Selbstbewusst scharwenzelt der Herbst durch die Straßen und streichelt den hohen Gebäuden gönnerhaft die Köpfe, wie ein Herrchen seinen gehorsamen Schoßhunden. Erste Blätter haben sich schon ins Gewand des gegen Ende neigenden Jahres geworfen und in einem Tanz entlang der Bordsteinrillen verloren. Der Herbst mag, wie sie ihm bedingungslos folgen – ganz gleich, welchem Winter er sie auch ausliefert.
In der Buchhandlung scheint es nur geringfügig wärmer zu sein als draußen. Einem Frösteln nachgebend, zieht die junge Frau instinktiv den Kopf tiefer zwischen die Schultern. In geübter Manier hält sie ihr Buch so geschickt, dass ihre Finger sich überlappen und gegenseitig Wärme spenden. Hinter den gläsernen Fensterfronten verabschiedet sich der späte Nachmittag allmählich in den Feierabend. Um sie herum ist es still; in dieser Abteilung ist es das immer.
Der junge Mann wird von ihrer Wahrnehmung bereits als Fremdkörper eingestuft, lange bevor sie ihn überhaupt zu Gesicht bekommen hat. Dabei beschränkt sich sein Dasein zunächst auf eine Gestalt hinter dem Regal, vor dem sie steht. Eine sich langsam, aber dynamisch bewegende Gestalt.
'Da hat sich jemand in der Abteilung geirrt', möchte sie ihm durch die Bücher hindurch hämisch zuflüstern, auf dass er ertappt herumwirbelt, sich seiner selbst bewusst wird und die Beine in die Hand nimmt. Vorerst hält sie sich aber geschlossen.
Er kommt derweil am Ende des Ganges an, vor einer weiteren Bücherwand, die ihn wie an einer stark befahrenen Straße nach rechts, nach links und wieder nach rechts schauen lässt. Nur sich umdrehen, das tut er nicht. Er hat die einzige Anwesende offenbar nicht bemerkt und sie amüsiert das glatt.
Sein Profil ist vorbildlich und kennt das Problem einer Charakternase ebenso wenig wie das mangelnder Ausstrahlung. Der Rucksack baumelt leger wie ein gottgegebenes Accessoire über seiner rechten Schulter. Instinktiv tastet ihr Blick die Etage ab; sucht die Traube an Studenten, aus der er gepurzelt sein muss. Denn einen wie ihn, den gibt es nicht alleine. Den gibt es nur in Gruppen: morgens in der Vorlesung, mittags in der Kantine und abends auf dem Trainingsplatz oder im Club.
Sport oder Sportmedizin kommen ihr spontan in den Sinn, als sie sein Kreuz genauer betrachtet. Alles an ihm scheint so symmetrisch, so ideal aufeinander abgestimmt und in sich gefestigt, dass sie ihn augenblicklich davonjagen möchte. Sie erträgt den innerlich von ihr selbst gezogenen, direkten Vergleich zwischen ihm und ihr schlicht und ergreifend nicht.
Er vertieft unterdessen seine Suche, sein Blick scannt die Buchrücken. Dann macht er einen zaghaften Schritt in Richtung Regal und schluckt so schwer, dass sein Adamsapfel regelrecht gegen seinen Schal bollert.
Nichts an ihm scheint mehr so gefestigt, wie vor wenigen Sekunden noch. Es erinnert sie daran, dass sie heute joggen gewesen ist und dass sie morgen joggen gehen wird und übermorgen und immer so weiter. Man sieht es ihr an, genau wie ihm. Hauptsache es geht weiter und weiter und immer weiter. 'Stillstand ist der Tod', zitiert ihre Einstellungen passend dazu ein Lied.
Mit schmalen Fingern, die nach frisch Gedrucktem riechen, klappt sie tonlos ihr Buch zu und schiebt es zurück zwischen seine Artgenossen. Ob sie ihm einfach verraten sollte, wo die Anatomiebücher stehen? Aber wer sich an der Uni einschreibt, sollte auch des Lesens mächtig sein. Zur Not hätte er ja seine Freunde mitbringen können. Sie sieht sie quasi vor sich: Eine Ansammlung nach AXE riechender Halbstarker, die alle mit Ach und Krach ihr Abitur im Frühjahr zusammengeschustert haben und sich jetzt, den Lebensunterhalt von den Eltern bezahlen lassend, in der Stadt austoben. Zweifellos ist er einer dieser Jungen.
Aber er hat sich nicht verlaufen.
Er ist nicht in der falschen Abteilung.
In dem Moment, als er vorsichtig nach einem der Bücher greift, es aus dem Regal zieht, die ersten Seiten bis zum Inhaltsverzeichnis durchblättert, kurz innehält und dann schnell das gewünschte Kapitel aufschlägt, wird es ihr bewusst.
Sie steht zu weit weg, als dass sie den Buchtitel hätte lesen können. Selbst wenn sie unmittelbar hinter ihm stünde, könnte sie ihm nicht über die Schulter schauen. Er misst locker über 1.85m, sie keine 1.70m. Trotzdem tritt sie näher, sich bewusst in seinem toten Winkel haltend, wofür er sie höchstwahrscheinlich hassen würde, wenn er es denn wüsste. Aber er weiß es ja nicht. Er liest, und er gibt sogar dabei eine exzellente Figur ab. Nur die Nähe fällt ihm in den Rücken und verrät nicht nur, dass er grüne Augen unter dichten, schwarzen Wimpern und energischen Augenbrauen besitzt. Sie verrät auch, dass sein Haar zwar blond und fraglos tiptop gestylt ist, aber keinen gesunden Glanz mehr beherbergt. Einst müssen auch Sommersprossen, die zwangsläufig im Krieg zwischen natürlicher Bräune und selbst herbeigeführter Blässe gefallen sind, sein Nasenbein bevölkert haben. Die Fingerrücken seiner rechten Hand sind gerötet, aufgesprungen und rissig, insbesondere Zeige- und Mittelfinger. Außerdem sind seine Lymphknoten enorm angeschwollen. Der arme Schal kann gar nicht so viel kaschieren wie er müsste.
All das ist nichts Neues und nichts Außergewöhnliches für ihn. Im Gegenteil: Er steht hier, weil all das alteingesessen und viel tiefgehender ist, als strohiges Haar und aufgesprungene Hände es je zum Ausdruck bringen könnten.
Seiner Mimik nach zu urteilen, ist er ehrgeizig, klug und resolut. Vor allem ist er jedoch eines: müde. Unendlich müde. Aber er kann sich nicht ausruhen, nicht verschnaufen, sondern muss weitermachen. Warum auch nicht?
Er ist doch gut. Sagen zumindest die anderen.
Das Geräusch, das entsteht, als er eine Seite umblättert, wallt kurz auf, bevor die Stille sich wieder zwischen ihnen einnistet. Er weiterliest und sie den Blick von ihm löst, um ihn nicht länger an- oder gar zu durchschauen.
Sie ist auch gut. Sagen zumindest die anderen. Geholfen hat es ihr allerdings nie.
Was er liest, rüttelt sichtlich an seinem Nervenkostüm, lässt seine Brauen tiefer sinken und ihn die Unterlippe unbewusst zwischen die Zähne ziehen. Er hat Ratgeber wie diesen immer gemieden. Inhaltlich zu hässlich, zu umständlich, zu kompliziert. Bloß für die Labilen und Kranken dieser Welt geschaffen. Entsprechend nicht sein Stil, denn so ist er nicht. Sowohl seine Freunde als auch seine Familie können das bestätigen. Was soll er also damit? Es hat gar nicht wirklich etwas mit ihm zu tun. Bei ihm ist alles grundlegend anders.
Dachte er immer.
Bis er gemerkt hat, dass seine Leistungskurve unaufhaltsam einknickt und sein Herz zum Spielball eines selbst gezüchteten Elektrolytungleichgewichts verkümmert ist. Es keine Bestleistung mehr gibt, nur noch das krankhafte Ringen nach einer solchen. Nur noch ein Hinterherhinken. Ein Herzstolpern.
Wenn er das nächste Mal fällt, das hat ihm sein unregelmäßiger Herzschlag deutlich zu Verstehen gegeben, wird er womöglich nicht mehr aufstehen.
Dann gibt es kein Morgen mehr.
Die bloße Vorstellung daran verschlägt ihm vor Angst den Atem. Darum ruhen seine Turnschuhe heute, während sein Magen knurrt, seine Handflächen schwitzen und sein Geist wie ein hungriger Tiger im Käfig auf- und abstolziert; impertinent nach Auslauf, Fressen und Erfolg verlangend.
So geht es aber nicht weiter. Er weiß das und sie weiß das, weit besser als ihm lieb ist.
Nach wie vor mit kalten Fingern gestraft, tritt sie hinter ihm hervor und langt ins Regal. Vor Schreck zuckt er daraufhin deutlich zusammen und weicht affektiv zurück. Sie wirft ihm nur ein flüchtiges Lächeln zu, bevor sie sich dem Buch widmet und ihm somit genügend Zeit einräumt, seine Gesichtszüge zu sortieren, den Blick stramm zu ziehen und den Schal zurecht zu rücken, auf dass die Hamsterbacken seine optische Erscheinung nicht allzu sehr entstellen.
Einen Kugelschreiber aus der Manteltasche ziehend, schlägt sie das Buch an einer beliebigen Stelle auf und notiert zwei gut lesbare Zahlenabfolgen an den Rand, ehe sie es wieder zuklappt und ihm hinhält: „Hier.“
Er muss nur zugreifen.
„Du hast doch schon reingeschrieben!“, lehnt er mit dem erstbesten Vorwand ab, den er zu fassen kriegt. Das hier ist ein Missverständnis, nur ein Missverständnis. Er braucht das Buch nicht. Erst recht nicht für sich selbst.
„Kauf’s trotzdem. Ist das Bessere von beiden.“ Für ihre Verhältnisse verblüffend ehrlich, nimmt sie ihm den Ratgeber aus den Händen und ersetzt ihn durch den anderen. Gegenwehr leistet er keine. Lediglich seine Augen glühen auf, denn er ist stolz und fühlt sich auf frischer Tat ertappt. Deswegen geht sie, bevor er womöglich noch zum Angriff überwechselt. Ihr groß und breit erzählt, dass er eine Hausarbeit schreiben muss oder ein Mädchen kennt/eine Cousine bzw. eine Schwester hat und die wiederum...
Das Repertoire an Ausreden ist unerschöpflich. Wenn man verzweifelt ist, kann man selbst aus der absurdesten Lüge noch eine glaubhafte Wahrheit schmieden. So viel weiß sie selbst. So was will sie nicht von ihm hören.
Deswegen steht sie keine Minute später auch schon auf der Rolltreppe, Seite an Seite mit einem dieser Mädchen, dem zu viele Männer hinterher blicken und zu viele Leute einimpfen, es hätte das perfekte Leben. Ein Leben mit so viel Talent und so viel Hingabe, so vielen Freunden und so rosigen Zukunftsaussichten.
Es ist ein Leben voller unerfüllbarer Erwartungen, nie enden wollender Unzulänglichkeit und hemmungslosen Brechfesten im Geheimen. Alles soll irgendwie weg. Alles muss irgendwie raus. Die Zukunft blüht nicht, sie ist verwelkt und schwarz und macht ihr panische Angst. Das ist es. Bei ihm wird es ähnlich sein. Niemand kotzt sich schließlich freiwillig so dermaßen die Seele aus dem Leibe, dass das Herz aufzugeben droht.
Sie ist heilfroh, als sie die Rolltreppe endlich verlassen kann und nicht länger gezwungen ist, das lebenshungrige Mädchen im Glas anzustarren.
Zehn Minuten später wartet sie bibbernd an der Bushaltestelle, vom Herbst und seinem bunten Blättergefolge umgarnt, als eine eintreffende SMS ihre Handtasche vibrieren lässt. Die Nummer ist unbekannt, aber die dankenden Worte sprechen für sich.
Ende
Texte: 2011 bei mir
Bildmaterialien: Die Rechte des Coverbildes liegen nicht bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2011
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