flüstere ich. Er legt einen Finger unter mein Kinn und dreht meinen Kopf so das ich ihn ansehen muss. „Es wird alles gut.“
„Es wird alles gut!“
Dann liegt sein Mund weich und warm auf meinem. Der Kuss schmeckt nach Abschied und mir wird kalt ums Herz. Etwas rutscht in meinen Magen – eine große, unförmige Kugel – und setzt sich dort fest.
„Ich glaube, da ist jemand“, höre ich plötzlich eine, vom Schlaf noch kratzige, Stimme sagen. Nick und ich sehen gleichzeitig zur Tür die ins angrenzende Zimmer führt. Dort steht mein kleiner Bruder, vor Kälte oder Angst oder von Beidem zitternd, in seinem blauen Schlafanzug. Ich stehe auf und laufe auf ihn zu. „Benny! Du solltest doch schon längst schlafen“, sage ich leise. Er schlingt die Arme um mich. Ich hebe ihn hoch und trage ihn zur Couch.
„Da ist aber wirklich-“, fängt er an, doch in diesem Moment höre ich es auch. Neben mir springt Nick auf.
„Verdammt!“, flucht er, „Sie wollten doch zwei Wochen fliegen. Was machen die denn schon hier?“
„Wir müssen hier weg!“, sage ich schnell, doch da dreht sich schon der Schlüssel im Schloss. Nick nimmt meine Hand und zieht mich und Benny ins Nebenzimmer.
„Verdammter Reiseservice! Es ist wirklich ärgerlich!“, ertönt eine tiefe, männliche Stimme.
„Ja, und dann dieses unglaublich enge Flugzeug. Eine Zumutung!“ Die Frau klingt verschnupft, eine Vorgabe um Vornehm zu wirken.
„Zum Fenster raus. Das Gepäck müssen wir hier lassen“, ruft Nick.
„Aber Bernhardt!“, verlangt Benjamin, „Wir können ihn nicht zurück lassen.“ Ich bücke mich und hebe den Teddy, den mein Bruder vor drei Jahren von unserem Vater bekommen hat und der ihm umso mehr bedeutet, seit unsere Eltern tot oder verschwunden oder was auch immer sind, von der Matratze auf.
„Sag mal, Manfred? Ich fühle mich so … beobachtet. Denkst du hier ist jemand?“
„Wie kommst du denn auf so etwas, Erika?“, fragte die brummelnde Stimme wieder.
„Man hat doch so einiges gehört in der letzten Zeit. Von den komischen … anderen … du weißt schon!“
„Los jetzt! Benny, du zuerst!“, befiehlt Nick und nimmt ihn an den Handgelenken um ihn aus dem Fenster zu lassen. „Da unten muss eine Fensterbank sein. Stell dich da rauf und halte dich fest!“, erklärt er.
„Okay“, antwortet Ben, „Alles klar.“
„Jetzt du, Cas“, sagt er und lässt auch mich aus dem Fenster.
„Aber wenn du Angst hast … ich sehe mal in der Wohnung nach!“, sagt Manfred beruhigend, ehe man Schritte auf den Raum zukommen hört, in dem wir uns befinden.
„Lass mich los, das geht schon. So tief ist es nicht!“, rufe ich. Seine Hände lösen sich von meinen Armen und ich falle. Ich versuche den Aufprall mit den Füßen ab zu fangen.
„Uff!“, schnaufe ich unten angekommen, „Das war tiefer als ich dachte.“
Neben mir landet Nick im Gras. „So: Jetzt Ben! Spring, ich fange dich auf.“
Benjamin vertraut ihm total. Viel kann ich nicht erkennen, nur einen Schatten der sich auf der Fensterbank umdreht und dann springt mein Bruder.
„Oh Gott, fang ihn bloß auf!“, rufe ich besorgt. Doch bevor ich anfangen kann mir ernsthaft Sorgen zu machen, ist es schon vorbei und Ben steht sicher neben mir im Gras.
„Komm Huckepack, Kumpel“, sagt Nick und geht in die Hocke. Ben klettert auf seinen Rücken.
„Und jetzt lauf, Cassy!“, ruft Nick und nimmt wieder meine Hand. Gemeinsam rennen wir die von Straßenlaternen schwach beleuchtete Straße entlang. Als wir an der nächsten Straßenecke anhalten, hat ein leichter Nieselregen eingesetzt. Benny rutscht von Nicks Rücken und stellt sich zwischen uns.
„Ich will es jetzt machen“, sage ich, „Je eher desto besser.“
„Nein. Wir haben es noch nicht geplant, das ist Wahnsinn, Cas“, keucht er, „Außerdem würdest du Ben damit keinen Gefallen tun. Siehst du nicht wie müde er ist?“
„Das ist jetzt gemein, Nick! Wir können sowieso nirgendwo hin, warum sollen wir es also nicht versuchen? Falls es eine Falle ist, erwarten sie uns sowieso erst morgen.“
„Sie hat Recht, Nick. Wir haben nichts zu verlieren“, mischt sich Benny mit holpernder Stimme ein.
„Du hast doch keine Ahnung!“, brüllt Nick ihn an. Mein kleiner Bruder zieht den Kopf ein.
„Nick! Hör doch bitte auf!“, seufze ich und bleibe stehen.
„Nein! Verdammt noch mal, du bist bereit dein Leben einfach so wegzuwerfen und ich soll dir zu gucken! Weißt du denn eigentlich was du von mir erwartest?“
„Das weiß ich sehr wohl. Ich erwarte das du mir vertraust“, rufe ich.
„Das kannst du nicht von mir verlangen! Nicht in diesem Fall. Ich liebe dich, Cassy!“
„Das ist verdammt nochmal nicht die Erklärung für alles!“, schreie ich ihn an.
„Es ist aber die Wahrheit! Kannst du das nicht verstehen? Du könntest sterben und das will ich nicht riskieren!“, schreit er zurück.
„Das ist mir schon klar, das du wieder nichts riskieren willst, aber ich bin nicht dein Eigentum! Ich versuche nur uns drei das Leben zu retten.“
„Du willst uns irgendwas beweisen, das ist alles. Was, ist mir zwar auch nicht so ganz klar, aber falls es hier um Mut geht, dann ist diese Aktion unnötig! Wir wissen das du mutig bist.“
„Nein. Weißt du, worum es hier geht?“, frage ich, bemerke die Tränen, die in seinen Augen glitzern und weiß, das er wirklich nur Angst um mich hat. Aber ich hasse es, wenn er mich wie ein kleines Kind behandelt, also versuche ich nicht darauf zu achten, „Es gibt genau zwei Menschen in meinem Leben, die mir noch geblieben sind und weil ich diese Beiden über alles liebe und alles für sie tun würde, geht es mir bei dieser Sache um alles, wirklich um alles, aber nicht darum irgendjemandem Mut zu beweisen. Und dein letzter Satz, der tat wirklich weh.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging drei Schritte von ihnen weg. Nick kommt hinter mir her und hält mich fest.
„Cas, bitte! Ich habe es nicht so gemeint.“
„Dann drück dich doch einmal so aus, wie du es meinst!“, bitte ich.
„Der ganze Stress geht uns allen ganz schön an die Nerven. Es tut mir leid, okay?“
„Bitte sei nicht mehr böse, Cassy“, sagt Ben und kommt eilig auf mich zu. Ich nehme ihn in den Arm.
„Das mit vorhin tut mir leid, Ben. Ich … hatte einfach Angst um deine Schwester“, entschuldigt sich Nick und wuschelt Ben durch die Haare.
„Schon okay“, antwortet dieser. Ich bin froh, das er sich bei Benjamin entschuldigt hat.
„Ich bin nicht mehr böse, Ben. Mach' dir keine Sorgen, es wird nichts passieren“, verspreche ich.
„Und habt ihr euch wieder lieb?“, fragt er besorgt.
Nick lacht leise.
„Natürlich Ben, nur weil man sich mal streitet, heißt das doch nicht, das man sich nicht mehr lieb hat.“
„Genau, Benny. Wir sind doch eine Familie“, versichere ich, dann füge ich lächelnd hinzu: „Oder zumindest so etwas ähnliches.“
Nick zieht mich an sich und ich lehne mich an seine Brust. Einen Arm lege ich um Benns Schultern und so stehen wir eine ganze Weile lang da. Eng beieinander und ich frage mich, was Passanten wohl von uns denken würden.
„Und jetzt? Wohin gehen wir?“, frage ich in die Runde.
„Also … wenn du es wirklich versuchen willst ...“, beginnt Nick zögernd.
„Was meinst du, Ben?“, frage ich ihn.
„Wenn du wieder kommst, dann sollten wir es versuchen.“
„Okay“, sagt Nick, „Wir können aber auch mitkommen.“
„Nein! Du hast den Brief doch auch gelesen. Tut mir den Gefallen und wartet draußen“, bitte ich.
„In Ordnung. Wenn du dir ganz sicher bist und wenn du versprichst aufzupassen, dann machen wir uns mal auf den Weg“, meint Nick mit gespieltem Enthusiasmus.
„Ich bin mir sicher. Ich glaube, es ist noch nicht mal soweit weg von hier.“
„Nein. Nur ins Neubaugebiet. Das Haus wollen sie ja zum Abriss frei geben, an seiner Stelle wird eine neue Wohnsiedlung entstehen.“
„Dann gehen wir am besten über die Wiese dort. Das geht am schnellsten und wir sind in weniger als fünf Minuten da“, schlage ich vor.

Das Gras ist nass und kalt. Auf den Blütenblättern der Blumen, die vereinzelt wachsen glänzen Tautropfen. Als wir die Wiese zur Hälfte überquert haben, fühlen sich meine Füße an als wären sie aus Eis. Auf der anderen Seite kann ich schon die Silhouette des Hauses sehen, das sich vor dem schwarzen Nachthimmel im Licht des Vollmondes abzeichnet. Mein Schritt wird schneller und Ben hat Schwierigkeiten mit mir mit zu halten.
„Warum rennst du denn jetzt so, Cas?“, ruft Nick und schließt mit Ben, den er auf seinen Rücken genommen hat, zu mir auf. Gute Idee, ihn wieder Huckepack zu nehmen. Er ist so müde, das er nur noch stolpernde Schritte zustande gebracht hat.
„Ich will schnell über diese Wiese. Meine Füße frieren ab“, erkläre ich.
„Na dann. Wir haben es gleich“, antwortet Nick und er hat Recht. Schneller als ich dachte – eben sah das Haus noch soweit weg aus, was ich ihm natürlich niemals sagen würde, denn dann hätte er Grund zu denken, das ich Angst hätte und er würde mich an meinem Vorhaben hindern – haben wir die Wiese hinter uns gelassen und stehen vor dem abriss sicheren Haus. Alle Fenster sind ohne Glas, die Türen sind herausgetreten und die Hausflure die man durch die daraus entstandenen Löcher sehen kann, sind schwarz.
Nick steht aufrecht dicht neben dem Eingang. Mein Bruder stellt sich neben ihn und fasst nach seiner Hand. Ich küsse Nick noch einmal und umarme ihn dann.
„Du passt auf ihn auf, ja?“, flüstere ich ihm ins Ohr, „Nur falls was passiert.“
„Das wird es nicht. Aber ich verspreche es trotzdem.“
Ich löse mich von ihm und gehe vor Benny in die Hocke, der kaum noch die Augen aufhalten kann und doch versucht wach auszusehen.
„Bis gleich“, sage ich und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Mach schnell, Cassy, okay?“
„Versprochen.“
Ich drehe mich um und renne so leise ich kann durch den schwarzen Eingang in das Haus. Plötzlich ist alles anders. Draußen höre ich Nick fluchen, dann brüllt er in den Hausflur: „Scheiße! Cas, komm wieder zurück, das ist eine Falle.“
Doch da ist es schon zu spät. Hinter mir ertönen die Schritte von mindestens zehn Leuten. Ich renne schneller. Dann ertönt Nicks Stimme ein weiteres Mal und diesmal bleibe ich stocksteif stehen.
„Ben! Komm' sofort wieder her!“


Nein!!, schoss es mir durch den Kopf. Ich stützte mich auf meine Hände und setzte mich auf. Als ich die Augen öffnete, blickte ich in zwei besorgt aussehende Gesichter. Der Mann hatte einen grauen Bart, genauso graue Haare und eine schwarze, dünnwandige Brille. Er war schlank und trug einen weißen Kittel.
Seine Kollegin war blond, einen Kopf kleiner als er und hatte ebenfalls einen weißen Kittel an.
Beide hatten ein schwarzes Tattoo an der rechten Seite ihres Halses. Aber es war nicht das normale Tattoo, das alle die Perfekten hatten. Es rankte sich über ihre Schultern und umrahmte ihre Gesichter und ihre ausdrucksstarken Augen. Ich versuchte mir darüber erstmal keine Gedanken zu machen.
„Er ist mir gefolgt? Warum? Warum ist er nicht bei Nick geblieben? Warum hat er nicht auf mich gehört?“, flüsterte ich mit rauer Stimme. Der Mann streckte eine Hand nach mir aus und ich wich zurück.
„Fassen Sie mich nicht an!“, krächzte ich.
„Atme tief ein“, sagte er zu mir.
„Nein!“, rief ich, „Ich will hier weg.“
„Beruhige dich“, antwortete die Blonde unbeirrt freundlich.
Ich sprang auf. Mir wurde schwindelig und schwarz vor Augen, so dass ich für einen kurzen Moment nichts sehen konnte. Eine Hand griff nach meinem Arm. Ich schrie. Die Hand drückte mich mit sanfter Bestimmung wieder auf die Liege.
„Wir werden dir nichts tun“, sprach der Mann mit freundlicher Stimme.
„Departement S?“, frage ich kühl.
„Nein, ich heiße Cal. Ich bin Arzt, wir sind um deine Sicher-und Gesundheit besorgt. Und wie ist dein Name?“
Ich dachte kurz nach. Ich wollte ihm unter keinen Umständen verraten wie ich wirklich hieß.
„Julia“, sagte ich dann.
„Sie heißt Cassandra Wetherfield“, meinte die Blonde ohne auf mich einzugehen.
Ich warf ihr einen zornigen Blick zu. Woher wusste sie das?
„Du hast Erinnerungen, nicht wahr?“, sagte der Mann, welcher sich mir als Cal vorgestellt hatte, „Es wäre eine Verschwendung dir etwas anzutun. Du kannst uns vertrauen.“ Dann lächelte er mich freundlich an und bannte meinen Blick mit seinen tiefblauen Augen. Es hätten so schöne Augen sein können, doch da war immer noch dieses verdammte Tattoo. Ich wollte es nicht zugeben, wirklich nicht, aber ich hatte Angst und es war unmöglich mir etwas anderes einzureden.
„Verschwendung oder nicht. Ihr werdet es trotzdem tun – ihr seid Monster.“
„Etwas so Besonderes wie du muss gar nicht verändert werden. Nur gehorsam gemacht“, antwortete mir die Blonde.
„Das ist das Problem. Die Hübschen von denen die besonders sind, sind meistens leider auch unglaublich stur“, fügte der Arzt hinzu.
„Tja, die Kombination gehorsam und wundervoll hatten wir bisher noch nicht“, sagte seine Kollegin achselzuckend.
„Lassen Sie mich hier raus“, sagte ich langsam und betont deutlich, ich hörte jedoch wie undeutlich meine Stimme klang. Von der Betäubung vermutlich.
„Erinnerst du dich an dieses Mädchen? Wie hieß sie doch gleich .. Cally, oder?“, fragte die Blonde, mich ignorierend.
„Aber Cally war genau wie sie. Sie war zwar hübsch und intelligent, aber sie war rebellisch. Eine Gefahr. Zu schade eigentlich“, seufzte Cal.
„Und sie hat die OP nicht so überstanden, wie wir gehofft hatten.“
„Ja, Cassandra, du hörst ganz richtig. Wenn du dich nicht darauf einlässt, dann kann einiges schief gehen. Wir können dir ein angenehmes Leben beschaffen. Ohne Erinnerungen zwar, aber du kannst dir neue besorgen. Ein Leben ohne Probleme und in Sicherheit. Innerhalb des Systems.“
„Wie ist eigentlich Ihr Name?“, fragte ich die Frau um abzulenken.
„Ruby. Ruby Cliffner“, antwortete sie.
„Weißt du, Cassandra, wir helfen. Dazu sind wir da“, fing der Arzt wieder an.
„Sie!“, rief ich, „Sie helfen nur einem – Departement S.“
Er blickte mir wieder in die Augen. Ich wollte meinen Blick abwenden, doch ich konnte es nicht. Wir starrten uns an. Die Zeit verging in zähen Schlägen, ich zählte die Sekunden.
„Ich schätze mal, mit dir haben wir ein recht spezielles Problem.“ Die Blonde kicherte über ihren eigenen Witz und auch Cal schmunzelte, ich verstand ihn nicht.
„Aber wir können auch anders, Cassandra. Es geht auf die weiche Tour. Mit Gehorsam, neuen Erinnerungen und einem perfekten Leben“, sprach er mit hypnotisierender Stimme. Ich schüttelte den Kopf und konnte endlich wegsehen.
„Nein!“, sagte ich noch einmal.
„Aber es geht auch auf die harte Tour, was das bedeutet wirst du noch früh genug erfahren. Wir haben etwas, das du brauchst. Und wir können es dir nehmen, solltest du nicht vorhaben, deine Einstellung zu ändern.“
„Was?“, fragte ich und ballte die Hände zu Fäusten.
Der Arzt drehte sich um und ging auf eine Art Leinwand zu, welche in die Wand eingelassen war. Aus der Tasche seines Kittels zog er eine kleine schwarze Fernbedienung. Er drückte einen Knopf und der Bildschirm flammte auf. Zuerst erkannte ich nichts. Alles war weiß, die Wände der Boden, der Tisch und die Liege, die wohl als Bett dienen sollte. Das Material konnte ich nicht zuordnen. Es sah aus wie Kunststoff; glänzend, glatt.
„Was soll ich damit?“, fragte ich irritiert.
„Sieh' genau hin“, antwortete der Arzt mit ruhiger Stimme.
Ich blickte noch einmal auf den Bildschirm und diesmal sah ich die Gestalt, die auf der Liege lag. Sie bewegte sich nicht.
„Benny!“, schrie ich und sprang wieder auf.
„Es geht ihm gut“, sagte die Frau und hielt mich am Arm fest, weil ich schwankte.
„Was habt ihr mit ihm gemacht?“ Ich riss mich los und rannte auf die Tür zu. Irgendjemand drückte einen Knopf, es piepte kurz und dann rollte ein Metallgitter vor dem rettenden Ausgang hinab.
„Was zum Teufel..?“ Ich drehte mich um und funkelte die Beiden zornig an. „Macht sofort die Tür auf.“


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Tag der Veröffentlichung: 22.01.2012

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