Cover

I

 

Einst
Vor langer, langer Zeit
Erwachte eine junge Frau
Mehr noch ein Mädchen
Dazu berufen, nicht zu klagen
Nicht zu altern
Nicht zu weinen
Nie
Für ihn

 

„Das wirklich Tragische ist ja-“, seine matte Unterbrechung vermengt sich ungeniert mit dem vergifteten Licht in seinem Glas. Das Wasser darin hopst auf Kommando seiner Hand, die nur mehr ausführende Gewalt seines Willens ist. Zwischen Lächeln und Verzweifeln kräuseln sich seine Lippen gewohnt zwiespältig und sind der Dreidimensionalität des Lebens erlegen. „...Dass wenn ich wach werde, ich mein, wenn ich wirklich wach werden würde, dann...“

Seine Blicke begehen keine Verbrechen, sie begehen Gräueltaten. Sonst würde mich sein Blick wie ein vorbildlicher Kopfschuss darnieder strecken. Stattdessen ist es der Magen, unterhalb des Zwerchfells, nicht mal darüber. Nicht mal die Lunge. Mir bleibt dennoch die Luft weg.
Knapp vorbei ist eben auch daneben.
Knapp das Leben verpasst, bedeutet auch zu sterben.

„Dann würdest du verschwinden. All das hier würde einfach so verschwinden!“ Mit ausschweifender Geste legt er mir einen Arm um, während der andere den Raum mit seinem unersättlichen Narzissmus bis zum Anschlag füllt. Gegen die Decke bollert und seine Stimme wie Erdbebenwogen nachhallen lässt.
Auf meine Schulter tropft untemperiertes Wasser, in meiner Nase kribbelt lauwarmer Schnee, auf meiner Haut zirkuliert leeres Sternenlicht. In meinem Körper brennt die Kugel und kocht mein Rückenmark, sodass ich als Wachs an seiner Seite ende.
Alles ist aufgestockt, und jeder Atemzug könnte zu heftig sein. Könnte das schöne Konstrukt seiner vermeintlichen Welt zum Einsturz bringen. Aber daran denkt er nicht. Es wird halt einfach nicht geschehen. Auch nicht, wenn ich wie ein angefahrenes Tier in seine festen Augen lächele und dem Gefühl unterliege, mein angeschossener Magen schicke blutige Grüße meine Speiseröhre hinauf.

„Du existierst nämlich gar nicht“, streicht mir seine schaurige Stimme mit aufrichtigem Bedauern übers Trommelfell und entreißt mir den Status des Seins. Mein Verstand sucht meine Füße mit dem dazugehörigen Boden der Tatsachen darunter. Ich sehe den Teppich, die Kacheln, das Parkett, Sand, Straße, Wasser, Holz; so vieles, über das ich schon gewatet bin auf unserer Odyssee.
Letztlich verliert es sich in einem verschleierten Weißgrau.

„Daran musst du immer denken: Du existierst nicht. Und deswegen brauchst du nie traurig schauen. Du existierst nur hier für mich. Wär das nicht so, hättest du nicht diese Haare und diese Augen und diesen Körper. Und du würdest älter werden. Meinst du, es kommt von ungefähr, dass du so jung aussiehst? Selbst nach all den Jahren?“ Seinem Seufzen wohnt etwas Pathetisches inne und bringt Amüsement über meine Weltanschauung zum Ausdruck. Die Nase in meinem Haar, gierend und absorbierend, verweilt er; seine Welt abgöttisch liebend.

Selbst anders riechend, selbst anders redend, selbst anders seiend.

„Erst wenn es mich nicht mehr gibt, dann gibt es auch dich nicht mehr. Dir kann also gar nichts passieren.“

Das einzige, was mir passiert, ist er.

Mein Lächeln ist anhaltend, ihm altbekannt und nicht versiegend, als ich mich vorsichtig unter seinem Arm herauswinde, das Glas in seine Richtung dirigiere und meine Stimme zu ihrer eigenen Todgeburt wird.
„Du musst deine Medikamente noch nehmen.“

 

II

 

Als er sich ins Bad flüchtet, aufs Waschbecken lehnt und in den Spiegel starrt – die Augen panisch weit, die Netzhaut übertrieben feucht, die Atmung einem unregelmäßigen Peitschen gleich und die Haut überzogen von kühlem Schweiß –, fügen sich irgendwo in seinen Gedanken zwei Verwirrungen zusammen.

Ihre Fusion wird mir zum Verhängnis werden.

Ich sehe ihn im Glas, wie er Luft ausstößt und sein Blick dabei auf mein Bild springt, so voller Hass und Wut, dass ich mich kaum regen kann. Medusas Wiedergeburt findet statt.

„Nur wegen dir!“, kehrt die Kraft in seine Knochen zurück. Schwungvoll drückt er sich vom Becken ab, wirbelt herum und hastet auf mich zu. Er will mich hängen sehen will. Hängen oder brennen oder ertrinken oder irgendetwas, das ich nicht erleben möchte.

„Du dachtest wohl, ich versteh’s nicht, hm?! Ich würde nie drauf kommen! Aber ich verstehe sehr wohl!“ Mein Körper erschüttert. Es sind seine Hände, direkt an meinen Oberarmen, die mich durchrütteln, nach hinten drücken. Meine Wirbel sind versteift und doch weich. Im Rücken das endlose Regal mit all seinen Bücherbewohnern. In meinem Kopf ein triefender Schwindel, als sei etwas Feines irgendwo dort drin geplatzt.

Er schäumt und tobt, flucht und rüttelt.

„Ich kann nicht aufwachen, obwohl ich will! Und verdammt, wie ich das will! Siehst du?!“ Gar nichts sehe ich zunächst. Die schroffe Behandlung hat meine Augen scheinbar in zwei nutzlose Murmeln verwandelt. Sie rollen ziellos in ihren Höhlen umher und parieren auf den Befehl des wiederkehrenden Stillstandes nur langsam.

Er zeigt mir die Hand, das Gelenk, den Arm. Links.
Mit rechts hat er mich nach wie vor im Griff.

Alles ist tief durchfurcht und unschön vernarbt.

„Aber egal, was ich auch versuche, ich wache nicht auf. Ich kann nicht aufwachen! Und du bist Schuld!“ Vier letzte Worte, so dicht in mein Gesicht, dass sie sich durch meine Poren ätzen und das Fleisch darunter zu faulen beginnt.

Vier letzte Worte, auf die hin ich keine Richtigstellung oder gar Rechtfertigung parat habe.

„Du hast mir was vorgemacht! Du hast mich die ganze Zeit glauben lassen, das hier wäre meine Welt! Mein Traum! Aber das ist es gar nicht! Wieso auch sollte es mir in meiner eigenen Welt so schlecht gehen?! Dass ich mir die Frage nicht schon viel eher gestellt habe...!“ Ein vernichtendes Lachen schlängelt sich seine Lippen entlang und nistet sich in seinen Mundwinkeln ein.

Sein Irrglaube, von mir hintergangen worden zu sein, geht mir an die Kehle und lässt mich weder zu atmen noch zu sprechen wagen.

„Was hast du mir nur angetan?!“, fragt er voller Abscheu, als er mich zum Spiegel führt.

Es gibt kein flackerndes Licht in diesem Moment. Keinen Luftzug, kein störendes Geräusch. Keine gedämpften Stimmen aus der Ferne und keine gesunde Vernunft mehr in seinem Tun.

Auf sein Verlangen hin starren wir gemeinschaftlich in das Glas. Damit ich sehe, was er mir vorwirft. Die Anklageschrift ist eine Leinwand riesigen Ausmaßes.
Seiner Genugtuung zur Liebe wird ein Schauprozess abgehalten, in dem selbst ein Pflichtverteidiger nicht gestattet ist. Es gibt keine Zeugenaussagen, ich werde nicht mal verhört. Es gibt nur eine Version, eine Wahrheit: seine.
Deswegen steht mein Urteil auch von Anfang an fest. Nichts daran überrascht mich, nichts daran kommt für mich unerwartet.

In meine Hand legt er die Tabletten, die er entgegen ärztlichen Rat nicht mehr eingenommen hat in den letzten Tagen. Die Riege ist so gut wie voll.

„Du musst aufwachen, nur aufwachen“, legt sich seine Wut, jetzt da er Gewissheit hat, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren wird. Dass er mich nur erwachen lassen muss, damit auch er in einer anderen Welt landet. Eine, die ihn nicht permanent in diese schweren Tiefen presst und ihm einimpft, sein Blut sei vergiftet. Er könne es und sich selbst retten, wenn er es nur frei ließe. Genug des Giftes aus sich heraus lasse, bis sein Blut sauber genug ist, um aufwärts zu fließen.

Ich löse die erste Tablette aus ihrer Kammer, halte sie in der Handfläche und lasse die nächste folgen. Nicht langsam, nicht schnell.

Sein Blut ist nie aufwärts geflossen, nur sein Blutdruck ist in den Keller gestürzt. Zu tief geschnitten.

Wie ist das passiert? Die gleiche Frage, immer und immer wieder, von Rettungshelfern, Krankenschwestern und Notaufnahmeärzten.
Wie wird man krank? Und was macht einen wieder gesund?

Ich weiß nur, was ihn hat überleben lassen in den vergangenen Jahren...

Er stellt mir ein Glas Wasser hin: „Das wird schon alles wieder. Wenn es mir erst mal besser geht, ist das ja auch für dich gut.“

Die zweite Riege findet ihren Weg in meine Hand. Hinter meiner Stirn glühen die Nebenwirkungen aus der Packungsbeilage in Neonschrift auf, bevor ich einmal fest die Augen zukneife und mich danach wieder auf die Tabletten konzentriere.

Er lächelt bei der Aussicht auf baldige Genesung.

Mir gehen die Tabletten mit dem Wasser holprig den Hals hinunter und landen in meinem durchlöcherten Magen. Zersetzung beginnt, Aufnahme beginnt, Wirkungsweise nach sich ziehend.

Uns bleibt wenig Zeit. Sein Körper vibriert vor lauter Erwartung. Ich spüre seine Muskeln und seine Aura neben mir und an mir, während meine Rezeptoren überschwemmt werden. Agieren und parieren. Mir die Körperfunktionen umdrehen, meine Lunge einäschern und meinem Herz mit mehreren Schlägen das Genick brechen.

Alles wird schlecht.

Die Freude neben mir durchläuft eine Metamorphose zu einem grauen Abziehbild ihrer selbst. Die Welt wird nicht anders für ihn; es gibt kein Erwachen fernab dieses Seins. Ich bin nämlich nicht der Windfisch.

Und so realisiert er allmählich, dass die eine Stimme, die ihm jeden Tag eine erträgliche Zukunft in Aussicht gestellt hat, gar nicht zu jenen in seinem Kopf gehörte, sondern von außen kam. Von mir.

 

Bitte
So beschreibe man ihr doch die Befreiung
Das Gefühl
Den Geschmack von Tränen
Den sie nicht kennt
Nie kennen durfte
Nie kennen wird
Für ihn.

Impressum

Texte: Von mir, aus dem Jahre 2011
Bildmaterialien: Die Rechte des Coverbildes liegen nicht bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

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