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Helgas Meinung

Von Helga Siebecke 

 Gläsern

 

Alles begann so vielversprechend. Fast jeder Mensch konnte sich für die „Gläserne Frau“ begeistern. Der Textilfabrikant S. H. Champ aus Jackson, Michigan (ausgerechnet ein Amerikaner) hatte sie 1935 gestiftet. Die erste im Dresdner Museum produzierte Gläserne Frau kam 1936 ins Museum of Science in New York und ging danach jahrelang auf Tournee durch die USA. Von ihrem letzten amerikanischen Standort, dem Science Center in St. Louis, gelangte sie 1988 als Schenkung an das Deutsche Historische Museum Berlin.

 

Der Beliebtheitsgrad des gläsernen Menschen im positivsten Sinne hat sich nunmehr drastisch ins Gegenteil gekehrt.

 „Der Begriff des Gläsernen Menschen wird seit einigen Jahren vor allem als Metapher des Datenschutzes verwendet, die für die als negativ empfundene vollständige „Durchleuchtung“ der Menschen und ihres Verhaltens durch einen überwachenden Staat steht.“ Ein Umstand der allerorten nachzulesen ist und dennoch betonen die Regierungen immer wieder gebetsmühlenartig die Notwendigkeit und die positiven Ergebnisse ihrer totalen Überwachung. Komischerweise scheint genau diese Durchleuchtung unserem Grundgesetz zu widersprechen. Der Datenschutz der Bürger sei ein heiliges Gut. Ein Riesenskandal, dass ein wissender Mitarbeiter der Überwachungsszenerie die Dinge zur Diskussion offenlegt. Er wird zum größten Verräter aller Zeiten gestempelt und mit allen Mitteln gejagt. In Deutschland findet er keine Aufnahme, obwohl unser Land ganz offensichtlich mehr als nur am Rande von der Ausspähung betroffen ist. Die Regierung hätte aber davon gar nichts gewusst. Für mich ist diese immer wieder betonte Unwissenheit mehr als unglaubwürdig Wie kann man sich nur so naiv verhalten? Nein, nicht naiv, sondern man unterstellt den Bürgern hochgradige Dummheit. Längst ist bekannt, mehr oder weniger im Detail, dass wir „gläserne Menschen“ sind oder sein sollen, nur der Umfang nimmt nunmehr Dimensionen ein, die doch sehr erschrecken.

 

Das Allerschlimmste für mich ist, dass man wohl kaum etwas dagegen tun kann. Die Opposition greift die Thematik auf und wettert, dass die Heide wackelt aber mich beschleicht auch der Verdacht, dass alles auch für den Wahlkampf sehr willkommen ist. Die Medien haben ein Top-Thema im Sommerloch. So hat jeder etwas davon.

 

Das Nachsehen hat der gläserne Mensch, der bespitzelte unbescholtene Bürger. Es ist mehr als ein Unwohlsein, was mich nun nachdenklich werden lässt. Es ist die nackte Empörung, die mich diese Sätze schreiben lassen.

 

 

Erfahrungen mit Überwachungsdiensten

 

Mein Termin bei der Stasi rückte näher, ich hatte ein ungutes Gefühl und ging klopfenden Herzens pünktlich in dieses Gebäude. Was, wenn sie W.s Machenschaften entdeckt haben, mich dazu befragen und ich müsste meinen Mann verraten, ich würde das nicht tun können. Was würde man mit mir machen, man wusste von angeblich schmerzhaften Verhörmethoden. Ich hatte Angst und war dämlich, vielleicht hört sich ja unerfahren besser an. Nein, ich war definitiv dämlich.

 Ich wurde also in ein Zimmer geführt, ohne Mobiliar, relativ dunkel, eine Deckenlampe gab spärliches Licht. Es gab keinen Stuhl, nichts. Man lies mich warten, lange. Allmählich hätte ich mich gerne hingesetzt, aber ich musste stehend ausharren, den Kopf voller wirrer Gedanken. Auf den Fußboden wollte ich mich nicht setzen und außerdem musste ich dringend auf die Toilette. Ich glaube zwei oder drei Stunden verbrachte ich in diesem schrecklichen Raum und es ging mir dabei gar nicht gut.

 Ich war dort eingesperrt, denn eine Klinke war von innen nicht sichtbar, ich hatte nicht den Mut, mich lautstark bemerkbar zu machen. Ich wartete brav und still. Dann wurde ich geholt und in ein anderes Zimmer gebracht, durfte vor einem Schreibtisch Platz nehmen. Ein dürrer Mann in Zivil erschien und fragte ewig und umständlich nach meinen Personalien. Ich legte meinen Personalausweis auf den Tisch. „Antworten sie bitte.“ Mein schwacher Versuch mich noch gegen die Wartezeit in diesem unzumutbare Raum aufzulehnen, wurde sofort abgewehrt, es liefe eine anderweitige wichtige Sondermaßnahme und es wäre leider keine separate bessere Räumlichkeit frei gewesen.

 Nach einer halben Stunde nutzloser Fragerei, nach irgendwelchen Leuten, die ich nicht kannte, durfte ich gehen. Der endgültige Bescheid käme per Post, hieß es.

 Die Warterei ging offensichtlich weiter. Was, wenn eine Genehmigung erteilt werden würde? Sicher käme man zunächst in ein Aufnahmelager und wovon würden wir leben, gäbe es Arbeit, eine bezahlbare Wohnung und wer würde unser Kind betreuen. Man hatte ja schon einiges gehört. Würde sich W. tatsächlich verändern können, ich hatte auf einmal viele Bedenken, Zweifel plagten mich Tag und Nacht.

 Mit wem darf man sich darüber austauschen, solche Dinge sollte man eigentlich vor Antragstellung sicher geklärt haben. Es gab keinen Menschen in meiner Nähe, dem ich mich anvertraut hätte, der absolut kompetent meine Fragen beantworten könnte. Ich fühlte mich sehr allein, erkannte aber meine Schuld und mein Unvermögen, nichts rückgängig zu machen, weder meine Ehe noch diese Antragstellung und musste nun die Sache durchstehen, so oder so. Ich würde nichts Gesetzwidriges tun, mit Ehrlichkeit und Arbeit, Verantwortung und Pflichtbewusstsein, könne mir nichts passieren. Das hört sich spießig an und nicht sehr spannend, es war meine Grundeinstellung, sie ist es bis zum heutigen Tag, ein Faden, an dem ich versuche mich festzuhalten auch wenn ich damit so oft ins Hintertreffen geraten bin.

 Abenteuer streiften mich auch mit dieser oder gerade durch diese Haltung in bunter Vielfalt. Oft wurde es schon sehr bunt, krass und schreiend, geradezu verwirrend vielfarbig, kaum abgestimmt Ton in Ton, wie ich es eigentlich so liebe.

Die wundervolle Welt der Farben, sie sollte mich erst viel später wirklich faszinieren, erst nach allen Turbulenzen, war ich fähig das Spiel mit den Farben zu wagen, mich ihnen anzuvertrauen, mich mit ihnen zu trösten, sie als ein Ventil für innere Explosionen zu nutzen. Die Erkenntnis, sich anzuvertrauen, um Lösungen zu finden, sich selber zu betrachten, auch zu experimentieren mit dem Ziel genau die Freude zu fühlen, die eine hoffnungsvolle Sicht ermöglicht, sollte erst in einer Lebensphase Raum gewinnen, die eine Zwitterstellung einnimmt, nämlich den Menschen weder alt noch jung zu sein gestattet aber den Vorzug hat, reif und damit fähig zu sein, über sich selbst nachzudenken, ohne Gnade.

Man erhält damit eine Möglichkeit zu wissen, was gut ist. Eine ganz persönliche Definition aufstellen zu können für das individuelle Gute, ist eine unschätzbare, kostbare Fähigkeit, die Lebensmut mit Qualität verleiht, einhergehend mit dem so notwendigen Handlungsvermögen.

 Einmal musste ich darüber nachdenken, wie es sich wohl verhält mit dem Wissen, was gut ist. Wer bestimmt, was gut ist für mich? Eigentlich doch nur ich ganz allein. Woher weiß ich es aber? Meist nehmen es sich andere heraus, dazu Festlegungen zu treffen, insbesondere, wenn es um das Individuelle hinaus geht, wobei aber damit nicht sicher gestellt ist, dass genau dieses nicht betroffen wird. Ganz im Gegenteil! Ich lebte in einem Überwachungsstaat, wurde angeblich dadurch nur beschützt. Man kann das auch anders sehen aber man durfte es nicht äußern.

 Manchmal machen es sich die Menschen auch sehr leicht und sagen einfach, dass es der liebe Gott sei, der wisse was gut ist, denn er wäre allmächtig. Punktum. Die Gläubigen aller Religionen dachten vermutlich Ähnliches schon immer und damit wäre das Problem auch für immer geklärt und alle Fragen beantwortet.

 Ich persönlich glaube an keine Allmacht, an keine Allwissenheit, an keine Macht, die alle menschlichen Probleme erklärt und löst. Die Menschen sind auf sich gestellt, denke ich und sie sind unfähig miteinander friedlich umzugehen.

 Einfach scheint mir die Sache auch nicht zu sein, denn es geschehen auf der Welt zu viele Katastrophen, die ursächlich menschengemacht sind, darüber hinaus auch systembedingt eintreten. Viele Menschen wollen in Frieden leben, wenige nicht. Die Wenigen dominieren die Welt.

 Jeder ruft in seiner Not und Unwissenheit seinen Gott an, ihm beizustehen und vermeint auf der richtigen Seite zu stehen, nämlich auf der der Guten. Danach wird gehandelt, denn es ist klar, wer der Feind ist: der Andere halt. So gesehen wird auch der Andere ausgespäht. Man muss wissen, was bei ihm vor sich geht.

 Wie das Feindbild zustande kommt, wie es sich aufbaut bzw. perfide erzeugt wird, ist nicht unerheblich. Gerne wird der Hass geschürt und das nicht nur durch die Medien, die stets vorgeben nur neutral Bericht zu erstatten. Das glaube aber wer will, ich nicht.

 Die Politik, die Kirchen, alle predigen vom Frieden, wollen dafür einstehen und handeln. Doch was wollen sie wirklich? Sie wollen ihre Lebenseinstellungen, Ansichten, ihre Kultur, ihren Standard dem Anderen überstülpen. Andere Völker sollen sich gefälligst anpassen, denn man wisse, was für sie gut sei. Alles unter dem Deckmantel einer uneigennützigen „Hilfsbereitschaft“. Dafür braucht man Wissen, also Daten und zwar alle Daten.

Sich entwickelnde Länder, sich erhebende Völker werden wie unmündige Kinder behandelt. Ihnen müsse man sagen, was für sie gut ist, denn woher wissen sie es. Es wird hier ganz offensichtlich, wer sich herausnimmt zu bestimmen, was gut ist und was nicht: DER STÄRKERE. Er ist nicht auch zwingend DER KLÜGERE.

 Man muss sich fragen, warum und wie ist der Stärkere zu seiner Stärke gelangt?

 Meist geschah dies ganz profan durch Eroberungen, durch die nackte Gewalt, durch die Benachteiligung anderer. Durch die Gier nach Macht und Reichtum. Denkt man an den früheren Kolonialismus der europäischen Staaten, so wird sonnenklar wie die wirtschaftliche Stärke, die „Zivilisation“ sich formierte und entwickelte, sich zur Weltpolizei und zum Bestimmer, was gut ist, selbst ernannte.

 Die Historie zeigt, wie immer wieder Menschen versuchen, sich über alle anderen zu stellen und zu versuchen zu diktieren, was für andere gut sei. Es gelingt ihnen nur, wenn es ausreichend Helfer gibt. Selbige sind stets zur Hand und brauchbar, wenn sie ebenfalls profitieren.

 Wir wissen, dass Weltmächte nicht ewig herrschen. Imperien bröckeln und zerfallen. Der Prozess ist von unglaublichem menschlichem und materiellem Sterben begleitet, Errungenschaften gehen zu Bruch und verschwinden. Die gesammelten Weisheiten, die Kunst und Kultur, die Identitäten der Völker werden vernichtet. Als wenn die Welt nicht genug durch Naturkatastrophen zu leiden hätte. All das nehmen diejenigen in Kauf, die vorgeben zu wissen, was gut sei.

 Man kann einfach alles nachlesen. Die Geschichte beweist, dass im Grunde keiner weiß, was für andere dauerhaft gut ist. Im Einzelfall vielleicht ... aber für ein ganzes Volk, für eine Kultur? Hier wird es meines Erachtens sehr problematisch, Rezepte zu verteilen, geschweige denn ungewollt und gebeten fremde Lebensart überzustülpen. Wer möchte sich schon die Lebensart und Anschauung anderer Menschen diktieren lassen? Im Großen klappt es nicht und im Kleinen natürlich auch nicht.

 Wie verhält man sich aber, wenn Hilferufe erschallen, wenn in einem Land das Volk von der eigenen Regierung drangsaliert und schließlich mit Mord und Totschlag belegt, mit Krieg überzogen wird?

 Die große Frage tut sich auf, was ist Einmischung und was ist Hilfe? Wie könnte eine Hilfe überhaupt aussehen?

 Meist läuft es auf Waffenlieferungen und Kriegshandlungen hinaus und Datenaustausch!

 Gibt es überhaupt uneigennützige Hilfe für in Bedrängnis geratene Völker? Was sind die Konsequenzen für alle und was kommt danach? Muss der Hilfeempfänger sich nun sagen lassen, was gut für ihn sei? Quasi aus Dankbarkeit?

 Viele Fragen, viele Meinungen. So entsteht natürlich eine schier endlose Debatte, währenddessen die Hilfsbedürftigen weiter sterben. Sie quälen sich mit dem Versuch, denjenigen zum Teufel zu jagen, der ihnen diktieren wollte, was gut für sie sei.

 Danach kommt der Nächste, der ihnen genau das sagen wird. Ob es wirklich gut ist für sie, wage ich zu bezweifeln.

Eines Tages kam ein Brief vom MdI (Ministerium des Innern), die Postfrau übergab ihn mir an einem Samstag mit bedeutsamer Miene. Mir wurde schlecht, ich drehte ihn erst hin und her, legte ihn auf den Tisch und beobachtete ihn argwöhnisch als wäre es ein Ungeheuer, was jeden Moment nach mir greifen würde. Das Gefühl, welches mich nun beschlich, war alles andere nur nicht hoffnungsvoll. Der Brief strahlte Unheil aus, bildete ich mir ein, was natürlich nur meine blühende Fantasie bewirkte. Ich wagte ihn nicht zu öffnen, er war an das Ehepaar gerichtet, also ließ ich ihn liegen, wollte warten bis er zu Hause erschien. Er würde am Mittag von der Schicht kommen.

Schließlich kam er auch und öffnete den Brief, er enthielt eine unbegründete Ablehnung:“ Ihrem Antrag wird nicht entsprochen….mit sozialistischem Gruß“.

 Im Anschluss entwickelte sich eine scheußliche Szene voller Schuldzuweisungen, was meine Fähigkeit betraf, einen derartigen Antrag durchzuboxen und mit mir wäre es überhaupt total langweilig, ich würde nur die Arbeit im Schädel haben. Wieso ich überhaupt für diesen Staat so emsig arbeiten würde und ob ich die abgelegten Klamotten meiner Bekannten und Verwandten aus dem Westen mein Leben lang weiter tragen wolle, wie ich mich nur mit den beschissenen Apfelsinen aus Cuba zufrieden geben könne und überhaupt, ich wäre zum Scheißen zu dämlich, er würde jetzt erst mal saufen gehen und sich was Besseres einfallen lassen.

Er laberte auf diese Weise mich noch eine Weile voll, war für keine Argumentation aufnahmefähig. Dann kamen noch Drohungen wie, er würde jetzt alles in die Hand nehmen und könne noch ganz anders mit mir umspringen, wenn ich noch einmal das Maul so voll nehmen würde, wie es die Studierten immer tun würden. Er wüsste zu Genüge darüber, die Sesselfurzer wären einfach unfähig zu leben.

 Mir war das alles zu blöd, ich sagte gar nichts mehr, saß nur da und hoffte er würde endlich verduften, war insgeheim froh, dass der Brief eine Ablehnung enthielt. Ich hatte alles so satt. Zu allem Unglück musste ich anfangen mit dem mir eigenen Geheule. Tränen sind aber der Tod, man wird hässlich und total unfähig, einen vernünftigen Ton raus zulassen. Ich hasste mich, wenn er meine Tränen sah. Außerdem setzte ich mich nicht zur Wehr, verteidigte mich nicht im Geringsten, ich fühlte mich als Versager, war auch eingeschüchtert, ratlos. Ähnliche Auftritte spielten sich zwischen uns schon des Öfteren ab, jedes Mal endete es so. Ich hatte die Schnauze voll, wollte weder mit der Staatsgewalt weitere Auseinandersetzungen, noch mit meinem Mann. Dem konnte ich irgendwann entgehen, der Überwachung nicht. Ich ignorierte sie.

 

Mensch im Glas

Von Cecilia Troncho

 

Der Forschergeist des Menschen hat seit dem Mittelalter – einer Zeit voller Geheimnisse, Geheimbünde (wie z.B. die katholische Kirche) und Magie – das Zeitalter der Aufklärung geboren, die Technologie entwickelt, das wundervolle Internet gewoben.

 In unserer Zeit – genannt die „Zeit der ewigen Jugend“ – hat sich der Forschergeist in Geheimbünde zurückgezogen, die landläufig „Geheimdienste“ genannt werden.

 Hier dienen die Aufklärer den Machtbestrebungen ihrer Auftraggeber, die Ausgespähten bezahlen die Musik. Sie erklingt in den Sphären, in denen nichts verborgen bleibt.

 So wie Gunther von Hagen Toten die Haut vom Leibe präparierte, um ihr Innenleben der staunenden Welt zu präsentieren, wird uns bei lebendigem Leibe das Gehirn angezapft; die Schmerzensschreie halten sich in Grenzen.

Denkt doch der einfache, brave Mitbürger, er habe nichts zu verbergen. Er verhält sich doch gänzlich systemkonform, gibt sich dem beworbenen Kaufrausch hin und hinterlässt auf Schritt und Tritt seinen Daten-Fußabdruck, der gierig aufgegriffen und in ein wie auch immer geartetes Raster eingefügt wird, das ihn in aller Unschuld zur Strecke bringen kann.

 Der gläserne Mensch glänzt wie die frisch lackierte Karosserie seines Vehikels; die pulsierenden Blutströme interessieren nur, solange sie ihn in seiner Eigenschaft als Produzent und Konsument am Leben erhalten, für’s Herz gibt es ab und zu eine Fürstenhochzeit, einen neuen Thronfolger oder eine Folge von Rosamunde Pilcher.

 Seine Gedanken, eh schon von den Medien gegängelt und von der Religion vergiftet, können nicht undifferenziert genug sein, um das Interesse der Dienste zu verdienen. Seine ach so seltenen Geistesblitze lassen wenigstens die Augen der Staatsdiener aufblitzen, selbst sein gesunder Menschenverstand gibt der Rasterfahndung Futter. Er bekommt damit die Bedeutung einer Ameise im großen Bau des großen Bruders.

 Es ist 6 Uhr morgens. In die Stille des taufrischen Tages bricht ein hartes Klopfen, die Tür bebt in ihren Angeln. Ein Schuss in’s Schloss lässt es zersplittern. Der Flur ist voller schwarzer Gestalten, den Kopf vermummt, die schusssichere Weste über die muskulöse Brust gespannt, die Waffe im Anschlag.

Schlaftrunken und mit berstendem Herzschlag fährt der Bierbrauer in die Höhe. Er blickt in die Mündung eines Automatikgewehrs.

 Gerade vor einer Woche ist er aus seinem Urlaub zurückgekommen, in dem er seinen Stress abgebaut hatte. Diesmal – er hat schon fast die ganze Welt gemacht – war er vier Wöchelchen in Südkorea, besonders günstig im Preis-Leistungsverhältnis. Man hatte so viel von Nordkorea gehört – da hat er einen organisierten Busausflug an die Grenze gemacht und mit dem Binokel über den Zaun geblickt – ganz so, wie dereinst in’s andere Deutschland. Sonst war da nur Bier, Bardame und Gesang gewesen, und die Spesen. Aber kein Vergleich! Junges Blut, so sah es aus. Unschuld? Die haben’s drauf für mein Kanonenrohr! Mädchen, die wenigstens dankbar sind für die Großzügigkeit, weil sie damit die Familie unterhalten. Man tut also noch was für die Menschheit.

Was soll daran falsch sein? Das tun doch alle; er hatte prompt seinen Kollegen in der Chambre séparée getroffen, sie hatten sich die Klinke in die Hand gegeben.

 Was er nicht weiss und nicht ahnen kann, ist, dass der Kater, der ihm neulich zugelaufen war, ein ‚ceylonesischer Tiger’, den Endverdacht auf ihn gelenkt hat. In Ceylon sind Separatisten am Werk, die zum Teil von Untergrund aus agieren.

 Er wird im Schlafanzug, ungewaschen, mit seinen stinkenden Mundgeruch und seinen Bartstoppeln, abgeführt. Sie haben ihre Methoden, alles aus ihm herauszubekommen, selbst das, was er nicht getan hat. Spionage, Gegenspionage: die Daten werden ausgetauscht, verkauft. Blutgeld ist immer erst mal Geld.

Das Verhör

Von Lothar Gunter

 

Ich erinnere das Verhör, das Ende der siebziger Jahre zu früher Stunde in den Räumen des Hauptsitzes der französischen Polizei am Seineufer in Paris stattgefunden hatte. Zwei BKA-Beamte waren aus Wiesbaden angereist, um, wie es geheißen hatte, „mit mir zu sprechen“. Die französischen Inspektoren hatten mich morgens um sechs von meiner damaligen Wohnung am Place de la République abgeholt. Wie ich später erfahren sollte, hatten sie mich schon seit Tagen im Visier und meine Nachbarn (jüdische Ledergerber) und meine alte, vom Treppenwischen krumme, portugiesische Concierge nach mir ausgefragt.

Nun saßen die beiden jungen, schmuck gekleideten Männer rechterhand neben dem französischen Kommissar mit seinem verknüllten Anzug. Ich hockte den dreien auf einem ungemütlichen Holzstuhl gegenüber; eine mittelalterliche Französin, die die Übersetzung der deutschen (!) Fragen ins Französische an mich übernahm (ich musste den deutschen BKA-Leuten auf Französisch antworten), hatte neben mir die Beine übereinander geschlagen und notierte Stichworte auf einen Stenoblock.

‚Da haben sich die beiden Burschen auf Staatskosten eine Reise nach Paris gegönnt’, war es mir durch den Kopf gegangen, und ich dachte ein wenig besorgt an meinen leeren Schreibtisch bei Siemens, wo ich während des Studiums eine befristete Stelle als Schwangerschaftsvertretung inne hatte. Der französische Kommissar hatte mir versichert, meinen Arbeitgeber über die Gründe meiner Abwesenheit unterrichtet zu haben. Na klar, den hatten sie auch nach Informationen über mich abgegrast.

Das umständliche Verhör (eine deutsche Frage an mich, deren Übersetzung ins Französische, meine französische Antwort, deren deutsche Übersetzung) war langatmig und lustig gewesen. Bei einigen deutschen Fragen hatte mich die Übersetzerin sogar um Hilfe gebeten, da ihr einige der verschachtelten Fragen insbesondere des jüngeren der deutschen Beamten zu Recht grammatikalisch gewagt vorgekommen waren.

Die längste Zeit hatten die „Angaben zu meiner Person“ eingenommen. Die beiden BKA-Leute hatten einen Aktenberg aus Wiesbaden mitgebracht (geschätzte 50 cm Dicke), in dem Einzelheiten meines Lebens dokumentiert waren, die selbst meiner Erinnerung entgangen waren. Schulzeit, Beruf des Vaters, der meiner Brüder, alle Wohnadressen der Eltern (von Beginn an), meine Lehrzeit in Gelsenkirchen, Gymnasium in Frankfurt, Demos gegen den Vietnamkrieg, die verschiedenen Wohnadressen samt Mitbewohner/innen, seit ich das Elternhaus mit siebzehn Jahren verlassen hatte. Sehr gute und umfassende Recherchen, ich war verblüfft gewesen. Ich habe später nie erfahren, ob auch meine Eltern und Brüder für Auskünfte herhalten mussten. Ich denke nicht, sie hätten es mir gesagt, obschon eine Bemerkung meines ältesten Bruders, unsere Mutter hätte jeden Tagesschauabend mit einem Fahndungsbild von ihrem jüngsten, in „der Fremde abtrünnigen Sohn“ erwartet, mich stutzig gemacht hatte.

 Der eigentliche Reisegrund der beiden Burschen – mein Name und meine Telefonnummer standen im Adressbuch einer an der kanadischen Grenze verhafteten Frau – war schnell erklärt. Ein gemeinsamer Espresso an dem Tresen des Bistros Saint Paul an der Bastille, sie Deutsche, ich Deutscher, sie suchte einen Job, ich hatte die Adresse einer Agentur für Studentenjobs. Viel Glück. Und das war’s. 20 Minuten im Ganzen, ja, natürlich hatte sie meinen Namen und meine Telefonnummer notiert, für den Fall des Falles. Unter Deutschen (so zahlreich nicht zu jener Zeit) sollte man sich helfen.

Mehr war aus mir beim besten Willen nicht heraus zu holen. Denn ich wusste nicht mehr, hatte auch keinen Anruf von ihr bekommen, und in meinem zerfledderten Notizbuch stand sie nicht vermerkt (erst sehr viel später sollte ich erfahren, was es mit dieser Frau auf sich gehabt hatte. Kurzgefasst: Als Mitglied des sogenannten Heidelberger Patientenkollektivs hatte sie automatisch auf der Fahndungsliste der gesuchten RAF-Mitglieder gestanden. In einem späteren Prozess war sie freigesprochen worden. Ein offener Brief von ihr an den damaligen Innenminister – vom Stern veröffentlicht – beleuchtete recht gut das Klima, das zu jener Zeit – von M. von Trotta bezeichnend mit den „bleiernen Zeiten“ umschrieben – geherrscht hatte).

Das alles war zwar mit einigen Unannehmlichkeiten für mich verbunden gewesen. Noch Tage nach dem Verhör hatte die französische Polizei im Rahmen der Amtshilfe für die deutschen Kollegen meine Beschattung fortgeführt; meine krumme Concierge hatte mich, wenn ich an ihrer Loge meine Post abholte - sie weigerte sich seit der Befragung durch die Polizei, meine Briefe auf die Fußmatte vor meine Wohnung zu legen – schräg angeguckt; der Krämerladen in meiner Straße bestand plötzlich auf Barbezahlung, statt wie vorher alles auf einen „Monatszettel“ zu schreiben; mein Arbeitgeber Siemens – in der Person des Abteilungsleiters, eines deutschen Legionärs mit Händen wie Bratpfannen (fast alle Führungspositionen bei Siemens in Frankreich waren damals von ehemaligen Legionären besetzt) hatte meinen Bericht mit einem lauten „Haha“ kommentiert (und mir einen Fehltag vom Gehalt abgezogen).

Im Grunde fand ich diese kleine Episode bereichernd – wer von uns Lebenden kann schon behaupten, einen ganzen Tag in den Räumen des berühmten Kommissars Maigret verbracht zu haben (ich war ein begeisterter Simenon-Leser gewesen)?

 Ich bringe dies alles zu Papier, weil ich mich angesichts der aktuellen Debatte über die globale Überwachung frage, was in einer derartigen Situation heute passiert wäre. Handys hatte es damals nicht gegeben; Internet und Computer auch nicht (von den tonnenschweren, schrankgroßen IMB-Maschinen der gewaltigen Rechenzentren abgesehen), ebenso wenig GPS.

Hätten die BKA-Beamten mehr über mich in Erfahrung bringen können? Sie wussten doch schon alles, ja mehr noch, als ich selbst über mich in Erinnerung behalten hatte.

 Ich bezweifle, dass es die damaligen Spielregeln (niemand durfte auf französischem Boden souverän von der deutschen Polizei verhört werden, daher das umständliche Übersetzungsverhör) heute noch gelten. Sicherlich wäre der Kreis derer, die in diese amtliche „Recherche“ mit einbezogen würden, größer. Meine „Chat-Freunde“ auf Internet, meine Handyeinträge, kurz: alle jene, die irgendwann und irgendwie mit mir in Verbindung gestanden haben oder stehen, wären unter die Lupe genommen worden.

 Ich denke, dass die BKA-Neugierde damals nach den ergebnislosen zusätzlichen Beschattungstagen durch die französische Polizei schnell ad acta gelegt worden war. Das heißt, dass der von mir gesehene Aktenberg (die besagten 50 cm Papier) heute irgendwo in einem Wiesbadener Archiv vor sich hin schläft und Staub fängt (vielleicht sogar geschreddert worden ist).  

Wie aber wäre es unter heutigen Bedingungen? Wahrscheinlich gäbe es mich auf ewig als Datei, jederzeit abrufbar, einsichtbar, verknüpfbar mit ähnlichen Verdachten und Vorkommnissen.

 Nehmen wir an: auf einer meiner zahlreichen Dienstreisen in die Hauptstadt Marokkos hatte ich Abelkadir kennengelernt. Ein Marokkaner mit einem Deutschen Pass, einem Ingenieursdiplom der Technischen Hochschule in München, verheiratet mit einer Deutschen. Als Junggeselle hatte er in München die Sau rausgelassen, bis ihm eines Tages seine jetzige Frau begegnet war, ihn die Läuterung überkam, mit ihr die totale Verschleierung seiner Gattin und der Wunsch, mit ihr und den mittlerweile zwei Kindern nach Hause nach Marokko zurückzukehren, wo er seinen Glauben freier leben könnte (diesen Mann und diesen Lebensverlauf gibt es tatsächlich). Ich bin ein neugieriger Mensch, unterhalte mich als Agnostiker liebend gern mit Andersgesinnten, habe auf Amazon „Das Leben des Propheten“ und eine französische Fassung des Korans gekauft, um nicht als tumber Dümpel in ein Land zu fahren, deren König der oberste Hirte aller Islamgläubigen ist.  

Abdelkadir, dem die zunehmende Europäisierung seines Landes missfällt, mag die Gespräche mit mir. Irgendwie scheinen sie eine Herausforderung zu sein für ihn – ein nativer Europäer, der Jesus auf der islamischen und christlichen Seite kennt, der den morgendlichen Muezzin-Gesang mag (was der Fall ist), aber jegliche Konzeption von der Existenz eines Gottes weit von sich weist.

Er hat ein weit gespanntes Netz an marokkanischen Freunden, die im Ausland, nicht nur in Deutschland, ansässig sind Bis hierhin ist alles stimmig. Jetzt kommt’s.

Eines Tages wird einer von Abdelkadirs Freunden verhaftet. Verdacht auf eine islamische, terroristische Konspiration. Im Computer dieses Freundes befinden sich Emails von Abdelkadir, der sich in ihnen deftig über die geplante Freihandelszone mit den USA auslässt, in die Marokko in Bälde aufgenommen werden soll.    

Der Schritt von Abdelkadir zu mir ist klein. Sechzig Aufenthalte in Marokko in den letzten Jahren, unter dem Vorwand geschäftlicher Missionen. Eine Freundin mit tunesischen Wurzeln, die Amazon-Bücher, mein offenkundiges Interesse für die Islamische Religion. An mir muss was dran sein, meinen die, die um unsere Sicherheit besorgt sind.

Ich bemerke von all dem zunächst nichts. Sicher, zu ungewohnter Stunde kramt es in meinem PC, ich vermute ein automatisches Update meines Betriebssystems. Als ich, weil ich etwas vergessen hatte, erneut in den Müllraum zurückgehe, wo ich Minuten vorher meinen Abfallbeutel abgelegt habe, ist dieser verschwunden. Mein Handy, welches ich in der Regel vor dem Zubettgehen ausschalte, ist morgens hellwach. Ich bekomme seltsame Anrufe, jemand erwartet eine Firma für Ersatzteile am anderen Ende, ein anderer das Arbeitsamt, ein Erhebungsinstitut möchte mich überreden, einen Stick an mein TV-Gerät zu stöpseln, damit ich zu denen gehöre, an denen Einschaltquoten gemessen werden. Das bislang dunkle Auge der Webcam am Bildschirm meines Computers blinkt, so oft ich auch auf die Ikone mit dem Befehl „desaktivieren“ klicke. So einiges geht durcheinander bei mir, es beunruhigt mich nicht sonderlich, mir fällt es nur auf. Serge, der Tabakwarenhändler nebenan, ist seltsam zurückhaltend. Sonst war er stets für einen kurzen Snack aufgelegt, jetzt zeigt er sich kurz angebunden und schiebt mir die Zigarettenschachtel über die Theke, ohne mich anzusehen. Meine Nachbarin, die auf den Fahrstuhl wartet, nimmt grußlos die Treppe, als ich mich zu ihr geselle. Kurz – ich bemerke, bei mir tut sich etwas, ich werde wohl „observiert“. Grimmig setze ich mich an den PC und beschreibe, wie ich damals von BKA-Beamten in Paris verhört worden war.  Um den Bogen vom Damals ins Heute zu spannen, erinnere ich mich an Abdelkadir, diesen fünfundvierzigjährigen Fundamentalisten mit Oktoberfestvergangenheit. Ich erfinde eine Geschichte, wie es hätte sein können, wenn einer seiner Freunde im Ausland festgenommen wäre, sie auf Abdelkadir und so an mich kämen. Ich lehne mich zurück und denke an den Schluss dieser an den Haaren herbeigezogenen Geschichte. Ich denke an ein Happyend, unter dem Motto „außer Spesen nichts gewesen“. Bis mir tatsächliches eines einfällt. Erneut über die Tastatur gebeugt, halte ich erschrocken inne. Jemand hämmert an meiner Wohnungstür. Sie sind schon da. So hatte ich es mir nicht vorgestellt.

Kennkarte

Von Conrad Cortin

 

Seitdem man die maschinenlesbaren Kennkarten eingeführt hat, ist jeder von uns für die Behörden ein offenes Buch. Die Charaktereigenschaften sind unsichtbar auf der Kennkarte codiert. Sie wissen alles über einen, sie kennen einen mehr als man sich selbst.

Spätestens alle fünf Jahre muss man sich einem psychologischen Test unterziehen, dann werden die Daten auf den neuesten Stand gebracht. 

Als schlimmster Makel gilt Antriebslosigkeit. Und diesen Vermerk wird man sein Leben lang nicht mehr los. Die Antriebslosen, die Faulen, die Bequemen, die Trägen passen nicht ins Bild, sie unterscheiden sich gravierend von all den dynamischen Persönlichkeiten in den Büros. Ihre Redeweise ist schleppend und stockend. Sie können noch so sehr stillhalten, sich an ihrem Schreibtisch festklammern, je langsamer sie sich bewegen, um so mehr kennt man sie aus der allgemeinen Hektik heraus. 

Schon während der Schulzeit werden sie auffällig, besonders in der Turnstunde, da sie nur im Schneckentempo vorwärts kriechen und sich wie die Faultiere an die Turnstange klammern.

Als Erwachsene blättern sie in Journalen, statt in Akten zu wühlen, kosen am liebsten mit Katzen und schlafen wie Katzen 16 Stunden.

Selbst der Pfarrer verzichtet auf solche Schäfchen, da sie während der Sonntagspredigt pennen. Anscheinend ist kein Kraut gegen diese ihre Eigenheit gewachsen. Selbst probate Hausmittel, die sonst gegen alles gut sind, versagen.  Lediglich wenn Mutter Krapfen bäckt, leuchten die Augen des Antriebslosen auf und er stimmt ein Freudengeheul an. Aber der Temperamentsausbruch ist schnell verpufft. Mit einem zufriedenen Lächeln, das auf seinem Gesicht stehen geblieben ist, sackt er in sich zusammen und überlässt sich wieder seinem Müßiggang.

Ob es sich um eine Krankheit handelt oder um eine innere Einstellung, das ist wissenschaftlich noch nicht abgesichert. Vermutlich gibt es aber einen Erreger.

Der Umgang mit den Betroffenen ist jedenfalls riskant. Man geht ihnen besser aus dem Weg, abgesehen davon, dass man leicht über sie stolpern könnte, da sie überall herumlümmeln. Mancher Sozialhelfer wollte ihnen auf die Sprünge helfen, sie aufrütteln, machte sich für sie stark, und wurde am Ende selber schwach. 

Auch manche Demonstranten, die einen Antriebslosen am Wege lagern sahen, wurden angesteckt. Mitten während der schönsten Demonstration hielten sie inne, Transparente glitten ihnen aus den Händen. Sie vergaßen, worüber sie aufbegehrten, schlugen sich in die Büsche, schlenderten zum Bachufer rüber und verträumen von da an die Tage.

Diskussion auf dem Sofatorium

Lothar

 1)Edward Snowden

Kürzlich habe ich die Diskussion über die massive Datenüberwachung bei Maybrit Illner verfolgt. Das Thema erscheint auch in fleißiger Beständigkeit in den deutschen Nachrichten, entweder als Soap, die auf dem Moskauer Flughafen stattfindet (wo ist er, was macht er, wohin will er und wie wird er das machen?), oder als Karikatur deutscher Politiker, die nichts wussten und sich alle Mühe geben, glaubwürdig empört zu wirken.
Hier in Frankreich scheint sich das Thema verflossen zu haben. Wegen dem Sommerloch (im Juli und August läuft hier zwischen wenig und gar nichts), aus fehlendem Interesse der Öffentlichkeit, oder weil Frankreich diesbezüglich selbst allerhand Dreck am Stecken hat und es, getragen vom mitwissenden Schweigen der Medien, vorzieht, sich in Diskretion zu üben. 
Fest steht, dieser Edward Snowden stört. Nicht, weil er uns mit Informationen über Haarsträubendes überrascht und nun der Missgunst ausgesetzt ist (der Überbringer schlechter Nachrichten ist ja selbst häufig in Gefahr). 
Nein, sondern a) weil er uns etwas sagt, was alle schon irgendwie wussten, nun aber gezwungen sind, Stellung zu beziehen; b) weil niemand etwas an dieser globalen Überwachung zu ändern vermag. 
Sicher, irgendwann wird es Lippenbekenntnisse und Versprechungen geben, die die Wogen glätten sollen. Da die Überwachung jedoch von Geheimdiensten durchgeführt wird, sie also geheim ist, wird es aller Wahrscheinlichkeit nie jemals die Möglichkeit geben, diese Versprechungen auf ihre Umsetzungen hin abzuklopfen.
Also Demokratie, Rechtsstadt, Grundgesetz und Republik adé? Oder uns vom Computer, vom Internet, vom Handy, vom Festnetz, vom GPS trennen und künftig wie Ben Laden in Pakistan mit Cowboyhüten auf die Strasse gehen (jetzt bin ich sicher, dass mich ein amerikanischer Trigger, der auf solche Stichworte scharf gemacht ist, erfasst), damit uns die Satelliten nicht erkennen? 
Warum sich aufregen, wenn wir nichts zu verbergen haben?, ist das häufige Gegenargument (ich lass mal die Wirtschafts- und Militärspionage außen vor, in diesen Bereichen besteht offenbar öffentlicher Konsens, dass man sich nicht in die Karten schauen darf).

Wer verdammt sagt denn, dass ich als Privatperson nichts zu verbergen habe oder nichts verbergen will? Wer will mir das Recht absprechen, meine kleinen oder großen Geheimnisse zu haben? Meine Vorlieben und Neigungen, meine Ansichten und Vorstellungen von dem Heute und wie zB eine Gesellschaft morgen aussehen könnte oder sollte.
Das Ärgste, was uns mit solchen Phänomenen passieren kann, ist, dass die äußerliche Überwachung auch bei uns drinnen im Kopf stattfindet, und die Schere, mit der wir uns beschneiden, tatsächlich dazu führt, nichts Eigenes, nicht Geheimes, Vertrautes mehr haben, über das wir uns nur mit engsten Freunden und unseren Lebenspartnern austauschen möchten.
Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt. Es liegt an uns.

 2) Immer keiner, immer feiner
. Drohnen werden zur Terrorbekämpfung eingesetzt. Wir kennen die Bilder von diesen dunklen, mit Augen und Waffen ausgestatteten Ungetümen, die unbemannt Gelände überfliegen und aus Distanz mittels einer Fernbedienung dieses oder jenes Ziel zerstören.

Was als militärische Nutzung begann, allein schon fragwürdig genug, schwappt zur zivilen über: amerikanische Sheriffs statten ihre Dienststellen mit ferngesteuerten Bonsai-Hubschraubern aus, um mit ihnen auf Verbrecherjagd zu gehen, sie in die Verkehrsüberwachung zu schicken oder unbemannt Brandherde über Waldgebieten auszumachen. 
An Anwendungsbereichen (nur von unserer Fantasie begrenzt) mangelt es nicht, der Markt scheint immens. Die Dinger werden immer sophistischer, immer leiser. Vorbei die Zeit, wo selbstgebastelte Hobbyflugzeuge mit dröhnenden Zweitaktern über unseren Köpfen knattern und mit ihrem Benzingestank vornehmlich Jungen- oder Männerherzen höher schlagen lassen. Man hört sie nicht mehr, und bald werden wir sie auch nicht mehr sehen. 
Denn das neueste Modell einer amerikanischen Firma – Marktführer in der Entwicklung derartiger Spione – hat die Größe eines erwachsenen Handtellers und die Form eines Kolibris. Bislang ist es nur mit einer Kamera ausgestattet (am Hals), aber es fliegt, den Anweisungen des Bedieners einer Fernsteuerung getreu. In der Luft ist es schwerlich von einem Vogel zu unterscheiden, es flattert und kurvt und landet – warum nicht? - auf der Brüstung unseres Balkons, um in unser Wohnzimmer zu spähen. Kilometerweit entfernt hockt der Fernbediener, die Augen auf einen Bildschirm gerichtet, und sieht, was ihn nichts angeht. Uns. 
Futuristisches Geschwätz? Wetten dass nicht?

 3) Faits divers – Lokalnachrichten

In einer südfranzösischen Kleinstadt nahe Orange hat ein achtundvierziger Ehemann mit seiner Schrotflinte seine Frau erschossen. Er habe nach fast zwanzigjähriger, nach eigenem Verlauten glücklicher Ehe gespürt, dass sie ein Geheimnis vor ihm habe. Er habe sie zunächst beobachtet, dann vergeblich zur Rede stellen wollen. Sie sei bei ihrer Beteuerung geblieben, er würde sich irren, Selbst unter Androhung der Waffe habe sie darauf bestanden, dass er sich nur etwas einbilde.
Doch der Ehemann sei sich seiner Sache sicher gewesen. Er kenne seine Frau in- und auswendig, und hier sei ein Irrtum ausgeschlossen. Sie verheimlichte ihrem Gatten etwas, und da sie nicht gestehen wollte, um was es sich handelte, habe er gemeint, das Geheimnis könne sich nur gegen ihn richten.

 

 Helga

 Snowden hat ja nun doch einen Asylantrag nach Russland gestellt. Ich denke als Übergangslösung, um endlich aus dem Flughafen rauszukommen. Im Guten, ohne Pass würde er kaum nach Südamerika fliegen können. Aber ist Putin verlässlich für ihn? Mir beginnt dieser mutige Snowden allmählich ziemlich leid zu tun.
Unser Friedrich startet absehbare Luftnummern und verteidigt Prism. Peinlich! Ich hoffe, man watscht diesen Innenminister ordentlich ab. Man muss sich für solche Leute schämen. 
Der gläserne Bürger ist schon lange erschaffen. Mancher zeigt sich nun mit Krokodilstränen und will nichts gewusst haben. Wir werden ausspioniert und das schon lange, auch von den eigenen Institutionen, das ist meine Meinung. Scheiß auf den Rechtsstaat, auf die Demokratie und den Datenschutz. Jeder bespitzelt jeden!
Tja, und was die Drohnen angeht, diese Entwicklung wird nicht aufzuhalten sein, davon bin ich genauso überzeugt. Leider sehe ich alles ziemlich schwarz.
Unser "Drohnenkönig" wird, wenn er nicht mehr Minister sein kann oder darf, einen fetten Posten in der EU besetzen. Bei Steuergeldern ist man immer großzügig.
Die Leute werden immer verrückter. 3) und wittern Geheimnisse, wo keine sind...es wird geschossen. Vertrauen ist ein Fremdwort geworden. Wen wundert das noch.

 Ja, der gläserne Mensch, ein brandaktuelles Thema! Kann man hier noch optimistisch denken? Gerne können wir hier ein gemeinschaftliches Büchlein erstellen. Gibt es hier Blickwinkel? Oder ist der gläserne Mensch einfach eine bedrückende Tatsache?

 

 

Lothar 

 Wenn man sie, die „bedrückende Tatsache“, individuell betrachtet und sich die Frage stellt, welchen Anspruch an Durchsichtigkeit wir uns selbst und unseren Partnern stellen, kann das Thema über die Snowden-Thematik hinaus sehr interessant sein. 
Inwieweit sind wir ihnen gegenüber bereit, ihnen ihre Geheimnisse zu lassen (und umgekehrt – sie uns)? Darf es in einer Partner- oder Freundschaft eine „Privatsphäre“ geben, die nur „mich“ etwas angeht?
Das Thema habe ich nebenbei in einige meiner Beiträge eingebracht. Und ich erinnere mich an Kommentare von Dir, liebe Helga, die die „Geheimnislosigkeit“ gegenüber Bernd erwähnten. 
Ich könnte – ohne jetzt bewusst an etwas Bestimmtes zu denken – nicht von mir sagen, keinen mir eigenen, inneren Garten zu haben, der von niemandem bislang betreten worden sei. Irgendwo habe ich, glaube ich, sogar geschrieben, ein Geheimnis sei das Salz in der Suppe der Liebe. 
Jedenfalls würde ich mit Vehemenz mein Recht auf meinen Garten verteidigen und gestehe Gleiches meiner Partnerin zu. Dieser Garten steht im Gegensatz zu dem Anspruch (häufig liebevoll ausgesprochen): „Ich will alles von dir wissen.“ Manchen gilt dieser Satz gar als Liebesbeweis (unter dem Motto, er zeigt, wie wichtig du für mich bist).
Übrigens, bei den „Lokalnachrichten“, die ich aus der Erinnerung zitiert habe, ging es um (unbegründete) Eifersucht des Mannes.

 

Cecilia

 Zu 3) 
Dieser Mann hat eine Paranoia, glaube ich. Pathologisch übersteuerter Kontrollwahn, der in dieses endlose und tödliche Misstrauen mündete!


 Zu 1) 
Snowden tut mir sehr leid. Er wird lange Zeit auf der Flucht sein müssen, wenn er nicht sogar irgendwann irgendwo 'abgeknipst' wird - in dieser Hinsicht hat Russland sich ja doch einen Namen gemacht...
Von unserem Friedrich habe ich - ehrlich gesagt - nichts anderes erwartet, als dass er sich einbildet, mit unseren alten und treuen Freunden klar geredet zu haben. Es wird hierzulande kaum jemanden geben, der ihm das abnimmt. Und so ist ein weiterer Versuch von Frau M. gescheitert, die Sache herunterzuspielen.


 Zu 2) 
Die Drohnen! Sie und ihre 'Handhabung' ist bei weitem nicht so einfach und 'sicher', wie es dem Technikgläubigen scheint. Perfide ist, dass sie wie ein Spielzeug wirken.

 Helga

 Der gläserne Mensch, das ist in der Tat auch sehr interessant, wenn es uns ganz privat betrifft. Jeder hat hier persönliche Ansichten und Vorstellungen von sich und dem Partner. Für meinen Mann bin ich gläsern, behaupte ich, was nicht bedeutet, dass ich jeden Gedanken unbedingt ausspreche. Es gibt dabei ja so viel Unbedeutendes und Unausgegorenes. Aber hier ist auch alles eine ganz individuelle Wertung, auch eine Frage des Vertrauens. 
Geheimniskrämerei im negativen Sinne mag ich nicht. Auf alle Fragen kann ich in meiner Partnerschaft glücklicherweise offen antworten, wenn sie denn gestellt werden. Ein "Verhören" oder "Löchern" empfinde ich dabei nicht. Das würde ich auch nie tun. Es wäre grässlich. Eigentlich ist alles eine Vertrauensgeschichte.
Wem kann man heute noch trauen?

 

Lothar

 Zu 2) Die Kolibri Drohne gibt es wirklich. 
Eine Hubschrauber Bonsai-Drohne (ohne Waffen aber mit Kamera) kostet ca. 30.000 Dollar.
Die Europäer sind ganz gelb vor Neid und versuchen eifrig, dem Markt nachzuerfinden.

 Zu 3) „Pathologisch übersteuerter Kontrollwahn“ – das ist Prism auch. Ein Staat fühlt sich bedroht (11.9. Syndrom). Hat es nicht auch im neueren Deutschland mal Gesetze gegeben, die Grundrechte aussetzten, um der Sicherheit willen?

 Lokalnachrichten:
Ein Mann glaubt, seine Frau nur zu „besitzen“, wenn er ungetrübt durch sie hindurchschauen kann. Beim geringsten Schatten auf dem Röntgenbild gerät er in Panik. Abgesehen von der fatalen Schrotflinte ist dieser Fall verbreiteter, als gemeinhin angenommen.

Irgendjemand hatte in der Überwachungsdebatte gemeint, nur totalitäre Staaten bestünden auf einen durchsichtigen Bürger. Wenn dies stimmt (ich neige zu dieser Annahme), dann trifft dies auch auf den einzelnen Menschen zu und auf sein Verhältnis zu seinem Nächsten.

 

 

Helga 

 Also ich würde hier nicht vom totalitären Staat zum einzelnen Menschen und seinem Nächsten verallgemeinern. Ein Staat, also seine Führung, hat doch andere Interessen als ein Privatmensch, denke ich zumindest. Vielleicht müsste man auch ein wenig zu definieren versuchen. Was verstehe ich unter "gläsern" und was vermutlich eine Regierung?
Beispiel: Die Gefühle!
Interessiert sich ein Staat dafür? Kann ich mir nicht vorstellen. vermutlich ist dem überwachungswilden Staat völlig egal, was ich fühle, meinem Nächsten aber nicht.
Ich soll dem Staat nützen und nicht schaden, wie ich mich im Einzelnen dabei fühle, ist schnurz.
Also ich denke auch, wenn mein Nächster, nenne ich jetzt mal auch so, in Ruhe gelassen werden will, wenn er nichts sagen möchte, dann habe ich damit kein Problem, weil ich ihm vertraue. Ein totalitärer Staat vertraut seinen Bürgern nicht. Er möchte alles bestimmen. Das geht in der Privatspäre in der Regel schief.

 

 

 Cecilia

 Zitat Lothar: >nur totalitäre Staaten bestünden auf einen durchsichtigen Bürger<

Gilt das auch im Umkehrschluss, d.h. ist ein Staat, der seine Bürger ausspioniert, damit ein totalitärer Staat? Eine sehr interessante Frage angesichts des Spionier-Wahns der USA. "Totalitär" ist eben nicht nur auf eine Staatsstruktur anzuwenden, in der ein Despot, eine Einheitspartei o.ä. das absolute Sagen hat, sondern offensichtlich auch auf unsere großen, so freien Freunde. Hier hat der Geheimdienst freie Hand und kann seine Aktionen noch unter das Mäntelchen des Staatsgeheimnisses stellen. Wem sind diese Leute verantwortlich? Gibt es eine parlamentarische oder irgendwie sonst geartete Kontrolle dieser Dienste? Und wieso können sie länderübergreifend agieren und uns ausspionieren?

Zitat Helga: >wenn mein Nächster, nenne ich jetzt mal auch so, in Ruhe gelassen werden will, wenn er nichts sagen möchte, dann habe ich damit kein Problem<

Hier ist davon auszugehen: wie du mir, so ich dir. Auf der innermenschlichen Ebene sollte ich meinem Nächsten das zugestehen, was ich für mich selbst in Anspruch nehme. Im Verhältnis Staat (was als Begriff auch noch zu definieren wäre, denn der Staat besteht aus Menschen im Gewand seiner Führer und im Gewand seiner Bürger) scheint ein solcher Zusammenhang nicht zu existieren. Hier wird von übergeordneten Wichtigkeiten ausgegangen, mit denen man ebenso wie mit den Geheimnissen des Geheimdienstes argumentieren kann, ohne Konsequenzen ziehen zu müssen.

 

Helga

 Normalerweise sollten wir in einer Demokratie völlig frei diejenigen wählen, die unser Vertrauen genießen. Sie sprechen und handeln für uns. Das ist aber leider eine Mär und nur formal so. Wir wissen zu wenig und können auch gar nicht alles wissen, wir müssen vertrauen aber die Praxis macht uns dies immer schwerer. Vertrauen wir missbraucht, es wird gesülzt auf Teufel komm raus, um Wähler zu fangen oder sie in Sicherheiten zu wiegen. Die gläserne regierung gibt es nicht und wird es auch nie geben. Der Begriff Transparenz ist eine Farce. Man sagt nur so viel wie bewiesen werden kann und auch dann wird abgestritten. Wir kennen die Kandidaten nur zu gut.
Kurz, die schöne vertrauensvolle Gegenseitigkeit in Sachen gläserner Mensch oder gläsernes System gibt es vielleicht nur in den kleinsten Zellen und auch hier sind Geheimnisse vorhanden, die aber einen völlig anderen Charakter haben. Geheimdienste braucht es nicht auf diesem Sektor und doch sind manchmal Privatdedektive unterwegs. Wie hässlich!

Vielleicht muss man sich einmal fragen, ob der Mensch gläsern sein möchte, ob es nicht auch zum Menschsein gehört, sich Inneres zu bewahren, so wie Lothar es auch beschreibt: der innere Garten! Hier gibt es Schnittstellen: was sollte ich sagen, was nicht, wo werden Grenzen überschritten, wieviel Geheimnis kann das Vertrauen des Nächsten verkraften?

 

Cecilia

 Das ist gut, dass Du, Helga, uns das mitgeteilt hast.
Ich hatte schon einmal einen Zeitungsartikel gelesen, in dem beschrieben wurde, wie eine Handvoll unbescholtener Zeitgenossen, die mit ihren persönlichen Daten in ein (vom Geheimdienst definiertes) Raster geraten sind, große Probleme bekommen haben.

 

Helga

 Ja, das klingt wahrlich brutal...aber kann es nicht so kommen? Können wir nicht alle irgendwie verdächtig werden? Wenn man sich vorstellt, dass das SEK sich tatsächlich auch schon geirrt hat und einfach in die falsche Wohnung eingedrungen ist...eine Horrorvorstellung ist das alleine schon.

Man möchte damit nichts zu tun bekommen und doch kann es passieren. Hier braucht man wohl Glück, nicht "dran" zu sein. Geschützt wird man nicht. Sollten wir uns aber deshalb hysterieren lassen? Nein, das natürlich auch nicht. Was würde es auch helfen, ausspioniert werden wir trotzdem. Keiner kann sich so zurücknehmen, dass es nicht geschieht.
Was mich allerdings immer sehr ärgert, ist die Tatsache, dass uns unsere Regierungen stets im Unklaren lassen bzw. den Bürgern etwas vormachen, sich selber natürlich dabei ins rechte Licht setzend. Wenn gar nichts mehr geht, dann hat man eben nichts gewusst. Ein uraltes Lied! Das totalitäre System macht das fast unverhohlen, in der Demokratie wird es verbrähmt. Man verspürt Ohnmacht.

Ich glaube, liebe Cecilia, Deine Geschichte („Mensch im Glas“) ist ziemlich nahe an der Realität.

 

Lothar

 Totalitärer Staat und der gläserne Mensch. Hm, bei „totalitär“ denke ich nicht an ein pyramidales System, bei dem oben an der Spitze ein Führer hockt, und direkt darunter dessen Schergen und ganz unten die graue, entweder leidende oder mitlaufende Masse Volk.
Wir werden regiert. Von wem wir regiert werden, bestimmt unsere Demokratie. Aber ist diese ein Garant gegen totalitäre Machenschaften? Wir können demokratisch unseren eigenen Henker wählen. Morsi ist ein gutes, junges Beispiel. Und Hitler ist im Rahmen der damaligen demokratischen Spielregeln an die Macht gekommen. 
Demokratie allein genügt also nicht. Hinzu kommen müssen die Institutionen einer Republik, die zB den Rechtsstaat ermöglichen. Insbesondere den Schutz der Bürger vor Machtübergriffen- und Missbräuchen. Wenn er, der Bürger, grundlos ausspioniert und überwacht wird, von eigenen (deutschen) und fremden, ausländischen Organisationen, wo bleibt da der Schutz des Bürgers vor der Macht? Und wer hat sie, die Macht? In welchem Dienst steht sie? Wenn unsere verantwortlichen Politiker nichts wissen oder nichts gegen diesen Machtmissbrauch zu tun vermögen, womöglich selbst „Opfer“ dieser Macht sind, wird diese Vision der totalen Macht kafkaesk. Das macht sie totalitär. Wir wissen nicht, wer genau sie ist, welches Ziel sie anstrebt und was wir gegen sie tun könnten.

 

Cecilia 

 Totalitär ist, wenn sich eine Machtkomponente über Gesetze hinwegsetzt und keine Rechenschaft schuldig ist.
Die bundesdeutschen Politiker sind in diesem Falle wirklich "ohne Erkenntnisse", weil der große Bruder es nicht für nötig hält, sie von seinen Aktionen in Kenntnis zu setzen. Das sind alles Folgen des verlorenen (und angestachelten) Zweiten Weltkrieges und unsere 'treuesten Freunde' haben hierzulande noch immer gewisse Hohheitsrechte.

 

 

Lothar

 Aber es sind doch nicht nur die Amerikaner, die uns ausspionieren. Die Engländer, die Franzosen machen es auch, innerhalb der eigenen Grenzen und über diese hinaus, und die deutschen Geheimdienste ebenso. Alles auf den Zweiten Weltkrieg zurückzuführen, scheint mir zu kurz. 
Es ist so, als ob der „durchsichtige Mensch“ eine Normalität, ja ein Muss wäre. „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ hiess vor langer Zeit ein Buch (was ist in ihr, der Frau alles rumgestochert worden seitdem, im Körper, der Seele, dem Kopf, nur damit sie dem Mann fassbarer würde). „Dein Bürger, Dein unbekanntes Wesen“, das geht doch nicht. Der Staat kann sich doch nicht mit den vierjährigen Stimmzetteln zufrieden geben, an denen politische Meinungen abgelesen werden. Wie soll er denn dann über sie regieren?
Was mich an der omnipotenten Überwachung wundert – wie konnten bei ihr die Rechtsextremisten durch die Lappen gehen? Und warum wird sie nicht im großen Stil auf die Kapitalflüchtlinge angewandt, damit wir unsere zig Milliarden zurückbekommen und der immer mehr verbreiteten Armut endlich an den Kragen gehen können.
Ist die Überwachung doch nicht so perfekt, wie allgemein vermutet? Oder wird in die verkehrte Richtung überwacht?

 Helga 

 "Was mich an der omnipotenten Überwachung wundert – wie konnten bei ihr die Rechtsextremisten durch die Lappen gehen? Und warum wird sie nicht im großen Stil auf die Kapitalflüchtlinge angewandt, damit wir unsere zig Milliarden zurückbekommen und der immer mehr verbreiteten Armut endlich an den Kragen gehen können.
Ist die Überwachung doch nicht so perfekt, wie allgemein vermut
et? Oder wird in die verkehrte Richtung überwacht?"

Tja, das frage ich mich auch schon lange....sie sind nicht unwissend oder so unvermögend und hilflos...sie sind nur darauf bedacht, sich selber nichts zu tun bzw. für sich selber zu sorgen. Mir scheint, es wird tatsächlich einseitig überwacht. Kein Geheimdienst shreddert aus Versehen! Die Neonazis haben noch immer eine große Lobby, so kommt es mir vor.
Es geht immer nur um den Machterhalt und um Kohle zu scheffeln....Soziales gibt es gerade nur soviel, dass die Masse das Maul hält. Brot und Spiele, dann sind sie ruhig!

 

Cecilia

 Auch die Franzosen und die Briten gehörten zu den Siegermächten... Die Russen ebenso.

Der Fakt, dass Rechtsextremisten und Kapitalflüchtige unbehelligt agieren können (ich bin geneigt, das Präsens zu benutzen) zeigt, mit welcher Brille die Dienste arbeiten. Oder mit anderen Worten: welche Raster sie anwenden.

 Lothar's anfängliche Frage : "Thema für ein neues Buch ?" ist etwas in den Hintergrund getreten; deshalb möchte ich sie hier noch einmal in den Raum stellen. "Der gläserne Mensch" steckt in Jedem von uns, ist uns sozusagen übergestülpt worden, und es lohnt sich, darüber nachzudenken und sich eine Meinung zu bilden. Bildung ist alles !
Ich denke, ein lohnendes Thema.


 

Helga

 Der Meinung bin ich auch.

Alles, was gegenwärtig zu diesem Thema hochkommt, wird als Wahlkampfproblematik bewertet und damt meines Erachtens abgewertet und vom eigentlichen Thema weggeführt. Nämlich der Skandal der widerrechtlichen Ausspähung unbescholtener Bürger. Flächendeckender Generalverdacht ist m. E. ein Riesenskandal.

 

Lothar

 Vor einigen Tagen sind zwanzig Greenpeace Leute in das südfranzösische Kernkraftwerk Tricastin eingedrungen und haben das „bombensichere“ Sicherheitssystem eines solch explosiven Ortes lächerlich gemacht. Eine derartige Operation bedarf einer sorgfältigen und langen Vorbereitung und Abstimmung unter den Planern und Durchführenden, und natürlich sind hierzu die sogenannten neuen Medien benutzt worden, die, wie wir wissen, allesamt überwacht werden. Wie konnte es trotz dieser Überwachung zu einer solchen Aktion kommen?

Es könnten weitere Beispiele angeführt werden, die belegten, dass der „gläserne Mensch“ gar nicht so durchsichtig ist, es sei denn, er denkt und plant in „Mentalesisch“, und das, was die Überwacher sehen, wird nicht verstanden (der berühmte Code, anderweitig diskutiert).

Liegt es daran, dass a) die globale Überwachung dazu führt, dass vor lauter Wald keine Bäume mehr gesehen werden? Ist es so, dass ad hoc alles gespeichert wird, ungesehen, ungehört, und die Überwacher erst „nach der Tat“ das Gespeicherte analysieren? 
Oder daran, dass b) die Amerikaner informiert waren, von der Aktion also wussten, aber die Franzosen ins öffentliche Medienmesser laufen lassen wollten?

Wenn a) zuträfe, könnten wir trotz aller Entrüstung des Prinzips wegen die Achseln zucken und uns sagen, na, was soll’s, sollen sie doch filmen, aufzeichnen und abspeichern, solange sie da nicht reingucken (d.h. solange ich mir nichts „zu schulden“ kommen lasse), ist mir das egal. Bei b) könnten wir uns etwas beruhigter in unsere Sessel zurücklehnen, da die globale Überwachung in ihrer Effizienz durch die Konkurrenz der einzelnen Mächte und Staaten zu einem lächerlichen zerstückelten Spielzeug verkommt.

Warum ruft diese Überwachung bei uns Entrüstung hervor? Bei uns, die wir doch unbescholtene, steuerzahlende Bürger sind, die brav Parkuhren füttern und den Müll wie vorgeschrieben in die richtigen Eimer werfen? Was ist es genau, was uns wurmt?
Wenn es „nur“ darum geht, Irrtümer zu vermeiden (die Frau, die im Spotdrossel Baumarkt einen Hammer kauft und an deren Tür das SEK klopft; der Mann, der in Südkorea durchs Fernglas nach „Drüben“ schielt, und dem Gleiches widerfährt), dann könnten wir sagen, nun, die Überwachung ist noch nicht perfekt, sie muss verbessert werden. Das würde das Prinzip der globalen Überwachung an sich nicht in Frage stellen.
Also, was ist es, was uns so ärgerlich und entrüstet macht?

 

Cecilia

 Im Anschluss an Helga's Worte möchte ich fortfahren :

Wahlkampf im heissen deutschen Sommer. Alles wird auf den Wahlkampf heruntergebrochen, kein Thema ist vor ihm sicher. Auch nicht das Thema "Datenschutz", welcher ein demokratisches Grundrecht ist, das in unserer Verfassung geschützt wird. Man muss sagen: geschützt sein sollte.

Die Repräsentanten der verschiedenen Parteien machen sich flugs jedes Thema zueigen, das hochfloppt, um sich zu positionieren. Dabei kämpfen sie mit offenem Visier und zeigen damit, wie erbärmlich diese selbstbezogene Ausrichtung ihrer politischen Ideen ist.

Dieses ganze Theater ist eine Schmieren-Tragödie. Denn die Akteure haben sich des Königs Kleider umgeworfen und sind doch nur erbärmliche Befehlsempfänger des großen Freundes, des großen Bruders, der sie watscht.

Aus diesem Grunde dürfen sie auf keinen Fall auf der Höhe der Ereignisse sein, nie und nimmer selbständig agieren, geschweige denn : Ihr Volk gegen solche Angriffe schützen. Weil sie so die - nach ihren Worten nicht vorhandenen - Erkenntnisse nicht offenbaren können, schreiten sie zum Offenbarungseid. (Frau Merkel heute, 19.7.2013 auf der Bundespressekonferenz: "Mir ist es völlig unmöglich, eine Analyse von Prism vorzunehmen." (Quelle: SZ 19.7.2013)). Was ist das für eine Kanzlerin?

Aus demselben Grunde findet sich kein freiheitlich-demokratisches Land, das den Enthüller dieser erschreckenden Tatsachen aufnehmen würde; man will und kann es sich nicht mit den Amerikanern verderben. Diese nennen Snowden einen ‚Verräter’ und vergessen dabei, w a s er veröffentlicht hat; nämlich: eine illegale Abhörprasis.

Nun ist er auf Asyl im Lande des ‚lupenreinen Demokraten’ Putin angewiesen. Welche Schande!

Was aber meiner Meinung noch erschreckender ist, ist die Tatsache, dass es den deutschen Wähler nicht interessiert. 
Wo ich mich äussere, wo ich mich umhöre - ich bekomme auf meine Entrüstung immer wieder die Antwort: „Ich habe nichts zu verbergen.“ Ich kann diese Naivität, diese Subordination, dieses Kuschen, diese Willfährigkeit nicht verstehen. Und mir kommt ein Zerrbild davon in den Sinn: So ist Hitler an die Macht gekommen.

 Antwort an Lothar:


Gestern wurden in einer Razzia in Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz Wohnungen, Büros und Gefängniszellen von Mitgliedern der nationalsozialistischen Gruppe "Wehrwolf" untersucht, die auf terroristische Weise die politische Ordnung der BRD umstürzen wollen.
S i e haben ihre Internet-Kommunikation abhörsicher codiert, und so hatte man keine Handhabe gegen sie und musste sie wieder freilassen.
Wir aber werden ausspioniert...

 

 Helga

 Ja, Razzia! Donnerwetter und scheiß an die Wand. Die machen was gegen die braune Brut aber man hatte leider keine Handhabe.Doch sie unternehmen etwas. Toll! Sieht für mich schwer nach Aktionismus aus.

 Versuch einer Antwort zur ganz sicher berechtigten Frage von Lothar, was es wohl sei, was uns so entrüstet macht:

Empörung! Warum?

Ich bin unschuldig und habe nichts zu verbergen. Die meisten Menschen behaupten das von und über sich. Will man deshalb durchleuchtet werden? Nein, denn wir wünschen uns, auch eine Privatsphäre zu besitzen. So sind wir erzogen oder ist das gar ein ureigenstes menschliches Verlangen?

„Privatsphäre bezeichnet den nichtöffentlichen Bereich, in dem ein Mensch unbehelligt von äußeren Einflüssen sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnimmt. Das Recht auf Privatsphäre gilt als Menschenrecht und ist in allen modernen Demokratien verankert. Dieses Recht kann aufgrund des öffentlichen Interesses an einer Person oder zu Zwecken der Strafverfolgung eingeschränkt werden.
Der Schutz der Privatsphäre ist im deutschen Grundgesetz aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)[2] abzuleiten. Das besondere Persönlichkeitsrecht dient dem Schutz eines abgeschirmten Bereichs persönlicher Entfaltung. Dem Menschen soll dadurch ein spezifischer Bereich verbleiben, in dem er sich frei und ungezwungen verhalten kann, ohne befürchten zu müssen, dass Dritte von seinem Verhalten Kenntnis erlangen oder ihn sogar beobachten bzw. abhören können. Durch die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und durch das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) wird der Schutzbereich konkretisiert. Die Ausnahmen hiervon (Abhören von Telefongesprächen und Wohnungen) werden als Lauschangriff bezeichnet und sind ebenfalls gesetzlich geregelt.“

Die Privatsphäre ist also rechtlich verbrieft. Sie steht uns zu. Wir können auf sie pochen. Wir brauchen sie zur persönlichen Entfaltung, heißt es. Unsere Empörung ist demnach rechtens und sie kommt nicht von ungefähr, schon in der Antike war sie heilig allerdings nur für die Wohlhabenden, für die Freien, ein Sklave durfte keine Privatsphäre für sich beanspruchen. 
Im Zuge der Entwicklungen, respektive der technischen Möglichkeiten, werden die „segensbringenden“ Erfindungen immer häufiger zu Überwachungszwecken missbraucht. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet. Die Drohnen umschwirren uns und wir können nicht entkommen.

Eltern passen auf ihre Kinder auf, sie haben alle Augen wachsam auf sie gerichtet, was sie auch tun. Irgendwann möchte aber ein Kind nicht mehr, dass Mutti alles sieht und weiß. Es wünscht, selbständig und allein seinen Weg zu gehen. Mutti versteht das nicht immer, will sie doch nur Gutes. Sie wird allerdings irgendwann als Aufpasser überflüssig., denn ihr Kind ist erwachsen. Jede Überwachung stört das gute Familienklima. Das erwachsene Kind fordert, auch von den eigenen Eltern, die Wahrung seiner Privatsphäre ein. Wie könnte es sich sonst frei entwickeln?

Vielleicht wünschen wir uns deshalb als mündige Bürger auch keine Überwachung durch institutionelle, staatliche oder sonstige Behörden. Wir sind empört, weil wir nicht gefragt, weil wir wie Kinder behandelt werden, weil wir uns ausgeliefert sehen, müssen wir doch auf allen anderen Ebenen auch ohne Fürsorge auskommen. 
Die Angemessenheit der „höheren Sorge“, der angeblichen Sicherheitsgewährleistung scheint nicht gegeben zu sein. Die Werkzeuge sind zu scharf geschliffen, der Bogen überspannt.

 

Cecilia

 Sind wir wie Kinder, sind wir Sklaven? Die Privatsphäre ist nicht länger privat, da nutzen alle gesetzlichen Regelungen und alle verbrieften Grundrechte nichts. Und die Mehrheit nimmt dies hin! Es ist, als ob diese Allzeit-Gerechten, die nichts zu verbergen haben, in's eigene Nest scheissen würden und sich noch wohlig darin wälzen. Sie haben sich vielleicht gerade aus dem Fensterkreuz hinter der Gardine zurückgezogen, von wo aus sie die Nachbarschaft beäugt haben.
Helga, dass Du uns noch einmal die Grundrechte referiert hast, ist sehr gut. Unserer Kanzlerin ist es "unmöglich, eine Analyse von Prism vorzunehmen" - eine Analyse unseres Grundgesetzes würde reichen.

 

Conrad

 Die Diskussion über den gläsernen Menschen habe ich mit Spannung verfolgt. Das Thema löst bei mir schon seit langem Albträume aus. Und besonders die Speicherung von persönlichen Daten auf Ausweisen hatte mich schon vor Jahrzehnten mal zu einem Text inspiriert („Kennkarte“).

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.07.2013

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