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Sie erinnert sich an den kleinen Jungen, der immer mit einem weiten Lächeln auf den Stuhl hopste und das Essen bereits mit seinen leuchtenden Augen verschlang, während seine Grandma noch dabei war, ihm eine ordentliche Portion auf den Teller zu schaufeln. Die kindlichen Gesichtszüge mit Ungeduld und Vorfreude ausgestattet, plapperte er munter von der Schule, die er seit diesem Jahr besuchen durfte, oder vom letzten Urlaub mit seinen Eltern, oder von diesem tollen Film, den er sich neulich zusammen mit seinem Dad ansehen durfte.

Sie als seine Großmutter hatte manchmal ihre liebe Mühe und Not, ihm zu verstehen zu vergeben, dass sie die Superhelden seiner Kindheit nicht kannte. Nie ihre Namen gehört hatte und auch nie ein Bild von ihnen zu Gesicht bekommen hatte.

Er verzieh ihr das ein jedes Mal großzügig, zuckte schlicht mit den Schultern und spießte die ersten Nudeln in roter Hackfleischsoße auf, die sich auf seinem Teller türmten. Zwischen Kauen, Strahlen und Schlucken versicherte er ihr, ihr die Superhelden nach dem Mittagessen näherzubringen. Er hatte da diesen Comic und bestimmt würde er von Santa dieses Jahr auch ein Video bekommen. Da war er sich absolut sicher. Seine kleinen weißen Zähnchen hatten durch die Soße eine orangefarbene Nuance angenommen. Zart und weniger aufdringlich als seine Lippen, die über und über mit Soße besudelt waren. Vereinzelte, feine Spritzer zogen sich auch vergnüglich über sein Nasenbein und seine Wangen, ganz so wie seine Sommersprossen. Nicht nur sein Gesicht, sondern sein gesamtes Wesen war in Bewegung und seine Grandma war heilfroh, ihn im Vorfeld daran erinnert zu haben, sich die Servierte umzuhängen. Andernfalls sehe sein grüner Pullover jetzt der Tischplatte und seinem quietschfidelen Gesicht enorm ähnlich.

 

Er ist ihr einziges Enkelkind und bis zu jenem Tage, als seine Eltern ihr eröffneten, dass sie umziehen würden, hatte sie nie daran gedacht, ihn nicht regelmäßig zu Gesicht zu bekommen.

Am letzten Tage vor dem Umzug wünschte er sich seine Lieblingsspeise: die Nudeln mit der Hackfleischsoße. Sie kochte, Unmengen sogar.

Als er sich schließlich von seiner Grandma verabschieden musste, schien plötzlich für jeden Soßenspritzer eine Träne zu laufen.

 

Fortan diktieren die Festtage ihre Treffen. Es gibt Weihnachten, Ostern und die langen Ferien. Die Nudeln vertilgt er so rasch, als wolle er so viele wie irgend möglich in sich aufnehmen und wieder mit in die neue Heimat nehmen. Ein Vorrat, der bis zum nächsten Besuch reichen muss.

Doch er wird älter, und die Ferienbesuche seltener.

Es bleibt bei Weihnachten und Ostern.

Irgendwann nur noch Weihnachten.

Die Nudeln sind kein traditionelles Weihnachtsessen und so wundert es sie nicht, als er mit zwölf Jahren etwas enttäuscht mit der Gabel in seinem Tellerinhalt herumstochert. Es ist ein regelrechter Kampf, an dem weder Augen noch Sommersprossen teilhaben. Er zerlegt sein Stück Truthahn, schiebt den Rosenkohl umständlich umher und zerquetscht teilnahmslos die Kartoffeln. Für den Christmas Pudding zum Nachtisch braucht er eine gefühlte Ewigkeit, und einen Nachschlag will er ebenso wenig wie Plätzchen oder Punsch.

Als seine Grandma letztlich die Teller abräumt und die Servierten in den Müll schmeißt, versäumt sie das auffällige Gewicht von seiner Serviette, in die er – ob der erwachsenen Tischgespräche unbeachtet – jeden gut gekauten Bissen hinein gespuckt hat.

Als er und seine Eltern nach den Feiertagen wieder abreisen, hat sie das untrügliche Gefühl, jemand fehle. Wer fehlt, ist nicht ihr Gatte, der schon vor viel zu vielen Jahren seinen Platz im Himmel eingenommen hat und ihre Sehnsucht bis dort oben spüren muss. Viel mehr scheint ihr, als hätten sie einst ein weiteres Enkelkind gehabt, das mit einem male verschwunden ist, und keiner spricht mehr über dieses Kind, das nur noch als Schatten in ihrer Erinnerung existiert. Sie kann sich nicht helfen und sucht die Schuld bei sich. Kinder werden eben älter. Vielleicht hält sie nur ein altes Bild zu fest im Herzen.

All dessen zum Trotz beschließt sie im folgenden Jahr, Nudeln mit Hackfleischsoße zu Weihnachten zuzubereiten.

Ihr Enkel ist blass, als er am Tag der Anreise ihr Haus betritt. Die Anziehsachen weit, die Wangen eingefallen und die Schlüsselbeine zwei seltsam hervorstechende Knochen, deren spitze Existenz sie verstört.

Seine Eltern wirken verkniffen; und sie wundert sich, warum alle so gedrückter Stimmung sind. In ihren alten Knochen sitzt eine ungute Ahnung, zieht sich von Kopf bis Fuß und lässt ihr dem Alter gemäß langsam schlagendes Herz einen Takt aussetzen. Was auch immer hier vor sich geht ist schrecklich und beängstigend - aber er wird sich bestimmt freuen, sobald sie ihm die Nudeln serviert! Der Gedanke lässt sie offen zwischen Küche und Esszimmer hin- und herhuschen, fidel tratschen und sehr tief stürzen, als der von ihr so lang ersehnte Moment nun endlich eintrifft: Sie ihm den Teller hinstellt - er nicht lächelt und nicht lacht. Keine Sommersprosse erbarmt sich seiner und seine Zähne sowie seine Augen haben etwas Trübes an sich. Etwas Trauriges.

Seine Mutter starrt verlegen zur Seite, sein Vater räuspert sich verhalten und rückt umständlich auf seinem Stuhl. Seine Grandma begreift nicht. Kann sich nicht erklären, warum ihr Enkel mit hängenden Schultern seinen Tellerinhalt anstiert und doch völlig durch seine dampfende Lieblingsspeise hindurch zu gucken scheint.

Seine Mutter beginnt zaghaft zu essen, sein Vater ebenfalls. Beide stets seine Person aus dem Augenwinkel beobachtend.

Seine Grandma ist zu entsetzt, um ihr Besteck überhaupt zu benutzten. Ihre Finger umfassen Gabel und Löffel wie ein Schraubstock.

„Iss, Schatz. Grandma hat sich so viel Mühe gegeben“, sagt seine Mutter nun in einem leisen Ton, der sich an Neutralität zu halten versucht und doch einen unmissverständlichen Appell ausdrückt: Iss! Enttäusch nicht.

Auf die Worte hin durchfährt ihn ein Schrecken, so als habe ihn eine unsichtbare Macht im Genick gepackt, um sein Gesicht abwärts zu drängen. In Richtung Nahrung, in Richtung Feind. Er scheut affektiv zurück, die ohnehin schon großen Augen unnatürlich weit vor lauter Panik.

Das Besteck in den Händen seiner Grandma entgleitet, als ihm urplötzlich Tränen über die Wangen rollen und er das Kinn hebt, um hilflos zu ihr hinüber zu blicken. Die Lippen zitternd, die Wimpern flatternd.

Sie hat in ihren 68 Lebensjahren noch nie ein Kind gesehen, das im Angesicht seiner Lieblingsspeise vor Angst zu weinen beginnt. Ihr Besteck scheppert laut, als es auf der Tischplatte aufschlägt und sie plötzlich weiß, dass ihr Enkel mit seinen 13 Jahren den Geschmack des Todes viel besser zu kennen scheint als sie alte Frau. Verstehen kann sie es allerdings nicht…

 

Ende

 

Impressum

Texte: 2009 bei mir
Bildmaterialien: Die Rechte des Coverbildes liegen nicht bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

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