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Vorwort

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2007.
Ich hab sie gestern ein wenig überarbeitet und dachte mir, warum soll ich sie eigentlich nicht wieder online stellen?



Die zu Anfang und Ende kursiv gehaltenen Zeilen stammen aus dem Lied "L. Wells" von Franz Ferdinand. Wer Interesse hat, kann sich das Lied gerne hier anhören:
http://www.youtube.com/watch?v=RJM2iCH_XR8

Viel Spaß beim Lesen euch allen!

I/I

If you have some sort of secret
If you need someone to tell
You can tell me
Because my memory
Always fails
I will forget
And your secret
Will remain

 

 Ein vorwitziger Windhauch schlüpfte durch das kleine Dachfensterchen und huschte über das Chaos aus Kisten, alten Möbeln und eingepackten Gegenständen, deren halb zerstörte Staubschicht von den starken Griffen stämmiger Möbelpacker berichteten. Im Vorbeigehen zupfte der Wind neckisch an Marcels gemütlichem Shirt und verfing sich auf der tollkühnen Flucht in einem aus Kindertagen stammenden Mobile.
Die einst grellen Farben der an durchsichtigen Fäden hängenden, tropischen Fische wirkten leicht verblasst, als sich die Tiere so graziös bewegten wie im seichtem Wasser der Südsee.

Fasziniert machte der 16-Jährige einen weiten Schritt über einen Umzugskarton, sodass er im nächsten Moment vor dem Erinnerungsstück stand. Genau wie auf dem alten Dachboden, schoss es ihm dabei durch den Kopf, indessen ein warmes Lächeln seine Lippen beschlagnahmte. Bereits im alten Heim hatte das gute Stück den Dachboden geziert, nachdem es den Platz über den Kinderbetten hatte räumen müssen. An die frühen Jahre, in denen man im Liegen zu den Fischen hinaufschauen konnte, entsann sich der Junge bloß ob der mütterlichen Erzählungen. Sein Gedächtnis kannte das Fischmobile hingegen nur so wie es gerade vor ihm schwebte: als buntes Geplänkel zwischen grau-braunen Schachteln und dunklen Dachbalken.

Marcel konnte dem Drang nicht widerstehen, die rechte Hand zu heben und gegen einen großen Fisch mit schier majestätischer Ausstrahlung zu stupsen. Von der plötzlichen Bewegung verschreckt, wirbelte das Tier herum und zog einen Farbkreis um sich selbst, der Marcels Lächeln zusätzlich nährte. Die hölzernen Wasserbewohner waren abgestaubt. Jetzt, so aus direkter Nähe, konnten es die braunen Augen deutlich sehen. Mutter hatte das gute Stück vor dem Umzug penibel eingepackt, auf dass ihm auch ja nichts zustieß. Nach dem Auspacken hatte sie es dann gründlich gereinigt und wieder zum Herrscher über den Dachboden erklärt.
Früher hatte man sich immer gefragt, welche Absicht dahinter stecken mochte. Mittlerweile glaubte man, sie zu kennen. Sofern Marcel seine Mutter richtig einschätzte, hob diese das wundervolle Accessoire für ihre Enkel auf. Dass ihren Zwillingen Kinderwünsche noch überaus fern lagen, hinderte Mutter nicht daran, ihre Hoffnung in eine nicht voraussehbare Zukunft zu stecken.

Eine weitere Brise brachte den aus acht Fischen bestehenden Schwarm dazu, sich neu zu formieren. Es lag nicht an dem gelegentlich auftretenden Piepsen im Ohr, was Fachmänner besorgt als Ankündigung eines Tinnitus diagnostizierten, dass es Marcel so erschien, als schwappe ein Kichern zu ihm hinüber. Das Lachen von Minou und ihm hatte sich damals an die Fische geheftet und genoss die Spritztouren auf dem Rücken der Meeresbewohner, selbst wenn sich diese nicht in ihrem natürlichen Element aufhielten.
Doch wer tat dies schon? Vor einiger Zeit hätte sich Marcel nicht mal träumen lassen, dass sie überhaupt so schnell umziehen würden, geschweige denn, dass seine Mutter je wieder heiraten würde. Doch so war es gekommen und so seltsam es auch klingen mochte, Marcel hatte bis dato noch nie die Ruhe gefunden, den Dachboden seines neuen Zuhauses genauer unter die Lupe zu nehmen. Er war niedriger als sein Vorgänger, wodurch die Richtung Decke ragenden Gegenstände wie Kleinkinder mit ausgestreckten Ärmchen wirkten, die Mama oder Papa anbettelten, hoch genommen zu werden.

Marcel wandte den Blick vom Mobile ab und ließ ihn über die Kisten, gefüllt mir überflüssigem Plunder, von dem sich niemand trennen konnte, schweifen. Von Neugierde geleitet, öffnete er einen der Kartons und lugte hinein. Ein Stapel Bücher begrüßte ihn. Kinderbücher, deren bunte Rücken gelegentlich von Großbuchstaben durchsetzt waren und den Heranwachsenden die Lesefreude einimpfen sollten. Geklappt hatte es nicht, wie der Junge mit einem schiefen Grinsen notierte und den Karton weiter öffnete. Zwischen den unzähligen Rücken rüttelte allen voran einer an Marcels Interesse, weswegen er im nächsten Moment besagtes Buch zwischen seinen Artgenossen heraus zog und überrascht feststellte, sich nicht geirrt zu haben.
Die vergilbten Seiten wiesen von außen weder Linien noch Karos auf, dafür etliche Eselsohren und an der ein oder anderen Stelle hatte sich ein Tintenklecks auf dem einst weißen Papier verewigt.

Was für einen grässlichen Streit man damals doch mit Minou wegen dieses Buches hatte...

Was fiel Minou auch ein, einfach ein Tagebuch zu führen? Marcel hatte sich betrogen gefühlt, als er verstand, dass das, was seine Zwillingsschwester dem Buch offenbarte, nicht für seine Ohren geschaffen war. Das war Vertrauensbruch, unverzeihlich und völlig inakzeptabel! Entsprechend verbiestert war er dem Blätterwerk immerzu begegnet. In etlichen Anläufen hatte Marcel probiert, es zu entwenden, ohne dass seine Schwester etwas davon bemerkte. Doch das war gar nicht mal so einfach, denn Minou war leider nie auf den Kopf gefallen gewesen und hatte ein überaus gutes Versteck für ihren neuen Vertrauten gewählt.

Die Tage verstrichen und die Bemühungen, den parasitären Eindringlich zu erwischen, scheiterten. Zumal Minou ihr Zimmer ebenso ungern verließ wie Marcel seines. Als es dann eines Nachmittags doch soweit gekommen war und er das Buch mit hitzigen Wangen zwischen den Fingern hielt, hatte Marcel es kaum abwarten können. Seine Pupillen waren über die Worte hinweg geflogen und schienen sie wie bei einer Umspeicherung vom Datenträger hinunter zu kopieren und auf sein Hirn aufzuspielen. Nur: es war nichts Besonderes...
Völlig blank hatte man mit 12 Jahren in Minous Zimmermitte gestanden und irritiert geblinzelt, als jedes Wort gelesen, jeder Fehler übersehen und jeder Punkt aufgesaugt worden war. Im Kopf ein schier unnötig frei geräumter Platz, auf dem ein fieses Gemisch aus Schuld und Scham sein Zelt aufschlug.
Das hier war es nicht wert gewesen.
In der Sekunde als Marcel das Buch wieder zuklappte und schwer gegen die inneren Vorwürfe anschluckte, hätte er am liebsten die Zeit zurück gedreht. Alles, was seine Schwester wollte, war ein Stück Privatsphäre. War man einfach nur unreifer als sie gewesen oder schlichtweg zu eifersüchtig, um ihr diese Privatsphäre zugestehen zu können?
Bis heute konnte man sich diese Frage nicht beantworten, aber der bloße Anblick des Buches genügte, um den bitteren Geschmack des schlechten Gewissens zurück ins Zentrum des Bewusstseins zu ziehen. Gleichzeitig blühte die einst empfundene Reue erneut auf.

In jenen Tagen hatte man das Buch geknickt ins Versteck zurückgelegt und war mit hängenden Schultern aus dem Zimmer getrottet. Im Magen ein solch schwerer Stein, dass Marcel für den Rest des Tages nichts mehr hinunter bekam und seiner Schwester beinahe mit der Bitte, ihm zu verzeihen, um den Hals gefallen wäre, als diese wenig später nach Hause kam.
Letzteres hatte Marcel jedoch nicht getan. Er hatte Minou bis heute nicht gestanden, dass sie ein Opfer von niedrigen Beweggründen geworden war. Damals hielt man es so für klüger und wollte nicht riskieren, dass die Blondhaarige einem das Vertrauen entzog und sich womöglich vor lauter Verletztheit abends in den Schlaf geweint hätte. Später erschien es Marcel nicht mehr relevant, dieses Geständnis noch nachzuholen. Minou hatte das Tagebuchschreiben ohnehin sehr bald aufgegeben. Ebenso wie bei zig anderen Dingen auch, besaß sie schlicht und ergreifend nicht das Durchhaltevermögen dafür. Nur was das Ballet betraf, konnte sie den inneren Schweinehund regelmäßig überwinden.

"Marcel?"

Aufgeschreckt schnellte der Blick des Angesprochenen zur Treppe hinüber. Minou stand in der Türe und schien bis vor einer Sekunde noch erfreut darüber, ihren Zwillingsbruder entdeckt zu haben. Allerdings mischten sich Ansätze der Bestürzung in ihre Mimik, die Marcel zunächst ein Rätsel waren. Erst als ihm bewusst wurde, noch immer das alte Tagebuch in den Fingern zu halten – unaufgeschlagen; es noch ein mal zu lesen lag ihm fern! – begriff er den vorgehenden Sinneswandel.
Zügig wandte er sich der Kiste zu und wollte das Buch wieder genau dort verschwinden lassen, wo es herkam. Jedoch rechnete Marcel nicht damit, dass seine Schwester mit ein paar schnellen Schritten zu ihm hinüber eilte und ihm das Buch biestig aus der Hand riss.

"Was zum Teufel machst du denn da? Hast du’s etwa gelesen?!" Der berechtigter Anflug von Ärger und Skepsis prasselte auf Marcel ein wie ein plötzlicher Regenschauer und ließ ihn sogleich verneinend den Kopf schütteln.
"Ne, hab's gerade nur zufällig gefunden."
"Und nicht gelesen?", argwöhnte Minou harsch, in den Augen ein durchdringendes Stechen, das sich mit nichts Anderem als der Wahrheit zufrieden gab.

Anstatt weitere Worte zu verlieren, konnte der ältere Zwilling bloß trocken schlucken. Wieso lag dieses Buch bitte in einer Kiste voller Kinderbücher, wenn Minou noch immer rot sah, sobald es irgendjemandem in die Hände fiel? Weshalb bunkerte sie es nicht in den Tiefen ihres schier platzenden Kleiderschranks oder irgendwo zwischen Matratze und Lattenrost? Wäre das nicht sicherer?
Ihre messerscharfen braunen Augen sezierten Marcel regelrecht. Eine Antwort musste her. Eine, die nicht gelogen war. Mit den Zähnen schabte er einmal über seine Unterlippe und stieß nebenbei Luft aus.
"Ehrlich, ich hab’s gerade nicht gelesen. Nur gefunden." Die klare Betonung eines jeden Wortes sollte dafür sorgen, dass Marcel als freier Mann den Gerichtssaal verlassen durfte.

Tatsächlich zeigte sich seine Schwester besänftigt und hob die Hände an den Hinterkopf, um einen Bobbypin an ihrem Dutt zu richten.
"Ich dachte nur. Du wolltest es ja damals immer lesen..." Kleinlaut schwebte die Aussage durch den Raum und diente als Rechtfertigung für Minous starke Reaktion. Marcel spürte haargenau, wie ihn die Schuld abermals an den Pranger stellte und seine gesamten Innereien wie dornige Ranken zu zerquetschen drohte. Dass die ganze Geschichte nach all den Jahren noch solche Ausmaße annehmen konnte, hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Eigentlich würde er Minou gerne sein damaliges Vergehen gestehen – ohne dass sie ausrasten und einen perfiden Racheplan schmieden würde.

Aus dem Augenwinkel betrachtete der Junge die noch immer geringfügig durch die Lüfte segelnden Fischchen und biss sich ratlos auf die Zunge. Zugleich bemerkte er, dass nicht nur all die Gegenstände auf dem Dachboden vor einigen Wochen mit umgezogen waren, sondern auch die über ihnen schwebende Atmosphäre. Weder das Lachen noch die Schuldgefühle hatte er hinter sich lassen können. Vielleicht war das gut so. Vielleicht gehörte es zum Leben dazu. Und vielleicht wäre es trotz Verjährung richtig, Minou die Wahrheit zu sagen.
Wovor hatte Marcel denn Angst? Davor, dass sie nie wieder mit ihm reden würde? Lächerlich!
Davor, dass sie enttäuscht wäre? Definitiv!
Davor, dass sie ihm nicht verzeihen könnte? Nein. Auch ihre Wut würde wieder abklingen. Sie konnte doch gar nicht ohne ihr Geschwisterkind leben. Marcel wusste es so genau, da es ihm nicht anders erging. Ein Leben ohne Minou war für ihn von Grund auf unvorstellbar. Sie war immer da gewesen, sogar schon bevor er als Baby die Fische kennen gelernt hatte. Zugegeben, mit ihrer Vorliebe für Ballet oder R’n’B konnte er nichts anfangen, aber er verlangte auch nicht von ihr, sich einen World of Warcraft Account anzuschaffen. Jeder von ihnen hatte eben eigene Hobbies und nichts daran war dramatisch. An trägen Tagen, jenen, an denen Minou nicht nachmittags in der Halle stand und Marcel keine Lust hatte, sich hinter dem Monitor zu verschanzen, faulenzten sie meist gemeinsam auf der Couch herum und zogen sich stundenlang Scrubs und The Big Bang Theory rein. Sie funktionierten im Alltag, ohne dass es einen maschinellen Charakter hatte. Sicherlich lag es daran, dass sie schon als Grundschulkinder die meiste Zeit alleine Zuhause verbracht hatten, weil ihre Mutter nicht nur alleinerziehend gewesen war, sondern auch noch Vollzeit gearbeitet hatte. Wäre Minou nicht gewesen, wäre Marcel sehr lange Hand in Hand mit der Einsamkeit durchs Leben spaziert. Sonderlich gut darin, Menschen kennen zu lernen, war er nämlich nie gewesen.

"Ich hab dich lieb."

"Was?" Vollkommen verblüfft senkte Minou das Buch, das sie gerade per forma einmal durchgeblättert hatte. Die Bewegungen waren rabiat aus dem Leben geschieden. Ihre schmalen Augenbrauen glichen zwei Halbkreisen. Sie hatte ihren Bruder nicht verstanden – akustisch. Genau das drückte Minous Miene aus. Hätte sie sich nur vergewissern wollen, sich nicht verhört zu haben, so wäre die Konstellation ihrer Züge anders ausgefallen. Nach all den Jahren sah Marcel das wie ein Blinder mit Krückstock, lächelte leicht und winkte ab.
"Schon gut.“ Die Angelegenheit abtuend verstaute er beide Hände in den Hosentaschen, ehe er fortfuhr. "Könntest du dir vorstellen, etwas zu vergessen, wenn ich dich drum bitte?"

 Es klang befremdlich, zugegeben. Marcel musste sich bemühen, nicht noch sein Gewicht von einem Bein aufs andere zu verlagern, so sehr spannte dieser Moment, in dem Minou ihn einfach nur anschaute. Im Hintergrund provozierte der feine Wind wieder eine erquickte Bewegung des Fischschwarms. Kinderlachen schallte zu den Zwillingen hinüber und wurde nun durch ein knisterndes Aufeinandertreffen von Seiten übertönt. Minou hatte das Tagebuch geschlossen, schien sich jedoch mit allen zehn Fingern daran festzuhalten.
"Wie meinst du das?"

"Also angenommen, ich würd' dir was erzählen und, na ja, könntest du so tun, als hätte ich's nie gesagt?" Seiner Schwester Bedenkzeit gebend, wandte sich Marcel herum und räumte eine kleine Kiste von der schmalen Fensterbank.

An und für sich waren sie beide mehr der Typ Mensch, der Dinge aussprach. Und wenn einmal etwas ausgesprochen war, ließ es sich halt nicht mehr zurücknehmen. Es ließ sich diskutieren, absegnen, bestreiten, akzeptieren oder revidieren, aber nicht einfach vergessen.

Abwartend nahm Marcel auf der kleinen Fensterbank Platz und guckte sein Gegenüber an, welches unbewusst mit dem rechten Zeigefinger tippte. Nach einer schieren Ewigkeit erfolgte ein zögerliches Nicken, mit dem Minou das Buch zurück in den Karton packte, den Deckel schloss und das kleine Stückchen zu ihrem Bruder hinüber tapste. Die Fensterbank war zu eng für zwei Menschen. Als Kinder hätten sie sie sich noch teilen können, aber jetzt war das völlig ausgeschlossen, selbst wenn Minou nur ein Strich in der Landschaft war.
Per Körpersprache lud Marcel seine Zwillingsschwester ein, sich einfach auf seine Beine zu setzen. Bei der Übung lehnte er sich dezent zurück und deutete mit der einen Hand auf seine Oberschenkel. Minou verstand, selbstverständlich, wirkte aber dennoch etwas aus dem Konzept gebracht und strich sich umständlich die nicht vorhandenen Falten aus der Skinnyjeans, ehe sie die Einladung annahm.

"Du willst mir also was sagen und ich soll einfach so tun, als hätte ich's nie gehört?" Um sicher zu gehen, den Spielregeln folgen zu können, wiederholte Minou sie in eigenen Worten. Worte, auf die hin ihr Bruder nickte und ihr wie zur Absicherung einen Arm locker und doch bestimmt um die Taille legte.

Es herrschte Schweigen. Konzentriertes Schweigen, bei dem Minous Aufmerksamkeit ein paar der um sie verteilten Gegenstände abtastete und letztlich bei Marcels Augen anlangte.
"Warum willst du's mir dann überhaupt sagen?" Irgendwo schien Minou die Logik hinter der Aktion nicht recht erfassen zu können. Für gewöhnlich würde man auch keinen Sinn in all dem sehen. Hier ging es nur darum, einen Streit zu vermeiden, oder eine endlose Debatte, oder eine Phase der beleidigten Kühle...

"Weil du's wissen sollst."

"Ich soll's wissen, aber so tun, als wüsste ich's nicht..." Die Tonlage pendelte irgendwo zwischen 'ich finde das noch immer unlogisch' und einem feinen Hauch Amüsement. Parallel dazu schloss Minou kurzweilig die Lider und presste die Lippen aufeinander, so dass sie an Fülle verloren, aber an Ernsthaftigkeit gewannen. Vermutlich ahnte sie etwas und würde sich letzten Endes nicht an die Abmachung halten können. Sollte dies der Fall sein, würde Marcel es ihr nicht verübeln. Auf Geheißen eines anderen Menschen hin zu vergessen konnte weder erzwingt noch erlernt werden – zumindest nicht ohne Druckmittel.
Entgegen jeder Erwartung lehnte sich Minou nun behutsam an ihren Bruder, die Augen nachhaltig geschlossen, die Haltung entspannt und abwartend. Schon aufgrund des engen Kontakts zueinander und des umgelegten Arms war es ein Leichtes für Marcel, Minous Atemzüge in all ihrer Regelmäßigkeit nachzuempfinden. Sie waren so friedlich als könnten sie dazu beitragen, die eleganten Wellen zu formen, auf denen die Fische in der unmittelbaren Umgebung hinfort planschten.

"Ich hab dein Tagebuch gelesen. Damals, als du's gerade ein paar Wochen hattest. Aber eben, da hab ich's wirklich nur zufällig gefunden und nicht mal aufgeschlagen..."

Irgendwas musste in Minou vorgehen, aber rein äußerlich ließ keinerlei Reaktion auf ein emotionales Anspringen auf dieses Geständnis schließen. Die Stille war seltsam; sie war so seltsam, weil Marcel sonst immer irgendeine Resonanz erhielt – unabhängig davon, ob positiver oder negativer Natur. Hier und jetzt machte es beinahe den Anschein, als habe Minou sich mitsamt dem Geständnis in den ewigen Schlaf fallen lassen.
Doch die Zeit stand nicht still. Etwas passierte. Marcel bemerkte genau, dass das überdimensionale Gebilde des schlechten Gewissens wie ein verfallenes Bauwerk rissig wurde, allmählich zu bröckeln begann und im Zeitraffer in sich zusammen brach. Dahingerafft von den Umwelteinflüssen einer halben Ewigkeit, die nicht mehr umfasste als ein paar spärliche Sekunden. Sekunden, in denen die Fische fidel wie eh und je Luftbläschen ausstießen und ihre Ehre als Träger des Kinderlachens auskosteten.

Mit dem Daumen der umgelegten Hand strich man zaghaft und kaum merklich über Minous Seite hinweg. Der vom Daumen dabei zurückgelegte Weg konnte nicht länger als einige wenige Zentimeter sein.
"Tut mir Leid...", setzte Marcel flüsternd nach und hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu trinken. Stattdessen platzierte er einen gehauchten Kuss auf den blonden Haaren, direkt über Minous Ohr.
Heutzutage würde er garantiert nicht mehr so unachtsam Minous Privatsphäre gegenüber sein. Er hatte dazu gelernt. Nur weil er sie mochte und als seine engste Vertraute betrachtete, bedeutete das nicht mehr, nicht zu akzeptieren, wo ihr eigenes Reich begann. In den Kinder- und frühen Jugendtagen war es einfach unheimlich schwierig gewesen, diese Abgrenzung zu ziehen. Im Prinzip wenig verwunderlich: sie hatten seit je her immer an allen Lebensbereichen des jeweils anderen teilgehabt. Wie sollte man da begreifen, dass es auch anders funktionieren konnte?

Minou regte sich wie ein langsam zur Besinnung findendes Kitten. Die langen, dunklen Wimpern hoben sich bei einem vornehmen Aufschlag in die Lüfte und schienen den kostbaren Augen zu gestatten, in die Realität zu blicken, für die sie eigentlich viel zu schade waren. Der Charme einer aus 100-jährigem Schlaf erwachten Prinzessin prägte Minous Ausstrahlung und ließ sie plötzlich jünger erscheinen als sie eigentlich war.

Marcel hielt die Luft an, als seine Schwester ihn mit einem Mal ganz unverwandt anschaute und keine Miene verzog. Seine Suche nach Wut oder gar Enttäuschung lief auf Hochtouren, blieb jedoch erfolglos.
"Okay?", erkundigte er sich dennoch vorsichtig und bemerkte, wie sich Minous Brauen fragend verschoben.
"Was?"
Und da wurde Marcel klar, dass das Geständnis in irgendeinem der Kartons verstaut worden war. Einen, den man nicht mehr so ohne Weiteres zu öffnen vermochte. Die letzten Fragmente des Schuldanwesens verschwanden im Nichts; vielleicht von einem Regenguss davon getragen, vielleicht von einem Windhauch mit in die Ferne gerissen, vielleicht von Touristen eingepackt und als Urlaubsandenken daheim auf den Kamin gestellt. Seine Herzschläge fühlten sich jedenfalls freier an.

Auf beiden Mündern zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. Auf die gleiche Weise wie vorhin glitt Minous Hand erneut über ihr rechtes Hosenbein. Mit den Zehenspitzen schabte sie einmal kurz über eine der raren, nicht vollgestapelten Stellen auf dem Speicher.
"Es gilt gleiches Recht für alle?" Die junge Königstochter, die Minou ihre Ausstrahlung auslieh, zeigte sich plötzlich verschüchterter als man sie eigentlich kannte. Marcel konnte es sich nicht recht erklären, nickte aber trotzdem. Die Anspannung, die er eben erwartet hatte, schien erst jetzt den Körper seiner Schwester heimzusuchen. Jene war nervös, ohne jeden Zweifel.
Ob sie auch befürchtete, man würde es trotz Zusage nicht schaffen, das anstehende Geständnis einfach zu vergessen? Höchstwahrscheinlich. Aber ganz gleich, worum es ging, Marcel würde es tun. Er musste, allein deshalb weil Minou es auch getan hatte...

"In letzter Zeit, da..da fühl ich mich einfach total zu dir hingezogen. Anders als früher..." Nahezu unmerklich fiel das Schulterzucken aus, mit dem sie ihren Satz schloss und keine passenden Worte für weitere Erklärungen zu besitzen schien.

Marcel für seinen Teil konnte nur stumm starren; teils verwirrt, teils erstaunt. Minou fühlte sich zu ihm hingezogen? Anders als früher? Was sollte man daraus nun konkret schließen?
Fest stand jedenfalls, dass ihr die Gefühlsänderung unangenehm war. Sowohl ihre Hibbeligkeit als auch ihre unruhigen Gesten bewiesen es. Das regelrecht nach Hilfe fahndende Springen ihres Blicks gehörte ebenfalls dazu. Von Verliebtsein konnte doch aber wohl nicht die Rede sein. Oder?
Marcel hielt, unbemerkt von ihm selbst, die Luft an und spürte, wie die Unsicherheit ihn zu zerreißen drohte.

"Ich glaub, ich bin einfach nur ein bisschen verknallt...", schlich sich das Resultat von Minous Überlegungen über ihre Lippen, wurde vom Kinderlachen absorbiert und aufs Meer hinaus getragen.
Ein bisschen verknallt also.
Aus unerfindlichen Gründen klopfte Marcel das Herz gerade bis zum Hals. Vielleicht war es Bestürzung oder Schrecken. Denn dass Mädchen sich oft und gerne in ihn verguckten, war mittlerweile nichts Neues für Marcel. Auf seine Schwester dieselbe Wirkung zu haben, wie auf die restliche Damenwelt, hingegen schon!

"Tut mir leid..."

Die Entschuldigung ließ Übelkeit in Marcels Bauch aufkeimen, beinahe so als befände er sich auf hoher See bei Windstärke zehn. Er wurde seekrank...
Doch ganz gleich, wie stark der Drang war, etwas zu unternehmen, er durfte nicht. Er konnte seiner Schwester weder mitteilen, dass es ihr nicht leid tun brauchte, noch dass es ihn komplett aus der Bahn warf. Welch enorme Irritation von Marcel Besitz ergriffen hatte, wurde diesem auch nur langsam bewusst. All seine Gedanken spiegelten sich in den Farben der ihn umschwirrenden Fische wider, waren knatschbunt und hellauf durcheinander.

Minou indes kämpfte wohl arg gegen die Überzeugung an, den Verstand verloren zu haben. Im Verlaufe ihres inneren Kleinkriegs senkten sich ihre Lider wieder herab und schienen die Realität der Einfachheit halber auszusperren.

Was sollte Marcel tun? Das Bedürfnis, sich in irgendeiner Form zu äußern, brachte ihn dazu, einen weiteren Kuss auf Minous blonde Haare zu hauchen. Dieses Mal von längerer Dauer und als Zeichen dafür, dass einen die Situation zwar verwirrte, aber nicht auf Distanz gehen ließ. Wie auch? Ohne Minou ging es nicht; gar nichts ging ohne sie in Marcels Leben...
Aber er bereute, die Angelegenheit nicht mit ihr besprechen zu können. Selbst wenn er noch keine wirkliche Ahnung hatte, was er denn hätte sagen sollen oder können... Irgendwas hätte sich bestimmt finden lassen. Oder gab es dafür keine Worte und Minou hatte sich genau deshalb für dieses Geständnis entschieden?

Marcel würde es nie erfahren. Er konnte es nur vermuten.

Zum zweiten Mal erwachte Minou aus ihrem Märchenschlaf, jedoch ohne die ausgesprochenen Geheimnisse in die Gegenwart mitzubringen. Dafür hatte die Prinzessin ihre Aufregung abgelegt, schien wieder imstande zu lächeln und den seichten Luftzug auskosten. Weder langsam noch schnell erhob sie sich, hielt ihrem Bruder die Hand als Aufstehhilfe hin und zog ihn, als er lächelnd darauf einging, auf die Füße.

Das Lachen aus Kindertagen begleitete die beiden in Richtung Treppe, verschluckte die Geheimnisse und gab den Geschwistern eine neu geborene Unbeschwertheit mit auf den Weg. Beim Zuziehen der Türe legte Marcel das Geständnis seiner Schwester fein säuberlich zusammen, schloss den Karton mit aller ihm zur Verfügung stehenden Liebe und warf ihn der Kunst des Vergessens zum Fraß vor. Inwiefern diese sich den Magen an dem eigenwilligen Futter verdarb, konnte der Junge zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedauerlicherweise noch nicht sagen.

 

Yes the secret
The secret
Will remain...

 

ENDE

Impressum

Texte: 2007 bei mir
Bildmaterialien: Die fürs Cover benutzten Bilder sowie der Liedtext gehören nicht mir.
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

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