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1. Kapitel

Anfang und Ende setzt nur die Zeit,
ohne sie, steht sie, in Ewigkeit


Immer wenn ich an den Indianer denke, sehe ich den Jungen vor mir – ein Kind. Lange schwarze Haare, gehalten durch ein Lederstirnband, welches der Junge selber mit einem hellen Faden bestickt hatte. Ebenso selbstgestickt waren die Muster auf der Jacke, selbstgeschnitten die langen Fransen an eben jener und in gleicher Weise war auch die Hose entstanden, die wie die Jacke von der Mutter genäht war. Ein doppelläufiges Kindergewehr, verziert mit silbernen Nägeln, hält er in der Hand. So steht der Junge vor einem alten Haus.
Alt ist auch das Foto, auf dem mich der Junge anschaut. Die Farben sind nur noch schwarz und weiß; - grau -
in meiner Erinnerung jedoch leuchten frische Farben. Die hellbraune Jacke und Hose zieren Muster in Blau und Rot, rot sind auch die langen Fransen.
Ich sehe sattes, tief grünes Laub von Bäumen, die sich zu einem mächtigen Wald vereinen und zu deren Füßen der Junge oft stand.
Ich rieche den Duft von Bäumen und Büschen, fühle Sonnenstrahlen, die durch diese dringen und mich blenden; höre Vogelgezwitscher von weit dahinter und sehe den Jungen vorsichtig durch diese wunderbare Natur schleichen. Alle Sinne geben mir das Gefühl von damals zurück.

Damals, als ich als Kind manchmal wie ein Vogel, der seinem Käfig entfliegt, hinter unserem Haus durch den Garten und in den gleich dahinter angrenzenden Wald lief. Die Natur beeindruckte mich sehr und tut es immer wieder. Die aus dem Ursprünglichen sich entfaltende und zugleich zutiefst geheimnisvolle Schönheit hatte von klein auf all meine Sinne berührt und dazu befähigt, diese Schönheit zu erkennen.
Auch Kreatives konnte dadurch wachsen. Als ich elf Jahre alt war, mussten wir in der Schule ein eigenes Gedicht verfassen. Das Thema konnten wir selbst bestimmen und unserer poetischen Kreativität freien Lauf lassen.
Ich schrieb ein Gedicht über die Schönheit der Natur.
Mein damaliger Deutschlehrer war davon so beeindruckt, das er dieses Gedicht sogar im Lehrerkreis einigen zeigte.

Aber wie gesagt, am liebsten aber war ich damals im Wald unterwegs, um wie ein Indianer durch die Landschaft zu schleichen und zu „reiten“.
Ich hatte mir auch Pfeile und einen Bogen selbst hergestellt. Der Bogen war aus einer dicken, stabilen Weidenrute gefertigt. Als Pfeile benutzte ich zum einen dünne Haselnussruten, diese waren aber meistens nicht ganz gerade und deshalb nicht so gut. Zum anderen stellte ich Pfeile auch aus einem Holzbrett her. Dazu spaltete ich ein längeres, kantholzartiges Stück in Faserrichtung des Holzes mit einem Beil ab. Danach musste dieses Stück mit einem Messer so lange geschnitzt werden, bis ein runder Holzstab daraus entstand. Dann wurde dieser noch fein abgeschliffen mit etwas Sandpapier.
Drei am Kiel durchgeschnittene Federn wurden dann regelmäßig hinten am Pfeilende angeklebt. Später sägte ich auch Metallspitzen aus einem Metallrohr. Mit diesen Pfeilen schoss ich dann im Wald auf Baumstämme und freute mich immer, wenn die Pfeile auch im Stamm fest stecken blieben.

Im Wald versuchte ich dann nach Indianerart zu schleichen, das heißt mich zu bewegen ohne größere Geräusche zu verursachen.
Einmal schlich ich durch eine kleine Erdschlucht, die sich im Wald an dessen Rand befand. Hier entdeckte ich ein Vogelnest und einen brütenden Vogel darin. Öfters kam ich jetzt an dieser Stelle vorbei und beobachtete die Entwicklung der Jungvögel. Ein Aufsatz in der Schule hatte auch genau diese Geschichte der Naturbeschreibung zum Inhalt, wenngleich auch dieser noch mit reichlich Phantasie angereichert wurde.

Ich war auch nicht immer allein unterwegs. Mein Freund oder auch mehrere andere in etwa gleichaltrige Kinder waren ebenfalls manchmal mit im Wald dabei. Wir kletterten auf Bäume, bauten uns Behausungen aus Holzstangen und Ästen mit Laub. Einmal stolperte ich, als ich in rasantem Tempo durch ein Walddickicht „galoppierte“, welches dicht mit grasartigen Büscheln und Farnen bewachsen war, sodass man nicht den Waldboden ahnen konnte. Kaum war ich hingefallen, so lief auch schon in noch schnellerem Tempo das davon, worüber ich gefallen war – ein Hase.
Wir spielten sogar manche Geschichten, die wir gelesen hatten, im Wald nach. Dabei war Phantasie natürlich immer mit im Spiel, beflügelte das „Abenteuer“ aber noch.

Oft war ich aber auch ganz allein unterwegs und erkundete Wald und Feld. Einmal wurde ich von einem starken Regen überrascht, dem kurz darauf noch ein heftiges Gewitter folgte. Ich stand im Wald unter einer dicken Eiche, die ungefähr anderthalb Meter Durchmesser hatte. Imposant prasselte der Regen durch das Laub. Als ich dann das erste Donnern des folgenden Gewitters vernahm, lief ich dann doch durch den Regen und suchte Schutz im elterlichen Heim.
Aber ansonsten galt:
„Draußen“ war meine Welt.

Doch dieses „Draußen“ liegt lange zurück. Jetzt bin ich hier „drinnen“.
Alles vergangen…Alles Erinnerung…

Als Menschen leben wir größtenteils in Erinnerungen. Und Erinnerung spielt ja immer in der Vergangenheit. Aber im Augenblick der Erinnerung ist es „Jetzt“. Und die Erinnerung selbst trägt den Augenblick in die Zukunft. Und einen Augenblick später ist alles schon wieder Vergangenheit, auch die Erinnerung selbst. Aber im Augenblick der Erinnerung ist die Zeit stehengeblieben.
Jeder kennt das Phänomen, dass bei bestimmten Erlebnissen die Zeit quasi stehen bleibt oder sie wie im Flug dahinrast.

Bei Kindern scheint es gar keine Zeit zu geben.
Vergangenheit und Zukunft sind immer Jetzt.
So war es auch als Kind, die Zeit stand still, wenn ich im Wald unterwegs war. Hier war es immer Jetzt.
Auch alle Erinnerungen geschehen im Jetzt…
…so erinnere ich mich auch jetzt, wo ich „erwachsen“ bin.
Vergangenheit und Jetzt vereinen sich, und damit geht die Zeit weder vor- noch rückwärts.
Als Erwachsene geht uns diese Fähigkeit größtenteils verloren, da uns Zeiger auf Chronometern unwillkürlich zeigen, dass wir unseren Weg nur vorwärts gehen.
Aber Erinnerungen und Gedanken können uns zur Besinnung von diesem Weg abbringen.
Gleichsam wie ein herrlicher Melodiengesang, der über der Nadel eines alten Grammophons „schwebt“, die streng „monochron“ mit der Zeit ihren Weg auf einer Platte geht. Statt mit der Zeit kann man mit der Melodie über der Zeit schweben.
Dann wird die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes relativ. Und mit ihr auch alle vergänglichen Dinge im Leben.
Was bleibt, ist dann eine Ahnung von Ewigkeit, die gleich einem Augenblick, den man unendlich immer wieder halbiert, doch nie den abstrakten Konvergenzwert von Nichts erreicht und so die Zeit sich dadurch selbst stehen bleiben lässt.

So spielen Erinnerungen auch immer im Jetzt, in dem Augenblick, in dem man sich erinnert.
Erinnerungen erzählen dem Ich eine Art Geschichte, wobei das Ich auch selbst der Erzähler ist.

Auch das alte Foto mit dem Jungen als Indianer erzählt mir eine Geschichte. Es liegt in einem noch älteren Buch, wobei die Geschichte in dem Buch nochmals um Einiges älter ist. Das Buch liegt auf einem alten, nicht vollständigen Puzzle. Alle drei zusammen erzählen eine Geschichte die noch nicht alt ist, ja sie ist noch nicht einmal zu Ende.

Sie spielt immer in der Gegenwart:


2. Kapitel

Eben noch lachend,
spielend,
ein Kind,
nicht ahnend, was Zeit ist, ...wie verrinnt?


Das Foto liegt in einem alten Buch mit grünem Leineneinband und goldgeprägter Schrift. Nein – es lag in dem alten Buch.
Vorn auf dem Buch ist der Indianer abgebildet. Lange schwarze Haare, welche von einem Lederstirnband zusammengehalten werden. Jacke und Hose sind mit Mustern und Fransen verziert. In den Händen hält der Indianer ein doppelläufiges Gewehr, das mit silbernen Nägeln bestückt ist.
Unter dem Bild steht in goldener Schrift in Großbuchstaben der Name des Indianers geschrieben: WINNETOU.
Die Seiten des Buches sind schon etwas vergilbt, kleben etwas aneinander und fühlen sich an, als würden sie beim Anfassen zwischen den Fingern aufgerieben. Außerdem haben sie diesen typischen leicht modrig-schimmligen Geruch von gealtertem Papier.
Das Buch stammt aus einer alten Zeit. Nicht ganz so alt ist die Zeit, als ich es in den Händen hielt. Ich habe es oft als Kind ausgeliehen aus einer kleinen Pfarrbücherei, die eine kleine Bibliothek im Winter in unserem Dorf unterhielt. Es gab hier nur ungefähr zwei große Bücherregalschränke voller Bücher, die etwa anderthalb Wände bis unter die Decke füllten. Alle Bücher hatten zum Schutz einen zusätzlichen Umschlag aus blauem oder hellbraunem Paketpapier.
Oft habe ich mir das Buch mit meinem Freund ausgeliehen. Wir entfernten heimlich den Umschlag aus Papier und versuchten den Indianer vorn auf dem Buch auf einem Blatt Papier nachzumalen. Meistens zeichneten wir mit bunten Stiften und verglichen dann, wer besser gezeichnet hatte. Ich malte auch einige größere Bilder mit Pinsel und Farbe. Allerdings nicht immer nur von dem einem Indianer allein, sondern auch zusammen mit seinem Freund, mit Pferden oder auch zusammen mit anderen Indianern, auch in verschiedenen Landschaften. Das „Königsmotiv“ war allerdings der eine Indianer mit dem Freund.
So entstanden sicher an die hundert Zeichnungen und Bilder mit verschiedensten Motiven. Im Laufe der Zeit verschwanden sie jedoch alle im Zuge des Erwachsenwerdens. Gern würde ich heute noch einmal durch diese „persönliche“ Sammlung blättern und schauen, was ich für „Kunstwerke“ geschaffen hatte. Doch wie viele kindliche Fähigkeiten, sind auch diese unwiederbringlich verlorengegangen. Oder vielleicht nur „verborgen gegangen“?
Die Bilder verschwanden alle bis auf eines. Dieses eine Bild hängt jetzt hier über mir. Ich schaue es an und es ist eben gerade dieses Bild, welches die Zeilen hier gerade „schreibt“. Das Bild zeigt die beiden Freunde des Buches, ein Indianer und ein Weißer, auf schwarzen Rappen durch eine begrünte Felsenlandschaft reitend. Besonders aufwendig und genau hatte ich die Kleidung des Indianers gemalt.

Mit Hilfe meiner Eltern fertigte ich mir auch ein Kostüm, das so aussah, wie die Kleidung des Indianers. Zu einem Kindergeburtstag bekam ich zudem noch ein doppelläufiges Kindergewehr, welches aus Holz- und Metallteilen einem echten Gewehr sehr schön nachempfunden war. Die beiden Läufe und das „Schloss“ des Gewehres waren komplett aus schwarz lackiertem Metall, Schaft und Kolben aus Massivholz. Die Holzteile verzierte ich selbst noch mit silberfarbigen Nägelstiften. Sogar eine Perücke mit langen schwarzen Haaren wurde besorgt.
In dieser Zeit entstand auch ein Foto, das mich in voller Kostümausrüstung mit dem Gewehr vor dem Haus meiner Eltern zeigte.
Ich benutzte dieses Foto oft als Lesezeichen, wenn ich das WINNETOU Buch ausgeliehen hatte und dieses las.

Mein Freund bekam als Kind auch ein Puzzle geschenkt, welches genau das gleiche Bild, wie das von dem alten, grünen Buch mit dem Indianer auf dem Einband als Motiv zeigte. Es hatte nur fünfhundert Teile. Ein großer Bereich des Puzzles war hellblau. Denn ein blauer Himmel über einem niedrigen Horizont füllte einen Großteil des Motivs aus und umrahmte den weit in das Land schauenden, stehenden Indianer. Wir zeichneten auch oft das Motiv von diesem WINNETOU Puzzle nach.
Weil das Bild des Puzzles mindestens ungefähr fünf bis sechs mal größer war, als das Bild auf dem Buch, waren hier viele Details viel besser und genauer zu erkennen. Besonders fiel mir aber auf: das Gesicht des Indianers ergab auf dem Puzzle einen anderen Gesichtsausdruck. Es wirkte hier viel freundlicher, ich konnte sogar ein leichtes Lächeln wahrnehmen und aus diesem Lächeln war bei längerem Betrachten eine Art zuversichtliche Hoffnung zu spüren.
Sehen ist ja ein aktiver Prozess. Unser „Bild“ im Kopf ist also eher gemalt, keinesfalls jedoch fotografiert. Außerdem ist dieses „Bild“ auch „vernetzt“ mit vielen anderen „Kreativwerken“, die sich aus unseren Sinneseindrücken und zu diesen entwickeln. Genau diese Sinneseindrücke waren es auch, die sich mir beim „Bilden“ und „Abbilden“ des Puzzle Motivs erschlossen, wobei darin untrennbar die erst tieferen Sinn gebende Geschichte des Indianers und seines Freundes eingeschlossen war.

Das Puzzle fixierten wir aber nie endgültig mit Puzzle-Kleber, sondern zerlegten es meist wenige Tage nach dem Zusammenlegen wieder in seine Einzelteile.

Irgendwann stellte die kleine Bibliothek der Pfarrbücherei ihren Betrieb ein, wohl auch weil diese ihren „sorgsamsten“ Betreuer verlor. Die Bücher standen viele Jahre unbenutzt in den Schränken. Nach etlichen Jahren wurden die Räumlichkeiten für andere Zwecke bestimmt. Mein Freund und ich waren bei den Aufräumarbeiten dabei. Dadurch, dass mein Vater oft den Garten um die Kirche pflegte und auch sonst in verschiedenste Arbeiten rund um das Kirchenjahr eingebunden war, kam es, dass wir an jenem Tag auch dabei waren, als alle Bücher der Bibliothek in große Kartons einsortiert wurden. Die Bücher waren außen auf dem Papierumschlag mit entsprechenden Nummern versehen. Mein Vater, einige andere Hilfsbereite, sowie auch mein Freund und ich waren einen ganzen Nachmittag damit beschäftigt die Bücher entsprechend einer Liste in die Kartons zu sortieren. Als ich dabei war die Bücher aus den Schränken zu räumen, kam ich auch an die Reihe von Büchern, dessen Nummern ich fast auswendig kannte. Es waren allesamt die Bücher, von denen ich wusste, dass diese alle unter ihrem Papierumschlag der gleiche dunkelgrüne Einband mit goldener Schrift zierte. Ich räumte ein Buch nach dem anderen in einen großen Karton, in dem auch schon viele andere Bücher lagen. Mein Freund war gerade mit den Büchern beschäftigt, die in den Reihen gleich neben mir standen.
Plötzlich fiel mir etwas auf: das Buch mit dem Indianer vorn auf dem Umschlag fehlte im Schrank. Ich schaute zu meinem Freund herüber, weil ich fühlte, dass er mich ansah. Wir lasen in unseren Gesichtern. Er zog die Mundwinkel hoch und gab mir mit einem zugekniffenen Auge zu verstehen, dass er das „Mitgehen“, auf das ich ihn am Morgen in Zusammenhang mit den Bücheraufräumarbeiten gefragt hatte, wohl auch noch in einem tieferen Sinn bejaht hatte.
So kam es, dass ein Buch damals nicht den vorgeschriebenen Weg aus der Bibliothek fand. Doch es kam noch mehr als anders.

Eine ganze Zeit später zog mein Freund mit seiner Familie um, relativ weit entfernt von unserer Geburtsstätte. Und auch das Buch zog mit um. Wir hatten es immer weniger und zuletzt lange gar nicht mehr angeschaut. Kurz vor dem Abschied meines Freundes, schenkte er mir das WINNETOU Puzzle in einem Karton. Unsere Wege verliefen sich und irgendwann auch der Kontakt.
Und auch WINNETOU selbst verlief sich im Sande, der sich auf meinem Lebensweg einst hin- und nun verweht hatte. Andere Landschaften und Umgebungen traten in den Vordergrund. Was blieb, war nur ein Erinnerungsgefühl, welches gleich einem verborgenen Schatz irgendwo tief in mir versteckt blieb.
So lange, bis die Wege des Lebens mich wieder, gleichsam den Richtungen einer Schatzkarte, auf die Fährte zu diesem verborgenen Schatz führen sollte:


3. Kapitel

Schau hinter die Augen,
aus
dem Bild
aus Bildern


Eines Tages, nach vielen Lebensänderungen, waren meine Familie und ich damit beschäftigt, einen Raum im Dachgeschoss unseres Hauses, das wir vor Jahren gekauft hatten, aufzuräumen. Egal wie viel Platz man zur Verfügung hat, alles ist irgendwann voll. So hatte sich auch im besagtem „Abstellraum“ Einiges über die Jahre angestapelt. Vor allem Erinnerungen.
So fiel mir auch ein Karton in die Hände, in dem das alte WINNETOU Puzzle lag.
Seltsam, dachte ich.
So viele Jahre sind vergangen und ich habe oft an die WINNETOU Zeit gedacht, aber nie wieder nach dem Puzzle oder nach dem Buch gesucht. Im Buch WINNETOU geht es um die tiefe Freundschaft zwischen zwei Menschen. Diese tiefe Freundschaft hatte mich stets beeindruckt, vor allem weil sie unverwechselbar Das Gute in der Welt wiederspiegelte.
Aber war das wirklich ein Spiegelbild der Realität, eventuell eine verdrehte Realität?
Oder war das Ganze nur ein Traum?
Ein Traum, geträumt in der Realität?
Oder ein großer Traum geträumt im Traum „Realität“?
Manchmal denke ich das Leben könnte auch ein Traum sein. Ein anderes manchmal denke ich in einem Traum nach oder wenn ich träume, denke ich, es sei Realität.
Wenn man lange sehr angestrengt an Etwas denkt, kann es passieren, das man davon träumt. Das ist relativ normal.
Aber mir passierte als junger Erwachsener einmal Folgendes:

Wir hatten in einem Mathematikfach im Rahmen einer umfangreichen Hausarbeit eine Reihe von recht anspruchsvollen Aufgaben abzuarbeiten und zu diesen verschiedentlich Lösungen auszuarbeiten. An einem Tag hatte ich auch fast von morgens bis kurz vor dem Schlafengehen an einer Aufgabe gearbeitet.
Diese Nacht träumte ich von komplexen Zahlen, Algorithmen, Variablen, Gleichungen, Quadratur-Formeln und allerlei anderem mathematischen Handwerkszeug. Unter anderem kam in der Aufgabe das nach dem Mathematiker Carl Friedrich Gauss (1777 – 1855) benannte Gauss-Verfahren zur numerischen Integration vor, ein Verfahren, mit dem sich Flächeninhalte von bestimmte Arten von mathematischen Funktionen sehr genau berechnen lassen. Dieser Gauss soll als Neunjähriger einmal eine in der Schule gestellte Aufgabe, nämlich die Zahlen von eins bis hundert zusammenzuaddieren, sehr schnell gelöst haben, indem er 1 + 100, dann 2 + 99, dann 3 + 98, usw. rechnete, was jeweils 101 ergibt und zwar fünfzigmal, also insgesamt 50 * 101 = 5050.

Das Bild von jenem Gauss schwebte mir in jener Nacht im Traum an mir vorbei. Und nebenher suchte mein Gehirn nach einer Lösung der Aufgabe…
Plötzlich war es mir, als hätte ich das Gefühl, mein Bewusstsein würde am Traum teilnehmen, das heißt das Meiste im Traum lief unbewusst im nicht willentlich beeinflussbaren Teil des Gehirns ab, aber gewisse Verläufe konnte ich scheinbar durch eine Art, nennen wir es Willensstärke, in bestimmter Weise beeinflussen. Ich weiß nicht wodurch und wie ich diese Willensstärke entwickeln konnte, nur das ich es konnte.
So sah ich eine große Tafel vor mir, an der Fragmente der Aufgabe standen. Die Formeln liefen an mir vorbei. Ich sah zu Gauss auf, der neben der Tafel zu stehen schien. Gertieben durch nicht erklärbare Kraft, gelang es mir, meine Hände fragend auszustrecken, wodurch der Lehrmeister mit seiner Hand auf zwei bestimmte Teile von Formeln zeigte.

In dem Moment wachte ich auf. Gleich einer Hand voll Wasser, das von heißem Wüstensand aufgesaugt wird, versuchte ich die bewussten Gedankenfragmente Gehirns vor dem Absinken ins Unterbewusstsein zu retten. Noch halb im Traum kritzelte ich halb blind im Halbschlaf etwas mit dem Stift aufs Papier.
Als ich dann ganz zu mir gekommen war, sah ich auf das Papier. Nach einer Weile konnte ich aus dem Gekritzel eine Lösung der Aufgabe herleiten, die, wie sich später herausstellte, eine andere als die Standardlösung war.
So etwas ist mir bisher nie wieder passiert.
Und sollte auch nicht?
Zurück auf den „Boden der Realität“.

Selbst im Alltag sind Träume oder Sehnsüchte fester Bestandteil unseres Lebens. Und der Alltag holt uns ja bekanntlich immer wieder auf den Boden der Realität zurück.
So wie das WINNETOU Puzzle meines Freundes, welches ich jetzt wieder in den Händen hielt. Sind nicht alle Träume, Gedanken, Hoffnungen, Wünsche ebenso real ein Teil unseres Daseins. All die Jahre hatte ich diesen Teil der Realität an einem unbewussten Ort in meinem Inneren verborgen gehalten. Und das, um jetzt festzustellen, dass es ein Schatz ist, der da verborgen lag.

Manchmal braucht man die entsprechende Schatzkarte, um wieder den Weg zu manchen Schätzen zu finden. Und diese Schatzkarte war jetzt das Puzzle meines Freundes.
Diese Schatzkarte wurde um so rätselhafter, als ich versuchte diese zu lesen. Als ich nämlich am Abend nach einigen Stunden das Puzzle versuchte wieder zusammenzulegen, stellte ich zu meiner Verwunderung fest:
es war nicht vollständig.
Einige Teile fehlten; ja eine ganze Reihe.
Eilig setze ich alle vorhandenen Teile zusammen, um zu sehen, welche Teile genau fehlten. Nach einer Weile lag das „fertige“ Bild vor mir. Und was zeigte es?
Einen WINNETOU - ohne Gesicht. Nein, weniger als das. Dieses „Ganze“ war wahrhaftig weit weniger als die Teile seiner Summe. Irgendwie wirkte das Bild des Puzzles in diesem Zustand eher befremdend als vertraut, vor allem weil man kein einziges Teil mehr neben dem fertigen und doch zugleich unfertigen Puzzle sah.

Waren Teile des Puzzles im Laufe der Jahre im Zuge zahlreicher Ortswechsel verlorengegangen?
Das war eher unwahrscheinlich. Ich hatte das Puzzle immer im gleichen Karton aufbewahrt. Und der Karton war die ganze Zeit mit einem Papierklebeband verschlossen gewesen. Ich bin mir sicher, der Karton ist in früheren Jahren nicht geöffnet worden. Und jetzt war das Papierklebeband soweit mit dem Karton „verschmolzen“, dass man es gar mehr ohne es zu zerreißen ablösen konnte. Deshalb hatte ich das Klebeband auch nach vergeblichem Versuch schließlich mit den Fingernägeln „durchschnitten“.
Nein, es waren seitdem keine Teile verlorengegangen.
Erst jetzt wurde mir nochmals richtig bewusst, dass ich das Puzzle seit der Trennung von meinem Freund nie wieder zusammengelegt hatte.
Die Teile fehlten also sicher schon als mir mein Freund das Puzzle geschenkt hatte.

Ob die Teile dann bei meinem Freund irgendwie verlorengegangen waren?

Auch das erschien mir eher unwahrscheinlich.
Erstens hatte er das Puzzle so weit ich weiß immer sorgfältig behandelt. Und zweitens war Ihm das Puzzle so heilig gewesen, dass kaum Teile aus Unachtsamkeit verschwunden sein dürften.
Und schließlich: Wieso waren genau die Teile vom Gesicht verschwunden?
Diese mussten gezielt und mit fester Absicht entfernt worden sein.
Das Puzzle hatte mein Freund, so weit ich es beurteilen kann, kaum anderen gezeigt – außer mir.
Also dachte ich, dass nur mein Freund selbst die Teile weggenommen haben könnte.
Aber warum?

Ein WINNETOU ohne Gesicht.
Das hatte ich schon mal …? …Geträumt!
Ja genau.

Plötzlich fiel mir auch ein, wann das war.
Ja genau.

Es war in der sogenannten Zeit des Erwachsenwerdens.
Von mir.
Ja!

Nein!
Von uns!

Mein Freund und ich waren mehr oder weniger dem früheren Jugendalter entronnen. Wenn wir uns trafen, erzählten wir manchmal von den „guten alten Zeiten“, in denen wir zusammen durch eine heile Welt gestreift waren. Doch etwas hatte sich verändert.
Die heile Welt?
Nein, die war unverändert.
Aber wir zwei sahen sie nicht mehr so wie früher. Das ist wie bei Kant. Die „wahre“ Welt bleibt unverändert unerkannt; ändern tut sich nur unser Bild von ihr.
Aber ich schweife ab.

Ich hatte zur besagten Zeit einmal eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Freund, eine Diskussion. Mein Freund meinte, alle WINNETOU Geschichten wären am Ende doch nur ein Märchen und die reale Welt eine andere. Ich hielt dagegen und meinte die Geschichten wären kein Märchen, sondern eher ein Traum, ein Glaube.
Und sind nicht Traum und Glaube an Etwas auch real?
Wir stritten uns etwas und irgendwann fiel von meinem Freund der Satz: „WINNETOU hat kein Gesicht!“
‚Er steht nur für ein abstraktes Etwas, ungreifbar, unrealistisch.’

Einige Zeit nach dieser Auseinandersetzung hatte ich einen Traum.
Das WINNETOU Puzzle kam von weitem auf mich zu und wurde größer und größer.
In seinem Gesicht war ein anfangs kleines Loch und auch das wurde größer und größer. Schon war die Figur bestimmt hundert Meter hoch. Und das schwarze Loch sog wie ein riesiger Wirbel alles in sich hinein. Schon merkte ich seine Kraft und versuchte mich an etwas zu klammern, aber der Kraft des Wirbels konnte ich irgendwann nicht trotzen und so flog ich in einem weiten Bogen auf das Gesicht von WINNETOU zu. Ich glaube, ich konnte noch ein Auge vom Gesicht erkennen. Ich schaute tief in das Auge. Und es war mir, als würde ich in genau diesem Augenblick, einen gerade noch wahrnehmbaren Bruchteil eben des „Augenblickes“, den das Auge von WINNETOU tat, erahnen. In genau diesem Augenblick fühlte ich zeitstillstehende Zuversicht. Doch schon war ich am Rand des schwarzen Lochs angelangt und der Wirbel umhüllte mich mit dunklem Etwas und verschluckte mich mit einer überwältigenden Energie in seinem gähnendem Maul.
Dann war alles schwarz und dunkel.

Doch da!
Ein Licht!

OK.

Das sah aus wie eine Straßenlaterne. Und war auch eine. Ich saß im Bett und meine Sinne gaben mir zu verstehen, dass alles nur ein Traum gewesen war.

Und jetzt lag das Puzzle vor mir - dieses Puzzle. Kein Traum.
Ich starrte in das schwarze Loch des Puzzles, welches durch die fehlenden Teile entstand; dachte nach, über meine Erinnerung von gerade.
Nach einigem Überlegungen stand fest: Die Teile vom Puzzle waren bewusst von meinem Freund entnommen worden.
Aber warum?
Wollte er damit einfach nur an unsere gemeinsame Freundschaft erinnern?
Oder wollte er mir etwas damit sagen?
Etwas sagen, was ich erst später verstehen sollte?
Oder verstehen durfte?
Ich überlegte.
Ja!
Etwas, was ich erst später erfahren durfte, weil es sonst….kein…Experiment mehr wäre…oder dadurch erst recht zu einem wurde.
Je später ich das Puzzle wieder zusammen gelegt hatte, umso später wären mir die fehlenden Teile aufgefallen. Vielleicht hätte ich es nie wieder zusammengelegt.
Dann wäre WINNETOU ohne Gesicht geblieben.
Ja. Das war es!
Er wollte sehen, ob ich das Gesicht von WINNETOU zurückbringen konnte, also die fehlenden Teile wiederfinde.
Aber wo sollten die zu finden sein, wenn nicht bei ihm?
Eventuell hatte meine Phantasie sich da gerade in Etwas hineingesteigert und alles war ein reines Hirngespinst?!
Ich überlegte.
Wenn das Ganze wirklich ein Experiment war, musste es einen weiteren Hinweis darauf geben.
Dieser Hinweis musste auch mit dem Puzzle zu finden sein?
Ich untersuchte das Puzzle von vorn, ganz nah mit einer Lupe.
Nichts zu entdecken.
Ich schaute auf dem Karton nach. Von allen Seiten. Mit der Lupe.
Nichts.
Nirgends etwas zu entdecken.
War alles doch nur Traum?

Nach einer Weile nahm ich ein einzelnes Teil des Puzzles in die Hand und drehte es um. Hinten war das Puzzle nicht einfarbig, sondern hier waren viele matte Farben ineinander verwaschen, so wie es bei manchen Puzzles üblich ist.
Ich konnte erst nichts Genaues erkennen.
War da etwas?
Ja!
Nach genauem Hinsehen ganz nah mit der Lupe nahm ich ein kaum sichtbares Muster wahr. Ganz feine, geschwungene Linien, fast so etwas wie Buchstabenzeichen, aber kaum zu erkennen in dem hauchzarten Liniengekritzel.
Etliche Tage versuchte ich aus dem chaotischen Gekritzel etwas Sinnvolles herauszukreieren. Mit der Zeit konnte ich einige geschwungene Buchstaben aus dem Wirrwarr heraus extrahieren, aber es gestaltete sich sehr mühsam. Die Buchstaben waren in einer altdeutschen Schrift gezeichnet, wie sie im 19. Jahrhundert verwendet wurden. Doch langsam konnte ich ein System erkennen. Es schien, als wären auf manchen Teilen des Puzzles mehrere Buchstaben in einer Art Buchstabensequenz übereinander gezeichnet und dadurch natürlich sehr unleserlich geworden. Aber nicht auf allen Teilen des Puzzles. Manchen Teilen konnte ich nur einen einzigen Buchstabe entlocken. Diese Buchstaben ergaben, nacheinander in Reihenfolge der Teile des Puzzles gelesen, irgendwie keinen Sinn. Dagegen gehörten wohl alle Buchstaben einer übereinanderliegenden Sequenz auf manchen einzelnen Teilen des Puzzles zu einem Wort.
Diese Buchstaben der Buchstabensequenzen waren spiralförmig wie ein Wirbel angeordnet. Vielleicht ergaben zumindest diese Worte zusammen in irgendeiner Reihenfolge gelesen irgendeinen Sinn.
Nach einem guten Stück Arbeit und ziemlichen Sehanstrengungen, die meine Augen sicher um Einiges schneller gealtert haben lassen, standen die entschlüsselten Worte aus den Puzzle-Teilen mit Buchstabensequenzen vor mir auf einem Blatt Papier. Und zwar in gleicher Reihenfolge wie auf dem Puzzle.
Sie lauteten:

assimilieren

Theodolit

Religiöse Dinge

Trapper

Menschenverstand

Urzeit

Sorge

Denkübungen

San Franzisco

Reisen

Phantasie

Wilden Westen

Trophäen

Panoptikum

Sioux

Avat-ya

Raubvogel

Spieles

Stimme des Herzens


Was sollte das bedeuten? Das Rätsel fing erst richtig an.
Und das Experiment konnte beginnen:

Impressum

Texte: (c) J.Müller
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2008

Alle Rechte vorbehalten

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