Kapitel I : Gedanken von Helga
Wahrheit, Lüge und Weinseligkeit
Auslegbare Begriffe, die für jeden Menschen eine andere Bedeutung zu haben scheinen. Der Winzer will verkaufen, der Kunde möchte selig werden. Wie viel Wahrheit und wie viel Lüge siedelt sich dazwischen an? Keiner vermag das zu definieren und keiner würde ernsthaft einen Versuch starten, wenn es denn nicht zu einem Thema ausgeschrieben wurde.
Kommt man auf den Kern, wenn man versucht, die Moral einzubringen?
Wahrheit ist gut. Lüge ist schlecht.
Doch wie steht es mit der Weinseligkeit? Einige große Religionen preisen sie, andere verteufeln alles, was mit Alkohol zu tun hat. Selbst Menschen, die an nichts glauben, lieben die Weinseligkeit oder sie lehnen sie ab. Die Politik unterstützt sie, denn der Handel mit Weinen bringt schließlich Steuergelder, die Weinseligkeit wird billigend in Kauf genommen, auch wenn Jugendliche und andere sich ins Koma saufen mit Weinen aus dem Pappbehälter, auch „Pennerglück“ genannt, und Schäden entstehen, die schwer wieder gut zu machen sind. Der Wein als solcher ist nicht in Schuld, sondern das Zuviel.
Warum trinken die Menschen den Wein? Es mag viele Gründe geben, doch wie es aussieht, hofft man immer ein Quäntchen Seligkeit durch ihn zu erhaschen. Wahrheit und Lüge spielen in dem Zustand keine Rolle mehr, denn diese unendlich schwierigen Moralschwergewichte erdrücken den einsamen, hoffnungslosen oder stressgeplagten Menschen.
Die meisten Menschen wünschen sich die Leichtigkeit des Seins. Sie wird durch Wahrheit und Lüge vielfach unmöglich. Wer schnelle und unkomplizierte Hilfe verspricht, ist der Wein. Er schafft es sogar, falls der Mensch, im weinseligen Zustand befindlich, Grenzen zu erkennen vermag. Das ist schwierig, denn wer ist schon mit einem bisschen Seligkeit zufrieden?
Aufhören, wenn es am Schönsten ist? Das funktioniert nicht besonders gut, denn meist gilt in den Gefilden der Seligkeiten „Alles oder Nichts“. Die Wahrheit, die Lügen werden für ein paar Stündchen Seligkeit einfach weg getrunken. Man gönnt sich doch sonst nichts. Alle Kompromisse der Welt könnten in Weinseligkeit geschlossen werden. Falls es dazu kommt, zeigt das Danach wie viel sie wert sind. Wahrheit und Lüge stehen alsbald in voller Abscheulichkeit oder Schönheit wieder vor uns und genau das zwingt uns bald wieder nach der Weinseligkeit zu streben. Ach, ja.
Eine kleine Geschichte:
Weinmalerei
Während der Mann, der sein Auftraggeber werden sollte, über Wein sprach und Wasser trank, fühlte er in sich eine abgrundtiefe und trockene Farblosigkeit, welches für einen Maler ein absolutes Desaster ist. Man hatte ihm auch eine Flasche Wasser hingestellt. Er, der Maler sollte in einem Gemälde den Winzer, den Wein und Passendes, was auch immer es sein könnte, darstellen.
„Werden sie das hinbekommen?“, fragte gerade der Mann, nachdem er eine tiefen Schluck aus dem Wasserglas genommen hatte.
Der Maler nickte. „Selbstverständlich.“
Man hätte ihm wenigstens ein Glas Wein anbieten können, damit er eine Ahnung bekäme, was dieser Winzer aus seinen Trauben zauberte, dachte er und wunderte sich ein wenig. Der Winzer trank Wasser, was an sich nichts bedeuten muss. Man kann schließlich nicht immer und zu jeder Gelegenheit Wein trinken.
Ein Rundgang durch das Gebäude, den Weinkeller und ein Spaziergang durch den Weinberg folgte.
„Vergessen sie nichts, denken sie an den Wein und malen sie, was sie fühlen.“
Der Winzer wischte sich den Schweiß von der Glatze und nahm eine tiefen Schluck aus der Wasserflasche, die er mitgenommen hatte. Er lächelte. Wein inspiriert. Er erwartete ein tolles Gemälde.
Der Maler, nun wieder in seinem Atelier, überdachte alles. Schließlich schickte er eine trockene Leinwand an den Winzer.
Der Winzer nahm die Leinwand in Empfang. Das Tuch war leer und trocken. Er fühlte Unmut und fast Zorn in sich aufsteigen, doch er wollte nicht übereilt reagieren. So genehmigte er sich ein Glas von seinem guten Rotwein und starrte eine geschlagene Stunde auf das trockene Leinentuch bis ihm eine Idee in den Kopf schoss. Er sandte einen Boten mit einer Kiste seines besten Weines an den Maler.
Das Ende vom Lied
"Da krampft die Wade"...ach, was ist es schade,
denn auch die Zunge ist verwirbelt, dabei hat sie sich herrlich aufgezwirbelt,
um selig, mit dem Wein im Leib, in seinen Armen mal zu schmachten.
Und er indes trinkt sich so schön das Weib, auch wenn die andern lachten.
So sind sie selig bis es dunkel wird und er sich in den Betten irrt,
das ist jetzt wirklich schade, es fällt herab des Kinnes Lade.
Es tropft der Wein, er riecht nicht gut, es krampft die Wade.
Sie gibt es auf und lässt es sein, ergötzet sich allein im Bade.
Kapitel II : Noch so ein Sommernachtstraum von Lothar
Ein Schwesternpaar, das seit ewigen Zeiten zusammenlebt, sodass keine von beiden mehr weiß, wie das Leben ohne die andere wäre, sitzt in einer Kellerwohnung und strickt an einem viel zu großen Pullover. Die eine – nennen wir sie W. - ist mit dem Oberteil beschäftigt – Halsrand, Schulterteile und Brust-, während die andere, deren Name mit L. beginnt, ihrer Schwester von unten entgegenstrickt.
Es ist ein schöner, noch sonniger Sommerabend. Die beiden Frauen haben sich stark geschminkt und sind aufreißerisch gekleidet – zu kurze Röcke, eng anliegende, weit ausgeschnittene Blusen. Doch irgendwie scheint dies alles eine unzeitgemäße Makulatur zu sein.
Nun haben sie das breite Oberlicht aufgezogen, um ein wenig von den letzten Sonnenstrahlen in ihre Kellerwohnung einzulassen. Ein Tretgitter trennt sie von dem lebendigen Bürgersteig, auf dem sie einst ihre Dienste taten, und auf dem sie, heben sie ihre Köpfe, die Schuhe und Beine der hastig vorübergehenden Leute sehen. Ein Sonnenstrahl, in dem Millionen von Staubkörnchen tanzen, trifft das Gesicht von W. L. hält in ihrer Arbeit inne, nähert ihren Kopf dem von W., die zurückweicht.
L.: [resigniert] Nichts zu machen. Ich werd aus deinem Gesicht nicht mehr schlau.
W.: [pikiert] Was du nicht sagst. Und wie meinst du das?
L.: Ich kann in ihm nicht mehr lesen.
W.: Hm.
L.: Egal, ob du ernst bist, oder lachst… Irgendwie ist es immer gleich.
W.: [zuckt die Schultern] Was soll ich tun? Ich kann nichts für mein Gesicht.
L.: Ich weiß.
W.: Außerdem siehst du in ihm, was du sehen willst. Das war schon immer so. Und danach hast du dich immer gerichtet.
L.: Dann weißt du also, was ich jetzt sehe?
W.: Nein, sag’s schon.
L.: [rümpft die Nase] Heute sehe ich in ihm einen faulen Kompromiss.
W.: Einen faulen Kompromiss???? Mit wem hat mein Gesicht sich kompromittiert?
L.: Sich kom-pro-mit-tiert… Immer wenn du beleidigt bist, sprichst du wie eine aus der Oberstadt.
W.: Meine Liebe – wir sind aus der Oberstadt. Außerdem sind die Dinge selten so einfach, wie du behauptest.
L.: Kein Wunder, dass dich niemand versteht.
W.: [verärgert] Also, mit wem?
L.: [tippt sich mit dem Finger an die Schläfe] Mit mir.
W.: [schreckt auf] Mit dir?
L.: [bestimmt] Ja, du siehst mir immer ähnlicher.
W.: Ich dir? [überlegt, lacht erleichtert] Das setzt voraus, dass du weißt, wie du aussiehst. Wann hast du dich das letzte Mal im Spiegel betrachtet?
L.: Du meinst, seit du ihn vor Jahrzehnten zertrümmert hast?
W.: „Spieglein, Spieglein an der Wand? Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Genau! Seit mit dem Märchen Schluss ist.
L.: [zwängt ein kleines, rundes Schminkspiegelchen aus ihrer engen Rocktasche und hält es ihrer Schwester vors Gesicht] Na, was sagst du jetzt?
W.: Das soll ich sein?
L.: Das bist du. Mir wie aus dem Gesicht geschnitten.
W.: [sieht ihre Schwester an, dann ihr Spiegelbild] Meinst du, die anderen sehen uns genauso?
L.: Weiß nicht. Früher hatten sie immer genau hingeschaut. Da wussten sie sofort, wer die eine, und wer die andere war. Jedenfalls meinten sie das.
W.: Und jetzt?
L.: Sag, im Ernst - ist dir wirklich nicht aufgefallen, dass uns niemand mehr so richtig anblickt? Ich meine - von Angesicht zu Angesicht?
W.: So richtig? Aug in Aug?
L.: Ja, so richtig in die Augen. Freiheraus.
W.: [überlegt eine Weile] Da mag was dran sein.
L.: Als gingen wir sie nichts mehr an.
W.: Als hätten wir ausgedient.
L.: Richtig. Als gehörten wir zum alten Eisen und hätten nichts mehr zu sagen.
W.: Haben wir denn noch?
L.: Was?
W.: Etwas zu sagen?
L.: Na hör mal, dass müsstest du doch am Besten wissen.
W.: Eben nicht.
L.: Du warst es doch immer, die auf die Barrikaden gestiegen ist und wie eine Frau vom Fischmarkt lauthals gebrüllt hat.
W.: Du warst dabei.
L.: Na klar, denn ohne mich hätten sie dir nicht die Bohne geglaubt. Denn: Allein das Gegenteil von dem zu behaupten, was ich gesagt habe, hat schon gereicht, um Recht zu bekommen. Und jetzt, was machst du jetzt?
W.: Das Gleiche wie du. Wofür soll ich heute auf die Barrikaden gehen??? Und vor allem – für wen?
L.: Wenn du mich fragst … es gäbe da noch so manches, vielleicht sogar mehr als früher.
W.: Okay. Aber wofür das alles, wenn uns eh niemand mehr so richtig anschaut?
L.: Das ist es.
W.: Das ist was?
L.: Welches Interesse könnte jemand daran haben, ein Auge auf uns zu werfen? Jetzt, wo wir uns so ähnlich sind. Wenn du unter die Menschen gehst, merkt niemand mehr, dass die andere fehlt.
Plötzlich verdunkelt sich das Licht. Jemand hat sich mit einem vernehmbaren Plumps auf das Gitter fallen lassen und breitet nun selenruhig seine Habseligkeiten auf ihm aus. Einen Hut, auf den Kopf gestellt, eine Weinflasche, einen zerknitterten Aldibeutel. Der Clochard fingert an dem Plastikverschluss der Weinflasche herum, und als die Kapsel durch das Gitterraster auf die Frauen fällt, beugt er sich zu ihnen hinunter.
Clochard: Hey, ihr beiden alten Weiber! Prost! Auf eure Gesundheit!
L.: [leise] Der hat uns gerade noch gefehlt.
W.: [laut] Du nimmst uns das Licht.
Clochard: Was strickt ihr da unten zusammen?
W.: Wir reden nicht mit Säufern.
Clochard: Mit wem redet ihr denn sonst?
L.: Mit niemandem.
Clochard: Niemand ist gut. Jetzt redet ihr mit mir.
L.: Weil du uns das Licht nimmst.
Clochard: Was du nicht sagst… [zu W.] Sag mal, dich kenne ich doch, oder?
W.: [peinlich berührt] Das muss ’ne Verwechselung sein.
Clochard: Nein, nein, du bist es. Ich weiß es genau. Und du… du bist die andere… Ich werd verrückt. Alle beide sind da. Das nimmt mir keiner ab. Und ich dachte, Ihr wäret gestorben und es gäbe euch nicht mehr.
W.: So schnell wird man uns nicht los.
Clochard: Das haben der Duft und der Gestank auch gedacht. Und jetzt? Riecht ihr etwa etwas?
[ein Passant will eine Münze in den Hut werfen, verfehlt diesen, und das Geld fällt W. in den Schoß]
Clochard: Die Wahrheit dankt, lieber Herr! Also – riecht ihr was?
L.: Deine Fahne, ja.
Clochard: Und sonst?
L.: Dich, du stinkst. Deine Klamotten stinken.
Clochard: Das war nicht immer so. Früher haben sie geduftet. Zu eurer Zeit.
W.: Zu unserer Zeit?
Clochard: Ja, zu eurer Zeit. Als ihr in aller Munde ward. Da wusste man wenigstens noch, auf wessen Seite man sich schlagen musste. Du [den Kopf zu W. gewandt], in dich war ich schon immer verknallt. Obschon, deine Schwester war auch nicht von schlechten Eltern.
L.: Was du nicht sagst.
Clochard: Ja, bestimmt. Du warst immer da, wenn ich dich brauchte. Nicht auszudenken, was ich als Kind gemacht hätte, wenn es dich nicht gegeben hätte. Weißt du noch, wie du mir geholfen hattest, als ich zum ersten Mal die Schule geschwänzt hatte? Aber du [zu W.], hmmm, du warst immer schon mein Traum gewesen…
[ein weiteres Geldstück fällt daneben, dieses Mal in den Schoß von L.]
Clochard: Gott vergelte es Ihnen, gnädige Frau!
W.: Und jetzt hat sich’s ausgeträumt?
Clochard: Kann man wohl sagen, ja. Nichts zählt mehr. Oder doch – was zählt, sind die Zahlen. Zahlen sagen, was Sache ist. Ist zwar verrückt, aber so ist es verordnet worden…
[eine weitere Münze fällt, dieses Mal in den Hut]
Clochard: Bingo! Noch ne Zahl! Sagte ich doch! Merci Madame!
W.: Von wem?
Clochard: Von wem was? Die Münze?
W.: Wer so etwas verordnet hat.
Clochard: Na, die da oben. Mensch, wie lange seid ihr denn schon da unten im Keller??? Ihr beide seid wortwörtlich zu Volksfeinden erklärt worden, sowohl die eine, als auch die andere. Allein der Gedanke an euch sei schädlich, haben die gesagt. Jetzt sei die Zeit der bescheidenen Kompromisse gekommen.
[mustert die beiden Frauen] Eins muss man euch lassen: Die haben nie rausgekriegt, wer von euch beiden zuerst da war. Die einen meinten, du [spricht L. an] wärest die Erstgeborene, die anderen waren steif und fest davon überzeugt, deine Schwester wäre es gewesen. Und einige Schlaumeier meinten sogar, ihr beide wäret eine religiöse Erfindung. Aber ich weiß es. Ich habe es immer gewusst. Wisst ihr, dass sie Euch immer noch zitieren?
L.: [stößt ihre Schwester an] Hörst du, er spricht von dir.
W.: Würde mich wundern.
Clochard: Na, habt ihr nicht immer gesagt, in allen Bereichen des Lebens sollen wir lernen, unsere Grenzen zu sehen?
L.: Das war sie.
W.: Nein, sie hat das gesagt.
Clochard: Ist doch egal. Und dass wir sie sehen sollen, die Grenzen, habt ihr gesagt, dass wir ständig überprüfen sollen, ob wir über sie hinweg können oder dürfen, und wenn nicht, dass wir sie akzeptieren sollen.
W.: Das war ich.
L.: Nein, das stammt von mir.
Clochard: Und jetzt heißt es, nicht alles in unserem Leben ginge nach unserer Nase. Das Leben sei ein einziger Kompromiss.
W.: Deshalb bist du jetzt ein Clochard?
Clochard: Ein Kompromiss hat weite Maschen. So Mancher fällt durch sie hindurch. Und im Fallen gibt’s nur eine Richtung.
L.: Aber so tief?
Clochard: Ich war so frei, ja. Jetzt bin ich bei euch gelandet. Bei zwei alten aufgetakelten Weibern in einem Kellerloch. Habt ihr Euch freiwillig verkrochen?
W.: Die oberen Etagen waren besetzt. L. hätten sie ja noch genommen. Als Untermieterin. Doch allein geht sie ein wie eine Primel ohne Wasser. Sie hängt an mir, ohne mich kann sie nicht. Und mich wollten sie auf keinen Fall. Ich würde das Ambiente stören.
Clochard: Was strickt ihr da?
L.: [verlegen, u W.] Sag du’s ihm.
W.: Nein du.
[beide] Wir stricken die Liebe.
Clochard: Ihr strickt was? [lacht ungläubig]
W.: Die Liebe.
Clochard: [ironisch] Das Ding ist doch viel zu groß für Euch.
L.: Zu groß vielleicht. Dafür aber garantiert frei von Kompromissen. Die haben in der Liebe nichts zu suchen.
Clochard: Mutet man ihr damit nicht zuviel zu?
W.: Wem?
Clochard: Der Liebe.
L.: Warum?
Clochard: Weil sie nun allein für alles andere herhalten soll.
L.: [rechthaberisch] Siehst du, das habe ich dir auch gesagt.
W.: [im gleichen Ton] Und ich sage, es kommt darauf an, wer sie trägt.
L.: Es wird immer welche geben, für die sie zu weit ist.
W.: Oder zu eng.
L.: Oder beides. Mal so, mal so. Aber das sind dann eh die, ....
Von oben kommt nichts mehr. Die Nacht ist hereingebrochen. Der gelbe Lichtstrahl einer Laterne zeichnet auf den Kellerboden das Muster des Tretgitters über ihnen mit einem schwarzen bewegungslosen Schatten.
L.:…...denen sowieso nie was passt...
W.: [nachdenklich] Außer einem.
L.: Der da wäre?
W.: Überleg mal.
L.: Überleg du zuerst.
W.: Hm. Denkst du das Gleiche wie ich?
L.: Kommt drauf an.
W.: Kommt auf was an?
L.: Woran du denkst.
W.: Jetzt hör mit deinen albernen Wortklaubereien auf. Komm, lass uns einen Zahn zulegen. [klimpert hektisch mit den Stricknadeln]
Über den beiden ist der Clochard eingeschlafen. Sie hören sein rasselndes Schnarchen. Die Weinflasche ist umgekippt, der letzte Rest Wein fällt, Tropfen um Tropfen, in den Keller hinab. Die Frauen seufzen tief durch und setzen schweigend ihre Arbeit an der Liebe fort. Schließlich graut der Morgen. Der Clochard erwacht aus seinem Rausch und rekelt sich. Mit der flachen Hand reibt er sich seine Nase warm und setzt sich aufrecht. Aus dem dunklen Kellerloch unter ihm riecht es muffig. Dumpf steigt in ihm die Erinnerung an ein Gespräch mit zwei alten Freundinnen auf, die, wie ihm scheint, ihn ein weites Stück in seinem Leben begleitet hatten. In seinem anderen Leben. Nostalgisch schaut er durch die Maschen des Gitters hinab in die Schwärze. Dann erhebt er sich mühsam und schüttelt den Kopf. Ein Traum. Schon wieder nur ein Traum.
Die Hausmeisterin, die den Clochard vom Sehen kennt und nun zu früher Stunde die Mülltonnen der höheren Etagen auf den Bürgersteig rollt, traut ihren Augen nicht. Der gebeugte Mann trägt einen nagelneuen Pullover, der ihm wie angegossen passt. Ein warmer Pullover, ein weicher Pullover, der dem Clochard trotz seiner schlürfenden Schritte etwas Edles und Erhabenes gibt.
Lothar Gunter
Kapitel III : Weinseligkeit von Conrad
Mutter kredenzt Wein in bauchiger Flasche.
Für mich bleibt kein Rest,.
Ich bin nicht beliebt in der Runde,
darauf nimmt sie Rücksicht.
Warum sie mich nicht mögen,
ich grüble vergebens.
Vielleicht liegt es daran,
ich bin nüchtern und die sind alle besoffen.
Zwei Treppen rauf im Zimmer der Eignung
lasse ich mich testen.
Abgründige Stimme orakelt,
ich sei leider zu gar nichts geeignet.,
nicht einmal zum Dichten,
Das überrascht mich,
tröste mich bei dem Gedanken:
Ich bin nüchtern und die sind alle besoffen.
Dann betrete ich das Zimmer der Wahrheit,
hier wird jede Lüge entlarvt,
hier erfährt man die Wahrheit,
ich erwarte nichts Gutes.
Ein bärtiger Mann fixiert mich
vom Scheitel zur Sohle.
Die Wahrheit will ich,
diskret wie ich bin, vorläufig verschweigen.
Eines jedoch kann ich verraten:
Ich bin nüchtern und
die da drunten sind alle besoffen
Kapitel IV : Cecilia sitzt gerade unter dem Weinstock..
Weinselig-vergorenes Versmaß, ausufernd
Vom Wein beseelt, in Seligkeit
macht auf das Herz sich bis an andere Gestade.
Durchmisset schnell die Fröhlichkeit,
ohn’ Kraft und leicht, die Arme weit,
als kost’t es nichts. Da krampft die Wade.
So fröhlich ist es nun nicht mehr.
Es kommt des Strebens harter Part an’s Licht.
Was eben einfach schien, ist nunmehr sehr
ermüdend, schmerzhaft, schwieriger,
als es der Wein dem Herz verspricht.
Drum Herzelein, mein lieb’s, mein klein’:
Sieh in der leichten Lust nicht nur Genuss.
Bedenk’ die Grenzen, traue nicht dem Schein,
sonst könnt’s dein letzter Krampf gewesen sein.
Dann lieber noch’n Krampf und noch nicht Schluss.
„...ergötzet sich allein im Bade.“ (Zitat: Helga)
Dort muss er schwimmen nicht,
dort gibt es keine Pflicht.
Und für die Kür
bleibt zu die Tür.
Er schwitzt den Wein sich durch die Poren.
Danach fühlt er sich neugeboren.
Wo ist das Weib, wo der Gesang?
Er blickt umher, es wird ihm bang.
War diese Venus nur
des Weines Perlenschnur?
Nun prüft er, ob beim nächsten Mal
er nüchtern wagt das Liebesmahl.
Was nun die Zunge anbetrifft:
verwirbelt ist sie und wie zugekifft.
Das hat die Dichtkunst zu vertreten,
denn sie geküsst hat den Poeten.
Der kluge Reim, o ach, o weh -
er fiel mir auf den großen Zeh.
Es war mir anfangs wirklich ernst,
doch dann ging Pegasus, der Herngst,
so durch mit mir und ritt mich platt.
Nun ist mein Hintern wie Salat.
Geniessbar nur mit Wein; die Seligkeit
muss warten ab der Lüge Zeit -
drum sag' ich jetzt, aus voller Brust:
Dichten hätte ich nicht gemusst.
Doch muss ich trotzdem, denn
der Wein,
der drückt mir aus dem Hemdelein.
Wahrheit, Lüge und Weinseligkeit
Drei kulturell bedeutsamen Begriffen auf den Leim gegangen
Auf den ersten Blick scheint diese Aufzählung eine absurde Zusammenführung abstrakter Begriffe zu sein.
Lieber Leser: Ich möchte darüber einen kleinen und bescheidenen Besinnungsaufsatz schreiben.
Wein, vergorener Traubensaft, ist eine kulturelle Errungenschaft erster Güte. Wann haben die Menschen festgestellt, dass Zucker sich in Alkohol wandelt?
Wir wissen es nicht. Eines wissen wir dagegen: Die Religion hat sich seit jeher den Wein fest unter den Nagel gerissen; Schamanen und Seher, Tempeljungfrauen und die Pythia – und bis zum heutigen Tage die Priester während der Messe (und danach) – haben ihm seit Menschengedenken zugesprochen. Interessant ist, dass sie mit Wein ihren eigenen Sinneszustand manipuliert haben, die gläubige Gemeinde aber seines Genusses nicht teilhaftig werden durfte. Stellten sie sich mit dieser Gesetzmäßigkeit in einen größeren Abstand zum Allgemeinmenschlichen, machten sie sich im Rausche göttergleich?
Die Bewohner des griechischen Götterhimmels hatten Lust und Genuss gleichsam auf die Spitze getrieben; der Wein, an den Hängen des Meeres angebaut, floss in Strömen, so mancher Gott und Halbgott stürzte ab auf die Menschenwelt.
Die etwas rationaler agierenden Römer – die u.a. dank ihres (militärischen) Verstandes ein Weltreich aufgebaut oder besser: erkämpft haben – hatten in ihrem Lande dieselben günstigen Bedingungen für den Weinanbau; sie exportierten diese Technik nach Nordafrika, Frankreich und entlang des Rheins. Und sie hatten etwas demokratischere Ansichten: Der Wein war fürderhin nicht mehr exklusiv den Göttern und Tempelangestellten vorbehalten, sondern wurde vom Volk und auch von den Soldaten getrunken; da sie bei Tische lagen, hatten sie sogar schon die günstigste Lage eingenommen für den exzessiven Weingenuss. Wir haben Belege, dass der Wein aus dem Mutterland des Weltreiches in die soldatischen Lager entlang des Limes exportiert wurde; beim Übergang über die Alpen wandten die Exporteure eine frühe Kühlmethode an, indem sie die Weinschläuche mit Schnee umgaben. (Die Mittelmeerfische übrigens auch.)
Im Reich der Teutonen jedoch hatte sich ein wahrhaftiges Gebräu breitgemacht, hergestellt aus dem Sud einheimischer botanischer Sorten (Hopfen und Malz), die mittels menschlicher Spucke über der Flamme zum Fermentieren gebracht wurde.
Damit war die uralte Konkurrenz zwischen Wein und Bier geboren, u.a. ein Ausdruck des kulturellen Widerstandes der Besiegten gegen die Besatzer.
Heute ist unter den Jugend das Bier wieder auf dem Vormarsch; Zeichen welcher Kultur, welchen Widerstandes?
Meine geneigten Leser werden ihre eigenen Erfahrungen mit diesem Göttertrank, den wir Wein nennen, gemacht haben, so dass ich mir lange Ausführungen sparen und meine eigen Dosisfindungsstudien als strikt persönlich und damit dem Datenschutz unterliegend behandeln kann.
In großen Schritten kommen wir nun zum zweiten Bestandteil unserer Überschrift: Lüge.
Ein ehernes Wort, in den Stein der mosaischen Gesetzestafeln gemeisselt.
Lüge ist absolut, sie hallt wie Donnerschall.
Nun gibt es Sprachen, indogermanische Sprachen, die einen reichen Schatz an Synonyma für dieses eine deutsche Wort besitzen; wir kennen nur graduelle Unterschiede: Wir flunkern, wir scherzen, wir notlügen (oder lügen not?), wir adaptieren die Wahrheit, passen sie an.
Wein und Lüge haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun; deshalb wirkt die Aufzählung, die unser Thema ist, im ersten Moment etwas geziert, zusammengezimmert.
Alsbald taucht aber in unserem Gewissen der gestrenge Zeigefinger auf:
„Wein ist nicht gesund.“
„Doch, in Maßen genossen.“
„Er ist das wichtigste Zellgift.“
„Die Dosis macht das Gift.“
Tatsächlich gibt es eine Unzahl wissenschaftlicher Studien, die sich zum Teil widersprechen. So wird es auch uns nicht gegeben sein, hier zu einem endgültigen Urteil zu kommen. Bleiben wir genügsam!
Dann schon eher Weinseligkeit.
Die Autorin kann diesen Begriff nur unterschreiben. Wein verändert unsere Urteilskraft. Das Schwere wird weggebeamt - oder doch auf jeden Fall leichter -, das Traurige wandelt sich in – allenfalls – Wehmut.
(Diese Schachtelsätze zeigen auf, dass man sich selbst gerne in die Tasche lügt.)
Weinseligkeit versus Bierseligkeit: Der Leser wird keine Mühe haben, aus seinem Erfahrungsschatz Protagonisten beider Phänomene vor sich am Tisch sitzen zu sehen. Sollte er Schwierigkeiten mit der Vorstellung haben, so mag er sich selbst zu vorgerückter Stunde im Spiegel betrachten.
Eines ist klar: Weinseligkeit kommt nur nach dem Genuss von Wein vor. Sie ist eine durchaus akzeptable Vorstufe des Rausches, in der der Proband sich weiterhin um Zustande der erhaltenen Urteilsfähigkeit befindet; allerdings gleichzeitig in einem erstrebenswerten Gemütszustand, den er sich zu erhalten bemühen wird. So sagt er sich: „Was man schwarz auf weiß besitzt, ist in dieser Welt nichts mehr wert; aber: Auf vier Beinen kann ich mich getrost nach Hause tragen.“
Als Absolvent dieser tiefgreifenden Besinnungsprüfung darf ich mir ein neues Thema wünschen:
„Wein, Weib und Gesang.“
Weitere Worte über den Wein kann ich mir sparen, in der Überzeugung, meine bisherigen Aussagen nicht in den Wind gerufen zu haben.
Nun zum Weibe. Gibt es heutzutage noch Weiber, oder stolzieren nur noch Frauen auf ihren high heels herum?
Fragt jeden Mann, ob er lieber eine Frau oder ein Weib in seinem Arme halten möchte, zumal vor ihnen eine Karaffe Glas Wein steht.
Nach der Frauenemanzipation muss nun die Weiberemanzipation folgen. (Die der Männer wage ich nicht zu fordern.)
„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder – böse Menschen haben keine Lieder.“
(aus einem Gedicht mit dem Titel »Die Gesänge« von Johann Gottfried Seume (1763-1810)).
„Singe, wem Gesang gegeben.“ (dt. Volkslied).
Mit der tiefsten Überzeugung, meinem wissenschaftlichen Anspruch durch diese für sich selbst sprechenden, wenn nicht gar singenden, Zitate genügt zu haben, möchte ich schließen.
Der geduldige Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, mag sich seinen Reim selbst machen.
Impressum
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2013
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