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Vor vielen, vielen Jahren war das Königreich hinter den sieben Bergen völlig verarmt. Der alte König war verstorben und hatte seiner Frau und seiner einzigen Tochter aus erster Ehe nur ein heruntergekommenes Schloss mit leeren Schatzkammern hinterlassen. Räuberbanden zogen durchs Land, brandschatzten und plünderten und wohin das Auge auch blickte, überall herrschte nur Elend und große Not. Auch die Mägen der Schlossbewohner knurrten vor Hunger.
Die schöne Prinzessin, die ob ihres ebenholzschwarzen Haares und ihrer schneeweißen Haut den Namen Schneewittchen trug, war verzweifelt und strich ruhelos durch die Hallen ihres Schlosses, mit dem Grübeln über einen Plan zur Rettung ihres Reiches und ihres Not leidenden Volkes beschäftigt. Auch ihre Stiefmutter plagten die Sorgen um die Zukunft des Königreiches. Gerade erst hatte sie zusammen mit Schneewittchen Besuch von Bauern eines nahe gelegenen Dorfes empfangen, die ihnen von den schweren Überfällen in der letzten Zeit berichtet hatten. Noch schlimmer war, dass der Winter vor der Tür stand und die wenigen Vorräte kaum reichen würden. Eine Hungersnot war wohl kaum noch vermeidbar.
Der Bauer hatte von der Bande der Sieben gesprochen. „Das sind die Schlimmsten“, hatte er gesagt. Das stimmte. Die Sieben hatten selbst vor dem königlichen Anwesen nicht Halt gemacht. In einer nebligen Herbstnacht, als die Stiefkönigin und die Prinzessin nicht im Schloss waren, hatten sie die wenigen Männer der Leibgarde überwältigt und aus den Schlafgemächern der königlichen Damen den letzten Schmuck gestohlen und die Waffenkammer geplündert. Dabei war auch der schöne, große Spiegel zerbrochen, der das Schlafzimmer der Stiefkönigin geschmückt hatte und ihr ganzer Stolz gewesen war.
Schneewittchen hatte genug. So konnte es unmöglich weitergehen. Ihre Stiefmutter hatte ganz ähnliche Gedanken verfolgt und eines Abends bat sie Schneewittchen auf ein geheimes Gespräch in einem abgelegenen Turmzimmer. Von ihrer letzten Reise hatte sie etwas mitgebracht, das ihnen helfen sollte, das Übel bei der Wurzel zu packen und dem Königreich hinter den sieben Bergen wieder zu Glück und Wohlstand zu verhelfen. Sie hatte einen raffinierten Plan ausgearbeitet und erklärte ihn nun der Prinzessin, die nur allzu bereit war, ihren Teil zum Gelingen beizutragen.
Ein Jäger wurde herbeigerufen, der in einen Teil des Planes eingeweiht werden musste. Schon am nächsten Tag machte er sich zusammen mit den anderen königlichen Jägern auf den Weg in die Wälder, doch nicht, um zu jagen, sondern um das Versteck der Sieben ausfindig zu machen.
Eines Tages kehrte der Jäger als einziger seiner Gruppe zurück, denn die anderen waren von den Sieben gnadenlos getötet worden, als sie das Versteck der Räuberbande entdeckt hatten. Schneewittchen bereitete sich eilig auf ihre eigene Reise vor und ließ sich am nächsten Tag von dem Jäger in den Wald führen. Sie gingen weit in das tiefe, dunkle Dickicht hinein, durch finstere Schluchten, über klare, sprudelnde Bäche, über Felsen und vorbei an uralten Bäumen. Schließlich ließ der Jäger das Mädchen ganz in der Nähe der Räuberhütte allein zurück. Er tat das nicht gern, denn er hatte große Angst um die schöne Prinzessin, doch gehörte es zum Plan der Stiefkönigin und er hatte zu gehorchen.
Schneewittchen lief den restlichen Weg allein weiter. Als sie die Hütte erreichte, schien niemand da zu sein. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und betrat das Innere. Zu ihrer Überraschung fand sie einen behaglichen großen Raum vor, an dessen einem Ende ein Feuer in einem Kamin knisterte, in dessen Mitte ein riesiger Tisch mit sieben Stühlen stand und an dessen anderem Ende sieben Schlafstellen nebeneinander aufgereiht standen. Von Schätzen und anderen geraubten Kostbarkeiten indes keine Spur. Auf dem Tisch lagen Brot und Käse auf einem Holzbrett. Da merkte Schneewittchen, wie erschöpft und hungrig sie von ihrer Wanderung geworden war. Sie aß etwas, nahm einen Schluck Wasser aus dem Tonkrug und probierte schließlich eines der einladend aussehenden Betten aus, wo sie sofort einschlief.
Als sie erwachte, blickte sie in sieben bärtige Gesichter, die sich über sie gebeugt hatten und sie teils grimmig, teils fragend anstarrten. Sie erschrak und zitterte vor Angst, doch sie schaffte es, trotz ihrer Furcht vor den grobschlächtigen Räubern die Geschichte zu erzählen, die sie mit ihrer Stiefmutter einstudiert hatte.
„Meine böse Stiefmutter war so eifersüchtig auf mich, dass sie einen Jäger mit mir in den Wald schickte, wo er mich töten und als Beweis mein Herz und meine Leber zu ihr bringen sollte. Doch ich konnte ihn überreden, stattdessen ein Reh zu töten und dessen Innereien als meine auszugeben. Ich lief, so weit mich meine Füße tragen konnten, bis ich euer Haus fand. Bitte, tut mir nichts, ich werde mich gern um euren Haushalt kümmern, wenn ich bei euch bleiben darf!“
Schneewittchens Schönheit und Anmut und ihre unglaubliche Geschichte konnten die sieben Räuber doch tatsächlich erweichen, so dass ihr Anführer schließlich sagte:
„Wirst du unser Haus rein halten, unsere Kleider pflegen und uns jeden Tag gutes Essen kochen?“
„Ja, das werde ich gern tun“, versprach das Mädchen.
„Dann darfst du bleiben“, entschieden die Räuber.
Von nun an arbeitete Schneewittchen hart, um das Vertrauen der Männer zu gewinnen. Sie ließ sich gern von ihnen umwerben, denn alle hatten sie ein Auge auf das hübsche Mädchen geworfen. Nur den ebenbürtigen Kräften der Männer und dem letzten Wort des hünenhaften Anführers war es zu verdanken, dass niemand Schneewittchen anrührte.
Die Räuber waren jeden Tag in den Wäldern unterwegs. Manchmal brachten sie frisch erlegtes Wild mit, aus dem Schneewittchen köstliche Speisen zauberte. Manchmal schenkte ihr einer der Männer ein Schmuckstück, um ihr zu schmeicheln. Doch ihre wahren erbeuteten Schätze brachten sie nie in die Hütte. Also mussten sie dafür ein anderes Versteck haben, dachte Schneewittchen.
Schließlich schaffte sie es, an einem besonders feuchtfröhlichen Abend, als fast alle Männer nach gutem Essen und viel Wein und Gesang noch am Tisch eingeschlafen waren, dem Anführer das Geheimnis zu entlocken. Jetzt da sie wusste, wo der Schatz der Räuber zu finden war, wurde es Zeit, den nächsten Schritt zu machen.
Sie nutzte am nächsten Tag die Stunden, in denen sie allein im Haus war, eine Nachricht an einer vereinbarten Stelle für den königlichen Jäger zu hinterlassen. Schon wenige Tage später wusste sie, dass der nächste Teil ihres Planes funktioniert hatte. Die Räuber hatten in einem besonders zwielichtigen Gasthaus, wo sie gern einen Teil ihrer Beute in Wein und Bier verwandelten, erfahren, dass die Stiefkönigin heimlich ein wahrhaft hohes Preisgeld aus der geheimen, prall gefüllten Schatzkammer demjenigen versprochen hätte, der ihr Herz und Leber ihrer verhassten Stieftochter bringen würde. Natürlich hatte ihnen dieses angebliche Geheimnis niemand anderes als der königliche Jäger verraten. Sie erinnerten sich an die Geschichte, die ihnen Schneewittchen am Tag ihrer Ankunft im Haus der Räuber erzählt hatte und erkannten, dass sie die gesuchte Königstochter war.
Sie witterten ihre Chance. So schnell sie konnten, liefen sie zurück zu ihrem Versteck im Wald und drängten Schneewittchen, die Wahrheit zu sagen. Sie gestand schluchzend, dass sie die Königstochter war und flehte die Männer an, sie zu verschonen. Doch die waren so sehr in ihren Streit um Schneewittchen vertieft, dass sie das Mädchen für eine Weile vergaßen. Wenn sie es töteten und sein Herz und seine Leber zur Stiefkönigin brachten, würden sie so viel Geld haben, dass sie zusammen mit ihren schon erbeuteten Schätzen ein eigenes Königreich kaufen konnten. Doch wer von ihnen sollte derjenige sein, der Schneewittchen tötete? Wer von ihnen sollte die Innereien zum Schloss bringen und das Preisgeld erhalten? Plötzlich waren sie nicht mehr bereit, alles durch sieben zu teilen, und aus dem heftigen Streit über den Anspruch auf Schneewittchen entstand ein blutiger Kampf, bei dem die sieben Räuber sich schließlich gegenseitig umbrachten. Nur der Anführer blieb übrig und wandte sich mit seinem vor Blut triefenden Dolch schwer atmend der zitternden Königstochter zu.
Schneewittchen holte zu ihrem nächsten Schlag aus. Sie flehte den Räuber auf Knien an, sie zu verschonen. Sie versprach, seine Frau zu werden, wenn er sie nur am Leben ließe. Das brachte den Räuber, der doch eigentlich eine Schwäche für das schöne Mädchen hatte, dazu, über ihre Bitte nachzudenken.
„Komm, mein starker Mann“, säuselte sie und lud ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen. „Ich werde dir das köstlichste Essen bereiten, das du jemals gegessen hast. Dann können wir uns über unsere gemeinsame Zukunft unterhalten.“
Der Räuber setzte sich und dachte bei sich, dass ihm das Mädchen schon nicht weglaufen würde und er sie auch später immer noch töten konnte. Schneewittchen kochte ihm einen deftigen Eintopf mit Wildfleisch und selbst gesammelten Pilzen. Danach servierte sie ihm seine liebste Süßspeise: Apfelmus. Während er das Apfelmus gierig in sich hineinschaufelte, saß sie ihm gegenüber und sah ihm aufmerksam dabei zu. Es dauerte nicht lange, und er fing an zu husten. Seine Augen quollen hervor, er fasste sich mit einer Hand an die Gurgel, mit der anderen ans Herz. Als er vom Stuhl aufsprang, schwankte er und keuchte.
Schneewittchen blieb weiter auf ihrem Schemel sitzen, die Hände brav im Schoß gefaltet und lächelte ihn liebreizend an.
„Was hast du mit mir gemacht, Hexe?“ stieß er hervor. Er zog seinen Dolch, machte einen letzten schwerfälligen Schritt auf Schneewittchen zu und fiel der Länge nach hin. Sie wartete noch einen Moment und vergewisserte sich dann, dass er wirklich tot war. Der Gifttrank, den ihre Stiefmutter ihr gegeben hatte, bevor sie in den Wald gegangen war, hatte seine tödliche Wirkung, versteckt im süßen Apfelmus, gezeigt.
Nach Schneewittchens Rückkehr ins königliche Schloss waren ihre Stiefmutter und der Jäger erleichtert. Besonders der Jäger war froh, die Prinzessin wohlbehalten in Sicherheit zu wissen, hatte er sein Herz doch tatsächlich an sie verloren. Umso glücklicher war er, als er erkannte, dass sie seine Gefühle erwiderte.
Gemeinsam mit einer Truppe der königlichen Leibgarde machten sie sich auf den Weg zum versteckten Schatz der sieben Räuber und brachten alle Goldstücke, Juwelen und Kostbarkeiten in die königlichen Schatzkammern. Das dauerte sieben Tage, und am Ende waren die Schatzkammern so voll, dass sie fast platzten.
Im Schloss wurde daraufhin ein großes Fest gefeiert, zu dem das ganze Königreich eingeladen wurde. Endlich gab es wieder Reichtum und genug zu essen für jedermann. Der Höhepunkt jedoch war die Hochzeit von Schneewittchen und dem Jäger. Sie feierten sieben Tage und sieben Nächte und regierten von nun an das Königreich weise und besonnen. Nie wieder suchten Räuber das Land heim und alle konnten in Frieden und Wohlstand leben.


Jana Oltersdorff
Dietzenbach, 02. April 2012

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Texte: © Jana Oltersdorff
Bildmaterialien: © Peter Habereder / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2012

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