Mutabor
Mutabor ist ein Zauberwort, es bedeutet:
Ich werde verwandelt werden.
Genau das geschieht im Verlaufe unseres Lebens, ob wir es wollen oder nicht. Wir wachsen und verändern uns, sind nicht mehr dieselben, die wir einst waren.
Manchmal sträuben wir uns dagegen, sagen uns: „Ich bin ich und so soll es bleiben.“
Es gibt Momente, da sind wir mit uns zufrieden und wir möchten die Zeit anhalten, doch auch das kann uns nie gelingen.
Im Märchen sprechen wir das Zauberwort und wir verwandeln uns wieder zurück, nur wenn wir lachen und das Wort deshalb vergessen haben, dann wird es brenzlig. Eine Rückverwandlung ist ausgeschlossen. Es sei denn …
...wir würden uns in einer märchenhaften Welt befinden, in der eine gute, sinn-und liebevolle Tat die "Erlösung" bringt. Die Frage ist, in was oder wie werden wir verwandelt und wollen wir überhaupt eine Umkehr. Im Märchen ist alles klar, jeder weiß, die verwandelten Störche wollen wieder Menschen werden. Für sie heißt es Gutes zu tun (zum Beispiel eine hässliche Eule zu heiraten und das in Liebe). Für den gewandelten Menschen der Realität gelten andere Regeln ...
...denn der Knochen unseres Steißbeins ist heute nicht mehr derselbe, der er gestern war. Im Knochengerüst sitzen zwei Arten von Zellen, die Osteoklasten, die die Knochensubstanz abbauen, und die Osteoblasten, die sie wieder aufbauen. Sie sind eifrig bei der Sache.
Auch die roten Blutkörperchen in unserem Lebenssaft werden in der Milz zerlegt. Der rote Blutfarbstoff, das Hämoglobin, wird ins Knochenmark zurückgeschleust und für den Aufbau neuer Erythrozyten verwendet.
Am Ende meiner Betrachtung des Menschen als Lebewesen komme ich zum Gehirn.
Die Zellen in diesem wichtigen Organ können sich zwar nicht erneuern, aber wir haben in unserer Hirnmasse eine große Anzahl von Zellen, die untätig sind und aktiviert werden können; sobald sie gebraucht werden, übernehmen sie auch die Funktion untergegangener Schwesterzellen...so verändern wir uns biologisch.
Aber auch wir kleiden die Wahrheit im Gewande des Märchens.
Wir geben ihr darüber hinaus noch andere Gewänder: die sieben Schleier der Poesie, den Feuerwehrmann-Overall der Satire, den Zweireiher des Essays - nicht zu vergessen: die Pailettenrobe des Bildes, welches unsere Begabten der Wahrheit leihen...
zum Beispiel in dieses:
Die Wahrheit ging nackt durch das Land, ganz wie am Tage ihrer Geburt. Die Menschen fürchteten sich vor ihr, sie rannten davon und verschlossen die Fenster und Türen. Das bemerkte die Wahrheit und war darüber sehr betrübt.
Wie sie wieder einmal so betrübt durch die Straßen ging, begegnete sie der Frau Märchen, gekleidet in wunderschöne Gewänder.
"Geehrte Freundin," sprach das Märchen, "was geht Ihr so mit hängendem Kopf durch die Straßen? Was ist mit Euch?" - "Ach, mir geht es schlecht", antwortete Frau Wahrheit. "Die Menschen fliehen vor mir, sie mögen mich nicht, weil ich alt bin."
"Geehrte Freundin," antwortete das Märchen, "ich will Euch einmal ein Geheimnis verraten. Auch ich bin alt, aber je älter ich werde, desto mehr lieben mich die Menschen. Sie mögen es, wenn man sich schmückt. Ich werde Euch ein paar meiner Gewänder geben, und dann werden auch die Menschen Euch lieben."
So geschah es dann. Seitdem die Wahrheit im Gewande des Märchens kommt, lieben die Menschen sie, doch man muss unbedingt wieder in die Realität, weil uns auferlegt ist, den Wandel in unserem wirklichen Leben zu vollziehen.
Waren es Feen, die an unserer Wiege das Lied vom unendlichen Wandel gesungen? Waren es Zauberer, die die Formel gesprochen: Mutabor? Kommt dieser manchmal quälende Wunsch nach Veränderung aus unserem Inneren, ist er eine fahle Erinnerung an das Paradies?
...Viele Fragen drängen sich auf, wenn wir darüber nachdenken müssen, dass wir verwandelt werden.
Dieses "Mutabor" begleitet uns ein ganzes Leben, bis wir zu Asche werden oder im Erdreich zerfallen. Dann gehen wir in den großen Kreislauf des Lebens ein, nicht mehr fähig zu denken oder zu handeln, ge-
schweige denn ein einziges Mal noch Mutabor zu sagen, um etwas zu bewirken.
Doch verloren geht nichts, unsere Moleküle bleiben im großen System erhalten, unsere Energie bleibt, was durch sie und mit ihr geschieht, bleibt uns verborgen
Nihil fit sine causa. - Nichts geschieht ohne Grund.
Nosce te ipsum. - Erkenne dich selbst!...
..Ja, wir werden verwandelt, oft nicht nur einmal, sondern immer wieder.
Das beinhaltet so viel. Erschreckendes, Befreiendes...je nachdem, wie diese Wandlung erfolgt...
Das Erschreckendste an diesem Mutabor ist, dass es ohne unser Zutun geschieht, ja sogar manchmal gegen unsere Intention.
Sisyphus kommt mir in den Sinn, der ein Leben lang den Stein bergan rollte und jedesmal nach Erreichen seines Zieles zusehen musste, wie dieser wieder bergab rollte, von allein und ohne - ja sogar gegen- seinen Willen.
Die Gesetze der Entropie sprechen auch davon, dass in der Natur ein geordnetes System - sich selbst überlassen und ohne Zufuhr von Energie - immer wieder zum Zustand der größtmöglichen Unordnung tendiert, dem Zustand des Chaos, der am wenigsten Energie verbraucht.
Befreiend ist am Mutabor, dass wir nicht alles selbst schaffen, erreichen, verantworten müssen. Aber stimmt das ? Was ist mit der Verantwortung für Sprünge in unserer Entwicklung, die uns von außen auferlegt, aufgezwungen werden?
Am Schweigen auf meine provokante Frage nach der Verantwortung für Entwicklungssprünge, die uns von außen aufgezwungen werden, sehe ich, dass sie sich offenbar dem Mutabor entzieht. Vielleicht sogar dem Interesse. Lassen wir sie also aussen vor ! Sie steht da vor der Tür und wartet.
Machen wir unsere Entwicklungssprünge allein und auf doppeltem Boden, in ruhigem Kämmerlein.
"Mutabor" ist - wenn ich's recht bedenke - eine tröstliche dunkle Wolke, die über uns schwebt. Wir müssen nicht alles selbst machen, wir werden manchmal auch gemacht.
... Für mich gestaltete sich das Leben stets so, dass ich für das "Verwandelt werden von außen" unbedingt stets Verantwortung übernehmen musste und muss. Meine Existenzsicherung, meine private Situation, die gesellschaftlichen Veränderungen haben mich enorm verändert. Ich war mehr denn je gezwungen zu handeln, zu entscheiden und zwar ohne immer zu ahnen, geschweige denn zu wissen, wohin mich das alles führen würde. Ich bin zu einer Frau mutiert, die mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften versuchte, sich in dieser skrupellosen Welt zu behaupten und zwar ohne mit den Gesetzeshütern in Konflikte zu geraten. Ich wollte weder betrügen, noch unmenschlich zu den Mitarbeitern werden, doch das konnte auf Dauer nicht gut gehen.
Mutabor? Ich wollte es nicht weiter geschehen lassen und eben kein Monster werden. Mensch bleiben!
Verantwortung für alle Geschehnisse muss ich aber übernehmen und dafür auch zahlen. So oder so.
Mutabor ist wenig tröstlich, aber es schwebt immer über uns. Man muss aufpassen, dass es uns nicht gänzlich verwandelt.
Mutabor - im Sinne von verwandelt werden - ich frage mich, inwieweit müssen wir es annehmen, uns verwandeln lassen? Es ist immer in einen Zeitrahmen eingespannt. Für eine gewisse Weile fügen wir uns den von außen bestimmten Wandlungen, weil wir meinen, ohne diese nicht existieren zu können. Dann spüren wir, dass uns das auferlegte "Kostüm" zu eng, zu weit - auf jeden Fall unpassend ist und brechen aus, versuchen es abzustreifen. Der Zeitrahmen gilt nicht mehr. Es gibt ein Ende und wir versuchen, etwas von dieser Wandlung rückgängig zu machen, was nicht immer gelingt. Also heißt es sich selbst verwandeln, dem ganzen einen aktiven touch zu geben. Man sagt dann so schön: Ich habe mich verwandelt, die Umstände und Äußerlichkeiten haben es auch, scheinbar passt das nicht zusammen. Das über uns schwebende Mutabor wird wieder zuschlagen, manchmal ist es tröstlich, manchmal aber auch nicht.
Suchen wir nicht immer nach einer Art "Zauberformel", die wir entgegenhalten können? Die Einhalt gebietet den Wandlungen, die uns nicht genehm sind?
Wir haben Möglichkeiten dem Zauberwort etwas entgegen zu setzen.
Wir können uns selbst verwandeln.
Ipse mutare possumus.
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mitgewirkt haben:
Cecilia, Geli, Enya, Helga