Lazarus
Ich saß am Küchentisch und steckte mir eine von Simons Zigaretten an. Nachdenklich schaute ich dem Qualm nach während ich überlegte, wie ich unbemerkt mit der Leiche durch das Treppenhaus gelangen könnte.
Dort war nämlich Mia, die Neue von Gegenüber, und wischte den Flur. Sie hatte das Ladenlokal im Parterre gemietet, und einen Katzensalon eröffnet. Katzensalon! Wenn ich an all die Katzenhaare dachte, schüttelte es mich!
Aber Mia war ganz vernarrt in diese Biester, besonders in Lazarus – den ich gerade erschlagen hatte. Mit der Bratpfanne. Der gusseisernen. Er wollte einfach nicht hören, als ich brüllte: „Raus!“
Jetzt lag er lang ausgestreckt auf dem Linoleum. Eine Riese unter den sogenannten Samtpfoten, der bereits bei Simon lebte, bevor ich einzog. Eine norwegische Waldkatze. „Kluges Tier!“, schwärmte Simon oft. „Er kann sogar sprechen. Richtig sprechen! Wenn er ein Leckerchen haben will, maunzt er: Mieh aauch - mir auch, gib mir auch was. Will er ins Haus, ruft er: Maach aauh; mach auf.“ Dann zerzauste Simon meist den Katzenschopf, sodass die Härchen nur so umherschwirrten.
Abscheulich!
„Sprechen! Mein Güte, Simon. Er ist bloß ein Tier! Und langhaarig. Vor allen Dingen langhaarig ... Er soll sich ja nicht in die Küche wagen!“
Simon hatte das Vieh Lazarus getauft, weil es nach seiner Geburt tot im Katzenkorb lag. Als die Züchterin den Körper entsorgen wollte, fing er plötzlich an zu zappeln. Von den Toten auferstanden ... aber ich habe seine verbliebenen sechs Leben aus ihm rausgeprügelt. Mit einem Schlag! Blut sickerte aus seiner Nase und einem Ohr auf das Linoleum. Ansonsten sah er beinahe aus, wie wenn er schlafend in Simons Bett am Fußende lag: schlaff, die Augen geschlossen, den Schwanz von sich gestreckt und außerordentlich behaart. Die Schnauze stand ein Stückchen auf, seine raue Zunge lugte hervor. Ich konnte spitze Zähne sehen. Ein paar Wolken, die über den Himmel jagten, warfen dunkle Schatten auf sein Fell, verliehen ihm etwas Lebendiges. Beinahe erwartete ich, dass er sich aufsetzte und anfing zu maunzen, diesen furchtbaren gedehnten Laut, der mir durch Mark und Bein ging: „Miiiaaaaah, Miiiaaaaaah!“ Ich verabscheute das!
Noch mehr hasste ich, dass Biggi, meine beste Freundin, mich hier nicht besuchen konnte. Katzenhaarallergie. Und die lagen hier überall herum: lange rote Katzenhaare; auf den Polstern, Bettlaken, Fliesen. Sogar im Essen fand ich welche.
Ekelhaft!
Gerade eben hatte ich sie vom Küchentresen gewischt. Die feinen Fäden klebten zwischen meinen feuchten Fingern wie Spinnweben. „Du kommst hier nicht rein!“, brüllte ich ihn an, „verschwinde!“ Stattdessen schlenderte Lazarus in die Küche und miaute: „Mieh aauch!“ Das hat irgendwas in mir ausgelöst; ich trat nach ihm.
„Raus!“ schrillte es aus meinem Mund. Lazarus wich zurück, fauchte, schlug sogar mit der Pfote nach mir. Er erwischte mich am Schienbein, hinterließ fünf blutige Schrammen. „Du Mistvieh!“ Es machte fast kein Geräusch, als ich Lazarus die heiße Pfanne überzog – rasend schnell, ohne nachzudenken, sodass Speck, Zwiebeln und Schmalz durch die Küche spritzten. Danach stellte ich sie bedächtig auf den Herd zurück, schaltete die Platte aus und steckte mir zur Beruhigung eine von Simons Zigaretten an. Wohin nun mit dem Kadaver?
Vergraben? Nein. Wie sollte ich das so schnell unbemerkt schaffen? Am besten in die Lippe werfen. Kurz und schmerzlos. Wer fragte schon nach einer toten Katze im Fluss? Ich musste lediglich unbemerkt durch den Hausflur, an der Neuen vorbei, die ich schon länger verdächtigte, dass sie nicht bloß in Lazarus vernarrt war.
Mir blieb nicht mehr viel Zeit! Jeden Augenblick würde Simon nach Hause kommen. Rasch holte ich einen Aufnehmer und machte sauber. Lazarus stieß ich mit dem Fuß zur Seite. Diesmal schlug er nicht nach mir, lag da wie ein Bündel Dreckwäsche. Da kam mir die Idee!
Ich holte den Wäschekorb für die Heißmangel. Eines musste man Lazarus lassen: Er war ein imposantes Biest gewesen, beinahe so groß wie ein Cockerspaniel, wog bestimmt zwölf, dreizehn Kilo. Ein schwerer, haariger Körper. Ich wickelte ihn in ein Laken, legte ihn zuunterst in den Korb, und häufte Bettbezüge oben drauf. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, wandte sich Mia zu mir um.
„Hallo!”, grüßte ich betont munter. „Hallo! Scheint ganz schön schwer zu sein.“ Sie stellte den Schrubber zur Seite. „Soll ich mit anfassen?“
„Nein! Nein, das ist nicht nötig.“ Ich schob mich rasch an ihr vorbei, stand gerade auf der ersten Stufe und dann ... dann hörte ich es.
Es klang unheimlich, geradezu schauerlich. Und gleichzeitig flehentlich. „Mia ... au.“
Ich hielt inne wie Lots Weib, spürte, dass sich der Flaum auf meinen Armen aufrichtete, auf meinen Beinen, im Nacken. Als wenn ein eisiger Finger über meine Haut führe.
Mia starrte erst mich, danach den Korb an. Drei Sekunden, vier, fünf ... „Mia ... au ...“
Die Wäsche bewegte sich. Zwischen den Falten schob sich quälend langsam eine Tatze mit wirren Haaren hervor. Ein nahezu menschlich klingender Jammerlaut folgte. „Mia ... au!“
„Lazarus“, hauchte Mia. „Mein Gott, Lazarus.“ Sie zog die Bezüge zur Seite, erblickte katzengoldene Augen in einem blutbefleckten Tiergesicht.
Ich erkannte an ihrem Mienenspiel, wie sich das Begreifen Stück für Stück zusammenfügte. Als sie das Bild erkannte, schüttelte sie den Kopf. „Was, zum Teufel, haben Sie getan!“, fauchte sie.
Die Haustür wurde aufgeschlossen, Simons vertraute Schritte hallten durch das Treppenhaus. Kurz darauf stand er neben uns. Warum plötzlich solch ein unnatürliches Schweigen herrschte, weiß ich nicht. Jedenfalls war es still.
Grabesstill.
Einzelne flirrende Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster. Staub und kleine Haare schwebten in der goldenen Helligkeit. Mitten in dieser lichtdurchfluteten Lautlosigkeit fing Lazarus an zu schnurren: Volltönend, vibrierend und tief, so tief, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Es war ein Geräusch wie aus einer anderen Welt.
„Wenn Katzen sterben“, flüsterte Mia, „fangen sie an zu schnurren. Um sich zu beruhigen.“
Lazarus schloss die Augen.
Simon erwachte aus seiner Erstarrung. Er gab einen gurgelnden Laut von sich, riss mir den Korb aus den Händen und stürzte davon.
„Warten Sie!“, rief Mia. „Ich fahre!“
Die Haustür knallte, sein Auto fuhr mit quietschenden Reifen weg und ich war allein. Allein mit ein paar Katzenhaaren auf den Bodenfliesen, die Mia wohl gerade aufwischen wollte.
Meine Güte! Was für ein Theater. Die taten beinahe so, als hätte ich einem Menschen etwas angetan! Verstehen konnte ich das nicht.
Wie arg Lazarus Verletzungen waren, erfuhr ich nie. Simon forderte mich am selben Nachmittag auf auszuziehen. Ich tat ihm den Gefallen, kam erst mal bei Biggi unter.
Neulich habe ich gehört, dass Mia bei Simon und Lazarus eingezogen ist. Samt ihrer Katze. Wenn ich an all die Katzenhaare in dieser Wohnung denke ... Zum kotzen!
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2008
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Widmung:
Man kann nichts in die Tiere hineinprügeln, aber man kann manches aus ihnen herausstreicheln.
(Astrid Lindgren)