In diesem Gemeinschaftsbüchlein schreiben die Autoren ihre Gedanken zu den nachfolgenden Bildern auf.
Ein paar kurze, eingestreute Sprüche würzen die kleinen Geschichten auf ihre Weise.
Die Titel der Bilder:
"Die Treppe"
„Auf einer Bank im Winter“
„Jahrmarkt im Winter“
„Spaziergang im Schnee“
Man kann Treppen hinauf steigen, um in eine andere Welt zu gelangen aber man kann sie auch herunter kommen, um etwas zu entdecken und wenn es nur das wahre Leben ist. Mit Musik fällt oder steigt alles leichter.
Helga
Das Saxophon
macht einen Ton,
der steigt zum Himmel gleich.
Er brauchet nicht
die Trepp’, die Pflicht
für Menschenbeine weich.
Cecilia
ΨΨΨ
Ein Wintermärchen – der Saxophonspieler
Alle Märchen fangen mit dem bekannten Satz: „Es war einmal ...“, an. Das weiß jeder, der mit Märchen je zu tun hatte. Ich habe als Kind alle Märchen verschlungen aber als Erwachsene nie eines geschrieben. Vermutlich bin ich ein echter Spätzünder, der alles in sich hortet und lange reifen lässt. Vielleicht so wie man es auch mit Weinen zelebriert, die lange im Dunkel lagern und ihrem Auftritt in aller Zurückgezogenheit und Ruhe entgegen sehen. Aber wenn es so weit ist, dann weiß man nicht genau, ob da wirklich etwas Gutes entstanden ist. Darüber befinden die Feinschmecker dieser Welt.
So ähnlich verhält es sich mit den Märchen, die in mir schlummern. Eines scheint nunmehr endlich ans Tageslicht zu begehren, so will ich es auch herauslassen. Für mich, nur für mich, ist es das Beste.
Es war einmal ein Mann, der eine Frau suchte und eine Frau, die, wen wundert es noch, einen Mann suchte. Nicht dass sie niemanden gefunden hätten, denn Frauen und Männer liefen und laufen ja weiß Gott genug zu allen Zeiten auf der Erde herum, die ähnliche Wünsche verspürten und alles versuchten, sie sich zu erfüllen.
Alles braucht Zeit und Geduld, unendliche Geduld. Doch wer hat unendliche Zeit für unendliche Geduld? Sie mussten einfach schon deshalb etwas unternehmen.
Viele Menschen begegnen sich, trennen sich wieder und die Jahre vergehen. Der Mann und die Frau waren schon ein wenig traurig, denn sie wollten nicht allein und einsam ihr Leben, das letzte Drittel ihres Lebens, verbringen. So ent-
schlossen sie sich unabhängig voneinander, in einem sehr kalten und nicht enden wollenden Winter, in die Unendlichkeit zu wandern, zu der man heute Internet sagt.
Es ist die Welt, in der alles möglich ist. Sie vereint Gutes und Böses, in ihr tummeln sich alle Dämonen, die Engel, die Weisen und die Dummen aber auch die Abenteurer, die erschreckend große Zahl der Verzweifelten, aber vor allem sind die Su-
chenden in dieser Welt unterwegs. Es gibt hier die Zufälle schicksalhafter Begegnungen, die das Leben in alle Richtungen verändern lassen können, sagt man.
An einem dieser verheißungsvollen Portale, zu dem eine breite tief verschneite Treppe führte, gesäumt von Figuren, die auf Säulen standen und im kalten Winter sehr zu frieren schienen, stand ein Saxophonspieler. Es war als würde er alle erwärmen wollen. War er aus der Unendlichkeit gekommen, um Menschen, um suchende, verzweifelte Menschen zu verführen, durch das Portal zu treten, um sie zu bewegen, ihr Glück dort zu suchen?
Man fragt sich erstaunt, warum hüpfen die Statuen nicht herunter und versuchen ihr Glück zu finden, denn der Eingang in eine andere Welt war geöffnet, wenn auch dort zunächst keine Spur des Sommers, der Wärme zu entdecken war.
Der Saxophonspieler gab alles bis schließlich alle, wirklich alle sich an seinem Spiel erwärmten, von ihren Sockeln sprangen und sich in die moderne Unendlichkeit begaben, voller Hoffnung, mit blanken Augen.
Ja, und wie es der Zufall wollte, auch der Mann und die Frau, um die es hier geht, betraten durch das Portal diese wun-
derbare, geheimnisumwitterte Welt. Sie sahen sich um und surften durch die verzerrten aber auch schönen Landschaften, bis sie sich begegneten. Keiner weiß warum und wie es dazu kam. Es geschah einfach.
Sie verabredeten sich wieder und wieder und sie trafen sich, die Kälte um sie herum nicht mehr spürend, denn sie hatten sich unglaublich viel zu erzählen. Wo sie auch saßen, sie waren mit sich beschäftigt. Sie wollten ihr ganzes Leben voreinander ausbreiten, sie begehrten sich so von allem Schmerz, von allen Ungerechtigkeiten vergangener Zeiten zu befreien. Die furchtbare Kälte, die Dunkelheit, das Drehen der Räder der grellen Lebensjahrmärkte wurde nun gemeinsam durchlaufen, doch merkwürdigerweise schien alles nur noch halb so schlimm und was das Erstaunlichste war, es verblasste zunehmend. Anderes wurde wichtig. Sie öffneten sich die Augen für das Wesentliche in ihrem Leben.
Schließlich geschah das Wunder überhaupt. Die beiden entschlossen sich, das Portal in Richtung Wirklichkeit zu verlassen. Ein Risiko, denn die Welt ist so geblieben wie sie schon immer war, hart und unberechenbar und die Winter sind nicht minder kalt.
Doch sie schritten nun unbeirrt eng nebeneinander, vertraut und hoffnungsvoll durch den Schnee und hatten sich immer noch sehr viel zu erzählen...und wenn sie nicht gestorben sind, dann reden sie noch heute miteinander, einfach über alles, was sie bewegt. Nur so haben sie eine Chance und das wissen sie ganz genau.
Der Saxophonspieler jedoch gibt immer noch sein Bestes. Dass er allen Menschen, den Weg zum Glück frei spielt, ist allerdings wirklich ein Märchen.
Helga
ΨΨΨ
Und du redest nur von Einsamkeit...
„Mir ist so schrecklich kalt, Justus“. Ich will ja nicht jammern, aber nach dem endlosen Schweigen musste dieser Satz nun raus. Er schaut mich an, grinst. „Kein Wunder Lilly, sieh dich mal um. DU wolltest schließlich in diese Eiswüste.“ Hier nun hat er zweifelsfrei Recht. Diesen so verlassenen Ort habe ich vorgeschlagen, aber nur, um ihm mitzuteilen, dass es so nicht weitergehe. Zuhause hätte es ein Wortgefecht gegeben, dem ich mich nicht mehr aussetzen will. Ich habe gedacht, diese Eiseskälte könne ihm ein wenig den Atem nehmen und ihn einfach zuhören und nachdenken lassen. Das habe ich jetzt davon. Wir frieren hier fest auf dieser Parkbank und die Worte erstarren, kaum, dass sie meinen Mund verlassen.
Erneuter Versuch. „Justus...“ – Kondenswölkchen – „...ich will sagen, mich friert’s in unserer Beziehung.“ – Wolkentürme bauen sich auf vor seinem Gesicht, mutieren zu einem Fragezeichen vor seiner Stirn. Er schüttelt den Kopf. „Meinst du, Lilly, ich stricke einen Pullover, der unsere Beziehung wärmt?“ Wieder dieses dämliche Grinsen.
Ich schlucke meine Tränen hinunter, sie würden eh sofort gefrieren, beschließe Klartext zu reden. „Ich bin einsam!“ Sein spöttisches „Ach!“ höre ich nicht, erkenne es aber an dem Wölkchen vor seinem Mund. Zwecklos, denke ich resigniert und krieche tiefer in meinen Lammfellmantel.
Doch plötzlich greift eine warme Hand nach meinen Eisfingern. Ich werde hochgezogen und während wir durch den Park wandern, höre ich ein Summen. Es ist Justus, aus dessen Mund die Töne leise herausströmen. Die Melodie kommt mir bekannt vor. Automatisch formen meine Gedanken die Worte. „So how can you tell me you're lonely…“
Der Himmel verdunkelt sich rasch, Blau löst sich in diffusem Grau auf und das blauglitzernde Farbenspiel des Schnees scheint zu erstarren. Kaltes, ödes Weiß, wäre da nur nicht das Summen. Ich mag es nicht hören. Justus zieht mich mit und ich trotte wie ein Esel hinterher, ein einsamer gewissermaßen.
Das Summen endet plötzlich, nein, es wandelt sich und ich höre die Töne, noch ehe ich ihren Ursprung sehe. „Voilà!“ Justus macht eine einladende Handbewegung, als sei er ein Conférencier auf einer Bühne. ‘Typisch’, denke ich noch, doch dann sehe ich ihn. Einen Mann, allein, verlassen steht er am Fuße einer Treppe, die zu einem großen Torbogen führt. Er spielt Saxophon und die weichen Töne seiner bluesartigen Musik scheinen ihn einzuhüllen. Niemand, der ihm zuhört, völlig versunken spielt er sich seine Traurigkeit von der Seele.
Ich löse meine Hand aus Justus’ Griff, gehe ein paar Schritte auf den Einsamen zu und lasse die Töne in mich hinein fließen.
Justus legt seinen Arm um meine Schulter. „Und du redest von Einsamkeit?“
Aber diesmal höre ich in seiner Stimme weder Spott noch Vorwurf.
Ein Lächeln kommt mir so absichtslos hoch, ich weiß nicht woher, es scheint mir, als sei es lange in mir gewesen. Der Saxophonist unterbricht sein Spiel nicht, aber seine Augen lächeln.
„Komm!“, meint Justus und zeigt auf das Portal. Stufe für Stufe erklimmen wir die Treppe und als wir unter dem Torbogen stehen, hat sich meine Sichtweise verändert. Wir sind auf einem bunten Jahrmarkt, der einem Kaleidoskop aus Farben gleicht.
In all dem Glanz sehe ich sie: die Frau, die frierend in ihrer Bude steht und hoffend wartet, das jemand ihre bunten Socken kauft, den jungen Mann, der allein an einem Stand harrt, die Flasche Rotwein halb geleert in seiner Hand, das Mädchen mit den Rasterzöpfen, die einen Hund hinter sich herzieht und an jedem Mülleimer stehen bleibt und in den Abfällen stochert. Sie alle wollen am bunten Jahrmarkt des Lebens teilhaben.
Auf einmal überkommt mich ein Gefühl von Scham, das auch nicht von den Lichtern der Karussells und der heiteren Musik aus den Lautsprechern verdrängt werden kann. Inmitten des strahlenden Glanzes wohnt sie die Einsamkeit. Meine Ein-
samkeit…noch ehe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, sagt Justus: „Deine Einsamkeit ist hausgemacht, Lilly!“ Sachlich, fordernd, beinahe kühl kommen diese Worte, doch eigenartigerweise wird es mir auf einmal warm.
Enya
Das Licht der Weihnachtsmärkte beleuchtet nichts Wichtiges. Es ist der Rummel, der nur so scheint als hätte er mit Weihnachten etwas zu tun.
Helga
Wenn sich das Karussell nicht mehr dreht, ist etwas faul. Hat es sich festgefressen? Das Festfressen hat doch noch nicht stattgefunden!
Cecilia
ΨΨΨ
Schwarz-rote Begegnung
Angela fühlt sich in Hochform, streichelt ihr Ego immer wieder mit lobenden Ich-Botschaften. „Ich bin immer noch die beliebteste Politikerin! Meine Ostdeutschen lieben mich! Wow!“ Was macht es da schon aus, dass sie in diesem Monat ein wenig verloren hat? Im Dezember scheinen die Menschen sowieso verblendet von dem vorweihnachtlichen Lichterglanz. Das würde sich wieder geben.
Ein wenig will sie ihr Mütchen kühlen, beschließt – dick eingemummelt – einen Spaziergang durch den Park zu machen. Immer noch euphorisch schlendert sie also durch die blauweiße Landschaft und überlegt, ob sie angesichts dieser Farben hier wohl einen Bayer treffen würde. Sie schaut die weiße Pracht und sogar ihre schwarze Seele hellt sich auf. Zufrieden lässt sie sich auf einer Bank nieder und hängt ihren Gedanken nach.
„Darf ich?“ Feurig-schwungvoll kommen die Worte. Noch ehe Angela nicken kann oder gar den Kopf schütteln, lässt sich die sonore Männerstimme neben ihr nieder. Angela dreht ein wenig den Kopf, schaut über den Rand ihrer Kapuze und staunt. „Peer? Du hier?“ Der Angesprochene ist genauso verblüfft, ja beinahe ärgerlich. Gern hätte er sich einem feurigen Gedankenaustausch hingegeben, doch daraus würde nun nichts werden.
„Angela“, meint er und bemüht sich um einen annähernd höflichen Tonfall, „ich wähnte dich noch bei deinem Schlei-
ertanz...und jetzt treffe ich dich hier so verhüllt?“
Sie kichert leise. „Das hättest du wohl gern, mich hier unverhüllt tanzen zu sehen. Nein, mein Lieber...von diesem Tanz darfst du ruhig weiter träumen. Ich rechne gerade meine Sympathiepunkte zusammen...“ Sie zählt an ihren Fingern ab: „56, 57, 58, 59, 60....60%, na, was sagst du dazu?“ Peer knirscht ein wenig mit den Zähnen. „Du hast dich verzählt. Rechnen scheint nicht deine Stärke. Den Euro hast du auch versemmelt. ICH habe in der Finanz- und Wirtschaftspolitik gepunktet.“ Er murmelt Zahlen, rechnet im Kopf. Die Finger aus der Tasche zu holen, dafür ist es zu kalt. Wieder kichert sie. „Verrechne dich mal bloß nicht! Dann ist Schluss mit Bahncard 1. Klasse.“ Er nickt seufzend. „Und teurer ist die auch schon wieder geworden...“
Angela ist versöhnlich gestimmt. Schließlich ist bald Weih-
nachten, da kann man schon mal Friedenstifter sein. „Du hast doch gerade was von Semmeln gesagt. Ich habe Hunger. Gibt’s hier irgendwo was?“ Schleiertanz hin oder her, auch für Peer ist die Aussicht auf etwas, das seinen Bauch wärmen könnte, verlockend.
In nie da gewesener Einigkeit (man bedenke: Weihnachten = Frieden) bummeln beide durch den Schnee zum nahen Winter-Jahrmarkt. Bratwurst mit einem dicken Klecks Senf, Semmeln und ein süßer Glühwein, das mundet der schwarzen Seele genauso wie der feurigroten sonoren Stimme.
Nach einer turbulenten Karussellfahrt trennt man sich, in Euphorie schwelgend.
Angela kehrt zu ihrem Schleiertanz zurück, Peer trabt zum Bahnhof und löst eine Fahrkarte, 1. Klasse versteht sich. Der Bundesbürger schätzt es, dass man verlässlich ist.
Enya
ΨΨΨ
Das Märchen vom Karussell des Lebens
Es war einmal ein neugeborenes Kind, das nach den Mühen seines Sturzes in die Welt friedlich schlafend in seiner Wiege lag.
Nachdem die Freunde des Hauses es eingehend inspiziert, dieser eine untrügliche Ähnlichkeit mit dem Erzeuger, der andere die Wimpern und Nase der Mutter in ihm erkannt hatte, hatte die Gesellschaft sich im Nebenzimmer zu einem Umtrunk versammelt; es war Ruhe eingekehrt.
Da trat eine gute Fee an die Wiege, legte sachte und zärtlich ihren leuchtenden Zauberstab auf die reine Stirn des Kindleins und sprach leise-klingend:
„Nun sollst du das Karussell des Lebens besteigen, panta rhei (alles ist im Fluss).“
Sie verharrte noch einen Augenblick, bis das Kindlein einen tiefen Seufzer hervorbrachte; dann verschwand sie wie ein Nebel.
Die Wiege begann sich langsam zu drehen. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, der bleiche Mond zog seine Bahn. Vor dem Fenster zwitscherten die Vögel, die Bienen summten in den blühenden Bäumen, der Duft der Flieders wehte in das Zimmer.
Die Glut der Sonne nahm zu und nachts zogen Sternschnuppen über den hohen Himmel. Die Zikaden hüllten die Nacht in das rhythmische Meer ihres an- und abschwellenden Liebes-
gesangs.
Die Früchte reiften, die Blätter fielen, bunt wie Blüten im grauen und feuchten Herbst.
Vor dem Fenster tanzten Schneeflocken und kleideten die Natur in einen weißen Pelz, der alle Geräusche verschluckte und im kalten Licht der Sonne glitzerte wie tausend Diamanten.
Das Jahr war um und das Kind erhob sich und begann zu gehen.
Kleine weiße Zähnchen spitzten aus dem Kiefer hervor. Die Neugierde des Kindes spitzte in alle Schränke und Schubladen, kein Knopf war vor ihm sicher.
Die Zeit verging im Fluge und es kam der Tag, da der kleine Prinz zum ersten Mal auf dem Karussell eine Runde drehte, stolz auf einem mit Glöckchen behangenen Holzpferdchen sitzend, die Zügel in der Hand.
Es schien, als ob das Karussell sich immer schneller drehte. Er kam in die Schule und pfiff durch seine Zahnlücken; jetzt saß er in einem kleinen Cabriolet, dessen Lichter nie ausgingen, und jauchzte bei jeder Runde, verfolgt von einem Polizeiauto mit Sirene und Blaulicht.
Als seine zweiten Zähne sich wie eine Palisade geformt hatten, war er so gewachsen, dass er nicht mehr in den Wagenpark des Kinderkarussells passte und zum großen Riesenrad wechselte, das ihm anfangs eine Art Angst einjagte.
Den überwältigenden Ausblick vom Scheitelpunkt, wo ihm eine innere Faust den Magen umdrehte, konnte er nur mit weißen Knöcheln an seinen Händen wagen. Langsam gewöhnte er sich aber daran, und es kam der Tag, an dem ihm alles langweilig vorkam.
Diese Dumpfheit machte, dass die Zeit noch schneller raste und er nicht mehr des Wechsels der Jahreszeiten gewahr wurde. Und so beugte sich seine einst so stolze Gestalt langsam erdenwärts und sein Gehirn, das einst die größten Rechenkünste im Bruchteil einer Sekunde zu vollziehen in der Lage gewesen war, begann sich von Schrott und Ballast zu befreien und vieles, vielleicht sogar: fast alles zu vergessen.
In der Adventszeit ging er mit seinen Enkeln auf den Weih-
nachtsmarkt. Schon von ferne sah er die kreisenden Lichter und hörte die blecherne Schrammelmusik der Karussells.
Die Enkel mit ihrer manchmal schon männlich tönenden Stimme luden ihn ein zu einer Fahrt mit dem Kinderkarussell, denn das Riesenrad war für ihn mit seinen Schwindelanfällen zu gefährlich.
Das Karussell mit dem rotgestreiften Dach setzte sich langsam in Bewegung. Hier war er unter seinesgleichen, saß am Steuer des Feuerwehrautos mit Blaulicht und Sirene, klingelte mit der großen Glocke und befehligte seine Männer, die in Reih und Glied auf den Hinterbänken Platz genommen hatten.
Cecilia
Auf meiner Bank herrscht Eiszeit. Auf meiner auch. Sie haben mein Konto eingefroren. Wo bringst Du dein heißes Geld hin? Es gibt immer noch Trauminseln.
Helga
ΨΨΨ
Das Märchen vom herzensguten Bänker
Obwohl die Menschen sich mitten in einer dramatischen Klimaerwärmung befanden – von den Medien vielleicht noch ein bisschen angeheizt und von den coolen Politikern fast gänzlich auf Eis gelegt, während sich die Fachleute über dieses Thema in einem hitzigem Streit versengten – ergab es sich, dass ein eiskalter Winter sich über unser Land senkte. Und so bitterkalt sich Eis und Schnee über die Natur gelegt hatten, so süß klangen die Kassen des Einzelhandels und die Glöckchen des Weihnachtsmannes, der aus einer anderen Zeit gekommen zu sein schien.
Man hörte von diesem und jenem Weihnachtsmann, der aus dem kriminellen Milieu „von weither angereist“ war, um unter der schützenden Verkleidung des weißen Bartes, der roten Zipfelmütze und des weiten pelzbesetzten Mantels seine flinken Finger in die Taschen der Weihnachtsmarktbesucher schlüpfen zu lassen, um sie von der schweren Last ihrer Geldbeutel zu befreien.
Ein anderer Weihnachtsmann, zu unchristlicher Gewalt bereit, holte aus seinem Sacke eine kaltglänzende Pistole hervor und richtete sie auf die Kassiererin, die, just am Tage vor der Bescherung, ihm ein Erfolgserlebnis nicht verwehren konnte. Die Pistole auf ihre Brust gerichtet, brachte sie es einfach nicht über’s Herz, diesen heldenhaftigen Mann mit den blitzenden Äuglein leer ausgehen zu lassen, und übergab ihm in Demut eine Handvoll Scheine, die der Einzelhändler eigentlich in den Emissionshandel hatte stecken wollen.
An einem dieser klirrendkalten Tage begab es sich, dass zwei Bänker nach einem lustvoll genossenen Mahl beschlossen, sich noch einen Winterspaziergang zu gönnen, bevor sie am Nachmittag wieder in die Geschäfte der heißgelaufenen Börse einstiegen.
Ihre Unterhaltung auf diesem lustvollen Spaziergang bestand aus Worthülsen und lügnerischen Sprechblasen, die sich zusammen mit heisser Luft als Kondensphänomen in die eisige Welt verflüchtigten.
Wie sie nun so dahinschritten, begab es sich, dass sich eine Bank in ihren Weg stellte, die sie zum Verweilen einlud. Nach einem kurzen Blick in die nähere Umgebung und der Er-
kenntnis, dass Keiner sie in dieser würdelosen Hocke würde sehen können, ließen sie sich nieder wie zwei Raben auf einem eisbedeckten Zweig.
In ihrer Diskussion aus kalter Berechnung und brandheißen Insidertips sollte sich das Blatt bald gegen den Gefrierpunkt wenden.
Sie merkten nicht einmal, dass sich langsam alle Wärme aus der Haut und den Muskeln zurückzog, und als sie dessen gewahr wurden, waren sie schon an der Bank festgefroren und konnten nicht mehr entfliehen. Vor Angst und Besorgnis öffneten sich alle Schleusen und sonst so wohlverklemmten Löcher; aber auch die dampfenden Exkremente nahmen alsbald einen festen Aggregatzustand an und vergrößerten die Bescherung.
In ihrer Not erschien ihnen eine Aura: das Christkind. Sie konnten es nicht glauben, hatten sie doch bisher in allen diesbezüglichen Diskussionen die Existenz von popeligen Schutz-Engeln, Erzengeln und anderen Gestalten auf der Himmelsleiter mit Hinweis auf den immanenten Abschluss einer Lebensversicherung in Abrede gestellt. Ja, solche Wahn-
vorstellungen ihrer Kunden pflegten ihnen ein müdes Grinsen hinter vorgehaltener Hand abzuringen.
„Es ist uns hochnotpeinlich, liebes Christkind, aber wir möchten dich bitten, in heißer Not, uns eine Lösung dieser Gleichung mit vielen Unbekannten zuzuflöten.“
Das Christkind lachte sein silberhelles Lachen, das fern an das Gekicher der Vampire erinnerte, und sprach:
„Meine Lieben, ihr stinkt. Öffnet eure drei Jackettknöpfe, lasset alles stehen, was euch bisher aufrecht gehalten hat, und – falls ihr noch etwas Herzenswärme in euch verspüren sollten – kriecht von dannen, so rückgratlos, wie ihr gekommen seid.“
Die Herzenswärme hielt nicht lange vor. Da begegnete ihnen in ihrer miserablen Lage und Haltung eine Frau, der sie erst vor einer Woche einen Kredit verwehrt hatten. Seither hatte sie auf der Straße gelebt.
Und siehe da: Die Herzenswärme dieser Gebeutelten reichte aus, dass sie einen Rettungswagen rief.
Im Krankenhaus angekommen, bekamen die beiden, mitt-
lerweile sehr demütigen, Stinker ein Vollbad verordnet mit brennenden Insolvenzen, japanischem Heilpflanzenöl und isländischem Feuerwasser, das ihnen förmlich die Haut abzog.
Doch: Ob sich dadurch ihr Herz wieder erwärmte, steht in den Sternen. Denn ein warmes Herz wird einem zur Geburt in der Erstausstattung geschenkt; es muss in der Folge aber am Brennen gehalten werden. Ob sie hierfür das Know how besaßen? Ich wage es zu bezweifeln.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so haben sie noch heute Gelegenheit, Rückgrat zu entwickeln, von der Botschaft des Geldes abzufallen und das Heil ihrer Seele zu gewinnen.
Cecilia
Von achtern gesehen, ist das Ziel der Weg.
Cecilia
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“: So sprach nicht Goethe, sondern der Wirt. Nein, nicht am Strand, sondern am Bratwurststand.
Cecilia
ΨΨΨ
Durch den Schnee
Es war einmal ein kleines Loch in den Wolken, daraus lugte die gute Frau Holle hervor, um ihre Betten auszuschütteln. Das erzählt man sich so jedenfalls seit uralten Zeiten, auch dass ein fleißiges Mädchen ihr einst dabei half. Früher war das vielleicht so und deshalb gab es damals hernach auch stets zur Winterszeit die goldenen Jungfrauen. "Kikerekie, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!"
Viele davon sitzen jetzt im Himmel, um den zahlreichen Selbstmordattentätern behilflich zu sein, wieder zu sich zu finden. Eine widerliche Puzzle-Aufgabe.
Heute hilft natürlich kein Mädchen einer alten Frau beim Betten ausschütteln, auch wenn es als noch so fleißig angesehen ist. Altenpflege, Betten schütteln und Bettpfannenreinigung ist kein gut bezahlter Job.
Dazu kommt, es gibt auch kaum noch Brunnen, in die man hinein springt und auf einer grünen Wiese landet, auf der ein brotbackender Backofen herum steht. So dumm sind die Mädels heute nicht, sie springen nicht einfach in ein tiefes Loch, um ein Utensil zum Spinnen raus zu holen, zumal Spinnen auch ohne all das recht gut funktioniert.
Kurz, die Mädels haben heutzutage keine Chance, eine golden Jungfrau zu werden, auch kaum eine überhaupt zu bleiben. Mal abgesehen davon, dass sie keine Jungfrau sein oder bleiben wollen. Vielleicht würden sie für das Gold ein wenig an den Betten schütteln und klopfen aber dann als goldene Jungfrau dazustehen, ist heute vermutlich peinlich und daher unüblich.
Alles hat sich geändert, auch die Märchen. Heute brechen Schneekatastrophen über uns herein, die eine alte, zahnlose Frau Holle nicht verursacht haben kann, selbst mit Hilfe goldener oder pechbeladener Jungfrauen nicht. Obwohl unsere Regierung den alten Frauen gnadenlos die Betten zum Ausschütteln überlassen, wenn sie sich etwas zur Rente dazu verdienen müssen. Sie werden dafür allerdings miserabel bezahlt, von Gold keine Spur.
Aus ist es mit dem sanften Federnfliegen, Schneestürme fegen übers Land und unter Schneelasten brechen die Dächer zusammen. Andere Mächte haben nun die Schneean-
gelegenheiten übernommen. Der Schnee hat eine andere Bedeutung gewonnen. Manchmal bringt er einen mär-
chenhaften Gewinn aber vielfach den tausendfachen Tod.
Und doch gibt es Märchen, die Hoffnungen wahr werden lassen. Schneelandschaften, soweit das Auge reicht, ein Mann, der nicht nach goldenen Jungfrauen lechzt, führt eine Pech-
marie durch den Schnee, um sich Appetit zu holen... wenigstens für die leckere Bratwurst, die ein strahlender Weihnachtsmarkt bietet. Möglicherweise kommt es auch noch zum Betten schütteln. Man weiß es nicht.
Helga
ΨΨΨ
Singles im Winter
ein Mädchen und ein Mann
die beide Singles waren
klopften bei klirrender Kälte
in der Herberge an
sie waren kein Paar
und sie wollten keins sein
und sie sehnten sich
nach getrennten Betten
der Herbergsvater sagte
ich habe für euch
nur ein Doppelbett
in der Herberge
"Zur Großen Welt"
gibt es kein Bett
für einen allein
als der Mann dann doch
zu dem Mädchen
unter die Decke kroch
wünschte er gute Nacht
und schlief sofort ein
worauf sie ihn weckte
und ihm nach und nach
acht Töchterchen schenkte
aus Rache
Conrad
ΨΨΨ
Es war ein kalter klarer Wintertag. Sie bummelten über den Weihnachtsmarkt und schauten sich die bunten Lichter an. Ein Kinderkarussell drehte sich im Kreis und laute Musik dröhnte aus Lautsprechern. Der Duft nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte mischte sich mit dem Gegrillten und dem Glühwein. Hier wurde Weihnachtsstimmung gemacht.
Die Beiden schauten sich ab und zu in die Augen. In ihren schimmerten Tränen. Tränen des Abschieds und der Trauer. Sie hielten sich an den Händen. Die Abenddämmerung setzte ein und sie gingen durch die Allee, eng aneinander geschmiegt. Keiner sprach, aber sie kannten ihre Gedanken. Diese Vertrautheit würde ihnen keiner nehmen. Langsam fing es an zu schneien, es war ein zauberhaftes Bild wie für eine Weih-
nachtskarte. Die Allee schien unendlich zu sein. Die Laternen hatten weiße Mützen auf und das Licht leuchtete durch die Eiskristalle.
Obwohl es kalt war setzten sie sich auf eine Bank und rückten dicht zusammen. Zärtlich streichelte er ihren Rücken und bei jedem Atemzug, hatten sie weiße Wölkchen vor dem Mund. Es war ihr letzter gemeinsamer Tag. Sie hatten von Anfang an gewusst, dass ihre Liebe nur ein paar Wochen dauern würde. Jeder kehrte dorthin zurück, wo sein Platz war. Die Liebe geht eigenartige Wege, obwohl man glücklich scheint, begegnet einem auf einmal ein Gefühl, das man nicht kannte. Es war völlig neu und unberechenbar. Sechs Wochen ohne wenn und aber. In ein paar Tagen war Weihnachten und sie würden mit ihren Familien feiern, die Vergangenheit in den Hintergrund drängen und nur in heimlichen Momenten aneinander denken. Vergessen würden sie sich niemals.
Es war ganz dunkel geworden und die Sterne am Himmel funkelten hell. Sie machten sich auf den Heimweg, denn so langsam kroch die Kälte bis in die Knochen. Eine Stern-
schnuppe zog am Horizont entlang und einen Moment blieb die Zeit stehen.
Ein Saxophonspieler - warm eingepackt - spielte Alle Jahre wieder. Sie würden sich nie wieder sehen, doch trotzdem niemals vergessen. Manchmal dauert ein Glück nicht so lange, aber es bleibt im Herzen und hat dort einen warmen Platz bis zum Ende der Zeit.
Geli
Bildmaterialien: Aquarelle von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2012
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