Cover




Vorwort


Kleine feine Spiegelbilder will der vorliegende Band entstehen lassen. Spiegelbilder, die traurige, lächerliche, aber auch erschreckende Gesichter, Erscheinungen und Handlungsweisen zeigen.
Wie oft sägt der Mensch an dem wohlbekannten Ast, auf dem er sitzt, der ihm doch eigentlich nur die so notwendige Sicherheit bietet, nicht gefressen zu werden. Ein jeder weiß um die tägliche Verschmutzung der Umwelt, um die scheinbar systematische Zerstörung des biologischen Gleichgewichtes, auch um die gnadenlose hektische Reizüberflutung und das oft bizarr, lächerliche Mode- und Konsumverhalten unserer zivilisierten Welt, dennoch wird ständig noch eins draufgesetzt.
Die Antworten der Natur, die kranken Körper und Seelen werden kaum wahrgenommen. Mancher Mutige versucht fast verzweifelt gegen die Windmühlenflügel, der Macht des Geldes und Macht an sich anzutreten.
Es sind aber immer zu wenige, die außer Einsichten zu zeigen, auch fähig sind zu handeln. Leider. Doch zetern und verzweifeln gilt nicht, spielen sich doch im Kleinen ebenso groteske und tragische Geschichten ab, die verkraftet und beherrscht werden wollen. Sie berühren zwar scheinbar die große Welt nicht, dennoch sind sie ein Ergebnis, eine Konsequenz unserer Lebensweise, unserer Haltung zu grundsätzlichen Dingen.
Summiert sich jedoch das Ganze, wird es zu einer Massen-
erscheinung der Gesellschaft, dann heißt es aufhorchen und gegensteuern. Man fange also bei sich selber an. Nachdenken und dadurch zur Selbsterkenntnis zu gelangen, schadet nicht.

Helga





Pieter Bruegel d.Ä, 1563 : Turmbau zu Babel





Tollhaus



"Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen", sagt Jesus.
Im Tollhaus sind viele Zimmer.

Fangen wir mit den sichtbaren Stockwerken an.

Das Tollhaus ist ein Hochhaus.

Im Penthouse residieren die Reichen und Schönen. Sie müssen sich nicht viel überlegen, der Mammon macht’s, der Mammon bringt’s; sie können es sich leisten, durchzudrehen und abzu-
heben. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Gerne werden sie bei ihren unsinnigen Performances beob-
achtet, das Auge neiddurchtränkt.
Ist es Borderline, wenn sich ein Monarch in der selbstverständlich vorhandenen Sauna mit bezahlten Schönen vom Königsein entspannt und ein Anderer, diesmal Staatsmann, die Altersgrenze seiner korrumpierten Gespielinnen immer weiter herunterschraubt, um seine Erektion hinaufzuschrauben? Oder gehört solches Verhalten schon zum Tollsein? Toll wollen sie doch sein, oder?

Im Mittelbau, fein voneinander abgehoben, wohnen die Norma-
los, Otto Normalverbraucher, Herr und Frau Nullachtfünfzehn.
Sie begegnen sich öfter mal im Treppenhaus, den abschätzigen Blick von oben nach unten richtend. Schuhe von Weichmann auf breiten Sohlen, die – wie die Titanic – nicht untergehen können, da sie aus Plastik sind, die Hose mit historischer Bügelfalte und der Hosenrock als Faltenrock ausgelegt, die Falten längs am Rock und breit im Gesicht, den Knirps am Handgelenk.
In den Fenstern liegen sie gern, die spitzen Ellenbogen auf Kissen gebettet, die Weit- und Gleitsichtbrille auf der Nase, und machen sich ohne Unterschied mit ihrem Urteil über alle her.
Sind sie toll, sind sie normal, ist normal toll?

Im Erdgeschoss wohnen die Jungen den ganzen Tag auf einer Schallwelle, die aus den Verstärkern kommt und gegen den Straßenlärm anbrandet. Sie gehen zur Schule. Auf ihrem morgen-
lichen Weg zur Lernanstalt treten sie zuerst einmal beim Bäcker an der Ecke ein und kaufen sich süße Stückchen. An der nächsten Ecke, in der Abfahrt zur Tiefgarage, wird mit tiefen Zügen eine geraucht. So gerüstet tauchen sie auf und in den Schulalltag ein. Mittags auf dem Heimweg nennen sie sich gegenseitig „Fotze“.
Nachts kommen sie spät nach Hause und trampeln durch ihr Revier. Sie haben das Recht, sich auszuleben.

Steigen wir hinab in’s Souterrain.
Hier haben sich Schreiber, Texter, Dichter einquartiert. Sie alle hängen an den Fäden ihres ebook-Verlages, fein unterteilt in Comunities, die sich gegenseitig beäugen, manchmal auch bekriegen. Auge um Auge: Die gegenwärtige, allgegenwärige, feine Aggressivität führt ihnen die Hand.
Besieht man sich die Sache richtig, so tobt der Kampf zwischen Vertretern verschiedener Bildungsgrade und Intelligenzquotienten; die Einen nehmen die Seele, Herz und Schmerz für sich in Anspruch, die Anderen betonen, sie haben weder das eine noch das andere.
Gegen Kritik sind die Meisten allergisch und reagieren mit Schleimabsonderung und Hustenstößen.
Die Kritischen, sollten sie sich nicht kodexkonform einschüchtern lassen, werden des Landes verwiesen und aus dem Paradies hinausgeworfen, ohne dass sie den Apfel vom Baum der Erkenntnis nur von Ferne hätten erblicken dürfen. Allen anderen geht dieser am Arsch vorbei.

Im tiefen, schwarzen Keller vegetieren die Individuen herum, die am Rande der Gesellschaft angesiedelt sind: die Verrückten, Schizophrenen, Erfolglosen, Sozialhilfempfänger, Bresthaften, Behinderten, Alten.
Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu arrangieren, sich an der Hand zu nehmen, um die mühsamen Treppen an’s Licht zu bezwingen, sich gegenseitig zu trösten und den Hintern abzuputzen.

Das Tollhaus hat viele Zimmer. Es sind immer welche frei.

Cecilia






Aquarell Helga

Über die Spontaneität oder wie verhalte ich mich im Tollhaus meines Lebens



Es ist sicher machmal nötig, völlig spontan die Gleise zu verlassen auch wenn sie eingefahren, erst recht wenn sie festgefahren, so sich der Zug nähert, der nicht anhält. Züge können unglaublich schnell fahren, auch das Abspringen für Mitfahrer wird immer schmerzhafter, gar unmöglich…(gleichermaßen das Aufspringen) denkt man!

Es ist im Leben oft eine Entscheidung, völlig aus der Situation heraus, schnell, zum richtigen Zeitpunkt, zu treffen.
Bei längerem Zögern wäre die Gelegenheit verpasst. Die Konsequenzen sind zuweilen ungeheuerlich.
Das kann man sich eigentlich nicht leisten, denn wer weiß schon wie viele und welche Möglichkeiten sich noch eröffnen werden. Niemand!

Spontan das Richtige entscheiden zu können, ist einen hohe Schule, ob überhaupt erlernbar, ist sehr fraglich.

Die Jugend entscheidet zügig, sie handelt schnell, dem Anschein nach oft unüberlegt, sorglos anmutend, vertrauend auf das „es wird schon gehen“. Hinterher weiß ein jeder andere (man selber dann auch), dass es nicht ging, aber das natürlich erst lange danach.

So wird man je nach erlittenen Desastern langsam ruhiger, die Spontaneität, der Mut schwindet aber eventuell auch die Gelegenheit, dem eigenen Schicksal eine Chance zu geben.
Das Sicherheitsbestreben wird zur Manie und der Mensch geht mit Sicherheit so dem Drama der Bewegungsunfähigkeit entgegen, er begibt sich in die Position des Kaninchens vor der Schlange… kein Mut zum Weglaufen und keinen zum Angriff.
Der Status quo wäre keineswegs sicherer als der nach einer spontanen Entscheidung.

Der Rachen der Schlange bleibt geöffnet, das Leben kann verschlingen oder sich anderen Dingen zuwenden, uns verschonen…alles bleibt unbeantwortet.
Das wartende, nachdenkliche Sitzen vor dem scheinbaren Moloch alles vernichtender Allmächtigkeit wird plötzlich viel verder-
bender, zehrender, letztlich todsicher im Desaster endend als eine spontane Entscheidung, die die Lage verändert.

Nur bleibt die Frage, wie viel Versuche hat man denn, unendliche oder nur noch einen?
Keiner weiß das, man sollte darüber nicht alles Gedankengut verschwenden, vielleicht nur ein ganze Winzigkeit, denn ewiges Leben (auch im Tollhaus nicht), ist uns nicht vergönnt, mit etwas Glück möglicherweise aber ein lebenswertes ...

Das war eine leicht philosophisch angehauchte Sicht von Helga




Blick aus dem Tollhaus
Glück im Glas


(Auszug aus C.Troncho, A.Pohlmann "...Und ein Jeder redete in seiner Sprache")


Der Zauberer hatte die zündende Idee: Da das Glück auf der ganzen Welt immer wieder leicht zerrann, verpuffte, sich in Luft auflöste und unversehens verschwand, und sich die Leute bei ihm darüber beschwerten, ließ er eine große Sendung feinstes böhmisches Glas kommen und schloß die jeweilige Portion Glück darin ein.

Er verfolgte damit zwei Absichten:

Erstens hatte sich das Glück im Glas gleichsam materialisiert, war anschaulich geworden und konnte in die Hand genommen, ja sogar auf Reisen mitgeführt werden. Und da in der Welt vor allem das Materielle geschätzt wurde, hoffte er, das Glück könne in dieser Hülle eine höhere, ja eigentlich: die ihm zustehende Wertschätzung erfahren.

Zweitens hoffte er, es damit haltbarer gemacht zu haben, denn das Glas war mit einem Pfropfen versiegelt worden, und so konnte das Glück sich nicht mehr ohne weiteres auflösen, egal, in welchem Aggregatzustand es sich befand. Das machte ihn so mutig, daß er unten auf den Glasboden eine Haltbarkeitsgarantie klebte.

Als er das Regal mit den wunderschönen Fialen betrachtete, fiel ihm auf, daß der Inhalt der einzelnen Gläser sehr unterschiedlich aussah.
In einigen brodelte am Grund eine ölig-harzige Masse, in anderen schien unruhiges Quecksilber herumzuschießen und manchmal war das Glück auch ein azurblaues Gas mit leicht rauchigen Einschlüssen, das im Sonnenlicht waberte wie ein Nebel. In keinem der Gläser schien Ruhe zu herrschen. Glück ist wie Leben eine ewige Bewegung.

Dem Zauberer wurde alsbald ein Vorteil klar: Auf diese Weise würden sich die Klagen seiner ‚Kunden‘ minimieren lassen und er hätte Ruhe vor Gewährleistungsansprüchen, Reklamationen und eindringlichen Bitten um Kulanz.
Der Begriff des ‚haltbaren Glücks‘ war andererseits ein zündendes Werbeargument.

Und so wurde seine Höhle alsbald zum Wallfahrtsort, ganze Tourismusbusse schlängelten sich bergan. Eine Billigfluglinie erkannte den Boom und bot einen sehr preiswerten Flug zum nahegelegenen Airport an, der aus diesem Grund erst von einem ehemaligen Militärfliegerhorst zu einem ansehnlichen Flughafen mit allen Sicherheitsvorkehrungen mutiert war: „Last luck, last minute.“

Das schuf Arbeitsplätze in der Gegend, denn die Kunden mußte mit Nahrung versorgt, ihre Exkremente entsorgt werden. Kleine Hotels entstanden, immer größere folgten, Restaurants von einem bis zu fünf Sternen wucherten aus dem Boden, Wellnessoasen wurden eröffnet, die Grundstückspreise schossen schneller als die Bauten in den Himmel. Die anfangs glücklichen Bewohner des ehemalig kleinen und armen Dorfes waren auf ihre äußere Erscheinung bedacht und trugen Gold von den Zähnen bis zum Bauchnabel, vielleicht auch noch darunter in den ewig verhüllten Regionen. Da das Materielle so sehr im Vordergrund stand, versäumten sie, ihren Seelen Nahrung zu geben, ethischen und moralischen Gesetzen zu folgen und diese in ihrer Gemeinschaft zu entwickeln. Wucherer, Hasardeure, Terroristen wurden wie die Käfer vom Licht angezogen und infizierten die Gesellschaft, die keine Abwehrkräfte dagegen hatte, wie eine Krebsgeschwulst.

Die Regale in der magischen Höhle des Zauberers wurden richtiggehend leergeräumt und er bekam Probleme mit dem Nachschub. Mit extra lang ausgezogenen Pipetten schlich er nachts, erst um seine Höhle, dann in expandierenden Kreisen bis in’s ‚Klein-Vegas‘ und sog mit geblähten Backen die Reste Glück auf, die er entdecken konnte. Bei seiner Höhle war er häufiger fündig, aber in der nicht weit entfernten boomenden und vor Nachtleben wabernden Hochhaussiedlung war Ebbe, Glücks-
Ebbe. Das führte noch einmal zu einem Preisanstieg seines Produktes, eine dreistellige Inflations- und Teuerungsrate waren die Folge.

Auf einem internationalen Zaubererkongress sprach er hinter vorgehaltener Hand mit den Kollegen aus dem In- und Ausland und versuchte, an Glücks-Nachschub zu kommen. Da diese ihn aber um seine zündende Idee beneideten und selbst vorhatten, mit seinem Patent unter der Hand bei sich eine Glücks-Industrie aufzubauen, stieß er auf taube Ohren und die Bemerkung: „Glück, haben wir nicht. Und wer weiß, wenn Du es blöd anstellst und so weitermachst, wie bisher, könnte deines auch asymptotisch gegen Null gehen.“

Mittlerweile wurden Kriege um die Schürfungsrechte nach Glück geführt, Glücks-Aktien wurden an den Börsen der Welt gehandelt. Es war der Saft, das Blut, das ganze Gesellschaften am Leben hielt, vor allem die der Bänker und der Waffenproduzenten. Die hatten verstanden, daß es sich bei ihrem Rohstoff um eine rarifizierte Ware handelte, deren natürliche Vorkommen – nach allen Berechnungen der Wissenschaft - vielleicht noch 50 Jahre ausreichen würden, um gewinnbringend ausgebeutet zu werden. Immer mehr schien es, daß die Prognosen der Insider und Fachmänner einer rasenden Inflation unterworfen waren, einer sprichwörtlichen Abwärtsspirale: über Null- zum Minuswachstum, ‚man könnte bald von einer Rezession sprechen‘. Ja, dass sogar, je weiter sich die Entwicklung auf die Ausbeutung des Glücks konzentrierte, die Glücksvorkommen in der Luft und zwischen den Menschen, die bisher wie Sonnenenergie gewesen waren, völlig verschwanden und auch die Fähigkeit, Glück aus dem Mitein-
ander zu generieren, nicht mehr messbar und vorhanden war. Offensichtlich war dieses alte Wissen den Menschen verloren gegangen und die Eltern hatten es schon seit zwei Generationen nicht mehr an ihre Söhne und Töchter weitergegeben.

Cecilia




Im Tollhaus glänzt der Rettungsschirm



„Mama, ich bin pleite, du musst mich bitte retten.“
Gustav macht den Bettelknaben. Trotz größter Sparsamkeit ist der Student mal wieder pleite und Papas Überweisung noch ziemlich fern. Was soll er also machen?
Die Mama schaut skeptisch-besorgt, neigt einerseits dazu, ihrem Sprössling Fehlwirtschaft vorzuwerfen (zum soundsovielten Male), andererseits...das arme Kind, man kann es ja nicht hängen lassen.
Sie versucht einen zögerlichen Vorstoß: „Ich hatte dir doch erst letzte Woche...“
„Das habe ich gebraucht um meine Schulden zu bezahlen“, fällt Junior ihr ins Wort...“und nun hab ich nichts mehr“. Eine durchaus schlüssige Antwort.
Mama spannt also den Rettungsschirm auf und gibt Gustav das dringend Benötigte und dies nicht zu knapp, er soll sich ja nicht gleich wieder verschulden.
Eine Woche später ist in Mamas Haushaltskasse Ebbe – logisch, sie hat ja auch die Kröten nicht im Übermaß und alles ist so teuer. Papa fragen kann sie nicht, der würde ausrasten.
Was tun? Nach langer Überlegung klopft sie vorsichtig bei Gustav an und wird nun ihrerseits zur Bettelmama. Ob er denn noch etwas übrig habe...ob er nicht vielleicht...nur eine Leihgabe für diese Woche, sie werde die Schulden umgehend be-
gleichen....So eiert sie herum, stellt dann auch noch Zinsen in Aussicht.
Gustav ist schlau, kratzt alles zusammen für Mama und dann, als sie neues Haushaltsgeld bekommt, streicht er das geliehene Geld ein, mit Zinsen versteht sich - ein schöner Gewinn für ihn.

Irrsinn, das Ganze, sollte man meinen.
Aber was im Kleinen praktiziert wird, funktioniert doch im Großen auch recht gut.
Banken gehen pleite (durch Fehlspekulationen, die sogar Finanzexperten nicht kapieren). Nun, Privatbanken werden gerettet durch Staaten, die sich deswegen dann selbst verschul-
den.
Bei wem? Natürlich bei den Banken, die dadurch wieder Rekordgewinne planen können. Der Staat ist so in einer Endlos-Schuldenschleife. Und die Musik dudelt „Rettung nicht in Sicht, bitte warten“.
Man muss sich kaum fragen, wer das Nachsehen hat, oder?
Europa, das Tollhaus mit seinen Institutionen als Ausbeu-
tungsinstrument zu Lasten des Bürgers. der doch eigentlich nicht jammern sollte.
Für all dies gibt es ja die Rettungsschirme – für Banken, für den Euro, für die Wirtschaften, gute große Schirme, die auch kräftigen Wind und Regen aushalten müssen. Man könnte die goldenen Sterne durch glänzende Rettungsschirme auf der Europaflagge ersetzen, das wäre mal was Feines. Man kann nun den Schirm aufspannen, ob es gelingt, ihn auch festzuhalten, ist die zweite Frage. Vielleicht wird man ja im Sturm davon getragen. Europa – vom Winde verweht als Neuauflage in den Kinos. Das Publikum würde bestimmt genauso weinen wie beim beinahe gleich-
namigen Filmklassiker. Das Buch lieferte dann eben nicht Margaret Mitchell, sondern Merkel/Sarkozy.

Nun sollte man als guter Staatsbürger doch vertrauen, auch in ein Tollhaus wie dieses. Aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Hat man uns das nicht gelehrt?
Wer nun kontrolliert diese absurde Tollhaus-Finanzwelt? Vertrauen tropft nicht wie ein Regentropfen vom Schirm. Soziales gerät immer stärker unter die Räder und muss sich im Tollhaus ein Eckchen suchen, wo es gar nicht so toll ist. Der Tenor, dass sich „die Stärke eines Volkes am Wohl der Schwachen misst“ (Präambel der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1999) hat im diesem Tollhaus keine Gültigkeit. Muss ja auch nicht, die Schweiz hat mit dem Euro nichts zu schaffen.
Aber ein Tollhaus hat ja auch mit Realität nichts zu tun, da regiert der Irrsinn, oder?

Wenn nun Gustav und seine Mama dieses Gebahren von Schulden und Pleiten und Rettung verinnerlicht haben, ist das nichts Merkwürdiges, sondern nur der ganz normale Wahnsinn.

Enya



Quelle: freepik




Die Einladung



Vor ein paar Monaten hatte ich eine Einladung im Briefkasten. Meine Nichte Lilly wurde eingeschult. Die Zeit war so schnell vergangen und aus dem kleinen Baby wurde langsam eine junge Dame. Ich schmunzelte ein wenig und dachte an meine eigene Einschulung vor ewigen Zeiten. Ich griff zum Telefon und sagte zu. Natürlich würde ich ihr etwas mitbringen. Man schenkte im Allgemeinen Süßes, aber ich dachte eher an Buntstifte oder ein Lernspiel. Lilly mochte so etwas. Also kaufte ich ein und verpackte es in buntem Papier.

Am vereinbarten Datum machte ich mich auf den Weg zur Schule. Wir wollten uns alle dort treffen und hinterher gemütlich zusam-
mensitzen. Meine Nichte sah hübsch aus und bald schon war sie ein Schulkind.

Wie erstaunt war ich allerdings, als wir zu ihr nach Hause fuhren und ich den Berg von Geschenken bewundern durfte. Meine Kleinigkeiten passten gar nicht dazu. Es gab einen Ipod, eine Spielkonsole und die dazu passenden Spiele, Gutscheine mit höheren Beträgen und sogar ein Netbook konnte ich entdecken. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Musste ich mich schämen, weil ich so unwissend gewesen bin? Die altbekannte Schultüte gab es zwar, aber scheinbar diente sie nur als Hohlkörper, denn diesen Gabentisch konnte man niemals in ihr unterbringen. Dieses Kind wurde für etwas belohnt und es gab keine wirkliche Leistung. Natürlich ist es schön, wenn so ein Tag entsprechend gewürdigt wird, aber für mich war alles überladen und übertrieben.

Werde ich einfach nur alt, weil ich es hinterfrage? In meiner Kindheit wurden Einschulungen gar nicht gefeiert. Sie fanden mitten in der Woche statt und niemand von der Familie war dabei. Heute ist das ein Mega-Event, fast wie eine Hochzeit oder einer Konfirmation. Mit Besorgnis sehe ich diese Entwicklung. Kann man beliebig steigern? Irgendwann ist der Bogen überspannt und was kommt dann?

Werden unsere Kinder durch diese Reizüberflutung nicht fürchterlich gestresst und was passiert, wenn es keine Steigerung mehr geben kann?

Ich mag es mir nicht ausmalen.

Geli




Das tiefenpsychologische Bild eines persönlichen Tollhauses
(vorgestellt von Conrad:)

Das Zimmer im Elternhaus



Leo konnte sich von Kindheit an nicht an die strengen Regeln der Hausmacht gewöhnen, fühlte sich in seinem Elternhaus wie ein Gefangener und suchte oftmals verzweifelt nach dem Ausgang. Denn es gab so viele Zimmer und Gänge, dass er sich fort-
während verlief. An einem dieser Tage, in denen Leo im Hause unterwegs war, geriet er in einen Trakt, in dem er vorher nie gewesen war. Er hätte gern in eines der Zimmer geschaut, aber er rüttelte vergebens an verschlossene Türen. Am Ende eines langen Ganges stieß er rechterhand auf eine schmale Tür, die sich öffnen ließ; innen fehlte die Klinke. Fast hätte er die Türe übersehen, so wenig hob sie sich von der glatten grauen Flurwand ab. Er trat in einen schmalen, hohen Raum, schwach beleuchtet durch ein kleines vergittertes Fenster. Ein hellerer Lichtstreif fiel auf einen schlichten hölzernen Sarg in der Mitte des Raums, in dem ein Knabe im Matrosenanzug lag. Leo spürte sofort eine seltsame Vertrautheit und Sympathie für ihn, sein Anblick bezauberte ihn schier. Der Knabe sah aus wie das blühende Leben, schien zu schlafen wie Endymion, so still wie er dalag. Nach einer Weile, da er ihn aufmerksam betrachtet hatte, erinnerte er sich an Fotos aus seiner Kinderzeit. Der Knabe sah aus wie sein Doppelgänger jener Jahre. Leo erschrak, der Knabe atmete nicht.

"Wer ist der Knabe in dem Sarg am Ende des Ganges im westlichen Trakt", fragte er am Abend seine Eltern. Sie gaben zögernd zu, er sei wirklich Leos Doppelgänger aus der Kindheit. Lehrer Gruber habe zu Beginn des erstens Schuljahrs aus pädagogischen Gründen den Doppelgänger von Leo abgetrennt. Er habe ihnen erklärt, dass jeder Mensch mindestens mit einem Doppelgänger auf die Welt komme, den er in sich trage und deshalb selten von ihm wisse. Allerdings erscheine er manchmal in Träumen. Lehrer Gruber habe an ihre Fürsorgepflicht appelliert, und sie hätten sich mit seiner Maßnahme, wenn auch nicht ohne Skrupel, einverstanden erklärt. Lehrer Gruber habe ja nur Leos Bestes im Sinn gehabt, er habe den Doppelgänger ergriffen als der sich gerade ein paar Schritte von Leo entfernt hatte; Leo sei gerade in ein Rollenspiel für eine Schulaufführung vertieft gewesen und habe nichts von der Aktion bemerkt. Gruber habe den Doppelgänger dann in das von Leo entdeckte Zimmer gesperrt, und ihn nach drei Wochen in den Sarg gelegt. Leo müsse verstehen, der Einfluss dieses Doppelgängers sei für ihn schädlich gewesen, das habe Lehrer Gruber ihnen erläutert; Leos schulische Leistungen hätten ohnehin nachgelassen; nur durch diesen radikalen Eingriff habe man sein endgültiges Versagen abwenden können; außerdem wäre er ohne Grubers Einschreiten, wie der versichert habe, sein Leben lang ein Träumer geblieben.

Leo erzählte seinen Freund Lindner, einem Graphologen, von dem Doppelgänger, und erhoffte sich einen Rat, was er mit seinem Fund anfangen solle. Lindner war sofort höchst interessiert und bat, den Knaben analysieren zu dürfen. Übrigens, so fügte er hinzu, könne Leo dadurch eine Menge über sich selbst erfahren. Leo lag nichts an einer weiteren Selbstbegegnung, er scheute sogar davor zurück. Wenigstens aber, so beschloss er, sollte der Knabe der Wissenschaft dienen. Er erlaubte dem Graphologen also die psychobiologische Oduktion, verlangte allerdings, er müsse wenigstens den Kopf unversehrt lassen, und den Rest möge er bitte nicht den Fischen seines Aquariums zum Fraße vorwerfen. Immerhin fand Leo nun wenigstens den Ausgang aus seinem Elternhaus und lebte dann in einem Einzimmerappartement, wenn auch vorläufig noch als Single.


Kaleidoskop



Schwierige Zeiten für Zauberer. In vergangenen Zeiten wurde ein sauber ausgeführter Zauber von den Menschen benötigt. Heute werden nur noch faule Zauber geordert. Er seufzt. Ein wenig Wehmut macht sich in seinen Gedanken breit.

Der Zauberer trifft das Mädchen an einem weniger zauberhaften Ort. Sie steht da und ist mit sich und der Welt unzufrieden; hat keine Idee, keinen Plan, was werden wird. Das Mädchen erzählt dem Zauberer von dem Weg, den sie geht und den Türen, die sie sich nicht traut zu öffnen. Der Zauberer macht das Mädchen auf die Welt aufmerksam. Die Welt als Kaleidoskop.

Er glaubt an die unbeschränkte Magie seiner Worte. Er gibt ihr einen Schlüssel für die ihr noch unbekannten Türen. Sie öffnet viele, nicht alle. Durch einige geht sie vorsichtig hindurch. Sie hat Spaß beim Entdecken, was sich hinter den Türen verbirgt und sieht sich alles genau an. Er zeigt ihr auch ihre Flügel und erklärt ihr, wie sie diese benutzen kann. Sie staunt und probiert ihre neue Errungenschaft aus. Zuerst zieht sie kleine Kreise, unsicher noch, den Flügeln nicht trauend. Dann wird sie mutiger, fliegt größere Runden – jetzt macht sich Genuss breit. Das Mädchen überrascht auch den Zauberer. Sie macht ihn wiederum auf Dinge aufmerk-
sam, die sie entdeckt und lässt ihn daran teilhaben. Sie feiern gemeinsam ein rauschendes Fest der Entdeckungen. Die Welt als Kaleidoskop.

Und nun kommt ein Prinz auf seinem weißen Pferd geritten. Der Prinz hat ein anderes Zaubermittel, mit dem das Mädchen auch ohne Flügel, ohne Anstrengung fliegen kann. Unbekannte Türen stößt sie nun achtlos auf. Die Flügel, die sie vom Zauberer bekommen hat, legt sie zur Seite; den Schlüssel gibt sie dem Zauberer zurück. In ihrem Abschiedsbrief erzählt das Mädchen dem Zauberer von ihrem neuen Leben, macht sich lustig über die, zu denen sie gestern selbst noch gehörte. Ja, denkt der Zauberer, sie hat ALLES und NICHTS verstanden. Die Welt als Kaleidos-
kop.



Der Zauberer kommt nach Hause. Er legt seinen lilafarbenen spitzen Hut auf der Kommode ab. Er hängt den Schlüssel an sein Brett. Gegen Prinzen auf weißen Pferden ist kein Kraut gewach-
sen, denkt der Zauberer. Er seufzt. Er nimmt das große Zauber-
erbuch und liest „…jetzt noch einmal die Forderungen der Zauberer von heute, von morgen, von übermorgen: sich Irrende, Verwirrende / unlogisch handeln, sich lernend verwandeln / der Sehnsucht vertrauen, Seltenes schauen / unbequem werden, Feind sein der Herden / Träume aufmachen, wach sein und lachen / phantastisch erleben, Freiheit aufgeben…“* Dann ruft er bei den beiden Hexen an und lädt sie zum Kaffee ein.

Signe


*aus der LP „Verwunschen“ von André Heller, Amiga 1982


Nachtrag




Francisco Goya

Recherchiert bei Wikipedia:

"Jahrhundertelang waren die 'Narren' und 'Tollen' unter menschenun-
würdigen Bedingungen im Zuchthaus, Arbeitshaus oder Tollhaus untergebracht und verwahrt worden. In ganz Europa herrschte in der Zeit von 1650 bis 1800 eine Epoche der 'Ausgrenzung der Unvernunft', also all jener, die sich den Forderungen des Zeitalters der Vernunft entzogen: Bettler, Vagabunden, Arbeitslose, politisch Auffällige, Dirnen, mit 'Lustseuchen' Behaftete, Depressive sowie geisteskranke und behinderte Menschen. Sie alle wurden ohne Unterschied zusammen mit Sträflingen in einen gemeinsamen Raum gesperrt. Wer außerhalb der Grenzen der Vernunft, der Arbeit und des Anstandes stand, wurde aus der normalen Gesellschaft verbannt.

Die Beaufsichtigung der 'Irren' geschah durch die 'Irrenschließer', die 'Versorgung' durch sogenannte 'Zuchtmeister' und durch Strafgefangene. Geisteskranke wurden früher häufig angekettet und mit Folterwerk-
zeugen gequält, weil man sie so 'zur Vernunft bringen' oder 'von ihren Tollheiten heilen' wollte. Von 'Pflege' konnte dabei gleichwohl keine Rede sein. Da Geisteskranke als unempfindlich gegenüber Hitze und Kälte, Hunger, Durst und Schmerzen galten, ließ man sie fast nackt, gab ihnen nur wenig zu essen und zu trinken. Häufig wurden die Geisteskranken gegen ein kleines Entgelt zur Schau gestellt, wie im Londoner Irrenhaus 'Bedlam' (eine Verballhornung des Wortes „Betlehem“).

Die Einrichtung von Irrenhäusern und Irrenanstalten war unter diesem Gesichtspunkt ein Fortschritt – aus dem ausgegrenzten 'Irren' wurde ein Kranker mit einem Rechtsanspruch auf ärztliche Hilfe. Als erstes Irrenhaus der Welt gilt der Narrenturm im Wiener AKH (1784). Maßstäbe setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Pariser Arzt Philippe Pinel. Er nahm den Geisteskranken die Ketten ab und führte sie an die frische Luft. Des Weiteren engagierte er sich für die Anerkennung der Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet.

In Deutschland wurden wenig später ebenfalls Irrenhäuser und Irrenanstalten eingerichtet, zu einer Zeit, als der Begriff noch nicht seinen heutigen negativen Klang besaß und wo die deutschen Psychiater noch um die Anerkennung ihres Faches als eigenständige medizinische Disziplin kämpfen. Heutzutage gilt der Begriff 'Irrenhaus' oder 'Irrenanstalt' als abwertend und diskriminierend, er wird nur noch umgangssprachlich anstelle von Psychiatrischer Klinik verwendet. Im übertragenen Sinne steht der Begriff auch heute noch als Synonym für Chaos und organisierte Unvernunft: Das ist ja ein Irrenhaus oder Hier geht es ja zu wie im Irrenhaus. Dies gilt ähnlich für die Bezeichnung Klapsmühle."



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mitgewirkt haben: Cecilia, Enya, Helga, Geli, Conrad, Signe

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