Es schneit, als sie ihn zum ersten Mal sieht. Der Föhn, dieser warme, trockene Wind aus dem Süden, der Münchens Wetter für gewöhnlich prägt, scheint Winterschlaf zu halten. Seine Urlaubsvertretung ist kühl und grantig, manchmal regelrecht beißend und bläst so lange eisige Luft in die Gesichter der Menschen, bis deren Haut ganz rot ist und sie mit zusammengekniffenen Augen Zuflucht in Häusern und Geschäften suchen. Die Flocken tanzen wild, ungehalten; der Wind gibt den Takt an.
Aus dem Fenster im vierten Stock, das zu ihrem Zimmer gehört, blickt Miriam in diese winterlich harmonische Welt hinaus, die ihr nichts bedeutet. Die rechte Hand an das Glas gelegt, Kälte registrierend, aber nicht empfindend, lehnt sie sich vor, ganz dicht an das Glas heran. Bis ihre Nasenspitze die ebene Fläche berührt und ihre mattblauen Augen die Welt hinter den weißen Flocken zusammen zu fügen versucht. Auf dass sie etwas erkennt. Etwas bemerkt.
Irgendetwas muss doch an dieser Stadt besonders sein.
Sie bildet sich ein, es seien die Häuser der Altstadt – ein Zeugnis famoser Architektur –, oder aber die Menschen, die vielen Sehenswürdigkeiten oder zumindest die Lage der Stadt selbst. Irgendetwas halt.
Schätzt sie.
Ihr Vater arbeitet für BMW und hat sich hierher versetzen lassen. So lange sich Miriam erinnert, ist er bei BMW angestellt. Vermutlich ist es tatsächlich das einzige Unternehmen, für das er jemals gearbeitet hat. Eine berufliche Laufbahn wie im Lehrbuch, ohne Patzer und mit angemessenem Aufstieg der Karriereleiter garniert. Es hat sie ehrlich gesagt nie interessiert und das wird es wohl auch in Zukunft nicht tun. Sie hat kein Gefühl dafür übrig.
Sie ist froh, aber nicht überschwänglich. Sie begrüßt den Tapetenwechsel und schwelgt in samtweicher Melancholie. Ihr Handy schweigt und ihr Mitteilungsbedürfnis ist ebenfalls verstummt. Nicht erst seit heute – schon vor sehr, sehr langer Zeit. Sie hat es ihre Freunde nur nie wissen lassen. Jetzt hat sie die Freiheit, es ihnen zu demonstrieren, indem sie sich nicht meldet und sie muss sich nicht davor fürchten, dass Elena oder Florian plötzlich unangekündigt vor ihrer Haustüre stehen. Sie muss sich um gar nichts mehr scheren. Sie ist volljährig und sie ist frei.
Glaubt sie.
Hinter dem Schnee erheben sich Häuser im charmant barocken Baustil. Die hohen Fenster warm schimmernd, fast ihr zu winkend, und doch sieht sie niemanden. Keiner ist da, außer dem Licht.
Der frühe Abend kehrt ein und Miriam ist blind.
Das Kondenswasser, das ihr Atem auf der Fensterscheibe gebildet hat, wirkt wie ein fremdartiger, beschlagener Klecks, den sie sich nicht erklären kann. Sie tritt zurück, baut einen Abstand zu ihm auf, denn sie mag keine Unbekannten und dementsprechend misstrauisch studiert sie ihn auch. Wie er dort ganz selbstverständlich prangt und hinter ihm der Schnee unaufhörlich flattert.
Auf der Straße fährt dann und wann ein Auto vorbei. Es ist nicht die belebteste Straße Münchens, so viel steht fest. Primär wird sie von Anwohnern und deren Verwandten genutzt.
Elena war begeistert, als sie erfahren hat, dass Miriam nach München zieht. „Oh mein Gott, die Geschäfte!“, hatte sie gejauchzt und die Hände entzückt zusammen geschlagen. „Wir müssen dann unbedingt shoppen gehen! Und Schuhbecks Eis probieren! Und ich will das Glockenspiel am Marienplatz hören! Sobald wir Semesterferien haben, komm ich dich besuchen! Ja?“
„Klar!“, hatte Miriam zurück gelächelt und dabei gestrahlt wie eine künstliche Glühbirne: viel zu hell, als dass es natürlich wirken konnte. Wahrscheinlich fiel das aber nur deswegen keinem auf, weil niemand es mehr anders von Miriam kannte. In den Semesterferien, so hoffte Miriam, würde Elena längst zu beleidigt sein, um runter in den Süden zu ihr zu fahren. Beleidigt, weil Miriam distanziert ist und sich nicht meldet. So wie die ganzen Wochen über, seit dem bestandenen Abitur und bis über den Semesteranfang hinaus.
Mit einer stumpfen Handbewegung schiebt Miriam sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und starrt weiterhin unbeirrt in ihre neue Heimat. Sie ist eine schreckliche Freundin; Elena verdient etwas Besseres. Das ist die beste Methode, ihr das beizubringen. Auch wenn es Elena wehtun mag. Sie muss es einsehen. Das müssen sie beide. So ist das eben, wenn man älter wird und Bekanntschaft mit dem Schicksal macht.
I know this is the part where the end starts… ergießt es sich aus der Stereoanlage und versickert im Raum. Das Stück steht auf repeat und bettet Miriams Gemüt sumpfigweich. Ein Blick über die Schulter lässt sie die neue Schlafcouch erkennen, frisch bezogen und bereit für die erste Nacht im neuen Heim. Daneben der hölzerne Nachttisch: weiß, kitschig, unnötig verziert. Kleine Mädchen, die Fans von Prinzessin Lillifee sind, würden ihn lieben, so wie den gesamten Rest des Raumes. Nur dass Miriam kein kleines Mädchen mehr ist, leider. Der freihängende Spiegel, der aus derselben Kollektion stammt wie der Nachttisch, bestätigt das und erschafft zu Miriams Leidwesen immer diese junge Frau mit den platinblonden Haaren und den in Millionen Ausführungen vorhandenen blauen Augen. Umrahmt von einem dichten, schwarzen Wimpernkranz, thronen fein gezupfte Brauen über ihren Augen. Ihr Gesicht ist ihr zu erwachsen, zu ernst, aber wie man wieder einen legeren, jugendlichen Ausdruck hinauf zaubert, stellt sie vor ein unlösbares Rätsel. Männer schätzen sie pauschal zwei Jahre älter ein als sie eigentlich ist. Nicht, dass das immer von Nachteil für sie gewesen wäre, dennoch...
Ihr Körper steckt in einem langen, tannengrünen Wollpullover, der spielend als Kleid durchgeht und ihre naturgegebenen Rundungen auffrisst wie ein gieriges Kind seine Lieblingsbonbons. Es ist besser so, findet Miriam, viel besser. Ihre schwarze Strumpfhose mündet in weichen Pantoffeln, wuschelig, einem Hasen nachempfunden und sogar mit jeweils zwei kleinen Schlappöhrchen versehen. Sie hat sich auf Anhieb in diese Hausschuhe verliebt und das allein heißt etwas, denn Miriam liebt nur noch selten. Noch viel seltener liebt sie auf Anhieb.
Auf der Straße fährt ein Wagen vor und parkt unmittelbar gegenüber. Ein schöner, dunkler Audi mit heimischem Kennzeichen. Der Gedanke, was ihr Vater als treuer BMW-Anhänger wohl dazu sagen würde, zieht Miriams Mundwinkel in die Höhe. Es ist die erste Gemütsregung, die sich auf ihrem Gesicht eingeschlichen hat, seit sie am Fenster steht und eine Pause beim Auspacken ihrer Sachen eingelegt hat.
Die Wagentüre schwingt auf und scheint Miriam frontal zu treffen. Zumindest fühlt es sich so an, als würde für einen unbestimmten Moment sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst werden. Miriam wird schwindelig, ihre Augen funktionieren aber wieder. Ganz ausgezeichnet sogar. Selbst der Schnee scheint transparent, sodass die junge Blondine freie Sicht auf den Mann hat, der nun die Wagentür hinter sich zuwirft und, eine Sporttasche in der einen Hand, schnurstracks und mit einer dem Wetter trotzenden Haltung auf die nächstgelegene Haustür zumarschiert.
Irgendetwas stimmt nicht.
Miriam glaubt, krank zu werden. Fieber zu bekommen, das ihr Inneres auf Sparflamme gar kocht. Allein diese Feststellung wirft sie so sehr aus der Bahn, dass sie keinen anderen Gedanken mehr für den Augenblick übrig hat. Sonst würde sie sich eventuell noch ein Stückchen weiter vorbeugen und genauer hinschauen, doch das bleibt ihr ob ihres Innenlebens verwehrt.
Dann ist die Haustüre auch schon zu – und er ist weg. Von dem Mann mit der dunkelblonden Kurzhaarfrisur ist weit und breit keine Spur mehr. Seine Gestalt, die sportlichem Durchschnitt in Jeans und Winterjacke entspricht, ist wie vom Erdboden verschluckt. Das seltsame Gefühl hat er zum Glück mit sich genommen.
Trotzdem muss Miriam verstört blinzeln und sich über die plötzlich sehr trockenen Lippen lecken. Wie alt er wohl ist? Schwierig zu sagen, wo sie ihn doch fast nur von hinten gesehen hat. Aber sie schätzt ihn auf Anfang bis höchstens Mitte zwanzig. Nicht älter. Seine Bewegungen waren dynamischer, attraktiver Natur, so weit sie das in den paar Sekunden beurteilen konnte.
Vielleicht wird sie ihn noch einmal wieder sehen, jetzt, da sie beide offenbar in der gleichen Straße wohnen. Vielleicht aber auch nicht. Es ist ihr nicht wichtig, genauso wie bei all den anderen Leuten; sagt sie sich selbst.
Und hasst sich zugleich dafür.
An diesem Samstag im Winter 2008 wusste Miriam noch nicht, dass ihr Matthias tatsächlich noch einmal über den Weg laufen würde und dass es, von ihm zunächst völlig unbemerkt, nicht bei diesem einen Mal bleiben würde.
Ebenso wenig wusste sie, dass er ihr totes Gefühlsleben wiederbeleben würde und ihr später, in relativ nah gelegener Zukunft, etwas sehr Wichtiges, ja sogar Lebenswichtiges zurückgeben würde…
Es ist Dienstag, als all ihre Sachen endlich nach ihren Wünschen aufgeräumt sind und ihr Zimmer genauso gut einer völlig fremden Person gehören könnte. Sie streift darin umher, aufrichtig interessiert, mit den Fingerspitzen über das weiße Holz des Schrankes gleitend. Bis ihre Hand bedächtig auf einem der Griffe zur Ruhe kommt und Miriam weiß, sie muss hinein sehen. Sie hat keine andere Wahl. In ihr ist so viel Neugierde auf den Menschen, den sie so unglaublich schlecht kennt, dass ihr regelrecht übel wird vor Aufregung. Sie kann sich nicht erinnern, was sie im alten Haus eingepackt hat, was ihr Vater für sie eingepackt hat und was hier wieder ausgepackt wurde. Die Tatsache, dass sie morgens in den Schrank greift und sich etwas zum Anziehen hinaus nimmt, ändert wenig daran, und als sie die Schranktür nun öffnet, hält sie den Atem an. Zieht den Bauch ein, und ungewollt schwillt ihre Brust an. Luft in ihr. Klamotten vor ihr im Tageslicht. Es ist Vormittag, nach elf, vor zwölf. Die eine oder andere Haarsträhne lugt aus ihrem Dutt hervor.
In dem Schrank hängen Jeans, hängen Kleider, hängen Pullover und Jacken. Ein Mantel mit künstlichem Fellkragen. Bilder formieren sich vor Miriams innerem Auge, kleiden eine ihr unbekannte Frau mit schwarzem Gesicht an wie eine Puppe, die Größe 34 hat und aus allen Nähten platzt. Ihr Gesicht gleicht einer schlecht verarbeiteten Patchworkdecke, voller blühender Blessuren, die das einzig Lebendige an ihr sind, puckern und pochen und jeden Blick auf sich ziehen. Wie gebannt muss Miriam sie anstarren, ohne überhaupt noch zu registrieren, was die Puppe am Leibe trägt. Sie ist so voller Hässlichkeit, so voller Krankheit...!
Mit einem rabiaten Zug donnert Miriam die Schranktüre zu und hascht nach Atem. Ihre Lungenbläschen krallen sich jeden Partikel Sauerstoff, den sie für sich gewinnen können. Der Schrank ist geschlossen. Die Puppe ist fort.
„Alles in Ordnung bei dir?“, schallt die Stimme ihres Vaters durch die angelehnte Türe und hat ihren Ursprung in der Küche.
„Ja“, kommt es entkräftet von Miriam. Zu leise, als dass es über die Grenzen ihres Zimmers hinaus zu hören ist. „Ja!“, schiebt sie deswegen nach kurzem Räuspern und mit entsprechendem Nachdruck hinterher.
Sie weiß nicht, wer das Monster in ihrem Kleiderschrank ist. Aber ihr ist eiskalt bei dem Gedanken an das zerflickte Gesicht, an diesen infektiösen Menschen, der so viel Böses ausstrahlt. Sie bedroht.
Flink macht sie auf dem Absatz kehrt, rennt quasi aus ihrem Zimmer, die Stiegen hinab, in den Flur und weiter in die Küche.
„Was war das?“, erkundigt sich ihr Vater, kaum dass er seine Tochter wie von der Tarantel gestochen zum Kühlschrank eilen und eine Flasche Wasser hinausholen sieht.
„Nichts. Die Schranktür“, tut Miriam es ab und spült die letzten Gedanken an das Monster mit einer viertel Flasche Wasser hinunter. Ihr Inneres erfriert und ihr ist es willkommen.
Ihr Vater besieht sie kritisch, hat seinen Laptop vorerst vergessen, der vor ihm auf dem Tisch steht und mit geschäftlichen E-Mails um seine Aufmerksamkeit buhlt. Er weiß nichts zu sagen, denn alles, was er sagen möchte, scheint zu viel. Trotzdem will er nicht aufhören, es zu versuchen und lässt folglich seine Hand zu seinem Aktenkoffer gleiten, der neben ihm auf einem Stuhl steht.
„Falls du dich informieren möchtest, was die Uni anbietet...“ Sein Tun erörternd, legt er das kleine Buch der hiesigen Universität auf die Tischplatte und schiebt es in Richtung seiner Tochter. Der Blick einladend, neutral.
Es ist okay.
Miriam für ihren Teil hält die Flasche mit beiden Händen fest umklammert und starrt. Sie weiß nicht anders zu agieren, als brav den Platz der Flasche gegen den des Buches einzutauschen, die Lettern auf dem Cover zu lesen und es aufzuschlagen.
Sie weiß nicht, was sie studieren soll…
„Vielleicht ist ja etwas dabei, das dich interessiert“, ködert ihr Vater sie und wie von ihm im besten Falle erwartet, beginnt sie zu blättern, gedankenverloren über das Inhaltsverzeichnis zu lesen und dann weiter…
Nebenbei tragen ihre Füße sie aus dem Raum, der ob des Tageslichts hell und freundlich wirkt. Im Wohnzimmer lässt sie sich schließlich aufs Sofa plumpsen, die Füße in den Hasenpantoffeln, und rollt die Zehen ein. Sie blättert Seite um Seite, im Takt der Uhr an der Wand. Sekunde für Sekunde.
Als sie endlich fertig ist, weiß sie genauso viel wie vorher. Nämlich ganz genau gar nichts.
„Und?“ Ihr Vater lugt ins Zimmer, just als sie das Buch auf den Wohnzimmertisch legt. Ihr macht es den Anschein, als habe er hinter der Türe auf diesen Moment gewartet.
„Weiß nicht“, antwortet sie wahrheitsgemäß.
„Es ist ja noch viel Zeit, bis das nächste Semester beginnt. Ich dachte nur, damit kannst du dir frühzeitig Gedanken machen.“
Ihr Augenmerk richtet sich zu Boden, auf das helle Laminat, das kürzlich frisch verlegt wurde. An und für sich mag sich Miriam ja Gedanken machen, aber nicht um ihr Leben. Um das anderer liebend gern, so lange es nicht zu mühselig wird. Doch um ihr eigenes?
Es widert sie an…
Sie ist in ihr Zimmer zurückgekehrt, bevor ihr Verstand die Entscheidung getroffen hat. Mit Schmerz hinter den Rippen, der sich wie ein garstiges Tier zwischen den Knochen hinausschält. Im Affekt peilen ihre Hände die Dose mit künstlichen Schmucksteinen auf dem Schreibtisch an. Licht, das vom stechendweißen Himmel durchs Fenster dringt, bricht Farbe aus der Oberfläche der bunten Steine und schleudert die Töne gegen die Wände. Miriam hat die Tablette, die sie aus der Dose hervorgeholt hat, längst geschluckt, als sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken lässt. Elanlos. Die Welt ist still. Der Kleiderschrank unbewohnt. Sie weiß es. Sie weiß es doch…
Sie muss es nur wissen wollen.
Eine Frau mit je einem kleinen Kind an der Hand überquert die Straße. Ein Fahrrad fährt vorbei. Autos steuern in beide Richtungen.
Mit einem Blinzeln wird Miriam bewusst, dass über eine Stunde verstrichen ist.
Ein Auto fährt vor. Ein Audi. In ihrem Kopf schnappt die Falle der Erinnerung schlagartig zu und setzt Miriams gesamten Körper einer Adrenalinüberdosis aus.
Es ist dieselbe Jacke, dieselbe Statur, eine ähnliche Hose und mindestens genauso ähnliche Schuhe im Vergleich zum letzten Mal. Sein Schal ist in einem dunklen Grauton gehalten, den ihre Hände mit Hilfe der zu Rate gezogenen Stifte perfekt imitieren kurze Zeit später. Der junge Mann ist gesichtslos, ein Abbild aus der Ferne vor dem dunklen Audi mit dem Münchner Kennzeichen. Dennoch fehlt es ihm auch auf dem Blatt keinesfalls an Agilität. Miriam zeichnet schnell; schneller als sonst. In großer Hast hatte sie Block und Stifte herbei geholt und sich an die Arbeit gemacht, nur um dann panisch festzustellen, dass ihr Nachbar ihr davon eilen möchte. Dass er den Eindruck macht, mit zwei weiteren Schritten das Blatt verlassen zu können.
Ihre Zahnspitzen bohren sich konzentriert in ihre Unterlippe, während sie den 3B-Bleistift beiseite legt. Er gegen Artgenossen rollt und ihre Hände das Papier einen deutlichen Tick zu fest halten. Die Vorläufer von Falten nisten sich daraufhin auf dem Blatt ein und ihr ist es egal.
Sie kann so schwer atmen.
Dieser Mann, er scheint weder Raum noch Zeit zu kennen. Er hat das Blatt verlassen. Er hat diese Grenze des Papiers hinter sich gelassen und scheint seine Präsenz im gesamten Zimmer zu verbreiten. Gleichzeitig weiß Miriam um ihr Alleinsein.
Er ist nur in ihrem Kopf.
Plötzlich unangenehm errötend, hascht sie nach ihrer Kunstmappe und stopft das skizzenhafte Bild hinein. Fühlen tut zu weh. Und sie fühlt bei dieser zweiten Beobachtungsbegegnung noch viel mehr als bei der ersten…
Die Haustür fällt leise ins Schloss. Von hier oben kann sie es hören, da das Geräusch die Wohnung in Stille konserviert.
Ihr Vater ist fort. Der Morgen ist kaum angebrochen und draußen erstreckt sich die winterliche Dunkelheit, die sich von Autoscheinwerfern, Straßenlampen und Hausbeleuchtungen langsam in den Tag überführen lässt.
Ihre Hände sind mit einer Kaffeetasse beschäftigt, um die Miriam all ihre zehn Finger fest geschlossen hat. Aus ihrem Po ist jegliches Gefühl gewichen, so lange sitzt sie schon auf ihrem Fensterbrett und starrt auf das verschneite Auto vor dem Haus gegenüber.
Er ist noch nicht fort.
Sie weiß nicht, was er beruflich tut oder wie er heißt. Sie hätte den Kreis der Verdächtigen natürlich eingrenzen können. Dafür hätte sie sich nur die Türschildchen am Haus gegenüber anschauen müssen und doch schien ihr die Aufgabe zu gewaltig, denn: wie? Wie hätte sie das bitte bewerkstelligen sollen?
Es scheint zu leicht, als dass es jemals funktionieren könnte. Als dass sie es jemals schaffen könnte.
Sie nippt an ihrem nur mehr lauwarmen Kaffee. Ihr Vater war erfreut, dass sie mit ihm gemeinsam aufgestanden ist an seinem ersten Arbeitstag. Er wird gegen 19:30 Uhr zurück sein. Miriam hat die Nummer der Zentrale, seine direkte Durchwahl und seine Handynummer, aber sie kann ihm zur Not auch eine E-Mail schreiben.
Sie weiß allerdings, dass wenn sie in Not ist, sie nicht mehr telefonieren oder schreiben können wird. So ist das nun mal im Leben, wie sie die Erfahrung gelehrt hat…
Wieder nippt sie am Kaffee. Die an der Straße geparkten Wagenreihen vollziehen eine Metamorphose, wenn dann und wann jemand aus einem Haus tritt, Schnee beseitigt und in sein Auto steigt.
Der Himmel zerbröckelt unter der Wintersonne langsam in kleine Teile.
Miriam gähnt trotz zu kurzer Nacht nicht. Die Zehen in ihren Hasenpantoffeln wackeln lassend, wartet sie weiter. Kein anderer Passant da draußen hat auch nur annähernd eine vergleichbare Auswirkung auf ihren Körper. Sie versteht es nicht, aber weil sie nicht weiß, worauf sie es schieben soll, verbietet sie sich, weiter darüber nachzudenken, warum sein Anblick sie anspannt wie einen Flitzebogen.
In der Sekunde, als er schließlich aus dem Haus tritt, kann sie den Kaffee in ihrem Mund nicht hinunter schlucken. Mit weiten Augen schaut sie durchs Düstere und sieht seinen Bewegungen zu. Er braucht nicht lange, um die in der letzten Nacht gefallene Schneeschicht von der Vorderscheibe zu entfernen. Von den Fenstern, von der Heckscheibe. Miriams Rückgrat wirkt seltsam verkrümmt, indessen sie jede seiner Regungen in sich aufsaugt. Er ist wie das hölzerne Schaupüppchen, was sie einst bekommen hat als Hilfe zum Zeichnen: auf dass sie lernte, Körper mit der ihnen anhaftenden Authentizität einzufangen. Nun ist er aber nicht hölzern. Im übertragenen Sinne ist ihr Püppchen das aber auch nicht.
Wann hat sie es bekommen?
Plötzlich wird die Kaffeetasse schwer, ganz unendlich schwer sogar. Gedanken drohen Miriams Bewusstsein zu begraben wie Erde einen einstürzenden Bergschacht.
Sie fühlt sich bei lebendigem Leibe beerdigt und die Kaffeetasse auf den nahe gelegenen Schreibtisch zu stellen, grenzt an eine Unmöglichkeit.
Ihre Brust tut weh. So weh...
Sie sollte nicht hier sein, nicht hier sitzen, nicht die Füße anziehen und unter ihrem verräterischen Körper zusammenfalten. Ihre Hände malen stumpf das Bild eines Mannes mit Sporttasche.
Jetzt, wo sie es betrachtet, fällt ihr auf, dass er nie ohne Sporttasche in den Wagen ein- oder ausgestiegen ist. Geschätzte fünf Minuten starrt sie auf den Gegenstand, bis das Bild zu verschwimmen beginnt. Schärfe fehlt. Details fehlen. Nicht überall. Sie hat jede Spur im Schnee erfasst, jede Verzierung im Hausgestein, die Falten in seinen Jeans und die feinen weißen Atemwolken, die sein Gesicht umgarnt haben.
Nur eines fehlt, und das ist ihr ganz existentiell wichtig. Ohne das fühlt sie sich sterbend: sein Gesicht.
Sie kann sein Gesicht von hier aus einfach nicht richtig erkennen…
Von Erschöpfung geplagt fällt sie ins Bett und wacht erst auf, als ihr Vater sie in der Mittagspause anruft. Besorgt, weil sie so lange braucht, um den Anruf entgegen zu nehmen.
Im Gegensatz zum Haustelefon ist Miriams Handy tot. Sie hat schon lange aufgehört, das Gerät aufzuladen. Vermutlich schon vor dem Umzug. So genau weiß sie es nicht, denn für sie ist das Handy bloß noch ein verkommener Gegenstand. Ihren Erinnerungen gleichkommend, die sie auch um nichts in der Welt freiwillig anfasst.
„Und, was hast du heute so gemacht?“ In einer geschickten Bewegung wirft ihr Vater seine Krawatte über die Schulter und beugt sich vor. Die Stäbchen, die es gratis zum Sushi to go gab, in der Box nach dem erstbesten Gewinn angeln lassend.
Miriam kann weder lächeln noch nicht lächeln, sondern ordnet die kleinen Sushiröllchen in einer akzeptablen Reihenfolge in ihrer Pappschachtel an:
Von rechts beginnend mit reinem Gemüse, dann die mit Fisch und letztlich die mit kombiniertem Inhalt.
„Fern gesehen“, gibt sie schließlich zu Protokoll, obwohl die bewegten Bilder nur eine Zutat waren, um das Rezept gegens Alleinsein zu komplettieren.
Von der anderen Tischseite aus wird ihr zugenickt. Langsam, und zwischen zwei weiteren Sushiröllchen, spürt Miriam, wie ihr Vater sich die richtigen Worte im Kopf zurecht legt. Einfach drauf los geredet, das hat auch er lange nicht mehr.
„Vielleicht möchtest du dir morgen die Gegend etwas ansehen? Die Stadt, die Geschäfte…“ Seine Stimme bietet ausklingend Raum zur freien Interpretation und Ergänzung.
Weil Miriam weder ja noch nein antworten mag, lächelt sie höflich, während ihr ein braves „Ja, vielleicht“ von der Zunge gleitet. Sie weiß, wonach sie morgen schauen wird. Mit Shoppinggelegenheiten hat es allerdings eher weniger zu tun.
Ihr Vater räuspert sich und sendet somit einen akustischen Dienstboten aus, der Miriam auf die Schulter tippt und auf die Pappschachtel vor ihr auf dem Tisch deutet: Iss, Kind, iss doch wenigstens. Hör auf, jeden Tag weniger zu leben.
Als sich der charakteristische Geschmack von Essig, Algen und Gemüse langsam in ihrem Mund ausbreitete, ihren Gaumen kitzelt und ihren Magen unerhört gierig aufgebaren lässt, beginnt ihr Vater von seinem ersten Arbeitstag zu berichten.
Der Wille ist da, nur überwinden kann sie sich nicht. Es sind zwei Tage vergangen und Miriam weiß, wann er morgens fährt. Und sie weiß, wann er abends heim kommt. Sie weiß es. Trotzdem kann sie nicht so tun, als hole sie morgens die Zeitung rein oder würde schlicht aus dem Haus gehen und dabei rein zufällig einen Blick auf ihn werfen. Sie kann einfach nicht. Sie will ja, doch letztlich findet sie sich am Fenster stehend oder sitzend und ihn beobachtend, bis er fort ist und sie in den Malmodus switched.
Da sind zu viele Bilder von ihm. Sie weiß, wann er die hellere Jeans getragen hat und wann die dunklere. Offenbar ist er bescheiden; seine Kleidung ist kein bisschen extravagant. Und er hat wohl nur einen Schal. Vielleicht noch einen in Reserve, aber den hat er bisher nicht angehabt und es ist auch nicht nötig. Ihm steht der dunkle. Das denkt Miriam jedes Mal, wenn die Luft in ihrem Körper einen seltsamen Knoten zu bilden scheint und sie glauben lässt, eine neue Dimension tue sich auf, in der sie einfach verschwindet.
Sie fragt sich, ob er attraktiv ist.
Er ist sportlich und jung, das steht außer Frage. Aber das muss attraktiv nicht inkludieren, auch das steht außer Frage.
„Du musst näher ran“, fällt Elenas Ratschlag aus und ist nur eine sich aus dem Unterbewusstsein schlängelnde Stimme der Erinnerung. Miriam weiß es schließlich selbst. Sie muss. Sie will. Sie will so sehr. Und es ist nicht die Angst vor Enttäuschung, die sie in ihre Schranken weist. Sie weiß irgendwo, er ist nicht unattraktiv. Eventuell für andere, für sie nicht. Dafür hat er sie mit seiner Ausstrahlung schon viel zu sehr überzeugt.
Sie liebt seine Ausstrahlung abgrundtief, was ihr paradox erscheint – aber nicht gefährlich. Trotzdem ist Miriam vorsichtig.
Sie holt die Zeitung – oder tut zumindest so, denn ihr Vater holt die Zeitung morgens, um sie beim Frühstück zu lesen. All das ändert jedoch nichts daran, dass es Freitagmorgen ist und ihr Körper in einem altrosa Mantel steckt. Sie steht im Hausflur, die Tür einen winzigen Spalt breit geöffnet, die Hände manisch an die Klinke gekrallt.
Gegenüber öffnet sich die Tür; sie hat ein hervorragendes Timing und er wirkt routiniert. Nicht in Eile, sondern durchaus zufrieden temporiert. Das ist es, was ihn von dem Großteil der anderen Menschen unterscheidet. Mit einem Herzklopfen, was ihr wie Sodbrennen die Brust bis in den Hals hinauf steigt, steht sie da. In der Haustür, die Lippen wie verschweißt, weil in ihr plötzlich die Angst ist, dass wenn sie den Mund öffnet, dann ein laut pochendes Organ hinausspringt und widerwärtig blutend im Schnee stirbt.
Sie versteht nicht. Sie tut nur. Setzt einen Fuß vor den anderen in den braunen Winterstiefeln: aus der Haustür hinaus, über die Straße, zur anderen Seite hin. Der Blick alles erfassend wie der eines Spions und doch unauffällig. Alles realisierend und nichts hergebend. Unter ihren Füßen knarzt Schnee, ist der Beton der frei geschaufelten Straße, ist wieder Schnee. Sie läuft langsam hinter dem Audi vorbei, just in der Sekunde, als ihr Zielobjekt beschließt, in sein Auto zu steigen.
Es ist Panoramaaussicht.
Sie kann ihn sehen. Bis hin zu den dunklen Wimpern, bis hin zur spitzen Nase, bis hin zu den kräftigen Brauen und den gut strukturierten Lippen.
Sein ganzes Gesicht lässt keinen Zweifel daran, dass er genauso unbeirrt mit beiden Beinen auf dem Boden steht, wie er einen von dort oben, vom Fenster aus, glauben lässt.
Die Luft ist so verdammt kalt gegen Miriams warmes Gesicht. Es wundert sie, dass er nicht friert, dass er nicht mal eine Tendenz dazu zu haben scheint.
Seine blauen Augen haben etwas ungemein Junges, Aktives, Mitreißendes an sich, in sich, an die Welt weitergebend. Der Moment, in dem sie es realisiert, ist der Moment, als er sie ansieht. Beim Ausparken, weil sie nun auf dem Gehweg neben seinem Wagen vorbei schwebt und er nicht drum herum kommt. Es muss Reflex sein, hämmert sie sich unter Hinzuziehung ihres Verstandes ein.
Er ist fort, bevor Miriam sich aus seinem Blick befreit hat. All ihre Körperfunktionen scheinen sich zur Abwechslung nicht auf der Überholspur zu befinden, sondern passen sich dem Gefrierpunkt an.
Gegen den Schnee hat er noch Sommersprossen. Mutter Natur hat sie wie reifes Korn auf seine Wangen geworfen, wo sie sich großzügig verteilt haben.
Die an seiner Oberlippe malt sie ganz bedacht zuletzt, als sie bald darauf an ihrem Schreibtisch sitzt und sich nicht mehr zügeln kann.
Als der Tag zu Ende geht, umfasst ihre Sammlung längst über zehn Bilder der verschiedensten Art. Wäre sie ein bisschen mehr verrückt und ein bisschen weniger vernünftig, so würde sie die Nacht im Schnee verbringen, um noch einmal auf seinen Blick zu treffen. Denn dieser hat etwas so verdammt Ursprüngliches in sich, dass sie glaubt, kein Leben zu haben. Und das ist es ihr wert, sich diesem Mann endgültig mit Leib und Seele zu verschreiben.
Sie hat die Materialien gewechselt. Von den Bleistiften über die Buntstifte bis hin zu den Aquarellfarben, von denen das Königsblau einen unübersehbaren Tupfen auf ihrem hellen Pullover hinterlassen hat.
Ihr Vater läuft an ihr vorbei, redend, sie anschauend, stoppend. Der Mund auf- und zugehend wie bei einem Fisch, nur dass keine Luftbläschen aufsteigen.
„Du hast gemalt?“, seine Frage gleicht eher einer freudigen Feststellung und vergrößert seine dunklen Augen ungläubig. In ihnen ein Miriam lange verborgen gebliebenes Strahlen, als er sich ihr ein Stück nähert und auf den blauen Klecks deutet.
„Das..das ist doch…?“
Er kennt ihre Farben, ihr Papier, ihre Utensilien. Den Geruch von Leinwand und von Öl, von Stift und Terpentin; die ganze Palette durch. Von ihrem Talent und ihrer Arbeitswut ganz zu schweigen. Es könnte tiefste Nacht sein und er zwei Tage in Folge nicht geschlafen haben, doch dieser Fleck, der wäre ihm sofort aufgefallen.
Den Kopf leicht schief legend, nickt sie. Von seiner Freude zutiefst berührt.
Ihr ist stets allgegenwärtig, wie es ist, von einem Elternteil abgrundtief gehasst zu werden; doch das Gegenteil…? Um ein Haar muss sie weinen, als ihr bewusst wird, wie stark sich Liebe konzentrieren muss, um auch nur ansatzweise so prägend zu sein wie Hass.
Die fertigen Werke zeigt sie ihrem Vater nicht, obwohl dieser sie gleich mehrmals darum bittet. Einmal ernsthaft, einmal albern, einmal beiläufig. Immer auf ein Ja, eine Einladung in ihre Welt, wartend.
Sie führt kein Treffen mehr herbei. Kein absichtliches zumindest. Zu auffällig, viel zu auffällig. Er hat sie gesehen und sie wünschte, dem wäre nicht so. Hätte sie ein Fernglas dort oben in ihrem Zimmer, wäre sie nie dieses Risiko eingegangen. Ob er durch das Glas die gleiche Auswirkung auf sie ausgeübt hätte, vermag Miriam nicht zu sagen. Sicherlich aber, glaubt sie.
Samstag ist sie einkaufen. Es ist Nachmittag und zwei Straßen weiter gibt es diesen Supermarkt, zu dem ihr Vater sie geschickt hat. Nur weil er die Milch für seinen Kaffee „vergessen“ hat und weil sie sich ja auch noch etwas kaufen könnte. Seine Formulierungen sind Gold wert. Er will nur, dass sie endlich die neue Umgebung besser kennen lernt.
Sie weiß nicht, was sie sich kaufen soll. Ihre schwarzen Handschuhe in den Manteltaschen, streift sie durch die Gänge. Entlang der Lebensmittel, die sie dabei von oben bis unten scannt. Sahen Lebensmittel früher genauso aus? Sie studiert Kartons und Flaschen, Behälter und Obstnetze, deren Schriftzüge und Formen Miriam gedanklich nachzeichnet.
Nicht wie früher, nur so tuend, fällt ihr Urteil schließlich aus, als sie schnell nach einem Päckchen Kaffeemilch greift und dann schnurstracks die Kasse anpeilt. Die Musik ist einlullend und sie fürchtet, es macht sie unwachsam in dieser Umgebung. Wer weiß, was in dieser Fremde auf sie lauert. Aber schlimmer als einst daheim kann es definitiv nicht sein. Oder?
Die Paranoia bestmöglich beiseite schiebend, stellt sie sich an einer Kasse an. Hinter einer älteren Dame vor der wiederum… er steht.
Sie beißt sich intuitiv auf die Zunge und versteht nicht. Die Welt wird einen klitzekleinen Moment lang aus ihren Angeln gehoben, geschüttelt und dann umgehend zurückgestellt. Chaos auf dem Planeten inklusive. Das Blinzeln vergessen habend, zwingt sich Miriam, nicht dabei zuzugucken, wie er seine überschaubaren Einkäufe bezahlt. Die Frau an seiner Seite räumt sie in ihre Tasche.
Die Frau.
Bevor Miriam es sich gestattet hat, hat sie das Gesicht der Frau in den blicktechnischen Schwitzkasten genommen. Es ist runder, anders geformt, und doch eines wispernd: Wir sind eins.
Sie ist mit ihm verwandt. Miriam weiß es, ohne ihn oder sie oder sonst wen in diesem Laden überhaupt zu kennen. Sie würde ihre Hand dafür ins Feuer legen.
Warum er hier ist, ist ihr nicht ganz klar. Heute früh ist er zur gleichen Zeit wie sonst auch aus dem Haus gegangen. Arbeitet er samstags halbtags?
Was um alles in der Welt macht er beruflich?
Die Sporttasche… Fitnesstrainer? Irgendetwas im physiotherapeutischen Bereich? Berufszweige sind außerhalb ihrer Welt angesiedelt. Sie weiß nicht einmal, was aus ihr werden soll.
„1,49 Euro“, heißt es mit einem Male und Miriam beginnt verstört damit, ihr Geld hinaus zu kramen. Sie wird abkassiert und er ist mit seiner Schwester/Cousine aus dem Laden verschwunden. Sie sieht sie in Richtung des Parkplatzes gehen. Unüberlegt folgt sie, einfach so. Es ist der Impuls, das rauschende Blut in ihren Adern. Sie sehnt sich nach Betäubung und möchte deswegen nur eines: einen Blick von ihm.
Es ist sein Wagen, in den die beiden steigen. Sie auf dem Beifahrersitz, er hinterm Steuer und Miriam dazu verdammt, ihnen nachzuschauen, als er ausparkt und den Parkplatz verlässt – nicht in die Richtung, in der seine Wohnung liegt.
Er fährt weg. Mit zu ihr?
Egal.
Er kann tun und lassen, was er will, das ist sein gutes Recht. Und dass er davon Gebrauch macht, dürfte die solide Grundlage seines Wesens bilden.
Als würde sie auf Watte laufen, peilt Miriam den Parkplatz an, auf dem er bis eben noch gestanden hat. Das Lächeln auf den Lippen dezent und ihr so dermaßen schmeichelnd, dass ihr ein Mann Mitte 30 gerne behilflich ist. Seinen Einkaufswagen kurz stehen lässt und sich zu dem zermatschten Schneerest rechts neben ihr hinunter beugt.
„Suchen sie den hier?“, fragt er, während er den soeben aufgehobenen Schlüsselbund an seiner Winterjacke abwischt. Das Sonnenlicht lässt einen flinken Reflex über das Metall der Schlüssel flitzen, als sich der Bund direkt vor Miriams Augen dreht. Wie eine Discokugel, nur besser. Denn es handelt sich hier um ein Freiticket.
„Ja, danke“, nickt sie aufrichtig erfreut und atmet scheinbar erleichtert.
„Beinahe hätte ich ihn verloren… Sie wissen nicht zufällig, wo ich mir hier in der Nähe einen Schlüssel nachmachen lassen kann? Nur für den Fall, dass mir das noch mal passieren sollte…“
Der Mann lacht kurz auf, kommt dabei nicht umher an ihr hinunter zu schauen, dann wieder hinauf. In ihre Augen.
„Gerade erst zugezogen?“, schlussfolgert er, nicht zuletzt auf Grund eines Mangels an Bairisch, und sie nickt erneut. Keine fünf Minuten später ist sie auf dem Weg die Querstraße entlang, zu dem kleinen Laden, wo man ihr gerne einen Zweitschlüssel anfertigt.
Ihr Vater vermisst sie momentan natürlich nicht. Er hat sie zu diesem Einkauf bewegt, eben damit sie sich die umliegenden Straßen ansieht. Er kann ja nicht wissen, dass ihr einziges Ziel jetzt noch die Wohnung im Haus gegenüber ist. Die Kaffeemilch in ihrer kleinen, braunen Handtasche, passend zu den Stiefeln, stolziert sie mit weiten Schritten zurück. Mit den nackten Fingern tastet sie in der Manteltasche den Bund mit den drei Schlüsseln ab. Einer für die Haupttür, einer für seine Haustür, einer für… den Briefkasten vielleicht? So tippt sie spontan und fühlt die Nervosität in sich aufsteigen wie Lava, die aus dem tiefsten Erdinneren an die Oberfläche drängt. Die dazugehörenden Dämpfe stürzen sie in einen Zustand der völligen Verklärtheit.
Sie kommt sich unzurechnungsfähig vor vor lauter Glück.
Als die Haupthaustür des Wohnhauses problemlos beim Drehen des Schlüssels nachgibt, dringt ein stummer Freudenschrei aus ihrem Mund. Wirbelt durchs Treppenhaus und lässt Miriam die Türe leise zufallen lassen. Jetzt steht sie hier und weiß nicht weiter. Ihr Herz macht Saltos, weil sie nach wie vor nicht fassen kann, was gerade vor sich geht.
Wie einfach das alles gerade vonstatten geht.
Die Ruhe im Hausflur ist typisch für einen Samstag, an dem alle Welt unterwegs ist. Ihr Glück. Gott, sie hat so ein unbeschreibliches Glück im Moment. Nichtsdestotrotz senken sich ihre Augenbrauen kritisch herab, als sie die Tür zu ihrer rechten und dann zu ihrer linken betrachtet. Kinderschuhe sind vor der ersten postiert, bunte Winterstiefelchen für Füße, die definitiv nichts mit ihm zu tun haben. Er hat keine Kinder. Das weiß sie, zweifelsohne.
Das Namensschild der anderen Tür spricht von einem Ehepaar und dass sein Vorname Sigmund ist, glaubt sie auch nicht. Das Geräusch ihrer breiten Absätze auf den sauberen Stufen trägt sie in den zweiten Stock. An der Tür ein Kranz, den sie ihm ebenfalls nicht zutraut. An der anderen Tür wieder Namen, die sie nicht für passend hält. In der dritten Etage dann die letzten Türen. Beide unspektakulär. Auf der Linken ein Namensschild in Tiffanyart. Miriam entscheidet sich für rechts. Ob der Vorname einem Mann oder einer Frau gehört, kann sie nicht sagen. Er ist mit M. abgekürzt und sie hält die Luft an, als sie den Türschlüssel so leise wie möglich ins Schloss gleiten lässt. Er passt hinein, und doch lauscht sie mit einem Ohr an der Türe.
Ist da ein Laut? Ein Geräusch? Auch nur ein winziges Indiz für Leben in der Wohnung?
Mit dem ersten Atemstoß zählt sie die eins an, mit dem zweiten die zwei, den dritten spart sie aus und dreht den Schlüssel.
Das Schloss gehorcht ihr vorbildlich. Vor Schreck ist sie sekundenlang so verunsichert, dass sie es nicht wagt, die Türe weiter zu öffnen. Dann geht alles blitzschnell. Ihr schmaler Körper schmiegt sich an der nur halb geöffneten Türe vorbei, ins Wohnungsinnere, wo sie ein bekannter und doch nicht näher zu definierender Geruch begrüßt.
Sie schließt die Tür geräuschlos hinter sich und bleibt an ihr gelehnt stehen. Von der Tatsache abgesehen, dass die Wohnung nicht zur Straßenseite hin liegt, gleicht das Konzept dem ihrer eigenen Wohnung sehr. Zu ihrer linken eine Garderobe, an der noch ein längerer Mantel hängt sowie eine Sportjacke von Adidas. Auf dem anschließenden Tischchen das Telefon, schnurlos, aber jetzt auf der Station platziert, damit der Akku lädt. Daneben ein Kugelschreiber und ein Block mit Klebezettelchen. Auf der Ablage darunter das Telefonbuch aus dem Flyer ragen. Sie erkennt eine Pizzeria und ein traditionelles Brauhaus, von denen sie noch nie gehört hat. Doch er scheint einen Sinn für gutes Essen zu haben.
Sie weiß nicht, wohin mit dem Schlüssel…
Schiebt ihn jetzt neben das Telefon, ein wenig versteckt, sodass er nicht zu sehen ist, wenn man direkt vor dem Tischchen steht. Später wird er denken, er hat ihn verlegt und nur nicht gesehen, als er aus dem Haus ist – wenn er denn noch einen Ersatzschlüssel hat. Damit rechnet sie aber fest. Ein Mensch wie er hat Ersatzschlüssel. Deponiert beim besten Freund, bei den Eltern, bei der Schwester, bei der Freundin,… Hätte sie nicht blind darauf vertraut, dass er einen Ersatzschlüssel hat, so würde all das hier keinen Sinn ergeben.
Ergibt es einen Sinn?
Miriam schluckt und zieht den Mantel enger um sich. Nicht weil ihr kalt ist, nur weil die Eindrücke sie zu überwältigen drohen. Lampen und Wände, Flur und Einrichtung. Sie steht plötzlich in der offen ins Wohnzimmer übergehenden Küche. Er hat einen Balkon, direkt ans Wohnzimmer anschließend. Und dann sind da noch Treppen, wie auch in ihrer Wohnung, die hölzern den Weg nach oben ebnen.
Etwas raschelt und Miriam fährt herum, die Augen unnatürlich weit, bis sie begreift, dass das Geräusch nicht von der Haustür herrührt. Es hat seinen Ursprung neben dem Regal, neben der Wandkonstruktion, die auch den Fernseher in sich beherbergt.
„Hey, wer bist du denn?“, flüstert sie, als sie dem Tier fasziniert näher gekommen ist und es seine neugierige Nase durch die Gitterstäbe zu pressen versucht. An ihrem Finger killern die langen Härchen des Hasen gar abenteuerlich, schnüffeln und schnuppern.
Um den Stall liegen ein paar Streureste verteilt; beige-weiße Flecken auf dem ohnehin hellen Untergrund. Das Tier ist nicht besonders groß, verfügt dafür aber über enormes schokoladenbraunes Fell und scheint ein Menschenfreund. Eher nicht üblich für Hasen, oder?
Miriam kann nicht aufhören, das neugierige Tier zu beobachten. Wie es sich immer wieder auf die Hinterläufe stellt, die Vorderläufe gegen die Stäbe stemmt und trotz Käfig dem fremden Besucher so nah wie möglich zu kommen versucht.
Ob es petzen wird?
Mit Vorsicht fasst Miriam zu der kleinen, grünen Schachtel neben dem Stall und öffnet sie behutsam. Ihre Finger holen einen milchigweißen Drop hinaus und lassen ihn durch die Gitterstäbe fallen. Das Häschen ist auf der Stelle Feuer und Flamme und beginnt, an der Leckerei zu mümmeln.
„Du hast mich nie gesehen“, wispert sie verschworen und stellt die Schachtel zurück. Ihr Blick wandert dabei eine Etage höher, vorbei an CDs (Deutschrock, R’n’B, Volksmusik, Die Beatles,…) und einigen DVDs (James Bond, Mr & Mrs Smith,…), bis er auf Fotos trifft. Dort ist er, ganz unverwechselbar. Einmal mit einer Gruppe Menschen, die sie nicht kennt. In legeren Freizeitklamotten. Freunde, die vor einem Billardtisch mit ihm posieren. Sein Lächeln ist so satt und weit, sie nimmt das Bild in die Hand und hält es noch fest, als sie das Bild daneben zu studieren beginnt.
Die Frau aus dem Supermarkt ist mit da drauf. Ihre Haare sind anders, länger, aber sie ist es, direkt neben einer anderen Frau und einem Mann. Ein Familienfoto. Die Kreise der Ähnlichkeit schließen sich ohne jeden Zweifel.
Schnell stellt Miriam das Foto zurück und wendet sich ab. Etwas schneidet mit so enormer Intensität in ihr Gefühlsleben, dass sie sich auf die Couch fallen lassen muss und kurzweilig bereut, hergekommen zu sein. Was hat sie hier verloren? Die Frage zirkuliert durch ihre Blutbahn und lässt sie die aufgeschlagene Fernsehzeitung fokussieren, die auf dem Tisch vor ihr liegt, die Fernbedienungselemente schräg darüber. Daneben der Kicker – Fußball; wie sämtliche Männer also – und Miriam spürt, wie sie amüsiert den Kopf schüttelt. Mit auf den Knien aufgestützten Ellbogen bettet sie ihr Gesicht in ihren Handflächen und verschreibt sich tiefe Atemzüge, um die Panik aus ihren Lungen zu spülen.
Sie sieht nichts, was sie nicht erwartet hat, oder?
Nein, tut sie nicht. Auch nicht, als sie den Kopf um einige Grad dreht und die Buchrücken betrachtet. Leichte deutsche Literatur und hier und da eben die Fotos. Er liest, wenn es die Zeit erlaubt. Und dann auch zur Ent- und nicht zur Anspannung.
Ihr Blick fällt zurück auf die Fernsehzeitung, auf die Obstschale; ein Brief einer Versicherung lehnt davor. Sie will ihn nicht lesen, denn sie weiß: es geht sie gar nichts an. Ein lächerlicher Gedanke in ihrer Situation, doch es genügt ihr, nach dem Umschlag zu greifen und endlich seinen Namen zu erfahren: Matthias Brandl
Er ist erstaunlicherweise der erste Matthias, den sie kennen lernt – obwohl sie ihn ja, nüchtern betrachtet, nicht mal richtig kennen gelernt hat.
Den Brief zurückstellend, erhebt sie sich und wandert in den Flur hinüber. Das Schlafzimmer muss oben liegen, wenn man diese schönen Stiegen hinauf steigt. Ihr ist nicht danach zumute, das jetzt zu tun. Der Boden fühlt sich trotz Winterschuhen nach gefrorenem Gras an und lässt ihre Schritte holprig erscheinen, als sie schließlich einen der Klebezettel von dem Telefontischchen abreißt und mit dem Kugelschreiber wieder auf dem Sofa Platz nimmt.
Ihre Hand ist flink und geschickt; der Hase gleicht einem Abziehbild. Und während Miriam ihn mit Kulli schraffiert, merkt sie, wie etliche bösartige Blutgerinnsel in ihrem Kopf zu zerplatzen scheinen. Ohne dass es wehtut und ohne dass sie an Konsequenzen denken muss. Matthias’ Wesen hat die Wohnung mit seiner Fähigkeit, Miriam vergessen zu lassen, ausgekleidet und nun, wo es auf sie abfärbt, kann sie tiefer atmen denn je.
In seinem Kühlschrank steht vom Joghurt über die selbst gekochte Marmelade (von seiner Mutter oder Großmutter?) bis hin zum Topf mit dem Essen vom Vortag alles, womit sie gerechnet hat. In der Tür Milch und Apfelschorle, Wasser, Orangensaft sowie eine Flasche Bier.
Sie zerknüllt den Post-It und schmeißt ihn achtlos in den Müll unter der Spüle, bevor sie sich an die Anrichte lehnt und über den hellen Esstisch hinweg ins Wohnzimmer schaut, über die Couch und aus dem hohen Fenster hinaus. Dort hin, wo sich München ungeniert erstreckt wie eine Schönheit am Strand; alte Dächer den Himmel kitzeln. Sogar die Frauenkirche ist von hier aus zu erkennen, zumindest vermutet Miriam, dass es die Frauenkirche ist. Sie hat sich kein bisschen über die Stadt informiert, in die sie gezogen ist…
Mit halber Neugierde reckt sie sich nach dem Radio, was neben dem Herd steht und aus dem augenblicklich Antenne Bayern schallt. Sie erkennt den Moderator an seiner Stimme; ihr Vater stellt den Sender auch ein, morgens beim Frühstück.
Bevor ein Lied gespielt wird, macht sie das Radio wieder aus und beschließt zu gehen. Sie hat genug gesehen, eigentlich viel zu viel. Was sie hier getankt hat, das reicht für… sie weiß es nicht. Lange jedenfalls. Und sie will kein Risiko eingehen.
Er könnte theoretisch jeden Moment zurückkommen.
Tut er aber nicht. Er kommt erst gegen 19 Uhr zurück. Miriam sieht ihn, als sie ihren Pinsel absetzt und das Kinn reckt. Wie er den Wagen schließt, in seine Jackentasche greift und stutzt. Automatisch wechselt seine Hand in die andere Tasche, dann die Hosentaschen, dann die Gesäßtaschen. Danach beginnt die Suche von vorne. In seinem Wagen glüht das Licht erneut auf, als er die Zentralverriegelung auffordert, ihm die gerade erst verschlossene Tür wieder zu entriegeln. Ein erfolgloses Durchforsten des Wageninneren beginnt.
Miriam tut es Leid. Die Saat der Reue, die beim Betreten der Wohnung irgendwo in ihrer Brust eingepflanzt wurde, keimt und sie kann gar nicht recht hinsehen. Plötzlich ist da ein schlechtes Gewissen, das all ihre angenehmen Gefühle überschattet und ihrer Energie den Hahn abdreht. Der Körperhaltung nach zu urteilen flucht Matthias und sie macht sich klein an ihrem Schreibtisch. Angst habend, dass wenn er aufblickt, er sofort sieht, was hier vor sich geht.
Aber er blickt nicht auf, sondern steigt in seinen Audi, um wieder zu fahren.
Er geht den Zweitschlüssel holen. Er handelt, wie von ihr eingeschätzt. Eine dreiviertel Stunde später parkt er erneut vor dem Haus, steigt aus und ist kurz darauf in dem Gebäude verschwunden. Die Aura seiner Verwunderung schlägt Amplituden bis in Miriams Zimmer und lässt sie glauben, neben einem Bassverstärker zu stehen. Verdrängend, dass er da oben in seiner Wohnung vermutlich auf Knien dafür dankbar ist, seinen Schlüssel zu finden, beginnt sie wieder zu malen.
Sonntag erscheint ereignislos und Miriam fragt sich, ob Matthias nicht vorhat, das Haus zu verlassen. Oder ist er ihr nur durch die Lappen gegangen?
Postiert an ihrem Schreibtisch, das durchs Zimmer hallende Fernsehen als akustische Stütze im Nacken, sitzt sie und überlegt. Auf ihrem Schreibtisch hat sich ein regelmäßiges Chaos aus Malmaterialien gebildet, in ihrem Mülleimer residiert Spitzspäne und neben ihrer Kaffeetasse ein Glas mit trübem Wasser. Der Pinsel der Größe 1 noch darüber liegend, um zu trocknen.
Im Flur hört sie ihren Vater, wie er die Treppen hinauf steigt. Wenn sie richtig vermutet, hat Matthias in seiner Wohnung diese beiden Zimmer, die die Treppe rauf liegen, für sich alleine. Wer weiß, vielleicht hat er auch ein großes draus gemacht. Miriam weiß nur, dass ihr Raum weder zu klein noch zu groß ist und daneben das Schlafzimmer ihres Vaters liegt, das ebenfalls weder zu groß noch zu klein ist.
„Noch Kaffee?“ Die Frage folgt auf das Klopfen hin, mit dem ihr Vater die angelehnte Türe ein Stück aufstößt, um ins Zimmer zu gelangen.
Anstelle einer Antwort, hebt sie ihre Tasse und hält sie, sich halb auf ihrem Drehstuhl herumwendend, ihrem Vater hin.
„Moment…! Deine wievielte Tasse ist das eigentlich heute schon?“, stutzt dieser inmitten seinen Bewegungen. Die Kaffeekanne in der Hand und bereits halb im Raum stehend.
Miriams Augenbrauen bilden daraufhin liebliche, kreisrunde Bögen über ihren Augen und ihr Vater nimmt ihr seufzend die Tasse aus der Hand, um sie aufzufüllen.
„Was möchtest du heute essen? Ich kann dir Nudeln mit Tomatensoße anbieten. Oder aber Nudeln mit Tomaten-Käse-Soße.“ Seine Stimme ist so nonchalant wie seine Bewegungen, was mit gestern zu tun haben muss. Als sie nach Hause kam mit diesem Gesicht, was seiner Meinung nach strahlend, nein, blendend aussah.
„Tomaten ohne Nudeln?“, schlägt sie zuckersüß vor und nippt an dem mittlerweile an sie zurückgereichten Kaffee. Manchmal weiß sie nicht, wie sie trotz des vielen Koffeins, das ihren Körper gleichmäßig elektrisiert, überhaupt zeichnen kann. So zeichnen, dass man es erkennt und dass es tatsächlich nach dem aussieht, was es darstellen soll. Aber offenbar funktioniert es. Ihr Stil ist realistisch, nicht expressionistisch.
„Nudeln mit Tomatensoße“, entscheidet ihr Vater also, willentlich die Essgewohnheiten seiner Tochter sabotierend. Miriams Reaktion ist ein Mundverziehen, fast könnte man es eine Schnute nennen, doch sie ist weder beleidigt noch kämpft sie gegen die Entscheidung aus der elterlichen Chefetage an.
„Auch eine schöne Aussicht.“
Ein milder Schrecken durchfährt sie, als habe man einen Eimer Eiswasser über ihr ausgekippt. Gleichzeitig hebt sie ruckartig den Blick von ihrem Getränk und starrt. Starrt ihren Vater an, der mit nachdenklicher Miene aus ihrem Fenster schaut und dann, sich zufrieden lösend, sie anlächelt.
„Was?“, entkommt es ihren Lippen heiser. Was meinst du? Was willst du? Was soll das?
In ihren Gedanken wird Frage über Frage geboren und schreit nach Aufmerksamkeit, nach Antwort. Miriam lässt sie sterben, ihr Vater deutet nur hinaus.
„Na von deinem Fenster aus, direkt auf die Straße und die Stadt. Von meinem ist die Sicht nicht so toll.“
„Achso“, erwidert sie leise und cremt ihr Herz derweil mit Salbei ein, bis es ein verfetteter Klumpen ist.
Sie dachte schon…
Ob er Matthias schon mal gesehen hat? Vielleicht noch vor ihr?
Die Vorstellung bereitet ihr ein schwer definierbares Unbehagen, denn Miriam will nicht offenbaren. Nicht erklären, nicht rechtfertigen, warum ein einziger Mensch mit seiner bloßen Ausstrahlung die Position der Sonne in ihrer Welt eingenommen hat. Sie dreht sich um Matthias. Alles, was sie tut, dreht sich um Matthias und das kann sie nicht denken. Dieser Gedanke macht sie krank: schließlich ist er nur ein Mensch, der im Haus gegenüber wohnt.
Nur ein Mann, den sie genauso wenig kennt wie all die anderen Männer in dieser Nachbarschaft. Trotzdem… er ist die Inkarnation des Wortes Muse für sie. Zum Greifen nahe; sie möchte die Hand ausstrecken und seine Ausstrahlung wie reife Früchte pflücken. Aufbewahren, mit in ihr Zimmer nehmen, bunkern, sie auf ihrem Schreibtisch drapieren und sich daran, zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit, satt essen.
Sie ist so unsagbar hungrig…
„Woran arbeitest du?“ Die Hand ihres Vaters wandert in Richtung der Zeichenmappe, die an die eine Seite des Schreibtischs gelehnt ist.
„Nicht!“ In Miriams Kopf beginnen die Alarmglocken schrill zu läuten und sie stellt ihre Tasse so schnell ab, dass der Inhalt bedrohlich hoch schwappt. Mit freien Händen hascht sie nach der Mappe und reißt sie an sich, unwillig sich zu entblößen.
Er würde es doch gar nicht verstehen…
Die Stirn in Falten legend, macht ihr Vater eine beruhigende Geste, die ein schwaches Heben der Handflächen inkludiert.
„Ich… Liebes, dein alter Herr ist nur neugierig.“
„Es gibt aber nichts zu sehen!“
„Ich weiß genau, dass du seit Tagen wie eine Besessene arbeitest.“ Es ist gewiss kein Vorwurf, sondern geht mit einem stolzen Lächeln einher. Das macht die Luft aber nicht weniger dünn…
Miriam atmet hörbar aus, indessen sie sich zurücklehnt und die Mappe locker auf ihren übereinander geschlagenen Beinen balanciert. Eine Hand als Stütze; ihr Vater wird den Bildern nicht mehr gefährlich werden…
„Es… es ist nicht fertig. Noch nicht“, sucht sie die erstbeste Ausflucht aus der prekären Lage und realisiert zu spät, dass es ein Fehler war.
„Noch nicht fertig…“, wiederholt ihr Vater nämlich bewusst und tut, als habe er soeben eine wissenschaftliche Meisterleistung vollbracht. „Es sind Arbeiten für deine Bewerbungsmappe, hab ich Recht?“
Nein!, möchte sie brüllen und in überdimensionalen Lettern an all ihre vier Wände schmieren; stattdessen begnügt sie sich aber mit einem erneuten Seufzen. Der Blick etwas gequält, aber nicht abweisend. Sie kann nicht Nein sagen. Nicht, wenn sie diese helle Begeisterung bei ihrem Vater sieht, der so ausschaut, als übe er im Kopf schon einmal seine Dankesrede, nachdem er den Nobelpreis für die tüchtigste Tochter der Welt erhalten hat.
„Ich wusste immer, die Akademie der Bildenden Kunst ist eine Option für dich.“
„Papa“, ermahnt sie, ohne dass er zuhört.
„Ich lass dich schon arbeiten. Wenn du für neue Farben, Pinsel oder sonst was Geld brauchst, sag mir einfach Bescheid.“
Er zahlt ihr Taschengeld, eigentlich mehr als genug. Materialien… nun, für eine Bewerbungsmappe müsste sie in der Tat etwas über den Tellerrand des Zeichnens hinausgehen. Ihr ist aber nicht so sonderlich nach Experimentieren zumute und sie liebt Holzstifte zu sehr, als dass sie großartig andere Abstecher als in den Bereich von Öl und Aquarell plant. Fotografie oder Bastelarbeiten – danach steht ihr zurzeit schlichtweg nicht der Sinn. Von anderen Dingen möchte sie gar nicht erst anfangen.
Ihr Vater spaziert aus dem Zimmer und geradewegs in die Küche. Die Kaffeekanne hat er ihr als Zeichen seiner Unterstützung sogar da gelassen. Miriam hört, wie er nun das Radio einschaltet, peinlicherweise zu Beyonce mitsingt und die Töpfe klappern lässt.
If you liked it than you should have put a ring on it
Sie ist dankbar, dass er zu sehr von Euphorie gepackt ist, als dass er ihr noch einmal versichert, sich nach einem guten Therapeuten für sie zu erkundigen. Das würde nur seine Zeit und ihre Nerven verschwenden.
Miriam ist nicht verrückt. Und Irrsinn ist ihres Wissens auch nicht ansteckend. Vererbbar – nun, das ist eine andere Geschichte. Sie klappt das Buch in ihrem Kopf stets zu, ehe sie sich diesem Kapitel zuwenden kann.
Am Montag fahren sie zur gewohnten Zeit: ihr Vater und auch Matthias.
Sie hat nicht gesehen, dass er sich Sonntag tatsächlich aus dem Haus bewegt hätte. Es wäre ihr aufgefallen; das Auto war immer da. Gut, er hätte zu Fuß unterwegs sein können, doch sie bezweifelt es einfach.
Er war Zuhause. Kein Besuch, vielleicht ein Tag für sich.
Ob seine Woche stressig war? Die Sache mit dem Schlüssel hat er hoffentlich überwunden… Miriam hält stolz ihre Kopien in den Händen, als sie am frühen Nachmittag aus dem Laden tritt und nicht drum herum kommt, sich ausführlich zu bedanken.
Sie hat freien Zugang zu seinem Reich – die Erkenntnis sprudelt in ihren Adern wie Kohlensäurebläschen, die dort nicht hingehören. Sie dringen in ihre Lunge, in ihr Herz und lassen sie vor Freude innerlich kollabieren.
Der Tag ist wundervoll und sie läuft, als könne sie ihr eigenes Gewicht nicht spüren. Als wäre sie nicht mehr da, als wäre sie ein Geist, der tun und lassen kann, was er will.
Vielleicht ist sie damals tatsächlich gestorben?
Kurzweilig sprießt der Gedanke in ihrem Kopf auf, als sie sich, wie schon einmal zuvor, in dem Wohnhaus gegenüber ihrem die Treppen hinauf schleicht. Der starke Geruch von Essen liegt in der Luft. Es riecht nach Gulasch, es riecht nach Spätzle und Miriam bleibt einige Sekunden stehen, den Duft auf sich wirken lassend. Unter ihr die Treppen zweier Stockwerke.
Ein lautes Lachen durchtrennt die gedämpfte Ruhe im Treppenhaus und Miriam muss sich affektiv ans Geländer klammern, um nicht den Halt zu verlieren, nicht nach hinten zu kippen, die Treppen hinab zu stürzen und bei den Leuten auf der Fußmatte zu landen, deren Kinder sich gerade johlend in ihre Winterschuhe drängen.
Ihr Herz schlägt und schlägt und schlägt, bis es nur noch ein durchgängiges Wummern ist, während sie zusieht, dass sie die letzten Stufen mucksmäuschenstill hinauf tippelt und keinem auffällt. Sie ist nicht da.
Und deswegen bemerkt sie auch niemand. Die Kinder hopsen die Stufen hinunter, eine Frau ermahnt sie noch. Die Haustür klappt, dann auch die Haustür des Hauptflures.
Stille legt sich langsam wie aufgewirbelter Staub zurück über die vom Leben verlassene Szenerie.
Miriam widmet sich der Wohnungstür, in der der nachgemachte Schlüssel genauso butterweich versinkt wie der für die Haupttür im Schloss drei Etagen unter ihr. Einen Atemzug später steht sie in Matthias' Wohnung, tritt ihre Füße ab und marschiert ins Wohnzimmer, um das süße Häschen zu begrüßen. Wie schon beim letzten Mal ist es ganz außer sich über den unbekannten Besuch und hangelt sich am Stall entlang. Matthias muss relativ häufig Besuch haben – oder wie kommt es, dass das Tier keine Scheu vor fremden Menschen hat?
Dem Hasen zwei Joghurtdrops spendierend, macht sich Miriam anschließend auf ins Obergeschoss. Sie kommt sich vor wie eine Fee, die alles darf, weil sie guter Absicht ist. Im Prinzip macht sie ja auch nichts Schlimmes: sie ist hier und lässt sich berauschen – was soll daran bitte verboten sein?
Als sie die Stufen hinauf geht, fällt ihr Blick auf den Wohnzimmertisch. Die Fernsehzeitung liegt dort, der Kicker liegt dort, die Fernbedienungselemente liegen dort – und doch ist irgendetwas grundlegend anders. Die Zeitung ist zugeschlagen, anstatt auf den heutigen Tag aufgeschlagen. Die Bedienungselemente liegen kerzengerade.
Hat Matthias den Sonntag zum Hausputz genutzt?
Verwirrt verlangsamt sie ihr Tempo und steht dann oben, im Schlafzimmer. Keine Wände, keine Zimmerabteilung. Das Licht der großen Fenster überzieht wie feines Wasser das Mobiliar. Miriam weiß nicht, wann sie in die Forschung gegangen ist, aber sie hat ihr Atlantis entdeckt. Einfach so. Wie ein Tier, das instinktiv den Weg nach Hause gefunden hat. Zu dem Ort, an dem es geboren ist und an dem es sterben möchte.
Die Bettdecke ist gerade. Die Bettwäsche ein präzises dunkelblaues Rechteck auf dem weißen Lacken. Auf dem Nachttisch nur die Lampe und ein Wecker. Kein Buch. Das Bettgestell ist aus Stahl, und an einer Wand befindet sich ein Regal, in dem wiederum Bilder stehen.
Da ist eines mit einer Meute Kinder, eine Mannschaft in blauen Trikots. Daneben noch eines, andere Kinder, die Trikots aber im selben Farbton. Matthias, wie Miriam ihn eben kennt, in der Mitte, als strahlendes Zentrum. Ihre Lippen springen in die Form eines Grinsens; er muss Fußballtrainer sein. Das erklärt auch die Sporttasche. Vielleicht ist er auch Lehrer, überlegt sie. Letztlich geht sie weiter, ohne sich die Kinder genauer anzusehen und Matthias’ junges Kindergesicht ausfindig zu machen.
Mit dem Finger fährt sie sanft über das Regal, bis es endet und sich die raue Wand unter ihrer Fingerkuppe kenntlich macht. Am Fenster stoppt Miriam notgedrungen und betrachtet dann unter dem weißen Schneehimmel ihren Zeigefinger.
Kein Staub.
Ihr wird unwohl zumute.
Es ist zu ordentlich. Natürlich, Matthias wirkt auf sie wie ein ordentlicher Mensch, daran bestand von Anfang an kein Zweifel, aber das hier… das ist penibel, peinlich.
Und doch kann sie ihn ganz genau riechen. So als stünde er hinter ihr und sie müsste sich nur umdrehen und alles wäre vergessen. Sie, heute, damals, alles.
Sie hätte keine Angst davor.
Doch in Wirklichkeit, da möchte sie nicht an diese Begegnung denken – denn was, wenn sie wider Erwartens anders verläuft? – und sie steigt die Stiegen wieder hinab. Unten sucht sie das Badezimmer auf, planlos. Bis sie darauf kommt, den Namen seines Aftershaves in Erfahrung bringen zu wollen. Lange schaut sie die raffiniert und doch zugleich praktisch geformte Flasche an, die in Reih und Glied mit dem Rest der diversen Produkte steht.
Sie weiß, sie kann nicht gehen und sich das gleiche Aftershave kaufen, ohne dass ihr Vater glaubt, sie wird ihm in Kürze seinen zukünftigen Schwiegersohn vorstellen. Alles ist zu kompliziert und deshalb fasst sie wie mit Samthandschuhen nach der Flasche. Das Öffnen erfolgt mit atomarer Vorsicht; Miriam steht und lässt sich von dem Duft einlullen. Die Hände feucht werdend vor Nervosität, weil sie vom Geruch in Ketten gelegt wird. Ihr Verhängnis ist vorprogrammiert.
Ihr entgleitet die Flasche.
Miriam agiert automatisch und fängt das Aftershave unbeholfen mit den Händen auf, bevor es auf dem gefliesten Boden aufschlägt und in etliche Scherben zerbersten kann. Nicht aber bevor sich etwas von dem Inhalt auf ihre Hände, ihre Ärmel und den Boden ergießt.
„Scheiße!“, hört sie sich im Badezimmer wispern und es hallt scharf von allen Wänden wider. Ist wie Pauken und Trompeten und macht sie taub. Sie steht da, die Hände eigentümlich und höchst unangenehm verdreht, nach Aftershave von Nivea riechend und nicht weiter wissend. Was soll sie tun?
Was tut sie hier überhaupt?
Im Nu schraubt sie den Deckel wieder fest und reißt so viel Toilettenpapier ab, bis sie die Flasche doppelt und dreifach darin einwickeln kann. Sie putzt sich die Hände trocken und den Boden und versenkt alles im Klo, wo es gnadenlos hinunter gespült wird. Es riecht extrem und sie weiß nicht, wie etwas, das ihr auf so schöne Art und Weise den Verstand raubt, sie gleichzeitig so tief in Verzweiflung stürzen kann. Mit laut pochendem Herzen starrt sie die Flasche Aftershave an, die wie ein benutztes Messer wieder an ihrem alten Platz steht und auffällig auf Miriams mit imaginärem Blut verschmierte Gestalt deutet.
Inhaltstechnisch fehlt etwas. Nicht so viel mehr als vorher, aber dennoch…
Aus praktischen Gründen greift Miriam erneut zur Flasche, fummelt mit fiebrig wirkenden Wangen an dem Verschluss herum und hat Glück. Er pariert und als er dann offen ist, lässt sie tropfenweise Leitungswasser hinein perlen.
Gott im Himmel, das wird Matthias doch merken!
Oder?
Sie wäscht sich exzessiv die Hände und hadert mit sich: in die Stadt fahren, es nachkaufen, hier platzieren, etwas hinausschütten, die alte Flasche mitnehmen…?
Schafft sie das zeitlich?
Wo ist die nächste Parfümerie?
Was, wenn Matthias heute eher Schluss macht?
Vielleicht merkt er es ja auch gar nicht?
Sie öffnet das Fenster auf kipp und verlässt stocksteif den Raum. Dann hat er eben vergessen, sein dämliches Fenster zuzumachen. Na und? Kann auch ihm mal passieren! Wie um alles in der Welt soll er darauf kommen, dass jemand hier war? Er hat seinen Hausschlüssel doch wieder gefunden; er wird gar nicht vermuten, dass jemand ihn zurückgelegt hat, bevor er ihn ein paar Straßen weiter hat nachbilden lassen.
Wenn er davor tatsächlich Angst hätte, hätte er sicher schon Maßnahmen ergriffen. Die Polizei gerufen, das Schloss ausgetauscht. Irgend so etwas eben!
Miriam fühlt sich immer noch brennen. Ihr Gesicht, es hört einfach nicht auf zu glühen. Der Geruch haftet an ihrem Körper als wäre sie frontal mit Matthias zusammengestoßen und wie die Schwerkraft es eben so wollte, hat sie Miriam einen bösen Streich gespielt und sie beide zu Boden gerissen. Er obenauf; völlig perplex aus den weit geöffneten Augen schauend. Sie unfähig zu entkommen.
Der einzige Halt, den sie noch hat, ist der ihrer festgeklammerten Finger. Doch wenn sie den Blick endlich aus dem Bann von Matthias’ Augen lösen kann und er auf ihre Hände fällt, versteht sie, sich an ihm festzuhalten.
Und sie versteht noch etwas: sie will ihn eigentlich gar nicht loslassen.
Geduckt wie eine Diebin hechtet Miriam über die Straße, in ihre eigene Wohnung, weiter ins Badezimmer. Das Badewasser rauscht auf ihr Agieren hin und sie schält sich wie wild aus ihren Klamotten, so als hafte diesen etwas Giftiges an. Dabei trifft dies nicht im Geringsten zu und so hält sie inne, als sie den Haufen aus einer dunkelblauen Jeans, schwarzen Socken und dem schwarzen, langen Pullover betrachtet. Wie eine seltene Schlange räkelt sich ihr bunter Schal über dem Ganzen und Miriam lässt sich erschöpft auf die Badewannenkante fallen. Mit den Zehen tippt sie probehalber gegen das Häufchen und umfasst schlussendlich einen Zipfel des Pullis.
Ihre Panik von eben kann sie nicht mehr recht nachvollziehen. Nur noch teilweise, als sie ihren Pullover hochhebt und dann in die Hände nimmt, zur Nase führt und schnuppert. Ihr Blick taxiert nichts. In der Wanne steigen Wasser und Schaumkronen derweil langsam empor. Sie hat mehr Badezusatz hinzugegeben als zwei normale Menschen eine Woche lang zum Baden benötigen.
Matthias wird niemals erfahren, dass sie, das Mädchen von gegenüber, in seiner Wohnung war.
Niemals.
Das Gesicht an den Pulli kuschelnd, dreht sie den Kopf zur Seite, wobei ihr zu spät auffällt, sich im Spiegel betrachten zu können. Der Anblick dieses Wesens in Unterwäsche bringt sie umgehend dazu, aufzuspringen und in ihr Zimmer zu laufen. Dort reißt sie den Schrank auf und weiß nicht, ob das Mädchen, dem der Schrank gehört, vielleicht noch eine einsame Schachtel übrig hat. Sie durchforstet den Grund, schiebt Schuhe beiseite und leert einen Karton, in dem ein paar Sandalen Winterschlaf halten. Den Pullover sorgsam gefaltet, schließt sie die Schachtel. Sie muss Matthias von ihrem Mantel waschen und von ihrem Körper, aber der Pullover…!
Keiner wird es merken, jetzt, da er sicher verstaut ist – und dieses Mädchen, dem Schrank und Spiegel gehören, es hat selbst viel zu viele Geheimnisse, als dass es Miriam in den Rücken fallen würde.
Es ist wie bei einem Blind Date, was Freunde für einen arrangieren. Miriam fühlt sich seltsam zurückhaltend, wie sie so auf ihrem Stuhl sitzt, die Hände unschlüssig im Schoß liegend und die neue Bekanntschaft, die ihr Vater ins Haus gebracht hat, verhohlen studierend.
Draußen fallen dicke Schäfchenflocken aus reichlich gepolsterten Mutterschafwolken und lassen sich von Schwerkraft und Wind dabei helfen, den Boden zu erreichen. Manchmal auch Fenster, manchmal auch Autos, manchmal auch Menschen. 20:00 Uhr ist gerade durch und Miriam scharrt etwas abwesend mit den Füßen über den Boden, sodass sich ihre Pantoffelhäschen ungewollt küssen.
Ihr Vater hat das Zimmer vor geschätzten drei Minuten mit einem warmen „Viel Spaß“ verlassen. Seitdem sitzt sie tatenlos und kerzengerade und wagt den nächsten Schritt nicht. Ihre Erinnerungen sind zerpflückt wie der draußen rieselnde Schnee und sie möchte nie und nimmer, dass sich alle Erinnerung je wieder zu einer dichten Decke zusammensetzen, die ihr gesamtes Leben als Übersicht aufzeigt.
Sie war eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr im Internet. Nicht bei ihren E-Mailaccounts oder auf sonstigen Internetseiten. Jetzt steht vor ihr ein neues Notebook, das ihr Vater ihr mitgebracht hat. Der Desktop trägt das bekannte Gewand namens Standardvista und verlangt von ihr, neu eingekleidet zu werden.
Es ist nicht so, als hätte Miriam nicht den Rechner ihres Vaters benutzen können. Sie hat es schlichtweg nur nicht getan, seit… ja, seit wann?
Behutsam rutscht sie auf ihrem Schreibtischstuhl nach vorne, sitzt auf der Kante und überlegt, derweil all ihre zehn Finger über den nigelnagelneuen weißen Tasten schweben.
Ein Apple… weiß, orange, stilvoll. Seit wann hat ihr Vater darüber nachgedacht, sie – wo sie schon das reale Leben scheut – zumindest ins virtuelle Leben zurück zu schubsen?
„Funktioniert alles?“, hört sie den Ruf vom Wohnzimmer aus und aktiviert hastig via Doppelklick aufs Touchpad das Internet. Im Nu springt das Fenster auf und verbindet sie. W-Lan ist eine feine Sache.
Ihre Startseite ist google.
„Ja, danke, klappt prima“, antwortet sie und merkt, wie ihr die Stimme zu brechen droht. Ihr ist kalt; es ist, als stünde sie im Schlafanzug dort draußen im Schnee und wüsste so ohne Schlüssel für ihre oder Matthias’ Wohnung nicht, wo sie Zuflucht suchen sollte.
Welche Webseite soll sie aufrufen?
Sie ahnt, was in ihrem Posteingängen auf sie wartet; in Massen.
Müde sinken ihre Finger auf die Tasten hinunter und bleiben regungslos dort liegen. Die Buchstaben weich gegen ihre Fingerkuppen, um mehr Berührung flehend. Wie ein Freund, der mehr will als sie zu geben bereit ist. Damals hätte sie sich ein neues Notebook gewünscht, keine Frage. Heute starrt sie die Suchzeile der Suchmaschine an und presst unbewusst die Zunge gegen ihre Munddecke.
Im Schrank hinter ihr bewacht ein seltsames Mädchen den Pullover mit Matthias’ Aftershave. Verstohlen muss Miriam einen Blick über die Schulter werfen; die Schranktüren und die Schubladen sind solide geschlossen.
Ihr Vater hat nichts gerochen.
Das Mädchen kann sich gerne an den Geruch gewöhnen; vielleicht verwandelt es sich dann etwas und lässt das Abscheuliche hinter sich. Unnaiv wünscht sich Miriam einfach im Interesse des Mädchens, dass der Geruch den gewünschten Effekt heraufbeschwört.
Matt beginnt Miriam nun zu tippen und findet sich auf der Log-In-Seite des StudiVZs wieder. Noch zu Schulzeiten waren sie und ihre Freunde bereits dort angemeldet. Es war einfach cooler als das SchuelerVZ, wo die ganzen kleinen Kinder in ihren lächerlichen Grüppchen viel zu pubertäre Postings hinklatschen. Fand zumindest Miriam, fanden die anderen aber auch.
Angemeldet an ihrer zukünftigen Wunschuniversität und mit einer abenteuerlichen Studienfächerkombination, wurde also kollektiv im StudiVZ von der Zukunft probiert.
Langsam füttern Miriams Finger die Internetseite mit den nötigen Log-In-Informationen. Sie ist sich weder bei der E-Mail noch beim Passwort hundertprozentig sicher, weil sie damals aber eine unvorbildliche Internetnutzerin war, hat sie so gut wie überall die gleiche E-Mail und das gleiche Passwort verwendet. Tatsächlich wird sie eingeloggt, nachdem sie den Befehl dafür gibt und sieht sich dann ihrer persönlichen Startseite gegenüber.
Ihr Profilfoto hängt locker und lässig in der Mitte und zeigt ein Mädchen in einer weißen Sommerjacke, um den Hals gleich mehrere unterschiedlich lange Perlenketten. Das Haar im agilen Pferdeschwanz und an einem Erdbeereishörnchen naschend. Zwischen ihren vom Lachen leicht geschlossenen Augen glänzt es. Die Wimpern betonen das Glitzern noch zusätzlich, indem sie einen deutlich schwarzen Kranz schaffen.
In der Luft liegt ein warmes Flirren.
„Das war so super; weißt du noch?“ Elena.
Unfähig zu atmen, lässt sich Miriam zurücksinken und macht eine halbe Drehung in ihrem Stuhl. Nach links, nach rechts. Niemand. Keine Elena, mit der sie Eis essend an der Costa del Sol sitzt und sich über die Freaks lustig macht, die am Strand ständig wie aufgeplusterte Hähne an ihnen vorbei marschiert sind und vergeblich bei ihnen zu landen versucht haben.
In ihr tut sich ein riesiges Loch auf. Unergründlicher noch als die düstere Tiefsee.
Keine Elena…
Miriams Blick rutscht von ihrem eigenen Foto hinunter und landet auf Statuseinträgen jener, die aus ihrer Freundesliste zuletzt ein entsprechendes Update vorgenommen haben.
Keine Elena…
Aus dem Augenwinkel sieht Miriam bereits, dass links in der Menuleiste hinter Nachrichten in Klammern eine dreistellige Zahl steht. Jede einzelne dieser Nachrichten wartet darauf, von ihr gelesen und beantwortet zu werden.
Ob Elena sie von ihrer Freundschaftsliste gekickt hat?
Das macht doch nichts, oder? Nein, ganz sicher nicht. Miriam wollte es doch so, weil Elena wunderbar ist und sie selbst… nun ja, eben nicht wunderbar. Nur verwundbar und verwundend.
Ihre Menge an Nachrichten ausblendend, betritt Miriam ihre eigene Seite und sieht noch immer die künstlerische Hochschule, an der sie sich damals spaßeshalber eingetragen hat. Wollte sie tatsächlich Kunst studieren?
Sie scrollt nicht abwärts; nicht zu den Gruppen und erst recht nicht bis zur Pinnwand. Sie klickt geradewegs ihre Freundesliste an und gibt bei der Namenssuche Elena ein.
Kein Resultat präsentiert sich ihr.
Miriam wiederholt den Suchvorgang, dieses Mal mit Elenas Zunamen.
Das Resultat bleibt das gleiche.
Elena ist fort.
In Miriam breitet sich auf diese Erkenntnis hin schlagartig das ungute Gefühl aus, ihr etwas unheimlich Wichtiges sagen zu müssen. Es brennt ihr unter den Nägeln, lässt ihre Haut abartig jucken und weckt in ihr den Drang, sich am ganzen Leibe zu kratzen. Bis das Gefühl plötzlich fort ist und es ihr wieder so erscheint, als wäre es wirklich am besten für sie beide.
Sie hat Elena nichts zu sagen. Wie könnte sie auch? Sie empfindet doch nicht mehr. Die Emotionen sind damals mit all dem Blut aus ihr hinausgelaufen...
Müde wechselt Miriam von ihrer Freundesliste auf die allgemeine Suchfunktion und wirft dieser, ohne lange zu Fackeln, Matthias’ Namen in den Rachen.
Die Ergebnisse sind enttäuschend, da die Namen zwar ähnlich sind, es sich aber definitiv nicht um ihren Matthias handelt. Mit schweren Knochen loggt sich Miriam aus. Die Nachrichten in ihrem Posteingang sollen verrotten. Sie will nicht wissen, wer ihr wann und warum geschrieben hat und in ihrem Körper ist zu wenig Energie, um sich mit Elena herumzuschlagen. Dass Elena ihr geschrieben hat, irgendwann einmal, steht außer Frage.
Weil es bei ihren normalen E-Mails nicht anders sein kann, macht Miriam einen bewussten Bogen um die Seite ihres Anbieters und lächelt, als sich ihr Cursor in eine kleine, altrosafarbene Sternschnuppe verwandelt. Der Hintergrund ist dunkelgrau gehalten, mit einem farblich abgestimmten Muster durchtränkt. Auf dem Banner schwingt ein als Fee verkleidetes Mädchen mit Smokey Eyes auf einer Schaukel gen Himmel, in Richtung Sterne, in Richtung unfassbares Nichts, das in dieser Dimension zwischen Welt und Universum liegt und das Versprechen von Helium auf den Lippen trägt: Ich lasse dich schweben, fülle dich auf – wie einen Ballon – wenn du erstmal leicht genug bist, um fliegen zu lernen. Wenn…
Im Forum selbst sind neun Leute unterwegs. Das sind kaum mehr und kaum weniger als früher…
Miriam tippt ihren Usernamen, dann ihr Passwort – und stellt fest, dass ihr Account noch nicht gelöscht wurde. Dabei war sie nicht lange in diesem Forum aktiv, nichtsdestotrotz hat es für etliche Postings gereicht. Auf ihrem Avatar erstrahlt der auf 100x100 Pixel beschränkte Ausschnitt eines bildhübschen Models mit Porzellanteint und einer edlen Hochsteckfrisur, welche mit einem feinen Muschelkamm und teuren Perlen gespickt ist.
Ihre Mutter hat ihr das Leben gegeben, um es ihr Jahre später wieder nehmen zu wollen. Sie hat es nicht geschafft und Miriam ist seitdem eines ganz bewusst geworden: die Kontrolle darüber, was mit ihrem Leben geschieht, wird nur noch bei ihr selber liegen. Entsprechend hat sie angefangen, ihr Leben zu strukturieren, zu verändern. Zum Guten. Nur manchmal sind die Ängste ihr sehr dicht auf den Fersen, dann muss sie stark sein und stark bleiben. Matthias’ Existenz macht ihr das ungeahnt leichter. Das Mädchen im Schrank stellt derzeit kein akutes Problem dar. Und die Welt... nun, sie ist doch eh irrelevant.
Ein Forenbereich, gekennzeichnet durch einen kleinen icon mit einem aufs Meer schauenden Mädchen, zieht Miriam magisch an. Sie wählt das oberste Topic; das gleiche wie in jenen Tagen, nur dass sie damals wenig Neues zu schreiben wusste.
Wie habt ihr’s heute geschafft? Was lässt euch durchhalten?
Damals, mit einem verheilenden Loch in der Brust, wusste sie nichts zu schreiben und etwas in ihr weigerte sich schlicht und ergreifend, sich den Postings der anderen anzuschließen. Miriam konnte nicht von kleinen, pummeligen Schwestern oder Cousinen berichten, die sie um ihre Figur beneideten. Von Klassenkameraden vielleicht, aber was sollte es? Und auch die Noten... ach, die Noten, das war etwas, das sie tat. Sie war gut in der Schule - und es fühlte sich nach nichts an.
Der Leichtigkeit durch Endorphine, freigesetzt durchs Nichtessen, der konnte sie hingegen zustimmen. Damals wie heute. Die Leichtigkeit ist das Erstrebenswerteste, heute wie damals. Das Gefühl, sich von allem distanzieren zu können. Den Körper und all seine Bedürfnisse und Erinnerung hinter sich lassen; das ist ein Ziel. Das ist für Miriam erstrebenswert. Nach wie vor...
Bevor sich Miriam versieht, hat sie auf Antworten geklickt und genau vier Zeichen eingegeben:
M. B.
Dienstag betritt die Bühne der Welt und Miriam schläft, länger als sonst. Sie verschläft ihren zur Arbeit fahrenden Vater, der morgens darüber so überrascht ist, dass er vorsichtshalber in ihr Zimmer lugt. Sie schlafen sieht, das zugeklappte Notebook sieht und es so kommen gesehen hat, als er gestern zu Bett gegangen ist und seine Tochter noch hinter dem Bildschirm hing. Vertieft, beschäftigt und wie immer nicht zeigen wollend, wem oder was sie ihre kostbare Zeit zukommen lässt.
Beinahe zieht er die Türe wieder genauso geräuschlos zu wie er sie geöffnet hat, da killert es in seiner Nase. Er kann nicht sagen, was es ist. Ob Staub, ob der neu gefallene Schnee draußen oder etwas Anderes, doch für einen kurzen Moment hat er das unwiderlegbare Gefühl, nicht mit Miriam alleine in der Wohnung zu sein. Manchmal glaubt er an Geister, aber der einzige Geist, den er verdächtigt, passt nicht zu dem friedliebenden Eindruck, den sein Gemüt gerade hat.
Über sich selbst den Kopf schüttelnd, macht er sich schließlich auf den Weg. In ihrem Bett dreht sich Miriam um, hinter den geschlossenen Lidern hektische Bilder ohne Motiv, die sie einige Stunden später verstört aufwachen lassen.
Sie weißt sofort, dass es spät ist. Die Luft riecht nach angebrochenem Tag, nach Tatendrang und nach… ihm. Leicht paranoid die Arme um den Körper schlingend, tapst Miriam durch den Raum, den Blick nicht vom Schrank lösen könnend. Es ist, als sei er hier gewesen… Das ist er aber natürlich nicht.
Oder?
In ihrer geöffneten Tür stehend, dreht sie sich um und schaut in den Raum, in dem alles ganz normal wirkt. Aber wenn Matthias nicht merkt, dass sie bei ihm ist, wer versichert ihr dann, dass sie es merkt, wenn er hier ist?
Richtig: niemand.
Die Uhr zeigt kurz nach zwölf, als Miriam schließlich angezogen, frisiert und geschminkt ist. Als Freundin von leichtem Make-up hat sie auch heute nur etwas Wimperntusche und Puder zu Rate gezogen. Die Lippen haben ihre morgendliche Dosis Labello verpasst bekommen und draußen sind die Straßen frei geschaufelt. In ihre Kunstmappe packt Miriam ihren Zeichenblock und schlingt ein Gummi um einige Bleistifte sowie den Radierer, um diese ebenfalls in der Mappe zu verstauen. In Matthias' Wohnung sind so viele Photos, sie kann die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen.
Bevor sie ihr Zimmer verlässt, geht sie zu ihrer hellen Kommode hinüber und zieht die oberste Schublade auf. Dort, wo sich Ketten und Ohrringe und Armbänder und Haarschmuck und Briefpapier und überflüssiger Krimskrams sammeln, schiebt sie einen Seidenschal beiseite und holt den Ring mit den beiden Schlüssel daran hervor. Ihre Eintrittskarten.
Dieses Mal gibt es keine unangenehmen Überraschungen in Matthias’ Treppenhaus. Kinder sind in der Schule, Eltern arbeiten, Hausfrauen einkaufen oder in ihren Küchen. Alles ist erstaunlich ruhig und friedlich, abgesehen von dem quietschfidelen Häschen.
Miriam legt ihre Mappe auf den Wohnzimmertisch, bevor sie das liebe Tier begrüßt.
„Deinen Namen könntest du mir verraten“, lächelt sie milde, während ihre Finger durch die Stäbe reichen und über das weiche Fell hinweg gleiten. Der Hase selbst hüllt sich in geheimnisvolles Schweigen und Miriam gibt ihm zwei weitere Joghurtdrops, ehe sie sich aufrichtet. Sich streckend hebt sie die Arme in die Luft und spürt sämtliche Muskeln in ihrem Körper, an dem das Leben ziept.
Neben ihrer Mappe liegt die Fernsehzeitung, immer noch nicht aufgeschlagen. Die Fernbedienungselemente sind… weg?
Irritiert schaut sich Miriam um, kann sie aber spontan nicht entdecken.
Was ist los? Erst die Ordnung und jetzt das…
Sie beschließt, es zu ignorieren und geht wieder zum Regal hinüber. Für ein Foto möchte sie sich entscheiden, aber die Frage, welches, überfordert sie. Familie? Freunde? Das von Matthias auf einem Gartenstuhl, der sich mit jemandem unterhält, der nur von hinten abgelichtet ist? Oder das, wo er das Pferd füttert?
Und dann ist da noch dieses Bild mit ihm und seiner Schwester, auf dem jeder von ihnen einen Hasen festhält. Beim letzten Besuch hat Miriam nur auf die Personen geachtet, doch jetzt kann sie das plötzlich nicht. Sie sieht die Hasen. Den braunen, den Matthias hält, den kennt sie. Den schwarz-weißen hat sie noch nie gesehen. Ob die beiden Hasen zusammengehören? Auch ohne selbst jemals einen Hasen als Haustier gehalten zu haben, ist sich Miriam ziemlich sicher, dass es den Tieren besser bekommt, in Gesellschaft zu sein. Außerdem ist im Hintergrund deutlich Matthias’ Wohnung wieder zu erkennen. Der schwarz-weiße Hase saß also sicher mit dem Braunen im gleichen Stall.
Saß.
Heute ist der Braune alleine. Ist der schwarz-weiße also...?
Gott, sterben tut so weh…!
Sie tritt den Gedanken weg, ganz weit. Mit voller Kraft, so als sei er ein verschlissener Ball, den es loszuwerden gilt und der dummerweise mit all seiner Wucht irgendwo im Dunkeln abprallt und Miriam so hart trifft, dass die Kapsel ihrer Erinnerungen aufplatzt. Nervengift wird freigesetzt. Im Nu ertrinkt ihr gesamter Körper in einem Meer aus Schreien und Schmerz.
„Alles, was du verdienst, ist das hier! Das hier!“
Damals wie heute krallt sich Miriams Selbsterhaltungstrieb instinktiv an eine panische Flucht. In Ihrer Hast unüberlegt, stolpert sie aus dem Zimmer, weiß nicht, wohin mit sich; weiß nur, dass ihr die Gefühle und das Fühlen an sich Kummer bereiten und sie das Gefühlsinferno in sich nicht löschen kann. Es nicht aufhört, weh zu tun. Ihr zu schaden.
„Weißt du was? Du verdienst das alles gar nicht! Deine Freunde, deine Schule, dein-dein..Talent“, ihre Mutter konnte das Wort mit so viel Abscheu ausspucken, dass Miriam bis heute glaubt, sich durch den Speichel eine tödlich verlaufende Krankheit zugezogen zu haben.
„Alles, was du verdienst, ist das hier!“
Bevor die Attacke sie treffen kann, wird es dunkel. Verschwindet das Bild und Miriam klammert sich, die Luft anhaltend, an die über den Kopf gezogene Decke. Außer ihrem Herzschlag ist da kein Geräusch weit und breit. Zur Sicherheit bleibt sie regungslos liegen in der Finsternis, wagt allmählich wieder flache Atemzüge und bemerkt, wie sich die von ihr ausgestoßene Luft feuchtwarm über ihrem Gesicht im Deckenstoff manifestiert.
Ihr Herz ist immer noch zu laut, als dass sie absolut sicher sein könnte, dass ihre Mutter nicht vor dem Bett steht und auf sie wartet. So wie damals, als sie von der Schule kam. Ein Stich; und dutzende von erstechenden Worten.
Miriam schwebt in der sich immer deutlicher herauskristallisierenden Ruhe des Tages. Ihre Finger wie auftauend, die Decke loslassen. Etwas hier tut ungeheuer gut… Es hat weniger mit der Tatsache zu tun, auf einer weichen Matratze zu liegen oder von einer Decke gewärmt zu werden. Es ist etwas Anderes, etwas…Duftendes.
Sie ahnt es und reckt trotzdem prüfend die Nase. Gieriger, so will es nämlich ihr hungriger Sinn. Sie tut, wie ihre Triebe verlangen und mit der beruhigenden Gewissheit, dass es tatsächlich durch und durch Matthias ist, den sie riecht, fallen ihr erschöpft die Augen zu.
Als der Schlaf sie vor die Tür setzt, hat sie die Decke halb von sich gestrampelt. Ihr gefällt ihr neues Zimmer, der üppige Schneehimmel dort draußen zwischen der modischen, halb herunter gelassenen Jalousie. Sein Zimmer liegt, genauso wie seine Wohnung, nicht zur Straße hinaus; andernfalls könnte Miriam von ihrem eigenen Zimmer quasi hinüber schauen. Sie könnte ihn sehen, wenn er Zuhause wäre. Ständig.
Doch dem ist nicht so.
Sie ist alleine, auch jetzt. Natürlich ist sie das. Was hatte sie bitte Anderes erwartet?
Über sich selbst den Kopf schüttelnd, rappelt sie sich schlaftrunken auf und kriecht langsam aus dem Bett. Es ist völlig zerwühlt; in diesem Zustand kann sie es selbstverständlich nicht lassen…
Mit müden Gliedern macht sie sich daran, Laken, Kissen und Decke in Ordnung zu bringen. Alles muss wieder genauso aussehen wie vorher; wie konnte sie nur in sein Bett klettern? Das ist so leichtsinnig, so unglaublich leichtsinnig – so unglaublich hilfreich im Angesicht der Angst.
Miriam vergibt sich unter den gegebenen Umständen; Matthias hat ja scheinbar nicht mal mitbekommen, dass sie gestern in seinem Badezimmer war. Sonst hätte er doch etwas unternommen, ganz sicher sogar.
Ein letzter Kontrollblick aufs Bett erfolgt; Miriam ist zufrieden und liest ihre vor dem Bett liegende Kunstmappe auf. In ihrem Kopf ist alles weich, so als wäre sie nie unter der Decke hervor gekrochen. Besser noch: der Duft umgibt sie vollkommen. Es ist wie eine Umarmung der anderen Art.
Leichtfüßig schwebt sie die Treppen hinab. Der Uhr entnimmt sie, circa zwei Stunden dort gelegen zu haben. Was soll’s? Zusammen mit der letzten Nacht hat sie genug Schlaf bis zum Ende der Woche getankt.
Nach wie vor unschlüssig, was sie zeichnen soll, durchstreift sie das Wohnzimmer und betritt die Küche. Ihr Blick fällt heute erstmalig direkt auf den Tisch, auf dem ein Blatt liegt und darauf wiederum…
Sie kann es nicht fassen: obwohl der kleine Zettel völlig zerknittert ist und anschließend wieder sorgsam glatt gestrichen wurde, klebt er noch. Oben, an einer Seite des Blattes.
Miriam erkennt ihre lachse Bleistiftzeichnung des Hasen auf Anhieb. Ihre Existenz hatte sie lange vergessen… Samstag, da hatte sie den Zettel doch bemalt und dann..dann hat sie ihn leichtsinnigerweise in den Müll geschmissen. Konsterniert wirft sie einen Blick über die Schulter, die Pupillen springend, suchend, manisch an der Einrichtung entlang wetzend, doch die Küche verrät kein Sterbenswörtchen.
Aber fest steht:
Er hat ihn gefunden.
Matthias hat ihren Post-It gefunden!
Miriam weiß weder ein noch aus.
Sie kann die Sätze nicht lesen, die da auf dem Blatt stehen. Sie traut sich nicht und trotzdem machen ihre Füße einen weiteren Schritt, lassen sie wie einen Roboter agieren, wagen sich näher an den Tisch heran, indessen ihr Verstand im Akkord wispert:
Er weiß, dass es dich gibt…! Er weiß, dass es dich gibt…! Er weiß es, er weiß es…! ER WEISS ES…!
Was, wenn er ihr auflauert? Wenn er sie hasst? Wenn er böse auf sie ist? Wenn er…?
Sie weiß es nicht…
Wird sie sterben? Endgültig dieses Mal?
Apathisch widmet sie sich den Zeilen:
Wer auch immer Sie sind, zwingen Sie mich nicht, mein Schloss auswechseln zu lassen oder zur Polizei zu gehen!
Auf letzteres habe ich bisher nur verzichtet, da nichts gestohlen wurde.
Auch ich habe ein Recht auf Privatsphäre! Respektieren Sie das!
Von einer Unterschrift hat er abgesehen.
Aber Unterschrift hin oder her, Miriam realisiert nur eines: nämlich dass Matthias sie hasst. Dass er sie hier nicht haben will. Dass er bereit ist, die Polizei zu informieren, wenn sie ihn nicht in Frieden lässt.
...ein Recht auf Privatsphäre…
Ja, das hat jeder Mensch, das versteht sie ja! Sie wollte es ihm auch gar nicht streitig machen! Sie wollte nur, dass es ihr besser geht. Er weiß doch gar nicht, was er ihr bedeutet! Er weiß auch nicht, wie gut er ihr tut! Das ist doch schon alles! Sie wollte ihm keine Angst machen!
Angst…
Das ist es, oder? Er hat Angst. Er fürchtet sich vor ihr, weil sonst wer sein Unwesen in seiner Wohnung treiben könnte.
Wenn er Angst hat – und das wird er, wenn er heim kommt und spürt, dass Miriam da war –, wird er handeln. Himmel, sie wollte ihm keine Angst machen! Sie schwört auf Knien, dass es das Letzte ist, was sie beabsichtigt hat! Immerhin kennt sie selber die abgrundtiefe Scheußlichkeit dieses Gefühles in- und auswendig.
Sie wollte ihm nichts tun…
Vielleicht ist sie ja nicht anders als ihre Mutter?
„Doch!“, antwortet sie sich selbst umgehend und zieht den nächstgelegenen Stuhl zurück, damit sie sich an den Tisch setzen kann. Handeln ist gefragt. Sie muss handeln. Ihm die Angst nehmen… Sie kann ihn nicht auf diesem hässlichen Gefühl sitzen lassen; das bringt sie nicht übers Herz. Nicht nachdem er so viel für sie getan hat…
Sie weiß bloß nichts zu schreiben…
Ihr ist nur mit einem Mal absolut klar, warum sich die Ordnung in der Wohnung zugespitzt hat.
Völlig verunsichert, was sie machen soll, öffnet sie ihre Kunstmappe und holt einen Bleistift mit dickerer Mine hervor. Ihre Lettern verschlingen sich beinahe gegenseitig, so teigig ist ihr Schriftbild ausgelegt.
Tut mir Leid.
Ich wollte Sie nicht erschrecken.
Danke für alles.
Sogar ihn zu siezen bereitet ihr Schwierigkeiten, da es ihr so vorkommt, als stünden sie einander viel, viel näher.
Der Stift in ihrer Hand wird warm, je länger sie auf das Papier hinabguckt und nichts mehr hinzuzufügen hat. Sie schämt sich immer noch in Grund und Boden dafür, ihn in Aufruhr versetzt zu haben. Natürlich, sie hat immer mit der Gefahr gerechnet, aufzufliegen. Aber sie hat dabei immer nur an ihre Seite gedacht, an ihre Perspektive und ihre Gefühle und was es für sie bedeuten würde. Nie hat sie sich so konkret in Matthias hineinversetzt wie jetzt. Sie hat nie daran gedacht, dass er Angst haben könnte.
Den Stift wieder zu den anderen gebend, klappt sie ihre Mappe vollständig auf und nimmt den Block heraus. Es sind noch Bilder darin, alte Bilder aus anderen Zeiten. Eindrücke aus Spanien sind zum Beispiel darauf: Kinder, die im Sand spielen, ein Hund, der auf der Suche nach seinem Ball durch die Wellen prescht, und die Stadt bei Nacht. Der Entwurf eines Mädchens in einem modischen Sommerkleid, wofür Elena damals Modell gestanden hat und eines der Bilder, die sie aus der Ferne von Matthias gemalt hat.
Hoffend, dass er sich nicht von ihr bestielt fühlt, lässt sie Matthias das Bild mit ihm als Motiv da, sowie den Hund. Ein Prachtexemplar von einem Golden Retriever unter der warmen Sonne. Sie legt den Hund oben auf, packt den Block ein, schließt ihre Mappe und schreitet abwesend zur Haustür. Ihre Schuhe sind noch genau da, wo sie sie zurückgelassen hat.
Wenige Minuten später steht sie wieder in ihrem Zimmer. Sie möchte malen, aber die Tränen erlauben es ihr nicht. Sie hat lange nicht mehr bis zur halben Erblindung geweint.
Ihre Jalousie ist heruntergezogen; noch bevor er heim kommt, noch als er Tags drauf wieder fährt. Den Abend, die Nacht, alles hat Miriam unter einem Schleier von Schuld verbracht. Immer mit einem plötzlichen Klingeln an der Haustüre rechnend: Polizei. Einbruch. Verhaftung.
Sie ist eine Kriminelle.
Sie ist in Matthias’ Wohnung eingedrungen, unerlaubt, mehrmals. Sie hat in seinen persönlichen Dingen geschnüffelt – oder so sieht er es zumindest. Eine nahe liegende Schlussfolgerung in seiner Lage.
Miriam kann nicht aufstehen. Auch nicht, als sie lange eingeschlafen und wieder erwacht ist. Das schlechte Gewissen hat das Gewicht eines Dutzend Mühlsteine, die sie um den Hals tragen muss und von denen ein jeder ein deutliches Zeichen ihres Vergehens ist.
Also bleibt sie liegen und sieht fern. In ihr lechzt alles danach zu zeichnen. Allerdings verbietet sie es sich, setzt sich selbst skrupellos auf eiskalten Entzug und wundert sich, von Sekunde zu Sekunde unruhiger zu werden. Ihr Geist erzittert unter imaginären Schweißausbrüchen und lässt ihre Seele fiebernd zurück.
Sie muss zeichnen.
Doch in ihr ist so viel. So viel Angst. So viel Scham, so viel Schuld.
Wenn sie nicht so wäre, wie sie ist, dann …
…Dann würde ihre Mutter noch leben. Ihre Mutter hätte nie zu solch rabiaten Maßnahmen greifen müssen, wie sie es letztlich getan hat, und Matthias würde sich nicht fürchten müssen.
Sie ist ein abgrundtief schlechter Mensch. Deswegen und nur deswegen hat ihre Mutter sich selbst gerichtet und auch nur deswegen schaut sich Matthias bestimmt schon nach einer neuen Wohnung um. In Gedanken sieht ihn Miriam quasi vor sich, wie er morgens extra etwas früher aufsteht und in der Zeitung die Anzeigenseite durchgeht. Mit einem Textmarker Ovale um die in Frage kommenden Behausungen zieht und schließlich die Zeitung einpackt, um zu gegebener Zeit die Telefonnummern zu wählen und einen Besichtigungstermin zu vereinbaren. In ihm muss alles nach einem Tapetenwechsel ab in sichere Gefilde schreien. Wie auch nicht? Er weiß schließlich, dass da draußen irgendjemand – eine sehr böse Person – einen Schlüssel zu seiner Wohnung hat.
Und diese Person, Miriam, könnte wie ihre eigene Mutter sein: auflauern und zustechen. Vorwürfe machen, die ihr Handeln rechtfertigen sollen. So wie sie es ja im Prinzip jetzt schon tut, wenn auch nur gedanklich.
Miriams Hauptargument: sie wollte sich nur besser fühlen.
Aber war es bei ihrer Mutter nicht auch so? Unabhängig davon, was ihr Vater und die Ärzte ihr dahingehend gesagt haben. Natürlich, ihre Mutter war krank. Aber krank, wie definiert sich das?
Miriam ertappt sich dabei, in ihrem Schlafanzug den Ausziehschrank in der Küche zu öffnen. Kaffee läuft durch, es ist später Vormittag, ihr Kopf tut weh, ihre Wangen sind hitzig, ihre Augen träge, ihre Verzweiflung gigantisch.
Sie öffnet als nächstes das Gefrierfach und fasst den Entschluss, zu essen. Immerhin ist sie nicht krank. Und deswegen taut sie den tiefgekühlten Apfelkuchen auf, von dem sie nicht mal weiß, warum ihr Vater den bitteschön eingekauft hat. Vielleicht für einen Sonntag, vielleicht für einen Feiertag, vielleicht für nichts und wieder nichts.
Im Kühlschrank ist Sahne; sie schlägt einen halben Liter steif und deckt den Tisch, an den sie sich wenig später setzt. Auf ihrem Teller eine heiß dampfende Kuchenmenge aus zwei großen Stücken, ein Viertel des Ganzen ergebend und die darauf geschaufelte Sahne zum Schmelzen bringend.
Sie ist nicht wie ihre Mutter. Sie ist nicht verrückt, sie ist vollkommen normal. Sie kann leben und essen und Freunde treffen und sie wird einfach anfangen zu studieren, irgendetwas. Während Miriam Gabel um Gabel zwischen ihre Lippen schiebt, rauscht sie manisch durch die Zimmer und schließt ihr Handy mit Hilfe des Kabels an die Stromversorgung an. Im Nu ist der Pin eingegeben und die Verbindung zwitschert ihr willkommen heißend zu; das Geräusch eingehender SMS füllt den Raum aus.
Sie ist da. Sie ist hier und jetzt und sie steht nicht mit einem Messer in Matthias’ Küche und sie wird ihm auch nie sagen, dass sie ihn nur aus Verzweiflung heraus besucht hat. Sie wird ihn nicht anschreien und sie wird nicht dabei zusehen, wie er sich vor Schmerz krümmt, weint und sie mit abgehackten Atemstößen und mit Panik eingefärbten Augen um Hilfe anfleht. Sie ist nicht so; nie – nie – nie!
In ihrem Tätigkeitsrausch malmen ihre Kiefer Apfel und Streusel und Sahne und Boden und ihre Finger tippen wie wild.
Hey Süße, wie geht’s? <3 Sorry dass ich mich so lang nicht gemeldet hab. Wie läuft dein Studium? Bin jetzt auch wieder online. Schreib dir im Studi.
Küsse von deiner Miri :-*
Das Handy sendet, ohne dass Miriam weiß, was sie an Elena schickt. Gelesen, was eben jene ihr geschrieben hat und in ihrem SMS-Eingang wartet, hat sie nicht. Sie will auch nicht. Warum auch? Es ist vorbei. Alles ist vorbei. Sie will da anknüpfen, wo ihr Leben einmal aufgehört hat. Nicht da weitermachen, wo es kaputt war.
Sie ist nicht krank. Und sie kann es allen beweisen.
Sie schafft mit viel Mühe und Not ein Stück des Kuchens, das zweite nagt sie an. Danach sitzt sie unbeweglich auf dem Küchentisch und schaut an die Decke. Verstreichende Zeit rauscht durch den Raum wie durch einen fidelen Bach. Umrandet sie wie einen Stein und trägt mit jeder Sekunde einen unsichtbaren Teil ihres Lebens von ihr ab.
Ihr Handy ist still und saugt Energie aus der Steckdose. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie das schnurlose Telefon, das neben einem kleinen Stapel von Arbeitsunterlagen ihres Vaters auf dem Stuhl links von ihr liegt. Unüberlegt reckt sie sich danach und schaut in den Telefonbuchspeicher. Ihr ist scheiß egal, ob das Mädchenmonster im Spiegel ihr etwas Passables zum Anziehen geben wird für heute, aber sie ruft ihren Vater an, während sie in ihr Zimmer hinauf stapft und den Schrank aufreißt.
Matthias crasht dabei in sie.
All ihre Hektik zerberstet, fast wie sein Aftershave in ihren schwitzigen Händen. Er riecht gut, er ist warm, er hat frische Luft mitgebracht und Tatendrang, Energie und Verwunderung. Miriam macht denselben verhängnisvollen und alles ausdrückenden Fehler wie beim letzten Mal schon: sie hält sich fest. Und als Matthias’ Augenmerk nach einem unbestimmt lang erscheinenden Überraschungsmoment von ihrem Gesicht weicht und er Anstalten macht, aufzustehen, registriert sie seine Hand. An ihrer. Sie umschließend.
Er steht auf – und hilft ihr ebenfalls auf die Füße. Ganz so, wie es sich gehört. Nur dass Miriams Kehle zu trocken ist für ein Danke.
An ihr Ohr dringt ein Besetztzeichen.
Das ist okay.
Dann wird sie eben etwas Anderes tun. Aus dem Spiegel grüßt das Mädchen mit dem alten, tiefdunklen Gesicht und den skeptischen Brauen, reibt sich die Rippen und hat die Nase ihrer Mutter. Zu lang, irgendwie.
Miriam ignoriert die Gestalt, als sie sich anzieht und die passenden Ohrringe aus ihrer Kommode sucht. Der Seidenschal streift ihren Handrücken, und sie hält instinktiv inne. Die Berührung ist weich, aber effektiv. Miriam muss hörbar aufseufzen, weil sie für geschätzte zwei Sekunden glaubt, die nachgemachten Schlüssel würden unter dem Schal heraus kriechen und sich ihr aufzwingen.
Nimm uns mit, geh zu ihm, lass dir helfen. Du bist nicht wie sie.
Nein, sie ist nicht wie ihre Mutter. Und deswegen donnert sie die Schublade geräuschvoll zu, bevor die Versuchung sie endgültig überwältigt. Quer durch den Raum marschierend, peilt sie eines ihrer Regale an und pflückt die kleine Handtasche hinunter, versenkt ihr Portemonnaie in dem guten Leder und wickelt ihren bunten Schal fest um ihren Hals. Sie wird rausgehen.
Sie muss da raus gehen, obwohl sie solche Angst hat.
Aber hier drin ist die Furcht davor, dem Glauben zu unterliegen, doch wie ihre eigene Mutter zu sein, noch größer.
Deswegen nimmt sie zwei Stufen auf einmal und zieht ruckartig die Tür des Hausflures auf. Auf der Straße fährt ein kleiner Opel Corsa vorbei, sonst zeigt sich kein Unterschied zu sonst. Schnee ist beiseite geschaufelt und hängt wie eine löchrige, leichenweiße Plane in den knochigen Kronen der paar Bäume. Eis dringt mit Luft in Miriams Körper und schneidet ihr Brustbein auf; ist so betäubend, dass es sie nicht wundern würde, wenn ihre Stichwunde aufgeplatzt wäre und ihren Mantel blutig färbt.
Entschlossen vor dem Haus stehend, hält sie Ausschau. Sucht Kameras, die nicht da sind. Sucht einen Streifenwagen, der nicht da ist. Sucht Matthias, der auf der Lauer liegen könnte, aber auch nicht da ist.
Er hat die Polizei wohl doch nicht eingeschaltet? Oder niemand kommt auf die Idee, wo seine Einbrecherin sich aufhält.
Wankend setzt sich Miriam in Bewegung. Die Glieder ungehorsam und stockend, als sei sie eine alte Dampflok, die nur schwer in Gang kommt. Doch je mehr Schritte sie macht, desto wärmer wird ihr und desto rascher kommt sie voran. Gehen wird zu Laufen. Laufen wird zu Rennen.
Ihr ist egal, ob ihre Mutter irgendwo unter der Erde verrottet.
Ihr ist nicht egal, ob sie einem anderen Menschen Angst macht.
Sie läuft ziellos, vorbei an Geschäften, Kaufhäusern und Läden. Sie kauft sich drei neue Pullover, eine Strickjacke, zwei Jeans, einen Rock und neue Stiefel, ohne irgendetwas davon zu brauchen. Sie zahlt mit Karte und bestellt ohne jegliche Intention eine Ausgabe der Jolie, der Vogue und der Psychologie Heute im nächsten Zeitschriftenladen. Es ist ihr gleichgültig. Aber sie braucht Dinge. Sie braucht irgendetwas, um in dieses Leben zurückzufinden, in dem all die Menschen sich befinden, die sie auf der Fußgängerzone streift. Sie will das nicht länger, will nicht in dieser Zwischenwelt hängen wie ein Geist, der weder ruhen noch leben kann. Sie will erst leben, dann ruhen.
Sie stolpert über diesen Kunstartikelladen und lässt einen dreistelligen Betrag dort, denn sie hat ein Bild vor Augen, an dem es zu arbeiten gilt. Ein Bild von ihrem Leben, zugleich ein Bild von Matthias.
Gedanklich taucht sie ein ganzes Bettlaken in Terpentin und wischt all das getrocknete Blut von ihrem zugekleisterten Gemüt. Es muss arbeiten können; und das kann es in diesem Zustand nicht.
Als sie die erste Cola seit über einem Jahr trinkt, schüttelt sie der Zucker so gewalttätig durch, dass sie für einen klitzekleinen Moment nachvollziehen kann, wieso sie in diesem seltsamen Forum voll von Mädchen ist, von denen jedes einzelne seine Seele dafür verkaufen würde, schwerelos zu sein. Losgelöst von allen Gefühlen des Alltags.
Wieder daheim reißt sie ihre Rollladen so hurtig hinauf, dass diese haken und Miriam mit noch mehr Energie auf die Mechanik fluchen lässt. Das Mädchen im Spiegel hampelt monströs herum und wirkt gar nicht mehr so alt, eher lächerlich. Miriam schafft schnelle Abhilfe, holt Bügel aus dem Schrank und hängt die neuen Kleider auf. Eine der Jeans und einen Pullover nimmt sie direkt mit ins Bad und kann gar nicht schnell genug hinein passen. Die Verkaufsschildchen sind lästige Biester, die sie wie überflüssige Augenbrauenhärchen hinaus rupft und dann in ihr Zimmer zurück eilt. Die anderen Klamotten platziert sie am Schrank; genau so, dass sie den Spiegel verdecken. Was sich dieses Mädchen im Glas einbildet, würde Miriam gerne wissen. Persönlich findet sie sie nur hager und hässlich. Persönlich hat sie mit ihrem Spiegelbild aber auch nichts zu tun und wuselt durch den Raum, stellt die Stereoanlage ein und schüttet achtungsvoll die Taschen aus dem Kunstladen auf ihrem Bett aus. Die Leinwand ist groß, die Farben verteilen sich in ihren Tuben drum herum und kitzeln Miriams Fingerspitzen als seien sie elektronisch geladen.
Alles geht Schlag auf Schlag; die leere Leinwand in der Staffelei, die da neben dem Regal stand und auf die Miriam nie Lust hatte bei ihren jüngsten Zeichnungen. Dann die Skizze auf dem Papier, die Striche, die irgendwo aus ihrem Gemüt herausschießen und sich unsichtbar auf die Oberfläche brennen; nur darauf wartend, dass sie sie mit dem Stift seicht nachfährt.
Matthias wartet darauf, von ihr gemalt zu werden und sie ist verliebt in dieses Geruchsgemisch von Terpentin, frischer Ölfarbe und seinem Aftershave, das als Unternote des Parfums fungiert, in dem sie sich ertränken möchte. Eines Tages, wenn sie fertig ist.
Mit allem.
Mit ihrer noch immer schreienden und sich wie eine Furie aufführenden Mutter: „Weißt du was? Du verdienst das alles gar nicht! Deine Freunde, deine Schule, dein-dein..Talent!“
Miriam spürt die Anschuldigung; wie Speichel gegen ihre Wange. Dann den Stich; und sie muss aufsehen, mitten in die Augen ihres persönlichen Phantoms. Ihre Mutter mit den zerzausten, halb hochgesteckten Haaren und den Augen voller Medikamenten und dem Mund voller Lügen und den Falten voller Gram und den Zügen voller Unzurechnungsfähigkeit und dem Geist voller Hass und den Taten voller Unrecht.
Miriams Daumen rutscht über ihre Palette und vermischt bei der Übung drei Farben miteinander; in ihrem Kopf ist alles weiß und klar. Zum allerersten Mal überhaupt.
„Das einzige, was ich nicht verdient habe, bist du!“, spricht sie besonnen und wendet den Blick ab, zurück auf ihr Bild und weg von dem tosenden Wesen, das vor vielen Jahren ihre Mutter war und vor vielen Jahren mit ihrem Vater verheiratet gewesen ist und sich vor einigen Jahren von ihm scheiden ließ und vor wenigen Jahren immer sonderbarer wurde und Miriam schließlich ein Messer in die Brust gestochen hat. In ihr nicht mehr das Kind sehend, das sie zu lieben und zu beschützen hatte, sondern einen Menschen, auf den sie all die negativen Gefühle ihres – ihrer Meinung nach verwirkten Daseins – zu projizieren fähig war. Bis in den totalen Hass hinein, bis in den absoluten Wahnsinn.
Mit der Handfläche wischt sich Miriam unbewusst eine Träne aus dem Augenwinkel und hinterlässt Nuancen von dunklem Grau und Grün dort. In ihren Gedanken schwebt nostalgisches Bedauern darüber, in welche Verblendung die einst gutmütige Frau gelaufen ist, die Miriam gezeigt hat, wie man Skizziert und Pinsel korrekt reinigt und in welcher Reihenfolge die Farben idealerweise aufzutragen sind. Die ihr stets versichert hat, sie wird eines Tages eine herausragende Künstlerin sein.
Später, als ihr Vater heim kommt und den fremden Kuchengeruch wittert, treiben ihn seine Füße in die Küche. Er öffnet den Backofen, nur um sich zu vergewissern, schließt ihn wieder und lauscht. Von oben, aus Miriams Zimmer, schallt Musik und er kann nicht anders, als den Backofen ein zweites Mal aufzuziehen. Dabei seinen Aktenkoffer benommen abzustellen und zu realisieren, dass er sich nicht verguckt hat. Der Kuchen besteht sogar den Geschmackstest.
Danach nimmt er die Treppen schwungvoll und stößt, den Namen seiner Tochter auf den Lippen, die Zimmertüre auf.
„Nicht reinkommen“, sagt diese. Nicht scharf, nicht befehlend, aber so überaus konzentriert, dass er wie versteinert stehen bleibt. Der gesamte Raum eine Anfüllung ihrer Kreativität, die kein Durchkommen lässt. Er macht einen Schritt zurück, so groß ist die Wucht hinter der geistlichen Entfaltung im Zimmer.
Für Miriam ist er gerade nur eine Brücke zur Außenwelt. Sie sieht ihn, während sie primär mit ihrer Arbeit beschäftigt ist und über das Bild hinweg auch die Tür im Blick hat. Es geht ihr weniger darum, dass ihr Vater das Motiv nicht sehen soll, als vielmehr darum, dass sie weder Fragen gebrauchen noch Antworten geben kann. Alles Andere ist willkommen.
„Ähm…“ Seine Hand wandert in Richtung seines Kopfes und derweil er sich überlegend kratzt, lehnt er sich an den Türrahmen.
„Mozarella und Tomaten“, lautet die Antwort auf eine Frage, die ihr Vater sonst immer so feinfühlig wie sonst zu verpacken versucht. Die er aber heute nicht einmal stellen braucht. Die Tatsache zieht ihm so dermaßen rasch den Boden unter den Füßen weg, dass er inmitten seiner Bewegungen stoppt.
„Reden wir hier von Pizza?“
In ihrem Mundwinkel aalt sich ein zufriedenes Lächeln, tropft golden zu Boden und fließt zu ihrem Vater hinüber, um wie eine Schlange an seinem Hosenbein hoch zu kriechen und irgendwann auch seine Lippen zu erreichen.
„Ich bestelle welche – aber nur, wenn du wirklich ’ne Pause machst, wenn die Pizza kommt.“
„Okay.“
„Ich meine das ernst.“ Er ist keine Autorität, wie sie im Buche steht. Er war nicht derjenige, bei dem sie gelebt hat. Er war derjenige, der sich zuerst von seiner Ehefrau entliebt hat und er war derjenige, der seine Tochter an jedem Wochenende wie eine Prinzessin behandelt hat, ihr gekauft und gegeben hat, was er konnte und dessen gesamte Single-Wohnungsküche voller Bilder klebte. Kindergarten, Grundschule, Gymnasium; einige Paare streiten bei der Scheidung um Möbel, um Immobilien, um Geld. Er schmuggelte Bilder mit sich. Und hätte Miriam gesucht, sie wüsste, die Bilder waren alle mit umgezogen. Hier hin. Obwohl sie nicht mehr gemalt hat zu dem Zeitpunkt; das letzte Bild, was ihr Vater somit von ihr bekam, war, als er ungeplant freitags nachmittags bei ihr und seiner Exfrau vorbeischaute und Miriam in ihrem Blut liegend beinahe sterben sah.
„Ich auch.“ Die Versicherung dringt irgendwo zwischen Miriams Zahnreihen in die Welt hinaus. Leise, aber fest. Ihr Vater braucht noch einen kurzen Moment, ehe er wie betäubt die Treppe herunter geht, Pizza bestellt und sich mit der Hand über Mund- und Kinnpartie streicht. Überwältigt. Dann lächelnd. Der Geruch von Öl und Terpentin und Kreativität und Leben und etwas, das er nicht definieren kann, aber das Miriam ins Lebensboot zurückgeholt hat, treibt ihm beinahe Tränen in die Augen.
Es dauert seine Zeit, bis es fertig ist. Tage reihen sich aneinander. Tage, an denen Miriam zeitig aufsteht, ihr Bild ergänzt, korrigiert, auf das Ende zuarbeitet und sich wundert, ob sie jemals fertig werden wird. Ob es jemals das sein wird, was sie sieht. Oder präziser: ob jemand an dem Bild sehen wird, was sie in Matthias sieht. Ob all ihre Pinselstriche zusammen eine Geschichte ergeben, die sie keinem erzählen mag oder kann, weil sie keine beste Freundin mehr hat. Weil Elena sich nicht meldet und Miriam ihr das lange vergeben hat. Sie war es, die sie hängen gelassen hat. Die nach dem „Unfall“ mit ihrer Mutter alles unter den Tisch gekehrt hat. Die ihren Freunden eine Lüge erzählt hat über einen Kuraufenthalt und eine weg gezogene Mutter. Keine Elena und niemand sonst weiß, dass Miriam ein Loch in der Brust hatte, weil ihre Mutter die Kontrolle über ihr Leben und dann über sich selbst verloren hat. Sie wird es Elena schreiben – und nur Elena. Wenn das Bild beendet ist und wenn Miriam wieder an anderen Werken für ihre Bewerbungsmappe arbeitet. Vielleicht bekommt sie dann eine Antwort, vielleicht auch nicht. Die Zukunft wird es zeigen.
Matthias verlässt zu seltsamen Zeiten seine Wohnung. Manchmal kommt er abends nicht wieder. Und manchmal, da kommt er an genauso seltsamen Zeiten einen oder zwei Tage später erst zurück. Die Sporttasche durch einen kleinen Trolley ersetzt, der das einzige Argument ist, das Miriam daran zweifeln lässt, dass er nur die Nacht bei seiner neuen Freundin verbracht hat. Eine Frau sieht sie an seiner Seite auch gar nicht, und die Umzugspläne liegen offenbar auch auf Eis. Ob er das Schloss hat austauschen lassen? Sie hat keine Ahnung. Die Schlüssel liegen ruhig und friedlich schlummernd unter ihrem Seidenschal und verströmen beruhigende Düfte, fast esoterischer Natur.
Matthias ist ihr ein Rätsel. Er kann kein Lehrer sein, oder doch? Vereinsfahrt? Na bestimmt nicht mehrere Male hintereinander…
Mit einem sehnsüchtigen Seufzen guckt sie ihm dabei zu, den Trolley wieder aus seinem Kofferraum zu hieven. Sein Blick hat etwas zutiefst Zufriedenes in sich; es lässt sein gesamtes Gesicht lächeln. Er sieht aus wie jemand, der eine weitere Stufe im Leben erklommen und eine neue Herausforderung bewältigt hat. Er sieht aus wie ein Gewinner.
Furcht wittert Miriam keine – und das ist es, was sie wiederum glücklich macht.
Matthias steuert seine Haustüre an und dann tut er es ganz unerwartet: er dreht sich um und blickt in alle vier Himmelsrichtungen sowie aufwärts, in Miriams Richtung. Sie weiß nicht recht, ob er sie bewusst wahrnimmt an ihrem Schreibtisch, vor ihrem Laptop und mit der Kaffeetasse in den Händen. Sie weiß nur, dass er gegen das blendende Licht blinzelt, welches der Schnee ihm von allen Seiten entgegen schleudert. Seine Lippen öffnen sich ein kleines Stückchen, sodass die Zahnspitzen die Winterluft berühren können, indessen seine Augen sich verengen. Seine Pupillen sind mit der messerscharfen Präzision eines Raubvogels ausgestattet, wenngleich seine Wimpern jeden möglicherweise bedrohlichen Touch neutralisieren.
Nicht ausweichend, dafür unbewusst zu lächeln beginnend, verweilt Miriam still wie eine entzückte Statue; die Tasse mit beiden Händen haltend, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und die Freundlichkeit exakt auf den Schultern balancierend. Ihr Gedächtnis ergänzt Matthias’ Sommersprossen und der Duft seines Aftershaves umspült Miriams Wesen wie eine Welle am Strand.
Es ist schön, ihn zu sehen.
Es ist schon, ihn zu sehen und zu wissen, dass er keine Angst mehr hat.
Sie vermisst seine Wohnung, ja, sehr sogar. Nicht mehr ihrer Wirkung halber, sondern wegen anderen Dingen. Vielleicht ganz konkret wegen ihm. So genau kann sie die Sprache ihrer eigenen Sehnsucht nicht verstehen, aber sie hat sich vorgenommen, in Zukunft weiterhin fleißig Emotionsvokabeln zu lernen.
Ihr Matthias verschwindet nun im Haus gegenüber und Miriam trinkt einen Schluck, bevor sie sich dem Projekt Internet widmet. All ihre alten Accounts müssen weg. Die Sterne begleiten wieder ihren Cursor, als sie ihre einstige Lieblingsseite betritt und das Gefühl hat, in eine sichere Deckenhöhle fernab der realen Welt zu kriechen.
Die icons dort sind noch immer süß, noch immer motivierend, noch immer ansprechend – und genau da liegt das Problem. Sie will fliegen, aber sie weiß auch: sie kann nicht mit ihrem Knochenmark malen – unabhängig davon, wie oft sie die Zeile bones are beautiful gelesen hat.
Ihr einstiges Pro Ana-Foren-Ich geht in die Geschichte ein. Für immer, wie Miriam sich wünscht und hofft, ihr Vater erfährt nie und nimmer, dass sie freiwillig an einem Ort zwischen den Welten residiert hat. Immer in dem Glauben, irgendwann über die Grenze zu entschweben.
Ihr StudiVZ Account folgt, nicht ohne dass Miriam ihn neu anlegt. Sie hat keine Freunde, auch nicht an ihrer eigenen Hochschule. Noch nicht; im nächsten Semester vielleicht. Wenn sie die Chance dazu bekommt.
Elena könnte sich dazu gesellen; Miriam wird sie ausfindig machen. Über ehemalige Freunde oder eher Leute, mit denen sie einst zur Schule gegangen ist und die von ihr nichts weiter wussten, als dass Miriam ein dünner werdendes Mädchen mit einer Vorliebe fürs Malen und nie endende Sommerurlaube war.
Als sie fertig ist, ist alles gut.
Nun ja, fast alles, so scheint es. Sie fährt den Laptop runter und dreht sich auf ihrem Schreibtischstuhl herum. Das Bild von Matthias ist im Laufe der vergangenen Tage getrocknet, vollständig. Miriam muss es betrachten, wie es dort auf der Staffelei thront und nicht den Anschein erweckt, als sei ihm daran gelegen, die gesamte Aufmerksamkeit des Raumes auf sich zu ziehen. Trotzdem tut es das. Ganz von selbst, von Natur aus quasi. Dazu hat Matthias ein Talent.
Ihr Vater hat das Bild noch nicht anschauen dürfen. „Nicht reinkommen“ lautete diesbezüglich die Devise.
Jetzt klopft es und er öffnet die Tür einen kleinen Spalt. Miriams Augenmerk springt von Matthias’ Gemälde zu ihrem Vater hinüber.
„Du-“, beginnt dieser.
„Du kannst reinkommen“, entgegnet sie. Schlicht und zufrieden. In ihr wallt nichts auf und nichts zieht sie herab. Das Meer in ihrer Brust ist eben, das Blut fließt angenehm gleichmäßig durch ihren Körper.
„Kann ich?!“ Testweise öffnet er die Tür weiter, die Nase in den Raum steckend und den Rest seines Körpers folgen lassend. Von seiner Tochter erntet er nur eine zustimmende Geste, ein goldenes Lächeln, ein definitives Nicken.
Er darf eintreten.
Und deshalb steht er gleich darauf neben ihr und guckt das Bild an, auf das das helle Winterlicht fällt und sich richtiggehend in Matthias’ Augen räkelt.
„Das ist… meine Güte…!“ Der Mund ist mal offen, mal zu. Die Hände in der Luft, dann deutend, auf Miriam, auf das Bild.
„Großartig…!“, fällt sein Urteil schließlich aus und er nähert sich dem Bild. Nicht wagend, es anzufassen. Seine Finger stoppen unmittelbar über der Farbe, die eine Struktur aufweist, wie er sie nie zuvor in Miriams Bilder gesehen hat und die er doch seit dem Moment kennt, in dem sie zum ersten Mal einen Stift in der Hand hatte.
„Das… wow! Wo willst du es aufhängen? Hier? Gott, schau sich einer diese Pinselführung an…!“ Fragen und Komplimente tanzen eng umschlungen Tango. Sie lacht auf, wobei sie sich erhebt und auf das Bild zuschreitet.
„Danke, aber ich glaub, ich lass es jetzt erst mal rahmen.“ Ihre Hände legen sich bedacht an den Rand der Leinwand; zart. In ihr ist die lebendige Erinnerung an Matthias’ Bett.
„Ja, und dann?“
Miriam kann nicht anders als verschämt aufzulachen und triezend mit den Schultern zu zucken.
„Mal sehen.“
„’Mal sehen, mal sehen.’ Was soll denn das heißen?“ Ihr Vater ist lebendig wie ein Flummi, der ihr am liebsten Tausend lobende Worte entgegen schleudern möchte und dem es doch vollends die Sprache verschlagen hat. Er ist sogar zu übermannt um nach der Identität des jungen Mannes zu fragen.
„Mal sehen eben.“
Ihr Vater seufzt, als er einsieht, vorerst keine weiteren Informationen zu erhalten. Die Hände zufrieden in die Seiten stemmend, ruht sein Blick wieder auf dem Bild, das für ihn Zeugnis eines neuen Zeitalters ist. Dieses Mal fließt eine Träne.
Es schneit, als sie am kommenden Tag mit dem gerahmten, gut verpackten Bild ihren Zielort anpeilt. Uller, der germanische Wintergott, scheint ihr die Straßen mit frischen Flocken auszulegen. Ihre Schritte sind fest, ihre Wangen rot und ihr Herz kräftig. Unter ihrer Mütze flattern ihre Haare offen im Wind und fangen jede Flocke, die sich in ihre Nähe wagen. Sind wie Kinder auf Kettenkarussells, die im Flug mit gespreizten Fingern Träume aufschnappen.
Vor Matthias’ Wohnhaus bleibt sie stehen und betrachtet die Türe für einen Augenblick. So als stünde sie zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben dort und wüsste nicht, was sie tun soll. In ihrer Manteltasche klirren die Schlüssel unhörbar. Verlangen nach Benutzung; bauen eine Standleitung zu Miriams Bewusstsein auf und lassen ihre Faszination fließen. Sie hat das erste Mal im Leben keine Angst davor, dass jemandem ihr Bild nicht gefallen könnte. Selbst wenn dem so sein sollte, es ist egal, denn: Matthias Brandl möchte sie gar nicht kennen lernen.
Sie hat darüber nachgedacht, beim Malen. Er hätte sie finden können, er hat es vielleicht sogar getan; er hätte eine Menge unternehmen können – aber der alles entscheidende Punkt ist: er hat es nicht getan. Er will sie nicht kennen.
Sie ist ihm unheimlich. Und er bevorzugt Durchschaubares.
Ihr Schlüssel passt nach wie vor wie angegossen. Er hat also das Schloss Schloss sein lassen, nachdem er ihre Entschuldigung gelesen hat. Kaum zu glauben, aber wahr. Aus Gutmütigkeit? Wohl eher nicht. Aber Umzugsstress für nichts und wieder nichts? Nicht sein Ding, zumal Miriam ihm wiedergegeben hat, was seine Welt in Ordnung bringt: Sicherheit und Privatsphäre.
Und sie wird sie ihm nicht wieder nehmen, denn wenn sie eines gelernt hat, ist es, dass Matthias keine Menschen leiden mag, die ihn in dieser Hinsicht verletzen.
Miriam hat Verständnis dafür. Deswegen drapiert sie jetzt auch das eingepackte Bild vor seiner Haustür, als sie oben im Hausflur anlangt. Zwei Etagen tiefer wird Staub gesaugt; das Geräusch des Saugers dringt als gedämpft kehliges Röcheln durchs Haus.
Ihr Blick trifft die Tür, gleitet über sein Namensschild und bleibt an der Klinke sowie am Schloss hängen. Sie könnte, klar könnte sie. Aber sie kann es nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren und Matthias zuliebe tut sie es erst recht nicht…
Ihre Finger wischen schmelzende Flocken von dem eingepackten Bild, das in seiner soliden Verpackung vor Wasser und Wetter geschützt darauf wartet, angesehen zu werden.
Die Schlüssel legt Miriam dahinter, zwischen Tür und Bild. Dann tritt sie einen Schritt zurück; ob Matthias es annehmend wird, liegt bei ihm. Wenn er es nicht möchte, muss sie das akzeptieren… Sie wird es schon merken, irgendwie, an seinem Gesichtsausdruck. An seiner Gestik, an seiner Mimik. Da ist sie sich relativ sicher.
Mit früher nie erlangter Leichtigkeit wendet sie sich schließlich ab und tippelt fidel die Stufen hinab. Sie freut sich auf die Stadt, von der sie bisher so gut wie nichts zu sehen bekommen hat. Denn wenn sie alles in München so positiv überraschen wird wie Matthias es getan hat, dann möchte sie ihrem Neuanfang auf direktem Wege in die Arme laufen, ihn zu Boden reißen und ihn in unzähligen Bildern malen.
ENDE
Texte: 2008/2009 bei mir
Bildmaterialien: http://favim.com/image/204036/
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2012
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