Die Haare ein dünnes Desaster, die Nägel abgerodeten Feldern gleich, bringt sie diese offensichtlichen Dinge kaum mehr mit sich selbst in Zusammenhang. Ihr Körper ist bloß noch ein Fremdling, gegen dessen Übermacht sie sich jeden Tag aufs Neue zu behaupten versucht.
Jemand sagt, alle Magersüchtigen seien extrem dürr.
Sie ist nicht extrem dürr, also kann sie nicht magersüchtig sein.
Jemand sagt, alle Ess-Brech-Süchtigen seien sehr schlank.
Sie ist nicht sehr schlank, also kann sie nicht ess-brech-süchtig sein.
Was sie isst, kontrolliert sie trotzdem peinlich genau. Ihr Gehirn rechnet Kalorien aus, bevor sie bewusst darüber nachdenken kann, es zu tun. Die Zahlen sickern durch ihren Kopf wie zähflüssiger Sirup, triefen durch Nase und Mund und kleben ihre Zähne zusammen. Es ist widerwärtig.
Sie will nicht essen. Sie kann nicht essen.
Sie isst nicht.
Sie schwindet vor Hunger.
Das Herz flatternd, die Hände eiskalt, muss sie zuweilen ihr Bewusstsein verprügeln, damit dieses es ja nicht wagt, der Verlockung der schwächelnden Schwärze zum Opfer zu fallen.
Sie will nicht essen, sie kann nicht essen, sie will durchhalten, einmal etwas schaffen. Gut sein. Egal, wie sehr ihr Herz dagegen anschreit. Sie geht hin und erstickt es mit Kaffee, mit Wasser, mit Nikotin, mit Tabletten, mit 0,1%-Fett-Diät-Light-Irgendwas, das ihr ein Gefühl von vermeintlicher Sicherheit schenkt.
Sie isst nicht.
Sie will nicht essen. Sie kann nicht essen.
Sie hat solche Angst.
Angst davor zu versagen.
Angst davor, dieses, jenes und überhaupt gar nichts zu schaffen.
Ihren Hunger in der vordersten Reihe platzierend, führt sie ihm ein Schauspiel vor, in dem Regie und Stück einzig und allein ihr obliegen.
Das, mein lieber Hunger, gestatte ich dir. Nimm das Wasser, nimm den Kaffee, nimm, was immer ich dir zu geben bereit bin. Ich will doch nur unser Bestes; wie kannst du da laut knurrend behaupten, dem sei nicht so?
Für den Hunger mimt sie die beste Darstellerin auf der großen weiten Welt, auch wenn ihr sonst jeder Mensch die Schüchternheit vom Gesicht ablesen kann. Sie ist keine Schauspielerin, nur eine mittlerweile sehr überzeugende Lügnerin. Um den Hunger zu blenden, genügt das jedoch alle male. Er schweigt, zumindest für ein Weilchen.
Ihr Herz hingegen, das glaubt ihr nicht. Es sticht ihr boshaft Bindfäden in die Finger, mit denen es sie fernzusteuern versucht. Dieses Brötchen, diese Schokolade, dieser Kakao, diese Pizza,...! Gieriges Ziepen an den Fäden lässt ihre Finger in Richtung der Feinde haschen.
Verbündete finden sich in den Beinen, machen die Schritte bleiern und schwer. Führen eine geheime Zeremonie auf, um den Hunger zu beschwören.
Es ist reines Teufelswerk, dieser Kampf gegen sich selbst.
Ihr Hunger reagiert wie besessen, durchläuft eine Metamorphose, verlässt die erste Reihe, klettert auf die Bühne und stößt sie kühl hinunter. Sie landet unsanft außerhalb des Bühnenlichts, wo sie nichts bestimmen kann; weder Regie noch Dramaturgie intus hat. Aus den Fäden in ihren Fingern werden erst Seile, dann Netze, die willkürlich alles sonst so streng Verbotene aus dem Regal im Supermarkt fischen.
Pudding? Aber sicher!
Sahnetorte? Immer gerne!
Schokolade? Selbstverständlich!
Eis? Aber bitte mit Sahne!
Frühstückspops? Ein absolutes Muss!
Toastbrot mit Butter? Was könnte es Besseres geben!
Die Liste ist endlos. Ihr Herz hüpft vorfreudig, die Finger völlig in seiner Gewalt.
Sie kann noch hören, wie ihr Geist sich wiederholt: Nicht essen!
Sie hat doch ein Ziel! Sie tut das hier doch nicht zum Spaß! Wenn sie nicht aufpasst, wenn sie nicht Acht gibt, wem spielt sie dann die Kontrolle zu? Wer schreibt dann ihre Lebensgeschichte? Sie darf nicht essen! Sie kann nicht essen!
Aber sie muss jetzt essen.
Sie frisst wie ein Tier. Sie stopft dem Herzrasen den Mund, sie flickt das schwarze Loch im Magen, sie füllt die Angst ab, sie verbarrikadiert sich vor der tobenden Disziplin.
All das geht ganz leicht. Sie hört nichts und sie spürt nichts, wenn sie einmal angefangen hat zu essen. Alles geht ihr weich und hastig die Kehle hinunter.
Die Welt ist weit, weit weg.
Durch ihren vernebelten Verstand sichtet sie irgendwann wieder ihre Selbstbeherrschung wie das schwache Licht eines weit entfernten Leuchtturms auf offener See. Es warnt sie; die Klippen sind schon bedrohlich nah. Ja, sie hätte nicht essen dürfen...
Sie hat versagt.
Sie hat verloren.
Sie hat sich nicht unter Kontrolle.
Sie zerschellt emotional an der steilen Steinküste. Ihr Leben zerspringt und gleicht einem Puzzle mit einem Schlachtfeld der unterschiedlichsten Gefühle als Motiv. Mit den aufkommenden Magenschmerzen versucht sie fieberhaft, die abertausend Gefühlsteile zusammenzufügen. Niemand darf eines finden, niemand darf eines sehen! Niemand darf je herausbekommen, dass sie nicht ganz, sondern unschön kaputt ist.
Sie erbricht und erbricht, nur um die Dinge wieder gut zu machen. Um die Chance zu bekommen, ab morgen alles besser zu machen. Sie will nicht zum Unfallphänomen werden; nie und nimmer soll sich eine Menschenmenge um sie bilden, sie entsetzt anstarren und abfällig über sie tuscheln. Nie und nimmer sollen Menschen so viel Macht über sie haben.
Sie wird essen, relativ normal. Einen Tag lang, vielleicht auch zwei. Und dann wieder stetig weniger und weniger. Im Kampf gegen die Angst und gegen den Alltag muss sie sich doch an etwas festhalten! Wenn sie sich nicht um Ordnung kümmert, wer dann? Ihr Körper verleiht ihr kein Gefühl von innerer Sicherheit mehr, nur von innerer Unruhe. Er ist ein Tier, das sie nicht berechnen kann. Also muss sie es einfangen, wegsperren und zähmen. Sie tut das – oder sie versucht das zumindest. Wieder und wieder.
Sie wird nicht essen, sie darf nicht essen.
Ihr Herz weint.
Sie muss essen.
Bildmaterialien: http://christine18.deviantart.com/
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2011
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