Vor langer Zeit, an einem klirrend kalten Neujahrstag, fanden die Straßenkehrer, die das Kopenhagener Villenviertel von den Resten der ausgelassenen Silvesterfeierlichkeiten befreien sollten, den Leichnam eines kleinen Mädchens.
Es hatte sich, barfuß und nur mit Lumpen bekleidet, in eine Mauerecke in einer Seitenstraße gekauert. Sein Gesicht war schneeweiß, in seinen schmutzigen, ungekämmten blonden Locken verfingen sich Schneeflocken und ließen das tote Kind wie eine Puppe aus Eis aussehen. In seinen verkrampften Händen hielt es ein ganzes Bündel abgebrannter Schwefelhölzer, als hätte es sich daran ein wenig aufwärmen wollen.
Sein Anblick erweichte die Herzen der Männer, die solches Mitleid mit dem toten Mädchen hatten, dass sie es zum Kopenhagener Assistenzfriedhof brachten, wo es anonym bestattet wurde.
Niemand kam, um nach dem Kind zu suchen. Die Stadtwache unternahm nichts, um seine Angehörigen zu finden. Nicht die kleinste Meldung erschien in der Berlingske Politiske, der meistgelesenen Zeitung der Stadt. Die Menschen in dem noblen Stadtteil hatten nicht einmal mitbekommen, was geschehen war, und hätten sie es erfahren, sie hätten es doch nur mit einem gleichgültigen Kopfschütteln abgetan. Das Leben in Kopenhagen ging weiter, und auch die Straßenkehrer vergaßen den Vorfall irgendwann.
Ein Jahr später, genau am Silvesterabend, begann zur Abenddämmerung der Pulverschnee in jener schmalen Seitengasse aufzuwirbeln. Ein Schatten bildete sich mitten in den Bergen achtlos weggeworfenen Unrats und wurde dunkler und dunkler. Er verfestigte sich und nahm eine menschliche Form an. Die Ratten, die eben noch zwischen den Abfällen nach Futter gesucht hatten, stoben in alle Richtungen davon. Sie spürten, dass es nicht klug war, in der Nähe dieses Schattenwesens zu bleiben, das ein Mensch war und auch wieder nicht.
Die Konturen verfeinerten sich weiter und fügten sich zu Gewebe, das sich in schäbigen, vor Dreck starrenden Lumpen um einen zierlichen Körper wand. Zarte Haut bildete sich, die so weiß war, dass sie wie kostbares, hauchdünnes Porzellan schimmerte. Haare wallten hervor und legten sich in ungebändigten, blonden Locken um ein Gesicht, hüllten es ein, als wollten sie die blass-blauen Augen und den winzigen, trotzig lächelnden Mund vor neugierigen Blicken verbergen.
Das Mädchen wartete noch eine Weile, ließ den Schnee in sanft wirbelnden Flocken um sich herum tanzen, beobachtete wachsam und eigenartig verträumt zugleich die Schemen der an der Gasse vorbei eilenden Menschen, die auf dem Weg zu ihren Lieben waren, zu Freunden, mit denen sie die letzten Stunden des alten Jahres feiern wollten. Es sah an sich herab. In seiner linken Hand hielt es ein Bündel frischer Schwefelhölzer. Die rechte Hand umklammerte einen zerschlissenen Korb, in dem weitere zu gleichmäßig großen Bündeln zusammengebundene Streichhölzer lagen.
Es setzte sich in Bewegung und trat hinaus auf die Hauptstraße. Ohne auf die großen Kutschen zu achten, die aus beiden Richtungen auf das Mädchen zukamen, überquerte es die Fahrbahn. Die Fahrzeuge verfehlten es nur knapp, doch bremste keines von ihnen ab. Es war, als hätten die Kutscher die zerlumpte Gestalt nicht einmal wahrgenommen, die mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit voranschritt.
Das Mädchen sprach niemanden an, um seine Ware feilzubieten. Und kein Passant wurde auf es aufmerksam. Dennoch machten die Fußgänger unbewusst den Gehsteig frei, so dass das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern ungehindert seines Weges gehen konnte.
Es musste nicht weit laufen. Sein Ziel war ein herrschaftliches Haus, dessen hell erleuchtete, hohe Fenster den sorgfältig gepflegten Vorgarten in festliches Licht tauchten. Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich wie von selbst, als das Mädchen davor trat. Es schritt die Auffahrt entlang und stieg die Stufen zur Haustür hinauf, die vor ihm hoch aufragte und es noch kleiner erscheinen ließ. An der Tür war ein Klopfring aus Messing, der im Maul eines imposanten, ebenfalls aus Messing gefertigten Löwen steckte. Er war für das Mädchen viel zu hoch angebracht. Ein drohendes Klopfen ertönte, als er, wie von Geisterhand bewegt, gegen die massive Tür aus Eichenholz hämmerte.
Stimmen und leise Musik waren aus dem Inneren zu hören, während das Mädchen draußen vollkommen still stand und auf den Herrn des Hauses wartete. Die Tür öffnete sich. Ein groß gewachsener Mann in vornehmer Abendrobe mit einem halb vollen Champagnerglas in der Hand blinzelte zunächst verwirrt in die kalte Abendluft, bevor er seinen Blick langsam senkte und der mageren Gestalt gewahr wurde, die im Schnee auf den Stufen nicht einmal Fußabdrücke hinterlassen hatte. Sein eben noch freundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich schlagartig. Was erdreistete sich dieses Bettelkind? Naserümpfend und angewidert starrte er auf sie herab, kaum Willens, auch nur zu fragen, was sie hier wollte.
"Du bist der Kaufmann Jakob Tørstedt“, sagte das Mädchen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und es sprach sie mit einer glasklaren, leisen Stimme aus, die dennoch in den Ohren des erstaunten Mannes dröhnten.
"Woher weißt...", begann er verdutzt, schnappte nach Luft, fasste sich wieder und erklärte dem Mädchen mit herrischem Ton, dass Bettler auf seiner Türschwelle nichts verloren hätten. Doch das Mädchen blieb stehen und sah ihn weiter unverwandt aus seinen hellblauen Augen an. Es hielt ihm die Schwefelhölzer entgegen.
"Beim letzten Mal wolltest du nichts kaufen“, sagte es nun. Die Stirn des Kaufmannes legte sich in Falten. Irritiert fragte er sich, wovon diese Göre sprach. In den Straßen Kopenhagens gab es viele Bettler. Er als wohlhabender, stets gut gekleideter Bürger wurde ständig von ihnen angesprochen, wenn er zu Fuß in der Stadt unterwegs war. Sie waren eine Plage, weiter nichts. Wenn er diesem Kind tatsächlich schon begegnet sein sollte, dann wusste er es nicht mehr.
"Du hast mich zur Seite gestoßen und bist weitergegangen“, fuhr das kleine Mädchen unbeirrt fort. "Ich fiel in den Schnee, auf die Fahrbahn, direkt vor eine Kutsche. Ich konnte im letzten Augenblick ausweichen, sonst wäre ich von den Pferden zertrampelt worden. Du hast es doch gesehen, du warst stehen geblieben und hast dich umgeschaut, weil du wissen wolltest, was es mit diesem plötzlichen Tumult auf sich hatte."
Der Kaufmann geriet ein wenig ins Wanken. Er machte einen Schritt zurück und schüttelte langsam den Kopf. Er wollte nicht hören, was das blasse Mädchen ihm da erzählte. Doch es sprach weiter, und seine helle Stimme zwang ihn zuzuhören.
"Ich verlor bei dem Sturz die viel zu großen Schuhe, die einst meiner Mutter gehört hatten. Einer wurde von der Kutsche mitgerissen, der andere wurde von einem Jungen gestohlen. Es war bitterkalt, und ich war barfuß. Du hast alles mit angesehen, du hast mir in die Augen gesehen, doch du hast nichts getan, hast nur den Kopf geschüttelt, als wäre es meine Schuld gewesen und bist fortgegangen."
Er erinnerte sich nun, sein Gesicht verriet die dämmernde Erkenntnis, in seine Miene schlich sich das schlechte Gewissen, ließ seine Mundwinkel zucken und seine Augen nervös blinzeln.
"Du hättest mich retten können“, sagte das Mädchen und starrte ihn weiter an. Sein Blick war so stechend, dass es dem Mann beinahe körperliche Schmerzen verursachte. "Ein paar Schilling nur, ein Bündel hättest du nur nehmen müssen. Ich hätte meine Schuhe noch und ich hätte heimgehen können, weil ich etwas Geld mitgebracht hätte. Denn ich konnte nicht nach Hause, ohne etwas verkauft zu haben. Dann hätte mein Vater mich wieder geschlagen, weißt du? Er schlug mich immer, wenn ich ohne Geld zurückkam, und er schlug immer sehr fest zu."
Das Mädchen flüsterte nur noch, doch seine eindringlichen Worte stachen wie Messer in den Kopf des Kaufmanns. Es machte einen Schritt auf den Mann zu und hielt die Schwefelhölzer wie eine Waffe hoch, und er wich ängstlich zurück.
"Doch nun bin ich ja da. Dieses Mal lasse ich mich nicht mehr wegstoßen, nun wirst du bezahlen.“
"Bitte", sagte - nein, flehte der Kaufmann. "Bitte, lass‘ mich nur rasch mein Geld holen, ich kaufe deine Schwefelhölzer, ich kaufe alle deine Schwefelhölzer!"
Er wich noch weiter zurück ins Innere des Hauses, das Mädchen folgte ihm. Sie standen schon mitten in der Eingangshalle mit den schweren Vorhängen aus Brokat an den Fenstern, handgeknüpften orientalischen Teppichen an den Wänden, dem großen, mit unzähligen brennenden Kerzen besetzten Kronleuchter aus Kristall an der hohen Decke und dem auf Hochglanz polierten Fußboden, der mit Edelhölzern in komplizierten Mustern ausgelegt war. Von irgendwo oben klangen Musik und Gelächter herunter. Die feine Gesellschaft ahnte nichts von dem unheimlichen Gast.
Obwohl das Mädchen immer noch flüsterte, hallte seine Stimme von den Wänden wider, als es sagte:
"Nein, du musst mir nichts mehr abkaufen, Jakob Tørstedt. Ich schenke sie dir!"
Mit diesen Worten hielt das Mädchen sein Bündel Schwefelhölzer hoch über seinen blonden Lockenschopf, wo es sich plötzlich von selbst mit einem Zischen entzündete. Es holte aus und warf die hell lodernden Hölzer auf den Kaufmann. Sie blieben in seinen Haaren und seiner Kleidung hängen und steckten ihn augenblicklich in Brand. Die restlichen Schwefelhölzer flogen in alle Richtungen und ließen die Wandteppiche und Vorhänge in Flammen aufgehen.
Der Kaufmann stieß entsetzliche Schreie aus, warf sich zu Boden und wälzte sich herum, doch er schaffte es nicht, das Feuer zu ersticken. Schon fraß es sich durch seine teuren Gewänder und in seine Haut. Die Schmerzensschreie des Kaufmannes wurden lauter und schriller. Seine Frau und seine Gäste stürzten aus dem Salon, blieben am oberen Ende der Treppe wie angewurzelt stehen und starrten entsetzt auf das Schauspiel des Grauens, das sich ihnen in der Eingangshalle bot.
Die Frau des Kaufmannes fiel in Ohnmacht, und weil keiner der anwesenden Männer schnell genug war, um sie aufzufangen, stürzte sie die Stufen hinunter, überschlug sich und landete mitten im Flammenmeer, in dem ihr Gatte in letzten Todeszuckungen lag. Ihr aufwändig genähtes Kleid aus vielen Schichten kostbarer Stoffe explodierte förmlich in einer Wolke aus Feuer. Dieser Anblick löste die Gäste der Familie Tørstedt aus ihrer Schreckensstarre. Sie flüchteten laut schreiend durch die Hintertür. Einer von ihnen erzählte später, er habe ein Kind in der Halle gesehen, das seelenruhig dagestanden und dem Kaufmann und seiner Frau dabei zugesehen hätte, wie sie verbrannt waren. Doch ließ sich das weder beweisen, noch glaubte es ihm jemand.
Als die Kopenhagener Feuerwehr versuchte, die Flammen, die das Anwesen der Familie Tørstedt vollständig zerstörten, daran zu hindern, auf die benachbarten Gebäude überzugreifen, lief eine kleine zerlumpte Gestalt mit einem Korb voller Schwefelhölzer durch das ärmste Viertel der Stadt. Sie ging bis zu einem heruntergekommenen, windschiefen Häuschen am Ende einer düsteren, laternenlosen Gasse.
In einem Fenster brannte Licht. Das Mädchen drückte sanft an die Tür, die sich lautlos öffnete, und betrat das Innere. An dem alten, von Flecken übersäten Holztisch kauerte auf einem kümmerlichen, dreibeinigen Hocker ein Mann, der halb auf dem Tisch lag und eine offene Flasche billigen Weins festhielt. Er schaute kaum auf, öffnete nur ein Auge und blickte in die Richtung des Mädchens. Es blieb ganz ruhig vor dem Mann stehen und sah ihn mit seinem kleinen, trotzigen Lächeln an. Die Augen des Mannes wurden groß, als endlich das Erkennen durch sie flackerte. Er stemmte sich hoch und stieß ein ungläubiges "Du...!" hervor.
Das Mädchen nahm ein Bündel Schwefelhölzer in die Hand und hielt sie dem Mann entgegen.
"Ich bin zu Hause, Vater", sagte es. "Und ich habe dir etwas mitgebracht."
Die Schwefelhölzer zischten und leuchteten in heller Flamme auf. Das Mädchen schloss die Augen und ließ die brennenden Hölzer fallen. Als sein Vater zu schreien begann, seufzte es ein letztes Mal erleichtert.
Es war erlöst.
Texte: © Jana Oltersdorff
Bildmaterialien: © Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2012
Alle Rechte vorbehalten