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Dieses kohärente Ganze


Dieses kohärente Ganze, was sich einst sein Leben nannte, war mit der Zeit nicht bloß brüchig geworden, so wie man es eben von gewissen Objekten gewohnt ist, die einer Kollision mit Schicksalsmeteoren nicht standhalten. Nein, es war zersprungen.
Ganz langsam.
In einer langwährigen Millimeterarbeit hatten sich die Risse ausgebreitet und waren zu einem verzweigten System Abertausender Äderchen herangereift, bis sie einen in sich geschlossenen Giftkreislauf bildeten. Schimmelpilzartig hatten sie sein Dasein durchzogen, Zelle um Zelle, Bereich um Bereich, und letztlich das gesamte Existenzkonstrukt befallen.
Und er, er hatte es gehört; die ganze Zeit.
Bei Tag und bei Nacht hatte er die Hilfeschreie seiner Glaswelt mit anhören müssen und war doch nie imstande gewesen, etwas gegen den kontinuierlich voranschreitenden Zerfall zu unternehmen.
Als es dann so weit war, der Punkt X erreicht war und das monströse Glasknirschen in einem ohrenbetäubenden Knall mündete, glaubte er ob des erlittenen Hörsturzes, es habe endlich ein Ende. Sein Leben sei einfach vorbei. Radikal ausgelöscht wie eine Kerzenflamme von einem kräftigen Windzug.
Dass dem jedoch nicht so war, begriff er, als ihm seine Füße Schmerzimpulse meldeten, jene seinen Blick auf den Boden kommandierten und ihn zu der schmerzhaften Erkenntnis kommen ließen, auf Scherben zu stehen - und auf eben diesen Scherben den Rest seines Lebens waten zu müssen.

Alles ist gut und alles wird besser


Wir belächeln, wen wir treffen. Wer uns dankt, wer uns kritisiert. Wer sich sowohl aufrichtig als auch unaufrichtig für uns interessiert. Wer sich nach uns und unserem Leben erkundigt.

Alle verdienen ein Lächeln. Ja, nein, danke, bitte, weißt du, es ist nur, ja, mhm. Herr Anstand ist ein guter Freund von uns, mit dem sich alles Zwischenmenschliche perfekt bearbeiten lässt. Den Rest erledigt die Empfangsdame der Verdrängung im Vorzimmer des Bewusstseins.

Alles ist gut – und alles wird so viel besser, mach dir da keine Sorgen, du schaffst das schon, vergewissert man uns. Uns werden emotionale Mutmotivationskekse zugeschoben, wenn wir groß und breit unsere eigens für die Umwelt kreierten Zukunftspläne erörtern. Bunt malen, was wir wollen und woran wir arbeiten und wofür unsere Herzen schlagen und unsere Lächeln unersättlich sind. Alle freuen sich, wir exklusive.

Alles ist beschissen – und nichts ist je besser geworden.

Das denken wir in Wirklichkeit, wenn wir blank lachen, andere amüsieren, Teil einer funktionierenden Welt sind, eine Stufe nach der nächsten erklimmen, uns nicht ansehen wollen und doch dazu gezwungen sind, ständig unser Leben zu betrachten. Freunde, Familie, du, ich. Alles wird besser. Dann, wenn alles endet, wird es tatsächlich auch endlich gut werden. Das ist so ein unbezwingbares Gefühl, ganz tief in uns.

Deswegen haben wir sämtliche Arbeiten an unserer Zukunft insgeheim längst niedergelegt, ganz gleich wie durchdacht und optimal wir diese vermeintlich schillernde Zukunft allen anderen Leuten erscheinen lassen. Mit Worten ihr Vorstellungsvermögen tapezieren, bis sie sich zu wohl fühlen, um etwas an dem modernen Neubau zu hinterfragen. Es ist bequemer, auf einem gemütlichen Sofa zu sitzen und sich einlullen zu lassen, als sich zu wundern, woher der modrige Geruch stammt.

Wir arbeiten indessen, lächelnd, einzig und allein noch daran, alles Jetzige abzuschließen. Stets das baldige Ziel vor Augen, welches nichts mit der Zukunft gemeinsam hat, die man uns zu lieben und ehren lehrte.

Ja, alles wird dann gut werden.

Jedermann ist Niemand

Jedermann behauptet immer, sie sei schön.

Aber Niemand hat sie je richtig angeschaut.

 

 
Sie hebt den Handspiegel nicht mehr, denn im nüchternen Glas sähe sie nicht nur ihr Selbst, sondern auch das Unheil namens Leben, das unmittelbar hinter ihr steht. Seine geisterhaft untemperierten Hände, an denen die Überreste des Daseins vor sich hin faulen, zerlaufen auf ihren Schultern und verschmelzen Haut und Verzweiflung miteinander.

Sie kann es riechen.

Immerzu.

24 Stunden am Tag.

In ihrem Zimmer hausiert der impertinente Verwesungsgeruch und fusioniert mit der aus ihrem Herzen emporsteigenden Trauer. Giftige Dämpfe entstehen, die sich bei Berührung mit dem hinter ihr stehenden Leben säureartig verhalten: fressen, nagen, ätzen und knabbern.

Sie löscht sich also mittlerweile selbst aus. Ihr Schatten ist längst verschwunden und ihre Seele bloß noch ein 20 Gramm schwerer Mythos.

Ob Niemandem jemals aufgefallen ist, dass sie lange fort ist?
Aber Niemand ist aufmerksam.

Trink und iss und erzähl. Sag, wie dein wunderbares Leben aussieht, aussehen wird!
Das ist es, was Jedermann von ihr verlangt, fortwährend und sie somit von Kindsbeinen an zur bravourösen Lügnerin erziehend.
Ihre Phantastereien sind letzten Endes nur wunderbar aufbereitete Wortgebilde. Sich majestätisch räkelnde Silben, mit denen sie gen Horizont verweist: Dort ist es. Dort hinten. Schaut, schaut! Ihr müsst die Augen ein wenig zusammenkneifen; dann könnt ihr es im gleißenden Sonnenlicht tanzen sehen.

Ein tanzendes Leben ist akzeptabel. Eine verrottende Lebensleiche hingegen inakzeptabel. Jemand hat ihr das beigebracht, irgendwann im Laufe der Jahre, als die Zeit daher kam, um Körper und Geist auszurollen wie Plätzchenteig. Das Gewicht auf ihr war menschlicher Natur und hat ihre Unschuld in die Form von Misstrauen gepresst. Alles gut durchgegart bei 37 °C Körpertemperatur. Da aber Niemand ungenießbare Ereigniskekse mag, landen diese nie auf dem Tisch der Tatsachen – unabhängig davon, wie oft sie anmerkt, noch etwas im Hinterzimmer stehen zu haben.

 Sie hebt den Handspiegel nicht mehr, denn auch ohne Blick auf sich selbst, weiß sie um ihr verrottetes Herz, das stillschweigend von der verschlissenen Sehnsucht nach Sicherheit erzählt: Hier ist es. Hier drin. Schaut her, schaut her! Ihr hättet die Augen nur aufhalten müssen; dann könnte ich mich heute auch im gleißenden Sonnenlicht tanzen sehen.

 

  

Jemand behauptete immer, sie sei lieb.

Aber Jemand hat dabei vorlieblich an sich selber gedacht.

Baby, Baby, sugar me

Die Geruchsmoleküle der frischen Farbe wabbern als unsichtbare Zuckerwatte durch die Lüfte. Verdicken den Sauerstoff, verkleben die Atemwege und karamellisieren die ob Überarbeitung glühenden Hirnzellen. Hier und dort rieselt ein gelöstes Zuckerkrümelchen in den Organismus und wartet als tickende Zeitbomben darauf, vom Blut davon gerissen zu werden und eine lebenswichtige Ader zu verstopfen.

Alles ist nur noch eine Frage der Zeit. Sie spürt es, instinktiv, und ignoriert es, notgedrungen.

Beim letzten Pinselstrich ist Sie zurückgetreten, auf dass Sie aus objektiver Entfernung einen Gesamtüberblick Ihres Werkes erhält. Himmel und Welt von ihrer Schokoladenseite. Ihr Insulinspiegel schreit förmlich nach dem Zucker, den die Luft so schmackhaft macht. Ihre Muskeln verzehren sich danach und das dazugehörende Erbitten tritt in Form eines Zitterns an die Oberfläche.

Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit, schüttelt Sie stur den Kopf. Zuckerpartikel segeln daraufhin wieder von den blockierten Neuronen, sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Endorphine kümmern sich um die Formalitäten, lassen Sie begeistert den Pinsel ablegen, nicken, lächeln, Erleichterung verspüren und Ihn herbei holen.

Schau, schau, schau. Ich habe den Himmel angemalt. So, wie du wolltest.

Sie ist so stolz, dass es verbracht ist. Dass Sie Ihm beweisen konnte, etwas zu schaffen, etwas zu können. Und zwar genau das, was Er von Ihr verlangt hatte.

Seine Miene rührt sich allerdings nicht, ist geschätzte fünf Sekunden eine starre Maske, ehe die Gesichtszüge einer nach dem anderen entgleisen wie Taue, die etwas extrem Schweres nicht mehr zu halten vermögen.

"Das ist doch nichts." Er geht, angewidert. Die Farbe stinkt, bestialisch, wie Er findet. Es ist infam, Seine kostbare Zeit für solcherlei zu vergeuden.

Sein Verhalten zerfetzt all Ihre aus Liebe geborene Ambition in Millionen Teilchen, die im Geruchsnirwana abhanden kommen, um gleich darauf als Zucker wiedergeboren zu werden.

Du bist vergiftet, schreit das sich in Ihrem Körper tummelnde Adrenalin, lautlos. Sie fühlt es, wieder, und beginnt von vorne, blind. Die Pupillen getrübt von einem weißen Schleier.

Die Umwelt schickt Laufburschen aus, die die restlichen Bereiche Ihres Lebens zu verwalten haben, zu kontrollieren haben, Aufgaben für Sie in Petto haben. An Schulter und Rücken tippen sie mit zögerlichen Fingern. Da ist doch noch was zu tun. Das kannst du doch? Schau mal… Wieso kannst du das nicht...? Hörst du mir überhaupt zu?

Zuckerschnee rieselt, als Sie kaum merklich den Kopf schüttelt. Sie kann das hier nicht - und wenn Sie das hier nicht kann, wird Sie nie etwas können, nie etwas sein.

Was ihr da habt, das ist doch nichts, möchte Sie allen Laufburschen sagen - im nettesten Falle; die übrige Zeit will Sie sie anschreien:
Ihr seid nicht wichtig, geht weg, ich hab für eure Anliegen keinen Raum, ich kann nicht denken, ich kann mich nicht konzentrieren, ich versuche zu arbeiten, seht ihr nicht, dass ich arbeite? Seht ihr das nicht? Seht ihr überhaupt irgendetwas?

"Tut mir leid", quittiert Sie stattdessen oberflächlich die Botschaften der Laufburschen, nimmt sie ihnen aus den Händen und lässt sie neben sich zu Boden fallen, bloß um gleich darauf wieder den Pinsel anzusetzen.

Sie weiß, Sie schafft es nicht. Es ist Ihr ganz bewusst, schmerzhaft bewusst. Atmen, Sehen, Sprechen und den Pinsel führen, Schwerstarbeit. Krampf. Der Zucker wandert umher, irgendwo in Ihr, Richtung Herz, Richtung Hirn, durch die Blutbahn. Städtetour der etwas anderen Art. Vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht in ein paar Jahren, wird er sein Ziel erreichen und der Sauerstoffversorgung den Weg abschneiden. Kein Durchkommen mehr gewähren.
Hirnschlag.
Herzstillstand.
Es sollte jetzt schon geschehen, wünscht Sie. Es wäre ja nichts. Sie tut schließlich auch nichts.

Routinearbeit


Und so ergab es sich, dass sie ob des seit schierer Ewigkeit vertrauten Anblickes nicht mal mehr zu blinzeln vermochte, als sie die Blessuren auf dem nun entstellten Gesicht betrachtete.

„Armes Ding“, sprach sie noch, während sie unlängst dabei war, die nötigen Utensilien mit geflissentlicher Sorgfalt zusammen zu suchen, Tusche und Farbe herbei trug und dabei die stete Beobachtung aus dem Augenwinkel doch niemals aufgab. Zu ramponiert war die heimgekehrte Lüge – mit tiefen Kratzern, deren scheinbar willkürliche Verteilung keinerlei Musterung erkennen ließen auf dem einst makellosen Antlitz –, als dass das Risiko des unbemerkten, endgültigen Zusammenbruches eingegangen werden konnte.

„Ich mach das schon“, bemühte sie sich zu beruhigen und schlug einen Flüsterton an. Gleichzeitig schob sie ihre filigrane Hand routiniert unter das Kinn der Unschönheit, hob es; der Blickkontakt war ein Aufeinanderprallen von mutmaßlich zerstörtem Allem und unergründlichem Nichts. Und tief aus diesem Nichts heraus schöpfte sie die antrainierte Präzision und Vollkommenheit, die es bedurfte, um der Lüge ein neues Gesicht zu verleihen.

Das schönste Puppenkopfphänomen

Jemand sagte einst zu ihm, seine Seele trüge das schönste Puppenkopfphänomen zur Schau, was ihm jemals untergekommen sei.

Von dem Hohn geohrfeigt, war er in der Hoffnung auf Wiederbelebung gegangen. Damals, nach der Schule, als die Zeiten, in denen man ihn höchstens zum Abschreiben der Mathe- oder Physikhausaufgaben missbrauchte, endlich vorüber waren.

Als er Jahre später zurückkehrt, hört man den Wind vor ihm davonlaufen.
Seine Seele ist gestopft wie eine prall gefüllte Weihnachtsgans, der der charakteristische Geruch von Verdorbenem anhaftet.

Warten auf den ersten Schnee

Schnee möge fallen, bald, bald.

Sie blickt empor zum Firmament, an dem die alteingesessene Gesellschaft der Sternenpracht sich zum allabendlichen Besäufnis versammelt hat. Die Stille ihrer üppigen Gemüter lässt dem Licht keinen Platz, verweist es des Himmels und komprimiert die Dunkelheit. Die Nacht erblüht in tiefer Schwärze.

Sie ersehnt noch immer den Schneefall, auf dass das scheinbar ewig währende Lächeln auf ihren Lippen mit ihr und ihren rastlosen Gedanken endlich erstarrt. Eis wird.

Eine Frage des Stolzes

 Natürlich tut es ihnen furchtbar leid; ihnen allen. Ausnahmslos. Jedem einzelnen. Und sie sind entsetzt. Ach Gott, was sind sie doch entsetzt. Es ist ja so schrecklich.

„Warum hast du denn nie etwas gesagt?“, fragen sie, die Augenbrauen rund und von Fassungslosigkeit berichtend, die Stimmen in bestürzte Höhen ausschlagend.

Natürlich waren sie immer für einen da. Selbstverständlich haben sie für alles Verständnis. In jeglicher Lebenslage sind sie bereit, einem zuzuhören.
Das wusste man doch.
Ja, das wusste man…

Doch der Blick ihrer Augen, so forsch, so betroffen, so ekelhaft empathisch – dir ist unlängst schlecht. Dass du all die Geheimnisse, all die Probleme, die du krampfhaft vor der Welt zu verbergen versucht hast, bereits mit deiner geschundenen Seele ausgekotzt hast, ändert nichts an deiner Übelkeit. Unter diesen Blicken, unter dem Wissen, fortan von allen mit diesen Gesichtern besehen zu werden, wünschst du dir, an deiner verdammt kaputten Welt zu ersticken. Möge Ersticken auch als eine eher qualvolle Todesart gehandelt werden, alles kann im Gegensatz zu einem Leben mit Menschen, die dich kennen, nur angenehm sein. Denn du bist ein Verlierer und es kommt nicht von ungefähr, dass du läufst und läufst und doch immer wusstest, dich in einem ausweglosen Labyrinth zu Tode zu hetzen. Die Wahrheit auf den Fersen. Das Flüstern einer unaufhaltsamen Zukunft hinter den verwitternden Mauern.

„Wer hätte das gedacht? Mit so was hätte ich ja nie gerechnet!“

Gestürzt und in der feuchten Ecke kauernd, aufschauend und auf die zahllosen Blicke jener treffend, die sich Verwandte, Bekannte, Freunde und Familie nennen, ist dein Lachen letztlich der hilflose Abklatsch einer einst perfekten Fassade.

„Es war alles ein bisschen anders“, beginnst du, dich aus den Angelegenheiten herauszulügen und die Wahrheit wieder einmal umzugestalten. Bunt zu malen, auszuschmücken, umzudrehen, skurril zu verzerren, ihr die Knochen zu brechen, plastische Realitätschirurgie anzuwenden und sie somit in solch ein perfektes Meisterwerk zu verwandeln, dass es die Augen blendet. Sie irritiert blinzeln, verwundert ihre Fokussierung lösen und den Blick überlegend umherschweifen lassen.

„Na dann…“, äußern sie Bedenken.

Dir ist es gleichgültig, ob sie es nun geschluckt haben oder nicht. Du nutzt lediglich die Gunst der Stunde um zu fliehen. Es ist das letzte Bisschen Kraft, mit dem du aufspringst, das Deckmäntelchen von falscher Identität übergeworfen, und unbeirrt weiter rennst.
Irgendwohin, wo du noch Schonfrist genießt, bis die Augen der Umgebung wieder diesen leidigen Ausdruck bekommen und du notgedrungen eine neue Bestellung aufgeben musst:
Ein neues Leben bitte – Deine Phantasie hat dich längst erhört; nicht heute, sondern vor vielen, vielen Jahren, als es im Duell gegen die weltlichen Grausam- und Unbezwingbarkeiten zu begreifen begann, dass die Person, die du bist, niemals für dieses Leben ausreichen wird und du dank dieser Feststellung jeden Tag ein Stückchen mehr zerbrochen bist.


Nein, du brauchst kein Mitleid. Und noch viel weniger brauchst du jene, die du allein auf Grund der Tatsache, dass sie dich kennen, als Gefahr einstufst.

-The End-


Der Motor schweigt uns seit geschätzten fünf Minuten vorwurfsvoll an, ehe er uns ein barsches „Steigt ihr jetzt mal endlich aus!“ an den Kopf knallt.

Die Türen knarzen nicht, die Ledersitze geben keinen Hinweis darauf, unsere Körper zu vermissen. Es riecht nach Nichts und die Luft schmeckt nach Ewiggleichem.

„Dann sind wir wohl da“, spricht er neben mir und betrachtet abschätzend das vor uns liegende Ende mit seinen Flächen und Kanten, Ein- und Ausgängen, Gesichtern und Ebenen. Von Charakter keine Spur.

Ich zucke mit den Schultern, so als sei ich mir nicht sicher. All das ist nicht mehr und nicht weniger als das, was wir zurücklassen.

„Hm...“ Er kickt einen Stein gegen das Ende, das uns daraufhin böse anfunkelt.

„Mhm.“ Ich versuche mir das Ende schön zu denken, so wie ich immer versucht habe, mir die Vergangenheit, die Zukunft und alles Gegenwärtige schön zu denken auf Geheißen meines Umfeldes hin. Weil laut diesem ja auch nichts dagegen sprach. Aber es funktioniert nachhaltig nicht. Die Phantasie hat schon vor langer Zeit ihre Koffer gepackt und einen Widerspruch gegen diese Art des Missbrauchs eingelegt.

„Das ist mir jetzt irgendwie nicht spektakulär genug“, entscheide ich schließlich kühl, rotze dem Ende ein Augenrollen vor die Füße und steige wieder ins Auto.

„Ne, mir auch nicht“, dringt es leicht zeitversetzt zu mir hinüber. Dann habe ich wieder Gesellschaft im Wagen. Das Ende zeigt uns den Mittelfinger: „Ja, verpisst euch doch! Ihr landet eh noch bei mir!“

„Whatever.“ Er hat keine Lust, jetzt den Mann mit den vielen Worten zu mimen. Dafür wird er oft genug bezahlt. Wenn die Leute mal wüssten, wie sehr es ihn ankotzt. Das Mimen und das Er-Sein gleichermaßen.

„Bildet sich auch sonst was ein...“ Ist doch so. Wenn einen das Leben nicht mehr tangiert, wie dann noch dessen Ende?

Rot wie Wein

 Das verschreckte Kreischen von Scherben durchschlug die sterile Stille des Nachmittags, kaum dass Sie den Schlüssel geräuschlos im Schloss herumgedreht hatte und die Türe öffnete. Das Glas unmittelbar vor dem Eingang stieß seine letzten Hilferufe aus, als die Tür sie trotz Vorsicht achtlos beiseite kehrte. Im müden Licht der frühen Märzsonne glitzerten die kleinen Inseln im Meer der roten Flüssigkeit, das uneben Küsten geschaffen hatte. Über die Kacheln des Flurs hinweg bis zum Wohnzimmereingang, auf diesem Weg minimierte sich das Meer zu einem löblichen Fluss, dessen Quelle von der Türschwelle aus nicht erkenntlich war.

 

Nicht den guten Wein dem Streite opfern, hallte der mütterliche Ratschlag durchs überstrapazierte Nervenkostüm der jungen Frau, die sich seufzend durch die trotz penibler Fön- und Bürstaktion nicht perfekt hergerichteten Haare strich. Es war zu spät, um sich an die gutgemeinten Prinzipien zu halten. Eine deprimierende Erkenntnis, die das Gewicht der Handtasche ins Unermessliche hinaufschraubte. Sie brauchte gleich beide Hände, um das sonst so spielend die feine Figur ergänzende Täschchen mit sich zu schleifen, während das hohe Schuhwerk zaghafte Bekanntschaft mit dem Meer machte. Die spiegelnde Beschaffenheit des edlen Tropfens war mit der Zeit des Lufttrocknens ins Jenseits geschickt worden.

 

Willkommen Zuhause, hörte Sie sich tonlos sagen und die Türe hinter sich genauso lautlos schließen wie Sie sie zuvor geöffnet hatte. Wie Donnerschläge drang das Klackern der Absätze durchs Anwesen; das Geräusch an sich versuchte sein Bestes, jemanden hervor zu locken, zischte die weite Marmortreppe hinauf, schnellte durchs Obergeschoss und wetzte zurück nach unten, um dort die ausweglose Suche fortzusetzen.

Es würde ja doch niemand kommen. Sie wusste es, die Schuhe nicht. Diese schafften es noch nicht einmal, ihren Käufer bei der Hand zu nehmen und her zu führen...

 

Durch das klebrige Meer hinweg, vorbei am stillgelegten Fluss, bis der Türrahmen des Wohnzimmers als Stütze zur Verfügung stand, trieben Sie die Bewegungen.

Jetzt war es möglich. Jetzt lag die rote Quelle offen zwischen einem weiteren Scherbenberg, der einem jeden Gerichtsmediziner mit Bedauern mitzuteilen hatte, dass er einst die Gestalt exquisiter Kelchgläser besaß. Um den übelst zugerichteten Quellsprung räkelte sich ein wirsch verrückter Tisch, das Tuch von Wasser durchtränkt, die Blumen gnadenlos da nieder gemetzelt. Selbst tot passten sie noch zum Rest der kostspieligen Einrichtung, deren kontroverses Talent darin bestand, Schwere und Leichtigkeit zugleich zu verkörpern. Die Blumenvase an sich ließ auf Schädelbasisbruch schließen, verübt mit einem schweren Gegenstand, eine dreist von vorne verübte Tat, ohne Chance auf Überleben.

 

Sein Körper thronte in einer skurrilen Verrenkung auf der Couch, bedeckte teilweise das Rot des Weins und des Bluts. Letzteres malte fidele Spritzer, tollpatschige Punkte und ein verzweigtes Kanalsystem auf den feinen Samt des Sofas, ohne dass deren Sinn und Zweck hätte ermittelt werden können.

Sie beobachtete das halb im Kissen verborgene Gesicht, die auf Trauer und Wut, Verzweiflung und Zorn schließen lassenden Züge. Spuren von einer gigantischen Emotionsflut verunstalteten die sonst so agile Miene wie eine unabstreifbare, zweite Haut. Die Bleichheit einer Anämie hatte ihre Arme im Schlaf um das breite Kreuz geschlungen und strafte den Herrn des Hauses mit einer hölzernen Verknautschtheit.

Das Bild wirkte magnetisch, ebenso wie das Haus und die damit verbundenen Gefühle, die für ihre Rückkehr gesorgt hatten. Sie musste ihre bisherige Position aufgeben, über den an einer Seite umgeschlagenen Teppich klettern und unmittelbar neben dem Sofa wieder der Starre zum Opfer fallen. Erinnerungsfetzen des gestrigen Abends und der anschließenden Nacht erstickten das Bewusstsein, lähmten die Nerven, zerrten Schwärze vor die Augen. Sowohl schnell als auch panisch flatterten die Wimpern über die geröteten Augen hinweg und hinterließen einen charakteristischen Tränenglanz, der sich majestätisch in der Sonne aalte.

 

Durch sein Antlitz fuhr ein Hauch Leben, ließ ihn entgegen seines tatsächlichen Alters jung und verbraucht erscheinen. Seine Gesichtsmuskulatur kämpfte sich zurück ins Diesseits, derweil sein Verstand dagegen hielt. Am Ende es Tunnels dann das Licht, durch dessen grellen Schein die vagen Umrisse einer Silhouette schimmerten. Sein Blinzeln überdauerte ein paar ungläubige Sekunden, in denen Er durch das Licht blickte und mit einem Schlag hellwach war, kaum dass Er die Anwesenheit seiner Göttin zur Kenntnis genommen hatte.

"Du bist wieder da!" Wie eine ewig lang stillgelegte Maschine, deren erstes Schnaufen in keiner Weise zu ihren einstigen passte, wirkte der Klang seiner Stimme. Gleichzeitig rappelte Er den schweren Körper auf, ignorierte Rückenschmerzen, die aus der fatalen Haltung resultierten, und hatte seine Lichtgestalt im nächsten Moment in die Arme geschlossen. Begierig wanderten seine Fingerspitzen über den zierlichen Körper und konnten nicht genug Versicherung für den Wahrheitsgehalt dieser Situation finden. Aus seinen Lungen strömten Atemwogen der Erleichterung, nebelten Sie ein, verwiesen die Logik des Platzes und ließen Sie mit einem einfachen "ja" antworten.

Ja, Sie war wieder da. So als habe Er einen Fluch über Sie ausgesprochen, ein Liebesfluch, um es zu konkretisieren.

 

In enormer Geschwindigkeit beschenkte Er ihr Haupt und ihr Haar mit Küssen, klammerte sich wie ein Ertrinkender an Sie und ließ Sie gewähren, als Sie seine rechte Hand abfischte, um das Ergebnis des letzten Streites zu begutachten.

Sie waren unsauber, verkrustet und abstoßende Fremdkörper auf der sonst so makellosen Haut. Machten den trügerischen Eindruck, als könne man sie einfach abwaschen oder abziehen. Waren nicht tief genug, um den Tod herbei zu locken, aber tief genug, um Blut zu weinen. Aus einem gigantischen Schuldgefühl heraus hauchte Sie, die Augen geschlossen haltend, einen kaum spürbaren Kuss auf die Kratzer an seinem Handgelenk.

Er tat es immer wieder... Jedes Mal, wenn die Auseinandersetzungen Ausmaße erreichten, mit denen Er nicht fertig wurde. Jedes Mal, wenn am Horizont die begründete Sonne einer Trennung aufgehen wollte und die einer Beziehung zu versinken drohte.

Wenn Sie wahrhaftig ginge, mit mehr Gepäck als der Handtasche und mehr Entschlossenheit als dem mickrigen Bisschen, was unter der Angst hervor lauerte, dann würde Er es nicht überleben. Er hatte es ihr gesagt, ihr sein Ende prophezeit und ihr mit der gleichen Hoffnungslosigkeit zu verstehen gegeben, dass es ausschließlich an ihr lag, ob dieses Ende jemals bittere Realität werden würde. Er konnte nicht ohne Sie, und Sie konnte nicht mehr mit ihm, dem Druck, den unzähligen Scherben ihrer zerschlagenen Liebe.

 

"Das von gestern wird sich nicht wiederholen. Das verspreche ich dir."

 

Selbstverständlich, wie sonst auch. Es wäre traumhaft, ihm Glauben schenken zu können. Es wäre naiv, ihm in dieser Hinsicht zu vertrauen. Dennoch erwiderte Sie sein zuversichtliches Lächeln, zunächst zaghaft, dann entschlossen. Das von gestern, es würde sich nicht wiederholen. Ihre Gedanken flossen mit Wein und Blut in neue Richtungen, entgegen irgendwelcher Gesetze, Berg auf. Es musste schmerzfreiere Wege geben, als zu verbluten. Sie würde einen für ihn finden, ehe das nächste Gewitter des Streites die falsche Sonne der Liebe wieder verdunkeln konnte.

Impressum

Texte: Diverses von mir aus den vergangenen Jahren
Bildmaterialien: http://g4.psychcentral.com/
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2012

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