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Das Findelkind




Federhaar war eine sehr alte Elfe. In ihrem Stamm gab es sonst niemanden, der die letzten drei Clanoberhäupter nicht nur aus den Geschichten kannte, die in sternenklaren Nächten in gemütlicher Runde erzählt wurden, sondern sie wirklich gekannt, mit ihnen gejagt hatte. Das Leben der Borkenwaldelfen war nun einmal hart und endete für die meisten plötzlich und oftmals zu früh. Federhaar lächelte sanft bei der stillen Erinnerung an all die Abenteuer, die sie in ihrem langen Leben bestanden hatte, all die Gefahren, in die sie hineingeraten war. Die jüngeren Elfen hatten ihr den Beinamen "Die Unzerbrechliche" gegeben, weil sie aus jeder noch so gefährlichen Situation lebend herausgekommen war. An ihrer linken Hand fehlte zwar ein Finger, aber ansonsten war sie unversehrt geblieben.
Sie sah von dem Leder auf, das sie gerade gerbte, um den beiden Elfen entgegenzublicken, die aufgeregt auf sie zugerannt kamen. Einblatt, der jüngere der beiden Geschwister, trug ein Bündel in seinen Armen. Die Art und Weise, auf die er es vorsichtig an sich drückte, zeigte ihr, dass es etwas Lebendiges sein musste. Federhaar hoffte, dass es nicht wieder ein verletztes Junges von einer der schwarzen Großkatzen war wie beim letzten Mal. Denn jener Fund hatte ihr eine wilde Hetzjagd quer durch den Borkenwald beschert, bei dem sie selbst allerdings die Gejagte gewesen war – und alles nur, weil sie freundlicherweise versucht hatte, der rasenden Katze ihr Junges gesund und munter zurückzugeben, nachdem Einblatt und Splitter sie überredet hatten, dem Tier zu helfen.
Federhaar seufzte, legte ihr Gerbwerkzeug beiseite und richtete sich auf. Was auch immer die beiden dabeihatten, ihre Neugier war geweckt.
"Federhaar!" rief Splitter ihr entgegen.
*Na, na, Kleine*, ermahnte sie das Mädchen. *Denk an die Regeln! So nah bei der Menschensiedlung wird nicht laut durch den Wald gebrüllt!*
*Entschuldige*, sendete Splitter beschämt.
Dann standen die zwei Elfen ganz außer Atem vor ihr. Federhaar hatte die Arme vor der Brust verschränkt und stellte den strengsten Gesichtsausdruck zur Schau, den sie beherrschte. Schließlich war es den jungen Elfen des Stammes nicht erlaubt, sich tagsüber so weit vom Hort zu entfernen. Aber Einblatt und Splitter hatten einen besonderen Platz in ihrem Herzen, denn sie war ihre Großmutter, und sie konnten ziemlich sicher sein, dass Federhaar sie nicht bei ihrem Häuptling Lichtpfeil verraten würde.
"Also", begann sie. "Was habt ihr zwei diesmal aus dem Wald geschleppt?"
Einblatt zeigte ihr, was er in der Decke verborgen hatte. Es war ein Kind, ein schlafendes Kind, kaum mehr als ein Säugling, der da friedlich in Einblatts Armen schlummerte. Aber er hatte fünf Finger an jeder Hand, von denen der linke Daumen in seinem kleinen Mund steckte. Und seine Ohren waren klein und rund, nicht spitz wie bei den Elfen. Federhaar hatte den größten Feinden ihres Volkes oft genug Auge in Auge gegenübergestanden, um sie sofort zu erkennen und zu wissen, dass dieses Kind nur Ärger bedeuten konnte.
Sie atmete scharf ein und trat einen Schritt zurück. Mit großen Augen sah sie abwechselnd von Einblatt zu Splitter und wieder zurück auf das Menschenkind. Ihr hatte es die Sprache verschlagen, aber senden konnte sie noch.
*Wo habt ihr das gefunden?*
*Auf der Lichtung mit den drei großen Steinen*, antwortete Splitter. *Es war ganz allein und hat furchtbar geweint.* Sie schaute besorgt zu ihrer Großmutter auf. Ihr war wohl gerade klar geworden, dass sie und ihr Bruder diesmal zu weit gegangen waren und dass dies eine Sache war, die nicht vor Lichtpfeil geheimgehalten werden würde. Ärgerlich boxte sie ihren Bruder in die Seite.
*Ich hab doch gleich gesagt, wir hätten nicht dorthin gehen sollen!* schimpfte sie.
"Ach ja?" zischte Einblatt sie an. "Und wer hatte die Idee, das Kind mitzunehmen?"
Sie funkelten sich streitsüchtig an. Von der ganzen Aufregung war der Kleine aufgewacht. Noch kam kein Laut aus ihm heraus, aber er schien instinktiv zu spüren, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte, und aus seinen ängstlich geweiteten, blauen Augen deutete Federhaar, dass er sicher jeden Augenblick anfangen würde zu schreien. Da unterschieden sich die Kinder von Menschen und Elfen nicht viel. Sie nahm den Kleinen ihrem Enkel kurzerhand ab und summte beruhigend auf ihn ein. Es wirkte, und das Kind wurde wieder ruhiger. Federhaars Gedanken arbeiteten schon. Sie hatte eine Idee, aber erst musste sie mehr wissen.
*Kommt mit, hier können wir nicht in Ruhe reden*, sendete sie ihren Enkeln. Sie wandte sich um, und die beiden folgten ihr nervös.
*Aber wir können auch nicht zum Hort gehen! Lichtpfeil würde das Kind sofort töten!* warf Splitter kläglich ein.
Federhaars Miene blieb unerbittlich. *Ja, das würde er wohl. Und dann würde jedem von euch ein Paar Rundohren verpassen.*
Einblatt zuckte sichtlich zusammen. Es war gar nicht schlecht, überlegte Federhaar, die beiden in ihrer Furcht vor dem Häuptling eine Weile leiden zu lassen, es würde sie vielleicht schneller zur Vernunft bringen als irgendeine lange Rede von ihr. Sie gingen nicht zum Hort, sondern zu der Höhle hinter dem Wasserfall, in der man noch immer die kraftvolle Magie der Hohen spüren konnte, die diese einst geformt hatten. Das laute Rauschen des Wassers brachte das Menschenkind zwar schließlich doch zum Weinen, doch hier konnte es niemand hören.
"So, jetzt erzählt alles, was passiert ist", verlangte sie. "Lasst nichts aus, und lügt mich ja nicht an, ich warne euch."
Zuerst wollte keiner der beiden etwas sagen, aber dann begann Splitter zögernd, und am Ende unterbrachen sie sich ständig gegenseitig, weil jedem noch etwas einfiel. Aus dem Wirrwarr ihrer Worte und gesendeten Bilder ergab sich für Federhaar folgende Geschichte:
Die beiden Elfen hatten ein Stück zu weit vom Hort entfernt gespielt und dann Trommeln gehört. Neugierig, wie sie nun einmal waren, waren sie den Geräuschen gefolgt, in die sich später auch Gesang gemischt hatte, bis sie schließlich zu jener Lichtung gelangt waren, in deren Mitte die drei großen Steine lagen. Dort hatten sie – gut versteckt in den Bäumen - gerade noch gesehen, wie ein paar Fünffinger den Ort verließen. Als sie dann das Weinen gehört hatten, überwand die Neugier ihre anerzogene Furcht vor den Menschen, und sie waren auf die Lichtung geschlichen und hatten dort das Kind gefunden.
Federhaar kannte diese Lichtung. Für die Menschen war sie ein heiliger Ort, an dem sie ihre Geister und Götter beschworen. Das Trommeln hatte sie an diesem Morgen auch gehört und da sie selbst oft genug heimlich und unentdeckt die Fünffinger bei ihren Ritualen beobachtet hatte, wusste sie, dass diese Rhythmen für ihr Volk keine Gefahr bedeuteten und hatte sich davon nicht weiter stören lassen. Einblatts und Splitters Erzählung folgend, konnte sie sich nun sehr genau vorstellen, aus welchem Grunde die Menschen das Kind auf der Lichtung zurückgelassen hatten. Sie erklärte es ihren Enkeln:
*Das ist eine Art Probe, eine Prüfung, die jedes männliche Kind der Fünffinger bestehen muss. Es wird am Morgen auf die Lichtung zwischen die Steine gelegt und allein gelassen. Keine Wache, keine Beobachter. Das Kind ist bis Sonnenuntergang ganz auf sich gestellt. Am Abend kommen sie wieder, um nach ihm zu sehen. Wenn es noch am Leben ist, hat es die Prüfung bestanden, und sie tragen es jubelnd nach Hause. Wenn nicht ...*
Hier hielt sie inne. Dreimal hatte sie diesem Ritual heimlich beigewohnt, zweimal waren die Kinder am Abend feierlich heimgebracht worden. Doch den dritten Jungen hatte ein hungriger Bergtiger entdeckt. Die Bilder dieses grausigen Erlebnisses stiegen in ihr auf, und sie verdrängte sie wieder. Sie wollte sie auf keinen Fall mit den beiden Elfen teilen. Dafür waren sie einfach noch zu jung. Doch Einblatt ließ nicht locker.
*Was passiert dann?* fragte er drängend.
Federhaar seufzte. "Sie lassen es liegen und spucken verächtlich auf seinen Leichnam, bevor sie weggehen. Falls noch ein Leichnam da ist, auf den sie spucken können ..."
"Oh nein", murmelte Splitter bekümmert. "Das ist grausam!"
*Es ist ihr Weg*, korrigierte Federhaar sie sanft. *Das Kind war in ihren Augen nicht würdig, deshalb hat der Wald es getötet.*
"So ein Weg kann auch nur der Weg der Fünffinger sein", stieß Einblatt angewidert hervor.
Eine Weile sagte keiner ein Wort. Dann fragte Splitter: "Was machen wir jetzt mit ihm?"
Alle drei sahen auf den Kleinen, der in Federhaars Armen lag und sich mittlerweile sicher genug fühlte, um mit ihren in dicke Zöpfe geflochtenen Haaren zu spielen. Sie konnte ein liebevolles Lächeln nicht unterdrücken.
"Es ist noch nicht zu spät, gerade erst ist der Tagesstern zu seinem höchsten Punkt gewandert", sagte Federhaar. "Wir sollten ihn zurückbringen."
Einblatt sprang auf. "Aber dann würde er noch bis heute abend dort liegen, und ihm kann so viel passieren, bis seine Leute zurückkommen!"
Splitter nickte aufgeregt. "Und es sind Bären im Borkenwald unterwegs. Der Stamm wird sie heute nacht wieder jagen. Aber wenn sie auf die Lichtung kommen, bevor die Jäger sie kriegen ..."
Federhaar lächelte die beiden an. *Wer sagt denn, dass der Junge unbewacht bleibt?*
Die beiden starrten sie fragend an, bis sich ihre Gesichter in plötzlichem Verstehen aufhellten. Kurze Zeit später waren sie auf dem Weg zur Lichtung. Sie alle schwiegen, und Federhaar ermahnte sie immer wieder zur Vorsicht, denn von hier war es nicht mehr weit bis zur Menschensiedlung. Auf der Lichtung angekommen, legten sie das kleine Bündel wieder genau dorthin, wo sie es gefunden hatten. Dann versteckten sie sich in den schattigen, dicht mit grünem Laub zugewachsenen Baumkronen, von wo aus sie die ganze Lichtung überblicken konnten.
Zweimal mussten sie einschreiten, um das Kind zu schützen. Beim ersten Mal war es ein Säbelzahn, bei dem es genügte, ihn mit Drohgebärden und halbherzig gezückten Waffen zu vertreiben. Er war wohl nicht sehr hungrig, sonst hätte er nicht so schnell aufgegeben. Der zweite Angreifer war schon etwas hartnäckiger. Ein großer Raubvogel hatte in dem leise vor sich hin wimmernden Baby eine leichte Beute erkannt. Erst Federhaars sicher gezielter Pfeil konnte ihn vom Himmel holen und Schlimmeres verhindern. Die flinke Splitter sprang zu seiner Absturzstelle, um ihn fortzuschaffen, doch ging sie noch einmal zu dem Kind, um nach ihm zu sehen und sich endgültig zu verabschieden, bevor sie mit dem toten Vogel von der Lichtung verschwand. Aber dann setzten die Trommeln wieder ein, und sie kamen rasch näher, so dass es keiner weiteren Aufforderung durch Federhaar bedurfte, damit Splitter sich beeilte, wieder in die Sicherheit der Bäume zu klettern.
Mit angehaltenem Atem verfolgten sie, wie die Menschen erschienen. Es waren sehr viele, als wollte ihr ganzer Stamm an dem Ereignis teilhaben. Einer von ihnen, ein alter Mann mit grauem Haar und der einzige mit einem Kopfschmuck aus Federn, Fell und Tierknochen, trat allein zu dem Bündel zwischen den Steinen und ließ sich nieder, wahrscheinlich um zu prüfen, ob das Kind noch lebte.
Für einen kurzen Augenblick schien die ganze Welt darauf zu warten, was als nächstes geschah. Der Mann lächelte, als er den Jungen aufhob, ihn hoch über seinem Kopf haltend dem Stamm zeigte und laut ein paar Worte sprach, die von den drei Elfen nur Federhaar verstand. Alle Menschen, die auf der Lichtung versammelt waren, brachen in Jubelgeschrei aus, und die Trommler fingen an, einen schnellen, fröhlich klingenden Rhythmus zu spielen. Der Alte mit dem Kopfschmuck übergab den Jungen einem Paar, das glücklich lächelte.
*Das sind seine Eltern*, erklärte Federhaar ihren Enkeln.
Sie blieben, bis die ganze Gruppe wieder verschwunden war, und warteten, bis auch das Trommeln und Jubeln langsam leiser wurden und zuletzt nur noch ein Geräusch von vielen bildeten, mit denen der Wald gefüllt war. Sie stiegen von dem Baum herunter und machten sich auf den Heimweg.
"Was hat der Mann zu den anderen gesagt?" wollte Splitter wissen.
"Er sagte, der Wald liebt den Jungen und wird aus ihm einen starken und mutigen Jäger machen."
Einblatt grinste. "Dank uns!" Er klopfte stolz auf seine Brust.
Federhaar legte lächelnd einen Arm um seine Schultern. Vermutlich hatte der Junge Recht. Ohne seine elfischen Beschützer wäre das Menschenkind jetzt wohl tot gewesen.
"Sie werden in ihrer Siedlung die ganze Nacht feiern", sagte sie.
"Oh, das würde ich zu gerne sehen!" Einblatt klatschte begeistert in die Hände. "Wir können uns doch wieder anschleichen und heimlich zusehen!"
"Denk' nicht einmal daran", warnte Federhaar ihn. "Ihr habt euch heute ohnehin schon viel zu viel geleistet. Was, glaubt ihr, soll ich mit euch machen?"
Einblatt und Splitter senkten niedergeschlagen die Köpfe. "Also wirst du es Lichtpfeil und unseren Eltern doch sagen?"
Federhaar schüttelte den Kopf. "Nein, das werde ich nicht. Aber Strafe muss sein!"
Sie sah streng auf die beiden jungen Elfen herunter. Splitter verdrehte ergeben die Augen.
"Schon gut! Wir werden dir zehn Tage lang beim Gerben helfen und meinetwegen auch beim Fischen. Stimmt's, Einblatt?"
Einblatt nickte seufzend. "Und du weißt, wie sehr ich diese Arbeit hasse!"
Federhaar schwieg kurz, so als dächte sie über dieses Angebot nach. Dann sagte sie: "Gut, einverstanden. Habe ich euer Wort?"
Beide sendeten ein klares *JA*.
Federhaar hob eine Augenbraue. "Das ist großartig. Dabei wollte ich euch nur fünf Tage aufbrummen ..."
"WAS?!" riefen beide zugleich aus.
Federhaar lachte nur und sagte: "Ihr müsst noch viel lernen, zum Beispiel, erst nachzudenken und dann zu handeln. Aber dafür habt ihr ja nun Zeit, denn beim Gerben kann man wunderbar nachdenken."
Die Geschwister stöhnten auf.
Als sie fast den Hort erreicht hatten, fingen sie einen Wettlauf an. Federhaar jedoch blieb zurück und ließ sie rennen. Es gab schließlich doch Grenzen für eine Elfe in ihrem Alter.


27.08.2003

Grünbaums erste Jagd




Sein ganzes Leben hatte Grünbaum sich darauf gefreut, ein Jäger zu sein. Doch als er alt genug war und bei den ersten Jagden mitgemacht hatte, erkannte er, dass mehr dahintersteckte als nur der Nervenkitzel, von dem er geträumt hatte.
Es gab Regeln, es gab Ältere mit Vorrechten, und dann waren da noch sein Vater und sein älterer Bruder, die ihn nicht seine eigenen Wege gehen ließen und ihm ständig vorzuschreiben schienen, was er wie machen sollte.
Wenn er sich darüber lauthals beschwerte, bekam er von fast allen nur zu hören: "Du bist noch jung und hast noch viel zu lernen, bevor auch du das Recht auf die erste Beute hast."
Nur eine lächelte stets verständnisvoll, wenn er ihr sein Leid klagte. Die alte Federhaar, die Unzerbrechliche, behauptete, sie würde sich noch gut an ihre Kindheit erinnern und an ihre Ungeduld, als sie unbedingt auf ihre erste Jagd gehen wollte. Grünbaum mochte es ihr nicht so recht glauben, denn ihre Kindheit musste schon unglaublich lange her sein. Vielleicht erfand sie diese Geschichten auch nur, um ihn zu besänftigen und ihm Geduld zu schenken. Erfunden oder wahr - Grünbaum war es egal, denn es half ihm auf jeden Fall, mit Federhaar zu reden.
Aber irgendwann zur Zeit der fallenden Blätter hatte Grünbaum genug. Die Jäger des Stammes waren von der Jagd zurückgekehrt. Sie waren sehr erfolgreich gewesen. Fast jeder von ihnen trug ein Beutetier bei sich oder hatte dank seines gut gezielten Pfeiles zumindest Anteil daran gehabt. Bis zum nächsten Mondwechsel würden sie damit beschäftigt sein, das Fleisch zu verzehren und Kleidung, Werkzeuge und Schmuck herzustellen. Nur Grünbaum war leer ausgegangen. Sein Bruder Grünspeer hatte den entscheidenden Pfeil auf den Hufer abgefeuert, während Grünbaum's Pfeil irgendwo im Dickicht verschwunden war und vermutlich nur einen Baum, wenn überhaupt, getroffen hatte.
Später saß er zusammen mit Federhaar in ihrer Höhle. Sie hörte sich alles an, und schließlich sagte sie: "Mein kleiner Jäger, du bist zwar alt genug, aber noch lange nicht so erfahren, dass du ihnen ebenbürtig bist. Du wirst dich in Geduld üben müssen."
Grünbaum winkte verdrossen ab. "Ich werde noch viel mehr als das üben müssen, wenn ich so gut werden will wie mein Vater oder mein Bruder. Aber ich kann es auch nicht lernen, wenn ich mich immer hinten anstellen muss."
Während er das sagte, hob er einen kleinen Zweig auf, an dem eine Knospe hing. Er sah ihn mit grüblerischer Miene an, und plötzlich brach die Knospe auf, ein kleines, zartgrünes Blättlein spross hervor, wurde rasch größer und entfaltete sich innerhalb weniger Augenblicke zu einem großen Blatt, wie sie sonst nur oben in den Bäumen wuchsen. Federhaar sah diesem kleinen Schauspiel verzaubert zu. Schon vor einiger Zeit hatten sich Grünbaum's pflanzenformerische Fähigkeiten gezeigt, doch sie hatte nicht bemerkt, um wieviel stärker sie seitdem geworden waren.
"Vielleicht", sagte sie lächelnd, "bist du gar kein Jäger. Vielleicht ist dein Platz im Stamm ein ganz anderer, als du glaubst."
Grünbaum wusste, worauf sie anspielte. Er sprang auf. "Was bringt es, einen Zweig zum Blühen zu bringen? Wozu ist das gut, wenn die Pflanzen doch auch ohne mein Zutun wachsen und gedeihen? Davon wird niemand satt, und Kleider kann ich mir aus Baumrinde auch nicht machen!"
Dass er mit seinen Fähigkeiten eines Tages auch Früchte wachsen lassen könnte, von denen man sehr wohl satt wurde, übersah er in seiner Wut, und Federhaar wies ihn nicht darauf hin. Er lief fort, und sie ließ ihn ziehen.
Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, schlich Grünbaum lautlos aus dem Hort davon. Nur ein Augenpaar beobachtete ihn dabei, wie er seine Jagdwaffen an seinem Körper zurechtrückte und nach einem letzten Blick zurück im dichten Unterholz des Borkenwaldes verschwand. Aber Federhaar blieb, wo sie war. Er muss seine Erfahrungen selbst machen, nur auf die Worte der Alten zu hören, genügt ihm eben nicht, dachte sie.
Grünbaum's Weg führte ihn zunächst zum Wasserfall, hinter dem die Höhle der Hohen lag, dann vorbei an dem kleinen See unterhalb des Wasserfalls und schließlich entlang des Flusses, der mit schneller Strömung Richtung Süden floss. Er ging bis zur Bärenfelskurve, die so hieß, weil das Wasser hier um einen großen Felsen herumwirbelte, der tatsächlich wie der Kopf eines riesigen Bären aussah. Dort ließ er den Fluss hinter sich und marschierte direkt ins Dickicht. Als er so weit vom Fluss entfernt war, dass er das Rauschen des Wassers nicht mehr hören konnte, spannte er seinen Bogen, legte einen ersten Pfeil abschussbereit ein und begann, sich behutsam voranzutasten. Seine spitzen Ohren hörten jedes noch so kleine Geräusch, seine Nase nahm jeden noch so schwachen Geruch wahr. Sein ganzer Körper war gespannt wie sein Bogen, und mit größter Vorsicht und Eleganz bewegte er sich vorwärts. Doch seine Konzentration ließ nach einer Weile nach. Er genehmigte seinen Gedanken abzuschweifen und stellte sich vor, wie beeindruckt sie alle sein würden, wenn er mit seinem ersten, allein erlegten Beutetier heimkehrte. Er war so sehr von seinen Träumen abgelenkt, dass er versehentlich auf einen trockenen Zweig trat. Das Knacken kam ihm so laut vor, als würde ein ganzer Baum umstürzen. Und tatsächlich hatte das Geräusch des brechenden Zweiges nicht nur ihn aus seinen Gedanken zurückgeholt, sondern auch einen Hufer aufgeschreckt, der noch bis eben ruhig grasend zwischen den Bäumen gestanden hatte. Er war ausgewachsen und reichte ihm vermutlich bis über die Schultern, aber sein Fell glänzte frisch und gesund wie bei einem Jungtier. Ein Prachtkerl. Nun glotzte er Grünbaum stumpfsinnig kauend an, und Grünbaum, ebenfalls in seiner Bewegung erstarrt, erwiderte den Blick und überlegte, wie er sich jetzt am besten verhielt. So langsam es nur irgendwie ging, hob er den Bogen hoch und zielte auf den Hufer. Dabei dachte er schon an die Stiefel und die Weste, die ihm Braunfell, der Gerber, aus dem Leder machen würde. Dass er das Tier höchstwahrscheinlich ganz allein von hier bis zum Hort schaffen musste, schob er erst einmal von sich. Es war nicht weit entfernt, vielleicht zwanzig Schritt, das Gelände war eben, und es standen keine Bäume oder Büsche im Weg. Er musste nur noch zielen, und seine erste Jagd wäre erfolgreich gewesen.
Doch der Hufer wartete nicht darauf, dass sich das Schicksal, das der junge Elf ihm zugedacht hatte, erfüllte. Von einem Augenblick zum anderen sprang er los, und Grünbaum's hastig abgeschossener, ungezielter Pfeil verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Er konnte fliehen. Grünbaum schnaubte wutentbrannt, rannte los und nahm die Verfolgung auf. Im Laufen legte er einen neuen Pfeil ein, sprang behende über umgestürzte Baumstämme und ließ sich durch keinen Haken von dem Hufer abschütteln – im Gegenteil, es gelang ihm sogar aufzuholen. Ohne stehenzubleiben, schoss er einen weiteren Pfeil ab, doch dieser hatte nicht den Hauch einer Chance, sein Ziel zu treffen. Als seine Lungen schon brannten und er glaubte, keinen Meter mehr weiterrennen zu können, bremste das Tier plötzlich ab – zumindest vermutete Grünbaum das im ersten Augenblick. Was genau geschehen war, wusste er nicht, denn zwischen ihm und seiner Jagdbeute war dichtes Gebüsch. Er hörte nur sein tiefes, unwilliges Schreien, in das Angst gemischt zu sein schienen. Er verstand die Sprache der Tiere nicht, deshalb würde er erst wissen, was los war, wenn er es mit eigenen Augen sehen konnte. Vorsichtig geworden schlich er auf lautlosen Sohlen heran und spähte durch die Blätter und Zweige, und dann sah er es. Jemand hatte hier eine Falle ausgelegt, eine Seilschlinge versteckt unter Laub und Gras. Der Hufer war mit seinem rechten Hinterlauf hineingetreten, hatte dadurch wohl einen Mechanismus ausgelöst, und nun hing er kopfüber von einem Ast, zappelte, blökte, bog und streckte sich in Panik, doch nichts half, ihn aus seinen Fesseln zu befreien. Wenigstens war er unverletzt.
Grünbaum gönnte sich nur eine kurze Verschnaufpause. Sein Stamm verwendete keine Fallen, also blieb nur eine Möglichkeit übrig, und die gefiel ihm gar nicht. Die Falle war von Fünffingrigen gelegt worden, und die prüften bestimmt täglich, ob etwas hineingetappt war. Das beste war wohl, den Hufer und seine erste Jagd zu vergessen und sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Doch auf die Stimme der Vernunft zu hören, gehörte nicht gerade zu Grünbaum's Stärken. Jetzt war er so weit gegangen, so weit gerannt, jetzt war seine Beute zum Greifen nah. Für einen Elfen stellte es kein Problem dar, schnell den Baum hinaufzuklettern, das Seil zu durchtrennen und so das Tier zu befreien. Dann konnte er es auf ehrliche Art und Weise weiter jagen und hoffentlich erlegen. Zumindest geriet es nicht in die Hände der Menschen. Grünbaum entschied sich zu bleiben und die Jagd fortzusetzen. Vorsichtig durchquerte er die Büsche und achtete dabei auf den Boden, denn es konnte ja sein, dass hier noch mehr Fallen ausgelegt waren. Als aber der Hufer den Elfen auf sich zukommen sah, wurden seine Angstschreie noch lauter, und er bewegte sich so sehr, dass er anfing zu schaukeln. Nur im letzten Augenblick konnte der Elf seinen behuften Vorderbeinen ausweichen, die auf gleicher Höhe mit seinem Kopf hin und her schwangen. Dem Schlag an den Kopf hatte er entgehen können, doch dabei setzte er seinen Fuß mitten in eine weitere Schlinge, die sich sogleich fest um seinen Knöchel zuzog. Grünbaum's elfenschnelle Reflexe waren doch nicht schnell genug, und ehe er sich versah, hing er kopfüber direkt neben dem Hufer und war selbst zur Beute geworden.
Er fluchte laut. Seinen Bogen hatte er verloren, der lag jetzt seitlich von ihm auf dem Waldboden, aber er hätte genausogut auf einem der Monde liegen können. Genutzt hätte er ihm wohl ohnehin nicht viel. Ihm fiel sein Jagdmesser ein, das er an seinem linken Stiefel befestigt hatte. Er blinzelte nach oben, wozu er sich einigermaßen verbiegen musste. Das Messer war noch da, aber dummerweise war es der linke Fuß, der in der Schlinge steckte, welche seine Waffe fest mit eingeschnürt hatte.
Er spürte, dass er allmählich einer Panik gefährlich nahe kam.
Er versuchte, ruhig und tief zu atmen und fühlte, wie das Blut in seinen Kopf schoss, was ihm beim Nachdenken nicht gerade half. Der Hufer beruhigte sich endlich. Vielleicht hatte er sich auch einfach nur in sein Schicksal ergeben, dem er nun nicht mehr entrinnen konnte. Zumindest war Grünbaum jetzt in der Lage zu lauschen und auf jedes Geräusch in seiner Nähe zu achten. Schließlich konnte der Fallensteller doch schon auf dem Weg hierher sein. Nichts zu hören. Er schaute noch einmal nach oben. Der Ast, von dem das Seil hing, befand sich ungefähr eine Armlänge über seinem Fuß. Wenn er sich geschickt anstellte, konnte er sich an sich selbst hochziehen und am Seil bis zum Ast klettern. Von dort aus würde er dann weitersehen.
Nur ein paar Minuten waren verstrichen, und Grünbaum war gerade dabei, sich in Schwung zu bringen, da hielt er inne, weil er etwas zu hören glaubte. Er lauschte angestrengt, während er hin und her schaukelte. Da war es wieder. Dasselbe Geräusch: Stimmen, Unterholz, das zerbrach, weil jemand darauf trat. Es waren mindestens zwei Menschen, und sie kamen näher. Grünbaum's spitz zulaufende Ohren waren gut wie bei allen Elfen seines Stammes. Er konnte Geräusche hören, deren Ursache meilenweit weg lag. Auch das Rauschen in seinen Ohren, verursacht durch die umgekehrte Haltung mit dem Kopf nach unten, beeinträchtigte seine Sinne kaum. Doch in diesem Stück des Waldes, so nah an der Felswand der Schlucht, in die hinein er dem Hufer gefolgt war, wurden die Echos der Geräusche hin- und hergeworfen, und so konnte er die Entfernung nicht besonders gut abschätzen. Er hoffte, dass er noch genügend Zeit hatte, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Abermals nahm er Schwung. Kopfüber war das ein komisches Gefühl, und er musste sich sehr auf seine Bewegungen konzentrieren. Der Hufer neben ihm schnaufte verwirrt und fing auch wieder an zu wackeln, allerdings wohl eher, weil beide an demselben Ast hingen und Grünbaum das Tier ebenfalls zum Schaukeln brachte. Noch einmal hin und her, noch ein letztes Mal, und er hatte genügend Schwung, um sich nach oben zu biegen, das Seil zu ergreifen und festzuhalten. Die halbe Arbeit war getan. Was nun kam, ging relativ leicht, denn Grünbaum war ein guter Kletterer. Schon wenige Augenblicke später hatte er den Ast erreicht und umklammerte ihn mit einem Arm, während er ein letztes Mal Schwung holte und dann in einer einzigen eleganten Bewegung auf dem Ast landete. Nun kam er sehr viel besser an sein Jagdmesser und hatte sich schnell von der Fußfessel befreit. Das Seil ließ er achtlos zu Boden fallen. Erleichtert atmete er auf.
Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Augenblick raschelte und knackte es ganz nah beim Baum im Unterholz, und zwei Menschen erschienen direkt unter ihm. Sofort hielt er den Atem an, verharrte in völliger Bewegungslosigkeit und hoffte, dass seine erdfarbene Lederkleidung und seine vergleichsweise geringe Körpergröße ihn vor den Blicken der Fünffinger bewahren würden, die mindestens doppelt so groß wie er waren. Doch die beiden Männer, die in Fell gekleidet und mit Speeren und langen Dolchen aus behauenem Stein bewaffnet waren, hatten nur Augen für den Hufer, der nun wieder in Panik und voller Todesangst Lärm machte und so stark herumschaukelte, dass Grünbaum sich gut festhalten musste, um nicht von seinem Versteck heruntergeschüttelt zu werden.
Die Fünffinger unterhielten sich in einer ihm fremden, kehligen Sprache voller Laute, die in seinen empfindlichen Elfenohren äußerst misstönend klangen. Trotzdem war er von ihnen fasziniert. Er hatte schon vorher Menschen gesehen, doch nie zuvor aus einer solchen Nähe, dass er ihren Geruch wahrnehmen konnte – eine Mischung aus Schweiß, verbranntem Holz und gebratenem Fleisch. Einer von ihnen, dessen Gesicht ganz von einem grau-braunen, struppigen Bart bedeckt war, sagte etwas, und beide brachen in dröhnendes Gelächter aus. Grünbaum verstand kein Wort, aber er konnte sich denken, dass die Männer sich sehr über ihre Beute freuten. Vermutlich würde ihr ganzer Stamm davon satt werden.
Der Bärtige ging zum Baumstamm, um den versteckten Mechanismus dazu zu bringen, das Tier herunterzulassen. Im selben Moment, in dem Grünbaum seine fallengelassene Waffe siedendheiß wieder einfiel, entdeckte der Mann den Jagdbogen. Er hob die Waffe auf, die in seinen mächtigen Händen geradezu winzig aussah. Stirnrunzelnd zeigte er sie seinem Begleiter, und nachdem der sie sich angesehen hatte, nickten sie einander brummend zu, wie um zu bestätigen, dass sie beide dieselbe Vermutung hatten. Sie hoben ihre Waffen und sahen sich mit funkelnden Augen um.
'Sie wissen von mir', fuhr es Grünbaum durch den Kopf. Sein Herz klopfte vor Aufregung und Angst so stark, dass er befürchtete, sie könnten es hören. Doch nach oben schauten sie nicht. Er verharrte weiterhin vollkommen lautlos und überlegte, was er tun sollte. Da sie direkt unter ihm standen, sollten seine Bewegungen wohl überlegt sein, sonst lief er Gefahr, dass sie ihn entdeckten, bevor er fliehen konnte.
Der Hufer war ganz an den Rand der Aufmerksamkeit der Menschen geraten. Während die beiden nun auch noch die zweite ausgelöste Falle entdeckten und sich einander irgendetwas zuraunten, wuchs in dem Elfen über ihren Köpfen eine Idee. Er hoffte nur, dass seine Formerkräfte dafür schon stark genug waren, denn eine Pflanze von der Größe eines Baumes hatte er bisher noch nicht zu beeinflussen versucht. In seiner hockenden Position lagen seine Hände ohnehin schon auf dem Ast, von dem der Hufer hing, der nun nicht mehr so aktiv in seinen Bewegungen war. Wahrscheinlich hatte ihn die ungewohnte Lage mit dem Kopf nach unten bereits geschwächt.
Grünbaum bemühte sich, gleichmäßig und tief zu atmen, um die nötige Ruhe zu erhalten. Gleichzeitig sendete er seine Gedanken in Form von Bildern und Gefühlen direkt in den Ast, von wo aus sie den ganzen Baum erfüllten. Vor seinem inneren Auge sah er die Bahnen, die wie Blutadern Wasser, Nährstoffe und Energie durch die große Pflanze bis in die letzten Blattspitzen schickten. In diese Bahnen ließ er seine Magie fließen, und der Ast begann, sich zu bewegen. Es war ein seltsamer Anblick, als würde er vor seinen Augen in rasender Geschwindigkeit wachsen. Grünbaum hielt sich fest, so gut er konnte, um nicht abzustürzen. Der Ast bog sich Stück für Stück nach unten. Noch merkten die Menschen unter ihm nichts. Der Wald machte ständig Geräusche, und Bäume knarrten auch manchmal, also interessierten sie sich nicht dafür. Nun konzentrierte Grünbaum sich auf die Stelle des Astes, an der er mit dem Seil umwickelt war, an welchem der Hufer hing. Fast augenblicklich zog der Ast sich zusammen, wurde schlanker und schlanker und bog sich dabei noch weiter nach unten. Der Elf staunte über sich selbst, dass es ihm so leicht fiel, den Baum zu formen. In den Hufer, der begriff, dass wieder etwas vor sich ging, kam abermals Bewegung. Er strampelte mit seinen Hufen und stieß dabei ein Blöken aus, das die Menschen zusammenzucken und nach oben schauen ließ.
Dann ging alles sehr schnell. Noch während die Menschen ihre Waffen hochrissen, rutschte der Hufer samt seiner Fessel von dem Ast und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden genau zwischen den beiden Fünffingern, so dass der Bärtige unsanft über ihn stolperte und der andere auch für den Moment abgelenkt war. Indessen schnellte der Ast mit solcher Wucht zurück, dass Grünbaum abgeworfen wurde und in hohem Bogen durch die Luft flog, bevor er unsanft auf der Hüfte landete.
Viel Zeit zum Verschnaufen war nicht. Als er aufschaute, sah er, dass die Fünffinger den Hufer mittlerweile mit einem Schnitt durch die Kehle und einem Speerstoß ins Herz erledigt hatten. Waldgeist hin oder her, diesen Fleischberg konnten und wollten sie nicht entkommen lassen. Nun aber wandten sie sich ganz dem vermeintlich unterlegenen Gegner zu und näherten sich ihm mit bedächtigen Schritten und drohend klingenden, grollenden Lauten.
Mit einem Satz war Grünbaum auf den Beinen, sein Jagdmesser fest in der rechten Hand. Es blitzte im Sonnenlicht kurz auf, und die Menschen hielten einen Moment inne und sahen den Elfen misstrauisch an. Ihre eigenen Waffen hatten Klingen aus Stein, Grünbaum's Messer jedoch war aus Metall geschmiedet worden. Federhaar hatte es ihm vor seiner ersten Jagd geschenkt und ihm dazu erzählt, dass diese Waffe von Trollen weit weg im Innern der Berge geschmiedet worden war, jenen hässlichen, grobschlächtigen Wesen, die das Tageslicht scheuten und die Berge aushöhlten auf der Suche nach Metallen und Edelsteinen.
Der Bärtige griff zuerst an. Er stieß mit seinem Speer, von dem noch das Blut des Hufers tropfte, nach vorn und verfehlte sein Ziel. Grünbaum war über die Waffe hinweggesprungen und hatte sich dann zwischen die Beine des Bärtigen geworfen. In einer einzigen fließenden Bewegung, die für die trägen Augen der Menschen fast zu schnell war, sprang er hinter dem Mann wieder auf die Beine, machte eine Drehung um sich selbst und schnitt dabei mit seinem Messer in die Kniekehle des Bärtigen, wobei er ihm einige Sehnen durchtrennte. Dieser stieß einen erstaunten Schrei aus, ging in die Knie und fasste mit einer Hand an sein Bein, das sofort stark blutete. Grünbaum wich auch den Speerstößen des zweiten Fünffingrigen aus, der ein wenig kleiner und wendiger als sein Partner war, doch auch er hatte gegen die Schnelligkeit und Geschicklichkeit des nur halb so großen Elfen keine Chance. Grünbaum hatte ihn durch sein Ausweichmanöver sogar so verwirrt, dass der Mann beim Drehen über seine eigenen Beine stolperte und der Länge nach hinfiel. Der Elf sparte sich den Blick zurück, lieber sah er zu, dass er davonkam. Aus dem Augenwinkel entdeckte er seinen Jagdbogen, den die Männer nach ihrer Begutachtung wieder weggeworfen hatten. Er gönnte sich noch eine einzige Pause, um den Bogen zu ergreifen und ihn sich auf den Rücken zu schnallen, bevor er endgültig die Flucht ergriff. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass der zweite Mann so schnell wieder auf die Beine kommen würde. Er spürte nur die riesige Hand, die ihn von hinten packte und grob zurückriss. Grünbaum wurde nach hinten geworfen, und sein Jagdmesser fiel ihm aus der Hand. Der Mann presste ihn mit seinem Speer an sich und versuchte, ihm die Kehle zuzudrücken. Zuerst wehrte Grünbaum sich mit Händen und Füßen, doch obwohl er stärker war, als seine äußere Erscheinung annehmen ließ, schaffte er es nicht, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Ihm wurde schon schwarz vor Augen, als er den Speer mit seinen Händen umfasste. Ohne wirklich zu wissen, was er tat, brachte er mit seiner Magie den Holzgriff der Waffe dazu, sich zu verformen, so dass er wieder nach Luft schnappen konnte. Gleichzeitig ließ er spitze Dornen wachsen, die die Hände des Mannes durchstachen, bevor der überhaupt erkannte, was da gerade geschah. Er schrie vor Schmerzen und Schreck auf, Grünbaum aber konnte nach unten hin aus der Umklammerung wegrutschen. Er rappelte sich hustend und röchelnd wieder auf und erwartete schon fast den Angriff des Bärtigen, den er am Bein verletzt hatte. Doch der starrte nur mit schreckgeweiteten Augen auf seinen Freund, der verzweifelt versuchte, den Speer wegzuwerfen, an dem er scheinbar festgewachsen war, während ihm das Blut an Händen und Armen herablief. Grünbaum hob sein Jagdmesser auf und hielt es drohend in die Richtung der beiden Menschen. Während der eine noch mit seinem Speer beschäftigt war, wagte der andere es nicht, sich dem Elfen zu nähern.
Noch mehr wollte Grünbaum sich nicht auf sein Glück verlassen. Er nahm die Beine in die Hand und rannte davon, so schnell er nur konnte. Lange noch glaubte er, ein Schnaufen hinter sich zu hören, als würde er verfolgt, aber als er sich endlich traute stehenzubleiben und sich umzudrehen, war niemand hinter ihm. Etwas ruhiger rannte er nun bis zum Fluss und erst, als er die Bärenfelskurve vor sich erblickte, fühlte er sich sicher genug, wieder langsam zu gehen.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als er erschöpft und müde den Hort seines Stammes erreichte. Seine Kleidung war an vielen Stellen zerrissen, und sein Hals tat immer noch fürchterlich weh. Wahrscheinlich konnte man schon Blutergüsse sehen.
Sein Bruder Grünspeer kam ihm entgegengelaufen.
"Wo bist du gewesen?" wollte er wissen. Dann sah er ihn von oben bis unten an, und ein schadenfrohes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.
"Bist du etwa auf der Jagd gewesen?" Grünbaum antwortete nicht, und Grünspeer lachte. "Du siehst allerdings eher so aus, als seist du der Gejagte gewesen!"
Grünbaum wollte aufbrausen, aber dann beherrschte er sich. Er zuckte nur mit den Schultern und sagte: "Ich habe heute viel gelernt, aber das hatte nichts mit der Jagd zu tun."
Er ließ ihn stehen und wollte sich in seiner Höhle verkriechen und erst einmal ausschlafen, doch Federhaar stand da und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück und gesellte sich zu ihr. Gemeinsam spazierten die beiden zur Wasserfallhöhle. Federhaar schwieg die ganze Zeit. Vor dem Wasserfall blieb sie stehen und legte ihre Hände auf seine Schultern.
*Mein kleiner Jäger*, sendete sie liebevoll. *Du siehst jetzt reifer aus. Was immer du heute erlebt hast, es hat dich verändert und weiser gemacht. Willst du es mit mir teilen?*
Grünbaum nickte. Sie setzten sich einander gegenüber und lehnten sich aneinander, bis ihre Stirnen sich berührten, und Grünbaum sendete ihr all die Bilder des vergangenen Tages, und sie nahm sie in sich auf und teilte mit ihm alles, was er erlebt und gefühlt hatte.
Danach sah ihn an. Aus ihren Augen sprachen Stolz und Liebe.
"Ich glaube, du hattest Recht", sagte Grünbaum dann.
"Womit?"
Er grinste verschmitzt, nahm einen Zweig, hielt ihn zwischen sich und Federhaar und ließ ihm kleine Blätter und Blüten wachsen.
"Ich bin kein Jäger."
Dann sprossen plötzlich viele kleine Dornen aus dem Zweig, Grünbaum berührte einen mit seiner Fingerkuppe und zuckte gleich wieder zurück, denn der Dorn war spitz und hatte ihm sofort die Haut eingeritzt. Er grinste noch breiter.
"Jedenfalls kein gewöhnlicher Jäger!"

27.08.2003

Die Höhle hinterm Wasserfall



Vorwort

Die hier erzählte Geschichte ist zeitlich noch vor den bereits veröffentlichten Geschichten "Das Findelkind" und "Grünbaum 's erste Jagd" einzuordnen. Grünbaum und die Geschwister Einblatt und Splitter sind noch nicht geboren, und die Elfen sind erst vor wenigen Nächten in diesen Teil des Borkenwaldes gekommen...


Lichtpfeil, der Häuptling der Elfen vom Borkenwald, gähnte ausgedehnt und streckte sich auf weichem Moos aus. Gerade hatte er ein Bad in dem kleinen See am Wasserfall genommen und ließ seinen Körper nun von den angenehm warmen Strahlen der Sonne trocknen. Er sah sich um und entdeckte seine Gefährtin Hellstern, die es sich auf der anderen Seite des Sees im Gras bequem gemacht hatte und ein kleines Nickerchen hielt. In letzter Zeit war sie oft müde und erschöpft. Kein Wunder bei der Last, die sie mit sich trug. Hellstem stand kurz vor der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter. Lichtpfeil lächelte bei dem Gedanken daran. Es war schon lange kein neues Leben mehr geboren worden. Sein Stamm war klein und hatte ständig ums Überleben kämpfen müssen. Erst vor wenigen Nächten hatten sie ihr Lager in diesem Teil des Borkenwaldes aufgeschlagen, nachdem sie schweren Herzens ihren alten Hain aufgegeben hatten. Die Übermacht der Menschen, ihrer uralten Feinde, war einfach zu groß geworden. Lichtpfeil ließ seine Gedanken zurückschweifen.
Der Borkenwald war uralt. In ihm wimmelte es von Leben, seine dicken, hohen Bäume bildeten mit dem dichten Unterholz an manchen Stellen ein kaum durchdringbares Dickicht, das vielen Lebensformen Unterschlupf und Schutz bot. So hatte sich ein Volk von Trollen in den Höhlen teils oberhalb, teils unterhalb des Borkenwaldes angesiedelt, während die Elfen sich den Wald selbst mit den Menschenstämmen teilten. Doch leider waren die Menschen nicht gut im Teilen. Sie begannen, nicht nur Jagd auf die Tiere zu machen, von denen sie lebten. Sie bekämpften auch die Elfen und versuchten, sie aus ihren Gebieten zu vertreiben. Die Elfen waren zwar mutige, hartnäckige Wesen, die es den Menschen nicht leicht machten, die Oberhand zu gewinnen. Doch die Menschen vermehrten sich rasch, waren größer und kräftiger, wenn auch nicht so schnell und wendig wie die Elfen. Sie ließen die spitzohrigen Geschöpfe immer wieder spüren, dass sie der Meinung waren, sie seien die uneingeschränkten Herrscher über diese Welt und die Elfen würden nicht hierher gehören. Irgendwann nahm der ewige Kampf zwischen diesen beiden Völkern Ausmaße nie gekannter Gewalt an. Die Menschen fingen an, Elfen, die ihnen in die Hände fielen, ihren Göttern zu opfern. Es gab einfach keinen Weg, sie zur Vernunft zu bringen und mit ihnen wenigstens eine Art Waffenstillstand auszuhandeln.
Als sie erneut den Verlust eines Mitgliedes des Elfenstammes beklagen mussten, entschieden sie, ihr Stück des Borkenwaldes aufzugeben. Sie traten den Rückzug noch in derselben Nacht an und überließen ihre Heimat den Menschen. Im Borkenwald, der so groß war, dass er für die Elfen die Welt darstellte, musste es doch Orte geben, wohin die Fünffinger ihren Fuß noch nicht gesetzt hatten. Lichtpfeil vermisste seinen alten Hain, denn dort war er geboren worden, und dort hatten viele Generationen seines Volkes gelebt. Doch spätestens, als Hellstern und er sich erkannten und sie kurz darauf schwanger wurde, sah er ein, dass es Zeit war zu gehen. Als dann das Töten im Namen der Menschengötter begann, hielt es keiner von ihnen mehr dort aus.
Auch jetzt lebte wieder ein kleiner Menschenstamm in der Nähe, keinen Tagesmarsch von ihnen entfernt. Doch seltsamerweise ließen sie die Elfen in Ruhe. Sie kamen nicht einmal in die Nähe ihres Hains, und selbst Lichtpfeils beste Spurensucher hatten keinen Hinweis darauf finden können, dass sich in letzter Zeit Menschen hier aufgehalten hatten. Allerdings hatten ein paar von ihnen, allen voran Federhaar, Lichtpfeils weise Ratgeberin, das starke Gefühl, dass irgendwann Elfen hier gewesen waren. "Es muss lange her sein", hatte Federhaar ihm erklärt. "Aber ihre Magie ist immer noch zu spüren. Vielleicht waren es Hohe. Möglicherweise spüren die Menschen es auch. Es macht ihnen Angst, und deshalb meiden sie diesen Ort." Lichtpfeil war es ziemlich egal, warum die Menschen nicht hierherkamen. Entscheidend war, dass sie ihre Ruhe hatten vor den Fünffingern. Federhaar allerdings interessierte das sehr. Seit ihrer Ankunft war die Elfe durch den Hain gestreift und suchte nach der Quelle der Magie, die wie ein Flimmern in der Luft lag. Als Lichtpfeil gerade dabei war einzuschlafen, trat Federhaar lautlos an ihn heran und stellte sich zwischen ihn und die Sonne. Sie wartete, bis er es merkte und die Augen öffnete. Er blinzelte sie unwillig an. *Ich will dir etwas zeigen*, sendete sie. Wäre es kein verschlossenes, nur an ihn gerichtetes Senden gewesen, hätte er sie weggeschickt. Es war lange her, dass er sich etwas Ruhe gegönnt hatte, und noch fühlte er sich nicht ausgeruht genug. Doch es schien wichtig zu sein. Er seufzte, stand auf und folgte ihr, bis sie die Felsen direkt am Wasserfall erreicht hatten. Das Wasser stürzte mit lautem Rauschen nieder, und von den unzähligen Spritzern, die dicht wie Nebel waren, wurde er wieder ganz durchnässt. Federhaar zeigte nach oben, und Lichtpfeils Augen richteten sich auf die Stelle, auf die sie deutete. Zuerst wusste er nicht, was er dort sehen sollte, doch dann erkannte auch er es. *Da ist ja eine Höhle!* stellte er überrascht fest. Federhaar nickte. *Mein Gefühl sagt mir, dass dort die Quelle der Magie sein muss. Hier ist es am stärksten.*
*Bist du drin gewesen?* *Nein.* Sie zögerte, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Sie sah besorgt aus, und das wiederum machte Lichtpfeil nervös. *Mit der Höhle stimmt irgendetwas nicht*, erklärte sie. *Ich bin hochgeklettert und habe hineingeschaut... und ich glaube, sie ist nicht leer.* Sie blickten sich beide an, ohne etwas zu sagen oder zu senden. Lichtpfeil schaute kurz zu Hellstern hinüber, doch die schlief tief und fest im Gras, und nicht weit von ihr entfernt spielte der kleine Grünspeer mit seinem Vater. Alles wirkte sicher und friedlich. Doch was, wenn von der Höhle eine Gefahr drohte, ganz gleich welcher Art? Die alte Magie der Hohen durfte man nicht unterschätzen. Er blickte wieder hoch zu der Höhle und nickte Federhaar zu. Er vergewisserte sich, dass sein Jagddolch auch im Gürtel steckte, dann begann er, nach oben zu klettern. Teilweise waren die Felsen ziemlich rutschig und mit einem algenartigen Teppich bedeckt. Doch einem Elfen, der sein Leben damit verbracht hatte, über die widrigsten Hindernisse hinweg zu klettern, fiel es nicht schwer, nach oben zu gelangen.
Vorsichtig schauten sie ins Innere der Höhle. Zu hören war nicht viel, denn der Wasserfall, der jetzt hinter ihrem Rücken war, übertönte alles. Lichtpfeil zog prüfend die Luft ein. *Könnte ein Raubtier sein*, vermutete er. *Aber der Geruch stimmt irgendwie nicht.* Federhaar wusste genau, was er meinte. Sie berührte den kalten Fels und zog die Stirn kraus. *Dieser Stein ist geformt worden. Sieh dir nur die Rundungen an, man sieht es mit bloßem Auge. Und fühlen kann ich es auch.* Lichtpfeil fühlte nichts, aber dieses besondere Gespür für Magie war bei ihm noch nie besonders stark ausgeprägt gewesen. Er hatte andere Fähigkeiten, und die waren seiner Meinung nach für einen Anführer auch viel wichtiger. Was soll's, dachte er. So kommen wir nicht weiter. Er holte Schwung und landete mit einem eleganten Satz in der Höhle. Federhaar folgte ihm. Beide hatten ihre Waffen in die Hand genommen. Der vordere Bereich der Höhle war recht niedrig und eng, doch dahinter schien es größer und geräumiger zu werden. Von dort wehte jetzt auch unverkennbar ein Geruch herüber, der an verwesendes Aas oder fauliges Obst erinnerte. Lichtpfeils Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er die Dunkelheit erforschte. Sein Blick blieb an einer Stelle hängen, und er bedeutete Federhaar zurückzubleiben. Allein drang er weiter ins Innere vor. Von den Schatten hob sich in einer Ecke ein noch dunklerer Schatten ab. Lichtpfeil schlich ein Stück näher und hielt seinen Dolch instinktiv vor sich. Das Ding, was auch immer es war, verharrte in seiner Ecke. Der Elf konnte an kleinen, gleichmäßigen Bewegungen erkennen, dass es atmete, aber er wusste nicht, ob es schlief oder wach war. Es musste ziemlich groß sein. Er sah struppiges, teilweise borstiges Fell und glaubte, auch große, gefährlich aussehende Krallen auszumachen, aber in der zwielichtigen Dunkelheit konnte er das nicht mit Sicherheit sagen.
Was ist das? dachte er ratlos. In seinem Leben hatte er schon so manches Tier erlegt und es mit den verschiedensten Kreaturen zu tun gehabt. Er hatte gelernt, sie an bestimmten Merkmalen zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, zum Beispiel an ihrem Geruch. Er wusste, worauf er achten musste, welche Tiere gefährlich waren und was für Waffen sie hatten. Dieses Wesen hier war ihm jedoch völlig unbekannt, und er war sich nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um ein Tier handelte. War das der Grund, weshalb die Menschen nicht in diesen Teil des Waldes kamen? Federhaar bestärkte ihn noch in seinen Zweifeln, als sie ihm die Feststellung sendete, dass von diesem Wesen ein Großteil der Magie ausging, die sie gespürt hatte. Er drehte sich zu ihr um und fragte: *Bist du sicher?* Federhaar kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn im selben Augenblick hörten sie ein Fauchen, gemischt mit einem tiefen Grollen. Die Kreatur war erwacht und hatte sie entdeckt. Die Elfen erstarrten vor Schreck, als sie sahen, was sich aus den Schatten herauslöste und ihnen seinen heißen, stinkenden Atem entgegen schleuderte. Es hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und füllte die Höhle nun bis zur Decke aus. Zwei rotglühende Augen mit schwarzen, schlitzförmigen Pupillen starrten mit einer Boshaftigkeit auf sie herab, die sie wie einen stechenden Schmerz in ihrem Inneren spüren konnten. Nur Federhaars Stoß, der Lichtpfeil zur Seite warf, verhinderte, dass der noch immer vor Schreck und Staunen erstarrte Häuptling nicht von der Pranke getötet wurde, mit der das Untier nach ihm hieb. Federhaar selbst sprang zurück und entkam einem zweiten Hieb nur um Haaresbreite. Doch dann hatten sich die beiden Elfen wieder in der Gewalt und verständigten sich mit kurzen, klaren einander gesendeten Gedanken.
*Es darf diese Höhle nicht lebend verlassen!*
*Wir erledigen es jetzt und hier. Allein!*
Damit war alles geklärt. Das Monster war zwar mehr als doppelt so groß wie ein ausgewachsener Elf, aber bei weitem nicht so beweglich. Es lebte anscheinend in dieser Höhle und zog sich hierher zurück, um zu schlafen und Kraft zu tanken, aber sie war nicht dazu gemacht, dass sich ein derart großes Wesen darin ungehindert bewegen konnte. Das war ein Vorteil, den sie nutzen mussten. Während Federhaar das Wesen vor sich hatte und seinen Prankenhieben und halbherzigen Angriffen mit dem reich mit spitzen Zähnen bestückten Maul standhielt, schaffte Lichtpfeil es, sich an ihm vorbeizuwerfen und hinter das Untier zu gelangen. Seine Aktion blieb nicht unbemerkt, doch die Höhle war einfach zu eng, als dass es sich darin schnell hätte umdrehen können. Lichtpfeil nahm all seinen Mut zusammen und sprang das Wesen von hinten an. Er krallte sich in das stinkende, zottelige Fell und riss sich die Hände blutig an Knochendornen, die direkt aus seinem Rücken wuchsen und die er vorher nicht bemerkt hatte. Aber er hielt fest, und das Wesen heulte wütend auf, als es versuchte, ihn abzuschütteln. Lichtpfeil holte aus und stach mit seinem Jagddolch blind zu. Das Wesen heulte noch einmal, zornig und schmerzverzerrt zugleich, und Lichtpfeil hoffte, dass die Kampfgeräusche vorn Rauschen des Wasserfalls noch übertönt wurden. Hellstern war dort draußen, und wenn sie es hörte, würde sie kommen, um nachzuschauen, was los war. Er musste sie beschützen – sie und den Stamm.
Dann wurde er von dem Untier plötzlich gegen die Felswand gedrückt, so dass ihm die Luft wegblieb. Für einen kurzen Moment nur ließ er seine Waffe los, die noch im Rücken seines Gegners steckte. Der sprang ein Stück vor, und Lichtpfeil rutschte regelrecht die Wand hinunter, schlug hart auf und rang nach Luft. Das Monster hatte sich nun wieder Federhaar zugewandt. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie wich keinen Schritt zurück und wehrte seine Angriffe weiter tapfer ab. Lichtpfeil bemerkte nur am Rande, dass er verwundet war und an mehreren Stellen blutete. Er stand auf und eilte Federhaar zu Hilfe, die mittlerweile auch einige Verletzungen davongetragen hatte.
*Lass es nicht entkommen!*
Kaum hatte Lichtpfeil diese Gedanken an Federhaar gesendet, wirbelte das Monster grollend herum und starrte mit seinen rotglühenden Augen auf ihn hinab. *Pass auf!* warnte Federhaar ihn, und beinahe im selben Augenblick drehte sich das Wesen wieder zu ihr um. Es schaute hin und her und fauchte die beiden Elfen an, als wüsste es nicht recht, wen es zuerst angreifen sollte. Das brachte Lichtpfeil auf eine Idee. Er stand breitbeinig vor dem Ding, das aussah wie eine völlig verwachsene Mischung aus mehreren Raubtieren, und schleuderte ihm einen gezielten Gedanken entgegen.
*Hey, du Mistvieh!*
Und tatsächlich zuckte das Ding kurz zusammen und ließ ihn nicht aus den Augen.
"Es kann unsere Gedanken hören!" rief er Federhaar zu.
Die nickte grimmig und antwortete: "Ja, aber es mag sie nicht!"
Ohne sich weiter abzusprechen, begannen die Elfen, das Monster mit Gedanken regelrecht zu beschießen, Gedanken, in die sie ihre ganze Abscheu und ihren Hass hineinlegten. Das Wesen krümmte sich, als erlitt es furchtbare Schmerzen. Es stöhnte, grollte und schrie zugleich, und seine Prankenhiebe wurden schwächer und schwächer und erreichten ihr Ziel nicht einmal mehr annähernd. Es krümmte sich noch weiter zusammen und kauerte hilflos an der Wand. Einen Fluchtweg gab es nicht, denn während Lichtpfeil den rückwärtigen Teil der Höhle versperrte, stellte Federhaar sich zwischen das Wesen und den Höhlenausgang. Es war ein seltsamer Kampf, den sie hier führten. Sollte es wirklich so einfach sein? Schließlich wimmerte und stöhnte das Wesen nur noch, und wie es dalag, konnte man beinahe Mitleid mit ihm haben. Sie hatten es fast besiegt, aber noch lebte es.
*Mach weiter*, sendete Lichtpfeil an Federhaar, setzte sich in Bewegung und näherte sich dem Wesen vorsichtig. Kaum einen Fußbreit von ihm entfernt blieb er stehen. Er war versucht, sich herunterzubeugen und ihm noch einmal direkt in die Augen zu schauen, bevor er ihm ein Ende machte. Er unterbrach sein Senden für einen Moment, und genau diesen nutzte das Wesen für einen letzten Angriff, in den es alle noch in ihm verbliebene Kraft legte. Es schnellte hoch und warf Lichtpfeil zuerst um und sich selbst dann auf ihn. Er schrie vor Schreck, und auch Federhaar schrie und hörte auf zu senden, um ihrem Freund und Anführer zu Hilfe zu eilen. Sie sah nur einen Berg aus Fell, Klauen und Zähnen, doch sie spürte, dass Lichtpfeil noch lebte und dem Wesen wieder mit seinen Gedanken zusetzte. Sie tat es ihm gleich, sendete weiter und stieß gleichzeitig ihren Jagddolch mit aller Kraft in den Nacken des Untiers. Es bäumte sich ein letztes Mal auf, bevor es mit einem lauten Röcheln zusammenbrach und endgültig still liegenblieb.
Federhaar hielt angespannt die Luft an und wartete ab. Wo war Lichtpfeil? Dann kam Bewegung in den zotteligen, stinkenden Fellberg. Einen Augenblick lang war Federhaar überzeugt, dass sie das Wesen immer noch nicht besiegt hatten, dass es immer noch lebte. Aber dann kam eine Hand zum Vorschein, und ein erschöpftes Senden erreichte sie:
*Hilfst du mir bitte, das Ding von mir runter zu schaffen? Ich ersticke gleich...*
Wenig später kniete Lichtpfeil nach Luft ringend neben Federhaar, und sie umarmten sich lange und innig, froh, am Leben zu sein. Dann betrachteten sie nachdenklich den Kadaver, der vor ihnen lag und mittlerweile noch mehr stank als zuvor.
"Was schlägst du vor?" fragte Federhaar.
Lichtpfeil seufzte. "Am liebsten würde ich es für mich behalten. Dieses Ding verschwinden lassen und niemandem davon erzählen."
Die alte Elfe wusste genau, was er meinte. Der Stamm war gerade erst hier angekommen und begann nur allmählich; sich sicher zu fühlen. Eine Neuigkeit wie diese würde sie alle wieder aufschrecken. Doch das schien unvermeidlich, denn so, wie sie beide aussahen, würden sie einen Heiler brauchen. Er schaute an sich herunter und grinste schief.
"Sie werden wohl wissen wollen, was uns passiert ist."
Dann zuckte er plötzlich zusammen und sprang auf.
"Das ist Hellstern", sagte er. "Sie sucht nach mir."
"Sie hat sicher gespürt, dass etwas nicht stimmt", vermutete Federhaar.
Bevor er die Höhle verließ, drehte er sich noch einmal zu ihr um. "Danke“, sagte er nur. Federhaar blieb allein zurück und stand eine ganze Weile nachdenklich neben dem toten Untier. Dann beugte sie sich vor, berührte es an seiner Stirn, schloss die Augen und öffnete sich für die Magie, die immer noch von ihm ausging, ließ sich davon umhüllen und einschließen und reiste mit ihrem Geist zurück in der Zeit bis zum Ursprung, zur Geburt des Höhlenwesens...

Spät in der Nacht, nachdem sich die Aufregung um die Geschehnisse in der Höhle hinterm Wasserfall gelegt hatte und alle einen Blick auf das Monster geworfen hatten, bevor sie seine Überreste beseitigten, ging Lichtpfeil noch einmal allein dorthin. Er wusste, dass er Federhaar dort treffen würde. Sie war schon immer seine beste Ratgeberin gewesen, doch dieses Erlebnis hatte sie beide noch enger miteinander verbunden als alles, was sie bisher durchgemacht hatten. Sie saß am Ufer des Teiches gegenüber vom Wasserfall und stand auf, als sie ihn kommen sah. Sie sah blass und müde aus, aber das lag vielleicht auch am Mondschein. Er selbst sah mit seinen Verbänden und Kratzern am ganzen Körper wahrscheinlich auch nicht besser aus.
*Die Magie der Hohen kann nach einer langen Zeit wie Gift wirken, wenn das Opfer sich nicht wehren kann*, sendete sie ihm.
Lichtpfeil erwiderte nichts. Er wusste, dass Federhaar mit ihrem Geist eine Art von Reise unternommen hatte, um herauszufinden, was in der Höhle passiert war. Er betrachtete es als Segen, nicht mit irgendwelchen besonderen Kräften außer der des Sendens ausgestattet zu sein, und er beneidete Federhaar nicht um ihre Gabe.
"Das Ding in der Höhle war einmal ein Säbelzahn gewesen", sagte sie dann leise. "Kannst du dir das vorstellen?"
Nein, das konnte er nicht. Er war ein hervorragender Jäger. Mit einem Säbelzahn wäre er spielend leicht allein fertig geworden. Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er daran dachte, wie es auch hätte ausgehen können. Aber das Ding war tot und erledigt, und seinem Stamm ging es gut. Solange die Menschen nicht wussten, dass es nicht mehr lebte, würden sie ihre Ruhe haben. Das allein zählte.
*Was denkst du?* fragte er. *Können wir hierbleiben?*
Federhaar nickte. "Ja, denn dies ist der sicherste Platz im Borkenwald, den wir finden konnten. Die Höhle selbst stellt für unser Volk keine Gefahr dar. Ich glaube, sie wurde einst von den Hohen als Unterschlupf und Versteck geschaffen."
*Aber aus dem Säbelzahn machte sie ein Monster*, sendete Lichtpfeil. *Diese Magie könnte doch auch einen von uns ... verändern.*
„Der Säbelzahn war verletzt ", antwortete sie. "Er war durch einen Schlangenbiss vergiftet worden und wollte in der Höhle eigentlich nur sterben. Aber die Magie hatte ihn stattdessen geheilt auf ihre eigene Weise..."
Er erwiderte nichts.
*Es ist die Magie unseres Volkes*, sendete sie. *Ich bin froh, endlich einen solchen Hinweis gefunden zu haben. Bitte, Lichtpfeil, lass' uns bleiben. Ich weiß, dass alle anderen genauso fühlen.*
Der Häuptling stand da mit verschränkten Armen, die Stirn in Falten gelegt, den Blick grimmig auf den Wasserfall gerichtet und das, was dahinterlag. Er dachte an ihren alten Hain, der ihm sehr fehlte, an den kleinen Grünspeer, der erst in einigen Sommern alt genug sein würde, an den Jagden teilzunehmen, doch vor allem dachte er an seine Gefährtin Hellstern und das Kind, das sie bald zur Welt bringen würde. Nein, jetzt weiterzuziehen war nicht gut. Sie würden bleiben und sehen, wie es laufen würde. Federhaar hatte Recht. Er nickte langsam und bedächtig und schenkte ihr ein Lächeln, als er sagte:
"Es ist entschieden. Unsere neue Heimat ist hier."

16. Januar 2004

Über dieses Büchlein


Die drei hier vorliegenden Geschichten entstanden vor etlichen Jahren, als ich sehr aktiv in der deutschen Fancommunity rund um die amerikanische Comicserie "Elfquest" war. Damals zeichneten wir alle und schrieben unsere eigene FanFiction. Auch das Bild für das Cover habe ich zu jener Zeit selbst gemalt. Ich entdeckte meine Geschichten erst vor kurzem wieder und finde sie immer noch so gelungen, dass es einfach zu schade wäre, sie irgendwo auf meiner Festplatte verstauben zu lassen.

Im Vergleich zu manch anderem Fandom mag das Universum der Elfquest-Fans recht klein ausfallen, zumindest hier in Deutschland, doch die Community ist immer noch ziemlich aktiv und veranstaltet seit 2000 jedes Jahr eine eigene Con und mehrere kleine Treffen.

Ich hoffe, ihr findet Gefallen an den Geschichten um Federhaar, Lichtpfeil und all die anderen Charaktere, die ich mir einst ausdachte.

Und wenn ich euer Interesse an Elfquest wecken konnte, dann besucht einmal die offizielle amerikanische Website elfquest.com oder schaut einmal auf der deutschen Website elfquest-welt.de vorbei.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

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