Cover


Wir sagen nicht „Hör auf“ oder gar „Bitte hör auf“.
Wir sind ja schließlich keine Kinder mehr.

Und der Herr sprach: „Es werde Triviales.“
Und es wurde Triviales.




Einer Verkettung unglücklicher Zufälle verdankte es die junge Frau, sich an einem Dienstagabend – inmitten des Dezembers 2007, fernab von Schnee oder Weihnachtsstimmung – in einem Stuhlkreis sitzend wieder zu finden. Aus allen Ecken und Winkeln des Raumes von billiger Weihnachtsdekoration begafft, schlug sie affektiv ein Bein über das andere und begradigte unbewusst die Schultern.

Ihr war kalt, hier, in dieser unschicklichen Gesellschaft.

Sie war umgeben von Opfern, allesamt getarnt in den alltäglichsten Aufmachungen. Von der aufgebrauchten Hausfrau über den braven Studenten bis hin zum beherzten Frührentner hatten sie sich jeglicher Verkleidungen bemächtigt. Immer schön die Maske der Normalität im Anschlag, immer bereit, 08/15-Phrasen und Floskeln abzufeuern.

Hätte sie ein Mittagessen, ein Abendessen oder zumindest irgendeine Zwischenmahlzeit seit dem Frühstück genossen, sie hätte es ihnen stilvoll vor die Füße gekotzt und wäre dann – ihren nötigen und erwarteten Beitrag geleistet habend – Hüfte schwingend aus dem Raum stolziert; ab in den Feierabend. So einen guten und treuen Freund wie Jack Daniels sollte man schließlich nicht warten lassen.

Mit dem Freund, der aktuell an ihrer Seite weilte und versuchte, das nervöse Kratzen an seiner Nasenwurzel nicht alle zwei bis drei Minuten zu wiederholen, wollte sie gerade nicht zusammen sein. Er war geistig nicht mal anwesend, sondern schien völlig von den hinter seiner Stirn agierenden Gedankenströmen gefesselt. Seine Schaltkreise liefen heiß und der träge vor sich hin ebbende Geruch von Unwohlsein nahm die aufdringliche Note von Beängstigung an.

Der Raum füllte sich.

Sie waren nicht die Ersten gewesen und auch nicht die Letzten. Noch rund zwölf Minuten, dann würde es allerdings ernst werden und Sandras Augenmerk wich den Blicken all dieser Fremden aus wie eine geschmeidige Antilope, die schlussendlich wieder bei ihrem Begleiter Unterschlupf fand.

Auch ohne Aufstoßen oder Erbrechen war ihre Kehle sauer: Max’ Erscheinungsbild löste Übelkeit in ihr aus, denn sie hasste diese von Dissoziation geprägte Mimik seinerseits. Sie sprach die stumme Sprache des Versagens. Allein für diese gedankliche Feststellung – die für ihn durch und durch eine bösartige Abwertung darstellte – würde er sie lynchen. Denn obschon er kein Mann der Grausamkeit war, so war er doch ein Mann des unbezwingbaren Stolzes. Völlig deplatziert an einem Ort wie diesem und deswegen wohl lediglich noch physisch anwesend. Mehr konnte die Welt in einer solchen Situation nicht mehr von ihm erwarten. Aber es genügte ja.

Seine bloße Existenz glich eh seit je her einer abbruchsicheren Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Aus den einstigen Tagen schwebten fortwährend die leisen Schreie, verpackt in einen teigigen Tränenschleier, über die feuchtkalte Konstruktion hierher und ließen Sandra das Kennenlernen mit der Erniedrigung nie vergessen. Es wäre jedoch ungerecht, Max daraus einen Strick zu drehen. Sie beide, sie hatten einfach über die Jahre hinweg viel erlebt...

Max' Dasein war das personifizierte London für Sandra, die der Stadt bis dato niemals ganz den Rücken kehren konnte. Wie auch? Trug sie Passagieren auf dem Flug von oder ab Stanstead regelmäßig den Arsch hinterher, während ihr – für ihren Geschmack zu flacher – Arsch in einem adretten Rock der Fluggesellschaft steckte. Zumindest blieb die lästige Aufgabe, den Passagieren die Sicherheitshinweise vorzuführen, meistens an neueren Kolleginnen hängen. Sandra hatte sich stets unwohl dabei gefühlt, von hundert Augenpaaren aufwärts betrachtet zu werden. Sie hatte nichts vorzuführen; sie war kein Zirkustier. Sie parierte nicht für ein belohnendes Stück Zucker. Dem war sie entwachsen. Glaubte sie. Impfte sie sich ein.

„Wir sollten wieder gehen“, drang es plötzlich verhalten zu ihr hinüber. Unter der Brücke floss die Themse in der ihr naturgegebenen Ruhe dahin und spülte mit sich, was ihr gerade in die Strömung fiel. Dazu gehörten auch Max' Worte. Sandra musste blitzartig nach ihnen haschen, um sie noch zu erwischen und an Land zu ziehen. Ihre schmale Gestalt versteifte sich, kaum dass sie die Bedeutung hinter den triefenden Buchstaben verstand.

„Du-, also wir können nicht einfach gehen. Deine Eltern wollen, dass wir hier sind.“ Sie sah von eigener Seite aus keine Notwendigkeit in ihrem Widerspruch. Sie wiederholte nur, was Max’ Eltern ihr mit Bestürzung in die Gedanken gemeißelt hatten.

„Meine Eltern wollten auch, dass ich Bankkaufmann werde, und jetzt schau mich an! Ich sitze mit dir und einer Horde Fremder in diesem Zimmer und soll einen Gedankenstriptease hinlegen! Ich kann so einen Scheiß nicht!“ Das erste Mal, seit feststand, dass sie beide hierher kommen würden, hatten Max' braune Augen das unsichere Flackern eingestellt und spieen vor Entschlossenheit. Ohne dass es Sandra bewusst war, hatte sie in den letzten Tagen genau diese Eigenschaft an ihrem Freund aus Kinderzeiten vermisst. Max war wie ein auf Autopilot laufender Androide durch die Gegend marschiert und hatte ein Standardsprachprogramm abgespielt, dessen Wortschatz begrenzt war, während in seinem Metallschädel weder Verstand noch Empathie beheimatet zu sein schienen.

„Und du kannst es auch nicht“, setzte er nun auch noch mit unabwendbarer Bestimmtheit nach und erhob sich, um Sandra antwortlos mit sich zu ziehen. Es bedurfte dafür keinerlei Gewalt oder dergleichen, was die Szenerie für die übrigen Anwesenden in irgendeiner Weise hätte seltsam erscheinen lassen. Den interessierten Blicken begegnete Sandra mit dem ihrem Beruf innewohnenden Lächeln und folgte zugleich den zielorientierten Schritten ihres Freundes.



Max' Hand verließ kurz darauf ihr Handgelenk; seine Finger fühlte sich optimal temperiert an und diese Erkenntnis revidierte Sandras Logik. Schenkte ihr ein Gefühl von Richtigkeit.
Wenn Max der Meinung war, sie gehörten hier nicht hin, dann musste es wohl stimmen. Er kannte sich und, was noch viel wichtiger war, er kannte sie. Sie war das Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz und dem leichten Abklatsch von Sommersprossen gewesen, welche heutzutage von Make-up begraben wurden. Sie war das Mädchen, das ihn Tag ein, Tag aus auf dem Weg zur Schule und auch überall sonst hin begleitet hatte:
Ins Land der Lebenden, mit Vollrausch, und ins Land der Toten, bis zur absoluten Abnutzung. Wieder und wieder und immer wieder…


Wollt ihr die totale Selbstvernichtung?

Nie war das Ja lauter als in dem Moment, als die beiden die Räumlichkeiten der Selbsthilfegruppe für sexuell Missbrauchte verließen.

Impressum

Texte: Die Rechte des Coverbildes liegen nicht bei mir.
Bildmaterialien: http://forlade.tumblr.com/post/48885953983
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Welt. Geschrieben im Frühjahr 2009. Dies ist keine Verherrlichung, lediglich ein Produkt falschen Stolzes.

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