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Kapitel 1: Doch nicht Norwegen!





Dorthin wollte ich nicht! Ich wollte nicht nach Norwegen. Norwegen ist dunkel und kalt. Punkt. Ich hätte meine Tochter in Schweden besuchen wollen. Was mindestens ebenso dunkel und kalt sein kann… aber das wollte ich erst gelten lassen, als ich endlich einmal einen genauen Blick auf die Landkarte warf! Nach Schweden hätte ich schon zur Sommersonnenwende vor beinahe zwei Jahren gewollt. Aber sie wollte nicht. Gekränkter Mutterstolz! Und Norwegen wollte ich nicht. Denn das war ihr Vorschlag gewesen: sie doch zu besuchen, wenn sie in Norwegen wäre…

Skandinavien war eine Region dieser Welt, die mich nie so besonders interessiert hat. Berichte darüber streiften meine Ohren aber fielen nicht tiefer. Ähnlich ergeht es mir mit Großbritannien oder Amerika. Hätte ich Geld ohne Ende, so würde ich mich in den Süden aufmachen: Spanien, Portugal, Griechenland aber auch Bulgarien, Rumänien würden mich reizen. Und Marokko. Und Indien. Und zwar immer dort, wo nicht die Hotelketten auf DEN Touristen warten. Auch Italien habe ich immer jenseits vom großen Rummel versucht zu sehen. Ohne „Teutonengrill“. Aber ich habe nicht „Geld ohne Ende“, und noch immer gilt „einem geschenkten Gaul schaut man (frau auch nicht) nicht ins Maul“!? Also dann doch besser "schlecht" gereist als gar nicht??? Das kommt nun auch nicht so gut! Aber ein bisschen stimmte es zu der Zeit, muss ich beschämt eingestehen...

Es begann nämlich damit, dass ich einen einzigen Satz fallen ließ: „so direkt hält mich hier nichts mehr.“
Meine Tochter nahm ihn auf und vollendete ihn sozusagen: „...dann komm doch zu uns.“


„Zu uns“ war ein kleines Dorf in der Nähe von Trondheim, in dem Menschen mit Behinderung in kleinen familienähnlichen Hausgemeinschaften zusammen mit ihren Betreuern leben und arbeiten. Es gibt Schafe, Kühe und Schweine, die Webstube, eine Buchbinderei…
Ein Besuch im Mai nahm langsam Formen an und während der Wintermonate begann ich mich mit einem Land auseinanderzusetzen, das ich vorher nie beachtet hatte.

Der Leser kennt das Phänomen? Besitzt er voll Stolz eines Tages endlich das Fahrzeug mit dem Stern auf der Motorhaube, so scheinen Straßen und Parkplätze förmlich überzulaufen mit ähnlichen Fahrzeugen. Schwangere scheinen ständig Schwangeren zu begegnen und Eltern mit Kinderwagen haben den Eindruck, die ganze Welt schiebe Kinderwagen…
Fortan schien sich Norwegen in mein Leben zu drängen: ich hörte plötzlich ständig Sendungen über Norwegen im Radio, schaltete eines Nachts durchs Fernsehprogramm und blieb an einer Reportage über die Hurtig-Routen-Schiffe hängen ODER stellte fest, dass es nicht nur gute schwedische Krimis gab sondern plötzlich norwegische Filme zu sehen waren.

Norwegen. Immer besser gefiel mir das Land. Maßgeblich wohl auch deshalb weil ich im Internet eine wunderbare Seite zu Norwegen, dem Leben dort und allem was zu Reise und Auswandern gehört, fand. So ein Zufall!?
Mitte Mai sollte es los gehen und mich machte diese Reise schon unruhig. Ich war seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht geflogen. Und an damals habe ich kaum eine Erinnerung vor allem was das Drumrum angeht. Darum kümmert sich ein zwölfjähriges Mädchen nicht wirklich. Schließlich war mein Vater der „Reiseversierte“.

Was haben wir nur ohne Internet gemacht? Ich stöberte nach Begriffen wie „Boarding“, „Handgepäck“ und „meiner“ Fluggesellschaft um deren Bestimmungen ausfindig zu machen. Ich holte mir den Nürnberger Flughafen auf den Schreibtisch… ich wohne zwar wenige Kilometer davon entfernt, aber dort gewesen war ich nie. Je mehr ich mich vertiefte umso heftiger drängte sich mir der Gedanke auf, dass ich doch überhaupt nicht in meine Zeit passte. Alles was andere tagtäglich oder zumindest jährlich mit machen, war neu und aufregend für mich.

Also gut – einchecken via Internet klappte schon mal bestens! Noch 24 Stunden. Mein kleiner Trolley und das Handgepäcks-Köfferchen waren gepackt… Stellte sich nur die Frage: kann ich meinen kleinen Rucksack für Krimskrams, Wasserflasche, Bonbons, Geldbeutel und Papiere auch noch mit nehmen oder zählt DAS dann auch als Handgepäck? Zwei Gepäckstücke kosten eventuell extra… Und ich brauchte zumindest für Notfälle einige Dinge, die sich Reisende mal eben so kaufen, weil sie – anders als ich – mit genügend Kleingeld unterwegs sind! Ich hingegen hatte es Fremdverschulden zu verdanken, dass einer, der mir eigentlich helfen sollte, sich an meinem bisschen Geld einfach so „bediente“ so dass ich just in diesem Mai mit noch weniger auskommen musste, als ohnehin jeden Monat.

Das gute daran war in meinem Fall allerdings, dass ich es gewohnt war, zu improvisieren und ich zwar an leichtem Magengrummeln litt – so ganz ohne Geld unterwegs zu sein, aber dieses Gefühl eben war mir nicht neu. Da hilft nur Gottvertrauen. Und ein wenig vorsorgen mit Reiswaffeln und einer Plastikflasche – falls mich Vulkanasche irgendwo niederzwingt, so werde ich Reiswaffeln mümmeln und mir auf irgendeiner Toilette Leitungswasser einfüllen.
Der Mai war kalt und feucht, würde also in Norwegen sicher nicht wärmer sein, mein Gepäck deshalb gemischt warm-kalt-praktisch – ein Bekannter fuhr mich zum Bahnhof und als ich in der Regionalbahn Richtung Nürnberg zockelte, dachte ich mir wenig euphorisch: „Unheil nimm deinen Lauf“!

Aus allen früheren Reiseerfahrungen weiß ich: sobald ich zwanzig Minuten weit weg von Zuhaus bin, der Aufbruch-Streß von Packen bis zur Frage: ist auch die Kaffeemaschine aus? klein und kleiner wird, stellt sich Vorfreude auf was auch immer ein. Hektik und alle Sorge fällt ab… Trotz meines derzeitigen Akku-kaputt-Zustandes, trotz meiner inzwischen schon etwas länger andauernden reiselosen Zeit packt es mich wieder, der alte Mechanismus setzt ein: ich reise gern und ich genieße es. Und weil ich auch gut organisieren kann, bin ich zeitig genug unterwegs. Erwische die U-Bahn in Nürnberg, als wäre ich hier jeden Tag unterwegs und rollere – klappklappklapp meinen Trolley in die Halle… und bin ein wenig stolz auf mich!

Der erste Schreck packt mich im Genick, als ich meinen Handgepäck-Koffer in ein dafür vorgesehenes Testgestell stellen will und er nicht rein passt! Das darf doch nicht wahr sein: tausendmal habe ich die Maße durchgesehen und war mir sicher, dass alles in Ordnung ist. Ich sehe mich bereits notdürftig umpacken, mein Teil irgendwo in einem ganz bestimmt teueren Schließfach deponiert mit einer Notlösung weiter kommen. Panik gegen Zweck-Optimismus aus dem Notoptimismusaggregat - geht ja gut los!
Da lese ich die Aufschrift… mit der Gesellschaft fliege ich ja gar nicht! Durchatmen.


Ich wandele durch die Halle um zu sehen, ob mein Internetrundgang stimmte… und ich habe Zeit. UND ich erlebe, wie frau mit zwei Köfferchen und Rucksack zur Toilette geht, weil ich brav bin und all die Hinweisschilder natürlich auch im eigenen Interesse befolge, mein Gepäck um Himmels Willen nicht unbeaufsichtigt zu lassen. DAS unterscheidet meine bisherigen Reiseerlebnisse grundlegend von diesem: ich reise das erste Mal völlig allein! Ohne Eltern, ohne Partner und ohne Kids. Und wer völlig allein reist, hat niemanden, dem er mal eben sagen kann „guck auf meinen Koffer…“ Klar. So quetschen wir uns ins stille Örtchen: meine Gepäckstücke und ich. Nicht auszudenken, hätte ich einen Riesenrollenkoffer für drei oder vier Wochen Kanaren dabei! Aber DANN hätte ich ja auch die Kohle für ein ordentliches Schließfach. Denn die reisende Dame von Welt wandelt gepflegt mit allen – auch optisch zusammengehörig aussehenden – Gepäckstücken zu irgendwelchen Schließfächern (nach denen ich schon gar nicht suchen werde) und stellt alles ein.
Oder – ach wie dumm bin ich – bummelt schon mal zum Abflugschalter und gibt das Gepäck gleich auf und hat dann nur noch das kleine Köfferchen zu managen.

Die Hätte-wäre-wenn-Theorie ist jetzt zu umständlich und überflüssig, ich quetsche mich wieder aus dem Örtchen und rollere weiter durch die Halle auf der Suche nach dem Schalter „meiner“ Gesellschaft. Himmel! Alles finde ich und alles ist mit mehreren auffälligen Schaltern vertreten, nur "meine" nicht. Ich habe immer noch jede Menge Zeit und rollere ein weiteres Mal durch die Halle und ein Gedanke – einer von vielen – läuft mir durch den Kopf: wie klein die Menschlein hier alle sind, wie wuselnde Ameisen in diesem riesigen Gebäude.


Später, als ich aufs „Boarding“ warte und oben auf der Gallerie den Überblick habe, kommt mir dieser Gedanke wieder: Menschlein, wie bist du klein und was bildest du dir dennoch ein!

DA! Ich habe zwei kleine, versteckte Schalterchen gefunden, zwanzig Minuten vor der offiziellen Gepäckaufgabe. Alles gut. Ich platziere mich dort auf einen freien Drahtsessel, arrangiere mein bisschen Gepäck unverfänglich für Vorübergehende um mich und packe den kalten Kaffee im Plastikbecher aus und eine Wurstsemmel. Komisch muss es aussehen. Und wie ein unpassendes Relikt in dieser Umgebung und auch an mir! Denn wie immer verstehe ich es, mein Arm-sein so zu kaschieren, dass an meinem Outfit schon mal gar nix zu erkennen ist! Und beide Koffer sind relativ uptodate, kaum gebraucht und höchstens drei, vier Jahre alt… und doch packe ich inmitten von „Coffe-to-go“ und allerlei fastfood um mich her – es ist Mittagszeit – mein Schinkensemmelchen aus… und muss lächeln. Es macht mir Spaß hier in der Anonymität ein wenig für Irritation zu sorgen.

Während ich zufrieden mümmele, sehe ich es. ICH SEHE ES! "Meine" Gesellschaft hat ein eigenes Gestell zur Handgepäck-Prüfung. Nun aber flugs Gewissheit verschafft… zwei Schritte hin mit dem kleinen kompakten Köfferchen, rein und – ahhhh! Geht doch. Natürlich passt es. So ein Glück, denke ich, dass ich mit denen fliege. Sonst hätte ich mir direkt in meiner Planung vor Wochen was Unspektakuläres einfallen lassen müssen. Etwa nur mit Rucksäckchen an Bord und alles andere in meinen alten abgewetzten großen Koffer packen….
Dabei ist es nur logisch und im Sinne des Erfinders, Bordgepäck zu haben… dieweilen der andere Koffer ja vielleicht sonst wo rum fliegt und dort landet wo man selber grade nicht ist… Ja – ich bin kopflastig und während ich mich mit der Semmel in der Hand zurück begebe und mich freue, dass alles klappen wird und ich eine Sorge weniger habe, tue ich nach außen ganz gelassen und routinemäßig… Muss ja hier keiner wissen, dass ich einem inneren Zusammenbruch entging.

Gepäck aufgeben. Alles ganz easy. Die Mädels sind berufsfreundlich und ich packe sämtlichen geklebten und gestempelten Papierkram in mein Rucksäckchen und bin eine Etappe weiter. JETZT sitze ich oben und stricke an meinem Strumpf weiter. Und beobachte nebenher die Menschen und die Schlaglichter, die solche Momentaufnahmen auf ihr Leben werfen. Für Minuten erscheinen Puzzleteile aus denen ich mir ihren Alltag zusammen reimen kann, ihre Nöte vielleicht oder ihre Stärken und Schwächen. Eine Familie mit drei kleinen Kindern wandelt die Treppe herauf. Papi trägt ein Noch-Windelkind, Mami hat eines im Tragetuch und dem armen ältesten Knirps wurde Selbstständigkeit verordnet – vielleicht viel zu früh… ich kann ihm nachfühlen.
Eine alte Frau mit Sohn sitzt mir gegenüber. Sie wird mich sicher gleich nach meiner Strickerei fragen… ich sehe es ihr an. Aber der Sohn belegt sie mit Beschlag. Sie soll keine Unterhaltung mit mir beginnen… schade.


Kapitel 2: Boarding-Time oder Englisch ist Trumpf




Ich rolle die Wolle, packe Gepäck und mache mich auf. Denn ich ahne mehr als ich es weiß: wahrscheinlich läuft man länger durch die Hallen als einem lieb ist…
Jetzt ist alles abgefallen, was noch an mir unschön hing. Hier weiß keiner, dass ich grade erst zum zweiten Mal aus "der Psychosomatischen" gekommen bin, mit "burn-out" und ein paar "Trabanten-Diagnosen, dass ich ständig mit der ARGE streite, dass ich Ecken in meinem Leben habe, die leer, leer, leer sind.
Irgendeine alte Kampfelslust – oder ist es Abenteuerlust – ist wach und solange ich auf dieser Reise nicht unverhofft Kleingeld benötige (das, was ich noch habe, würde exakt für die Zugfahrt vom Flughafen nach Haus ausreichen) ist alles toll.
Ich schalte mein Handy aus und gucke bei denen die vor mir sind, was zu tun ist:
Plastikschalen, Jacke aus, in Schale rein, Notebook aus dem Köfferchen, eine zweite Schale, Schlüssel rein, Handy rein, Rucksäckchen rein… ES PIEPT. Was piept in meinem Rucksack? Das fragt mich auch der Polizist. DER macht ihn aber nicht auf, das macht Station zwei… „Hom Sie a Glos drinna?!“ Als wäre allein das Mitführen eines Glases schon ein Straftatbestand… und sein Unterton erst! Der klingt wie: „kann man denn so blöd sein, einfach ein Maschinengewehr mitzunehmen!?“

Endlich fühlt er sich berufen, den Rucksack zu öffnen. Aha!!! Hatte ich doch glatt vergessen, dass ich das leere Honigglas zurückführe. Und zudem habe ich den Hohlraum genutzt und mir zwei gekochte Eier ins ehemalige Honigglas – mit Honig aus Norwegen eben – getan. Der Beamte guckt verdutzt auf die Eier. Da ist er wieder dieser Blick: wer-reist-schon-noch-mit-Proviant? „G’kochta Eia?“ „Ja“. „Dou gebts an Drick“, sagt sein Kollege von Position eins: „Moust hie leng und dreha, nou sichst obs nu rouh is…“ Vielleicht ist das Maschinengewehr ja da drinnen??? Position Zwei verzichtet, schraubt das Honigglas wieder zu, einpacken darf ich alles selber…. Rasch, rasch. Und weiter im Laufschritt, sonst wirds doch knapp! Mannomann ist mein kleines Köfferchen schwer geworden… Aber ich bin da, Perso raus, Ticket raus (der Nachteil bei Internet-Check-in, man hat halt ein gefaltetes DIN A4 Teil dabei) und hinter allen anderen her getrampelt zum Bus.

Ein Maschinchen steht da etwas verloren. In weiß-blau. Und ich denke mir: DAS kann schon fliegen? Gut, wir müssen nur bis Amsterdam und das wird das Vögelchen schon schaffen. Was mich sehr amüsiert und mir zugleich ein nostalgisches und gutes Gefühl gibt: Der Schein eines erhebenden Ereignisses bleibt auch hier gewahrt: Stewardess im Türchen, freundliche Begrüßung für jeden einzelnen Passagier, auch, weil ja nur immer einer durch passt… Gespart werden muss doch, und so sind die Nümmerchen über den Sitzplätzchen auf den ersten Blick nicht zu orten. Schon gar nicht, wenn hinter einem die Menschenschlange kriecht und NICHT sucht. So lasse ich mich in der Mitte des Vögelchens erst mal fallen und die anderen weiter strömen. Und sooo falsch sitze ich gar nicht, reiner Zufall, ich muss nur eine Reihe weiter nach hinten fallen. Fensterplätzchen – ahh – über dem Flügelchen – bahh!
Ich rappel mich noch mal hoch, schlage mir den Kopf an (und ich bin nur 1,63 groß) und wuchte mein Bordgepäck ins Plastikfächlein. Ob wohl irgendwo der Hinweis zu lesen wäre: Passagiere über 1,50 Körpergröße möchten sich doch im eigenen Interesse schrumpfen? Nein, ich kann dergleichen nicht entdecken. Eine Dame kommt neben mir zu Platze… Sie wird mich während des ganzen Fluges bis Amsterdam nur englisch ansprechen, obwohl sie sich mit den anderen Dreien auf der anderen Seite, die wohl mit ihr reisen, in breitestem Nürnberger Dialekt unterhält. Ich grinse und löse ihren Irrtum nicht auf…

Das Vögelchen nimmt Anlauf und hebt ab um dem bayerischen Dauergrau dieser Maitage zu entkommen… die Seatbelts schnappen auf, so als hielten sie schon seit einem Jahrhundert und hätten nur auf diesen Augenblick gewartet… und vorne beginnt ein Mädchen, das irgendwie auch die zweite meiner drei Töchter hätte sein können, mit der "Sicherheits-gymnastik".
Nun ist mir schon klar, dass Vorschrift Vorschrift ist UND dass es die Gute dort nicht leicht hat, den zumeist gelangweilt blickenden Nadelstreifen-Männern ein weiteres Mal zu erklären, dass sie den anderen Passagieren behilflich sein sollen, wenn sie mit dem Anlegen der eigenen Sauerstoffmaske bereits fertig sind. Mit choreographischer Eleganz weist die Arme – von zunehmendem Lachreiz geplagt, denn in den vordersten Reihen sitzen zwei junge Burschen und feixen und amüsieren sich, was ich durchaus verstehen kann – dann noch auf die Notausgänge hin und lässt den Ernst eines Schweizer Gardisten fahren und kehrt gluckernd auf ihr Plätzchen vis a vis der reisenden Vögelchen-Gemeinde zurück… auch die gelangweilten Nadelstreifen lächeln nun etwas…

Unter mir reißen die Wolken auf und ich überlege, wo ungefähr über Deutschland wir fliegen und ob ich nachher Köln sehen könnte??? Wenn nur das Flügelchen nicht wäre… halt! Falsch! denke ich – wenn hier unter mir das Flügelchen fehlte, hätten wir alle ein Problem. Viel Zeit mit dem Gefühl „über den Wolken“ allein zu sein bleibt nicht, bis zur Landung muss noch Programm absolviert werden… die berufsfreundlichen Mädels haben sich nun mit weinroten langen Schürzen und weißen Handschuhen als Butler maskiert und kommen von hinten! Von da ab wird mir klar wie noch nie: Englisch ist das Latein der Neuzeit – ohne Englisch bist du schon zu Haus vor dem PC ein Nichts, aber in der weiten Welt musst du ohne Englischkenntnisse verhungern, verdursten oder du kannst nur deuten. Ohne Englisch geht nix! Und ich fühle mich wohl, weil sich wenigstens DAS, wenigstens DIESE Plagerei zu Schulzeiten ein Leben lang bezahlt machen wird: acht Jahre Vokabeln und Grammatik, Definitions, Opposits und If-Clauses…

Die eine der beiden als Butler Verkleideten: „do you like bisquits, some bisquits?“ Dass sie süße und salzige Bisquits im Angebot hat, bemerke ich nicht so schnell und weil ich aus meinen Wolkenbetrachtungen so abrupt nicht auf Bisquits und Kaffee gleichermaßen reagieren kann – die Dame hinter der Dame drängelt nämlich schon mit dem Kaffeeautomaten nach, wirft sie mir beide Sorten aufs Tablettchen, das ich rasch ausfahre um den Segen noch aufzufangen. Denn mich bücken auf dem Plätzchen im Vögelchen scheint selbst mir ein aussichtsloses Unterfangen. So komme ich also in den süßen und den salzigen Genuss samt „some Coffee? Coffee? Any else?“ Das Any-Else kommt schon so, als sollte ich lieber – aus Zeitgründen – nichts weiter mehr wollen… denn die Maskierten maskieren sich vorne angekommen rasch um indem sie die weißen Handschuhe mit Plastikhandschuhen tauschen – wohl in Gedanken einmal bis Hundert zählen oder so – und ihr Wägelchen mit Müllsäckchen behängt rückwärts steuern um den Müll, unsäglich viel Müll!, einzusammeln. Pech für die in der ersten Reihe, denn denen bleibt nur übrig, entweder den Müll später in die eigene Tasche zu stecken oder die ungegessenen Bisquits oder den leeren Kaffeebecher - ODER sich ein wenig den Mund zu verbrennen…

Ein Glück ist da doch der Platz in der Mitte über dem Flügelchen: ich habe keinen verbrannten Mund und die süßen Bisquits verspeist und reiche mit schlechtem Gewissen einen Haufen Müll zurück: Eingeschweißtes in Eingeschweißtem mit nochmals eingeschweißtem Papiertüchlein… und eingeschweißtes Schmal-Löffelchen mit extra eingeschweißtem Milchlein und Zückerlein…. Alles im Vögelchen ist klein, nur der Müll ist riesig!

Köln habe ich nun verpasst und draußen stimmt das Lied von „…über den Wolken“ schon lange nicht mehr… Holland liegt im Sonnenschein und schon greifen alle zu den Gurten. Ich entdecke, dass ich unter dem Tablettchen auch noch meinen Strickstrumpf liegen habe, den rasch im Rucksack verstaue und im Geiste mir schon ausmale wie ich möglichst rasch ohne den Ablauf zu gefährden, meinen Kurzreisekoffer aus dem Pastikfächlein angle… Es würde mich auch nicht wundern, wenn er sich angepasst und ein wenig geschrumpft hätte! Ich schlage mir ein zweites Mal den Kopf an und zugleich das linke Knie, reihe mich in den Nadelstreifenfluss ein und lächle strahlend dem Mädel im Türchen „bye bye“ zu, tripple das Steglein hinab und fühle mich erstaunlich normalgroß beim Weg durch die Halle…



Kapitel 3. Amsterdam – von Freien, freien Geistern und Unfreien




Mein Koffer kommt nicht! Alle Gepäckstücke gehören nicht mir! Dafür kommt die Panikattacke. Zielsicher und violett bis orange verschwimmt die Halle und ich habe das Gefühl ALLES kommt auf mich zu… ich setze mich und krame im Rucksack nach einer Packung Taschentücher… etwa sieben Minuten lang versinke ich in einer Welt, in der scheinbar alles auf mich eindrängt und jeder etwas von mir will, der herum läuft. In Wahrheit geht jeder weiter seiner Beschäftigung nach und nimmt mich nicht mal wahr! Der Rucksack ist mein Halt und die Packung Taschentücher auch... irgendetwas das mich erdet, etwas Profanes.
Ebenso lang brauche ich mindestens um danach wieder im Jetzt anzukommen…

Eile habe ich zum Glück nicht… es ist mitten am Nachmittag und weiter geht’s erst um halb acht…
Nach insgesamt einer halben Stunde gehe ich zu den KLM-Mädels am Schalter und frage nach meinem Trolley, er wäre nicht mitgekommen…
Ich staune selbst über die Ruhe in mir… grade noch geschüttelt von mir selbst, erkläre ich der Dame, dass das Teil in Dunkelblau kein Hartschalenkoffer ist und eher klein. Nein, meint sie, am Platz beim Vögelchen wäre er nicht. Ratlosigkeit eine ganze Weile… Dann kommt eine andere Dame und lächelt erlösend und fragt, wohin ich denn noch wolle. Sie betont „noch“… und blitzartig fällt mir ein, was sie mir gleich sagen wird: mein Package ist schon umgeladen… klar! Ich will ja weiter und brauche mich um das Teil gar nicht zu kümmern…
Der Nichtflieger in mir kommt dann eben doch zum Vorschein: wieder mal keine Ahnung von nix gehabt!

Ich danke und bedanke mich für den nice day, den ich nun noch haben werde und gehe… Hätte ich nur Geld um den Kurzreisekoffer – der sich nicht geschrumpft hat! – in einem Schließfach zu parken!!! Ich hätte genügend Zeit um auch draußen ein wenig herum zu gondeln… das Wetter war ja eben super…
Ich beobachte gerne Menschen. Zwei Mädels die, leicht genervt schon, an einem Blumentrog versuchen, aus ihren drei Gepäckstücken zwei zu machen. Warum, kann ich nicht ergründen… aber offensichtlich ist die Situation nicht lebensbedrohlich sondern es wäre jetzt eben einfach nur praktisch… und glückt nicht. Dann erkenne ich, dass die beiden das Gleiche möchten wie ich auch: einfach die Zeit nutzen, aber nicht alles mit sich rum schleppen… So ist das Leben, auch bei anderen, die beiden stomern also wie ich „unfrei“ herum.
Dermaßen getröstet schultere ich meinen kleinen Koffer wieder und den Rucksack und laufe weiter…

Das Flughafengelände verlassen ist wohl nicht… schade, aber egal. Ich suche mir ein nettes Plätzchen von wo aus ich die Menschen beobachten kann und nehme meinen Strickstrumpf zur Hand. Dabei geistert mir kurz durch den Kopf, dass meine Vorliebe für Bambusstricknadeln mich wohl vor weiterem Durcheinander bewahrte… nicht auszudenken, wenn Metallstricknadeln verboten gewesen wären, weil man wer weiß was damit anrichten könnte! Zu kurios die Vorstellung, dass die Kontrolle sie einbehalten hätte und mein Strumpf mit in der Luft hängenden Maschen hätte weiter reisen müssen…

Ich muss schmunzeln und mir gegenüber schmunzelt wer zurück: eine ältere Dame, deren Haarknoten schon in Auflösung begriffen ist. Mit Strickzeug wird man meist von älteren Damen kontaktiert… Wortlos kruschelt sie aus einer der mindestens sieben Tüten auch Strickzeug hervor, winkt mir damit zu, packt alles wieder zusammen und hat es plötzlich eilig. Ruft noch was – holländisch, ich habs nicht verstanden und denke nur: hatte sie nun Metallnadeln oder Bambus??? Und reist sie am Ende nur mit diesen Tüten???
An ihre Stelle setzt sich nun ein Cowboy… Ja! Ein Mann, mindestens in den Sechzigern mit breitem Stetson, Holzfällerhemd, Lederweste, Halstuch… der pure Wahnsinn sind die Hosen aus Leder und die Stiefel!!! Ich grüble darüber nach, was ihm die Liebe zu seinem Traum wohl so kosten wird… Billig ist das jedenfalls nicht. Und flugs denke ich daran, wie oft ich mit großen Augen über Mittelalter-Märkte schlendere… das ist meine Leidenschaft! Und so kann ich den Guten verstehen und er kommt mir gar nicht mehr so wunderlich vor. Vielmehr bewundere ich seinen Gleichmut, mit dem er hier mitten auf dem Flughafen sitzt! Ich würde mich mit wallenden Damengewändern, Haarreif und Schleier wohl nicht hier präsentieren. Auch nicht unbedingt mit Schellenbändern ums Fußgelenk, Leinenrock und geschnürtem Mieder als Marketenderin oder was auch immer das Mittelalter an Weiblichkeit hergäbe.

Mittlerweile sitzt ein kleines Mädchen auf seinem Schoß, ein Wassereis in der Hand und ein Junge verlangt nach einem Taschentuch… Das Holländisch der Kinder verstehe ich leichter als das der Erwachsenen! Nach einer Weile wird erkenntlich, dass der Cowboy-Opa zusammen mit Oma und den Enkeln auf Mama wartet. Ein Luftballon wird gehisst und die Blumen entrollt. Weil grade kein Abfallbehälter fürs Papier in der Nähe ist, packt Opa den Papierknäuel kurzerhand unter den Stetson… naja – Freiheit im Leben! Es kann so einfach sein.

Mir geht diese innere Freiheit ab. Ich weiß aber, dass ich sie habe, irgendwo ganz versteckt und nieder getrampelt von jahrzehntelanger Vernunft zu betoniert. Und in klitzekleinen Ansätzen kommt sie – manchmal. War ich nicht mit Gabriel im Nürnberger Burggraben – mit dem langen Leinenrock und eben jenen Schellenglöckchen ums Fußgelenk? Und feilschte ich nicht um den Preis eines Fingerringleins aus Blutstein und sodann um ein Stück Siegelwachs?

Ich stricke weiter und denke nach…

Gegen fünf Uhr nachmittags packe ich den Strumpf ein, nehme Rucksack und Köfferchen wieder auf und suche eine Toilette, will zur Aussichtsplattform und überhaupt mir ein wenig die Beine vertreten… auf den Etagen Richtung Aussichtsplattform sind Toiletten allerdings Mangelware. Ich entdecke EIN Örtchen aus dem mir gleich drei Damen entgegen duften… eine steht noch drin und wartet… Unmissverständlich postiert sich ein Kerl mit Blaumann und einem Putzwagen zwischen mir und Toilettentür: ER wird jetzt gleich sein Werk beginnen, und ICH habe zu warten!

Über das Geländer nach unten in die Halle blickend überschwemmt mich ein Gefühl von heißer Freude und von Stolz: ich bin wieder unterwegs! Ich weiß es, doch ich weiß es: Mein Verlangen nach Routine und Gleichmaß widerspricht nicht dem Gefühl, gern unterwegs zu sein. Denn es würde mir ja zur Routine werden... Habe ich zehn Milliliter vom Blut fahrender Völker in mir??? Ich habe es schon bis hier hin geschafft so wie Tausende täglich unterwegs sind und gar nicht darüber nachdenken, was denn da „zu schaffen“ sei… Auch das ist Freiheit. Neugierig sein auf Neues. Sich aus dem Einerlei trauen, sich „aufschwingen“… Ob meine Tochter sich Sorgen macht?
Hinter mir rollert das Putzwägelchen ab. Jetzt aber flugs, bevor wieder ein Schwall Weiblichkeit heran flutet, um sich aufzuhübschen. Kaum bin ich drin, geht schon wieder die Tür auf… der Putzmensch hat den Zellstoff für nasse Hände vergessen…

Dann ist es endlich geschafft: in der Spätnachmittagsonne gucke ich kleine und größere Vögel, die mit ihren gemalten Gefiederfarben leicht dem einen oder anderen Stall zuzuordnen sind. Ich mümmel’ das zweite meiner beiden Eier – und die herzhaften Keksanteile aus der ersten Flugetappe… Woher sie alle kommen und wohin sie fliegen? Rund um den klein gewordenen Erdball, dessen Perforationen, Sollbruchstellen, Wassermengen, Hitze und aufgeworfene Steinmassen wir zu kennen glauben, seit uns Bilder aus dem Weltraum beschert sind… Welch eine Kleinigkeit. Ein kleines blaues Kügelchen um das verschämt Fliegerchen kreisen um die Bewohner des Kügelchens zu transportieren…
Wie amüsant müssen wir für das Universum wirken! Und wie gänzlich unerheblich ist es für jenes Universum, ob wir existieren oder nicht. Ob wir unseren Planeten zu Tode schinden oder ihn hegen und pflegen…

Unten klettern viele Einzelschicksale aus einem kleinen Vögelchen so wie ich vor ein paar Stunden… außer dem Reisegepäck tragen sie noch ihre Geschichten mit sich, verborgen unter geschäftigen und saloppen Masken…

Es ist kühl geworden und außerdem Zeit für mich, mal nach den Modalitäten für mein Fortkommen zu gucken. Wer weiß, vielleicht ist inzwischen dem Isländischen Vulkan wieder eingefallen, herumzuäschern. Die Abflugtafeln lassen sich so gut wie gar nicht lesen, die Abendsonne blendet und ich suche einen Platz, von wo aus sich leidlich erkennen lässt, ob auf dem angegebenen Gate auch noch abfliegt, was laut meinen Reiseunterlagen dort abfliegen soll… sieht gut aus und als ich mit dem Blick wieder weg von den Tafeln in der Halle lande, stehen dort noch jede Menge andere Reiselustige oder Reisegenötigte und halten sich Aktentaschen, Gebäcktüten oder Hüte gegen die Sonne vors Gesicht… Grotesk sieht es aus, aber bis ich jetzt mein Handy auf Foto stelle! Dabei fällt mir ein Bild ein, das ich auch nicht fotografiert hatte – vor vielleicht acht oder neun Jahren. Gerade in Assisi angekommen, mich über Regen ärgernd sah ich vom dritten Stock aus meinem Zimmerfenster und sah nur - - - bunte Schirmflächen wie bunte große Käfer die Straße entlang krabbeln – und muss jetzt noch darüber lächeln.

Anstellen – weil ich ja die heiligen Hallen verlassen habe, also erneut das Procedere: Jacke aus, in die Schale, Handy raus, Schlüsselbund raus, Rücksäckchen in die Schale, Notebook aus der Tasche… während der Handgriffe, die eine sehr!!! resolute Dame begutachtet, mehr als meine Sachen, rufe ich, auf den Rucksack deutend „Glass inside“ um Ärger zu vermeiden… Sie interessiert aber nicht das Glas sondern mein „viel zu großes Notebook“. Bitte wie? Sie fischt es aus der Schale, stellt es hochkant, rüttelt es ein wenig, dreht es um, wie ein Geschenkpäckchen dessen Inhalt man erraten möchte. Herr im Himmel! Nun legt sie mein teueres Teil auf den Bauch, beguckt die Schrauben! Kräuselt die Nase, dreht es wieder um und lässt es in die Schale plumpsen! Ich habe wenig Zeit, mich aufzuregen. Nicht ob ihres Misstrauens, sondern ob ihrer Ungehobeltheit. Mein Notebook ist mein Handwerks-
zeug, mein Tagebuch, mein Adressbuch, mein Musikspeicher, mein Radio, mein DVD-Player, mein Tor zur Welt! Alle Gedichte und drei verschiedene begonnene Bücher sind darauf und, und, und… es gab aber eine Zeit, in der ich mit Füllfederhalter, Bleistift und DinA4-Block auf Reisen ging!
Auch das war immer spannend und hat durchaus funktioniert!

Der Vogel ist gewachsen – klar, er fliegt auch etwas weiter und ich denke mir, die Wind- und Wetterverhältnisse sind dann gleich andere. Da ist wohl ein wenig mehr Substanz angebracht. Mit mir wandelt die Crew – also muss ich mich nicht so eilen, ohne Crew kein Boarding. Aus den Augenwinkeln betrachte ich die Herrschaften: drei Männlein, zwei Weiblein, wovon das eine Weiblein später verschwunden bleibt. Ich stehe in der Schlange – in einer sehr breiten Schlange, weil wir bei zwei Damen eingelassen werden, und beim Blick auf mein Reiseziel bricht meine Dame in Verzückung aus: To Trondheim? Oh, great! Beautyful! Have a nice time!
Wieso das??? Wir wollen doch ALLE dahin? Es kann doch nicht so besonders sein, dass ich nach Trondheim fliege, wenn alle mit mir auch dahin fliegen??? Oder sehe ICH besonders aus? Ich ergründete es damals nicht, als ich mit meinen Siebensachen die Gangway hinauf stieg und mir fiel auch später dazu keine Erklärung ein…
Die Nümmerchen größer, das Köfferchen kann normal atmen und muss nicht die Luft anhalten, Fensterplatz, zwei dicke Herren plumpsen neben mir ins Polster, anders kann ich es nicht sagen… Der Strickstrumpf bleibt diesmal eingepackt, zum Einen, weil ich schon gleich nach dem Start von Hinten mit „Sandwiches, Coffee or some Water?“ beworfen werde, zum Anderen, weil ich sehen will, wie die Landkarte in meinem Gedächtnis unter mir dreidimensional wirklich wird! Ein Teil dieser Welt der mir bisher gleichgültig war, offenbart mir Stück für Stück ihre Urtümlichkeit, breitet sich unter mir aus mit einer Landschaft, sodass meine Seele Gänsehaut bekommt und die Kapriolen um Sandwich plus zweite Mahlzeit: Bisquits! Und nochmals Kaffee und die Müllentsorgung so zur Nebensache werden, wie mir nur überhaupt etwas nebensächlich werden kann!
Ich habe vor Kreta Poseidon in wilden Wellen mit mir schimpfen sehen, ich war in der Türkei und in Frankreich, in Montenegro und viele Male in Italien, ich stand bei Sturmgebraus auf’m Deich vor Sylt und war begeistert von den Karpaten. Wie konnte mir Skandinavien so egal sein? Bereits dort oben, noch über Schweden war der Beginn einer neuen Leidenschaft… was für eine Freiheit.


Kapitel 4: Von Elchen, einem freien Schafbock, Servietten und einem kleinen Känguruh




„be careful! It’s hot!“ Heißer Kaffee schwappt mir ins Gedächtnis, wo gerade die Schären Mankell’s ihr Unwesen treiben, ich nach ein wenig Wissen über die Skandinavischen Länder unter mir suche. Die Festplatte ist voll, übervoll und bevor es irgendwo „error“ blinkt, rühre ich doch erst mal im heißen Kaffee und mümmele das klebrigste und zugleich schokoladigste Keksgebilde aller Zeiten… das, so denke ich, das würde man ohne Kaffee gar nicht gegessen kriegen!

Bergspitzen scheinen sich unter uns nach oben zu recken, als wollten sie demonstrieren, dass es Gigantischeres gibt, als so ein menschengemachter Flieger in der Luft. Keine Wolke, nur ab und zu ein bisschen Schleier hier und da… obwohl diese Etappe länger ist, als das Stückchen Nuremberg-Amsterdam – immerhin hat man zwei Mahlzeiten mit Abfallentsorgung untergebracht! – taucht Trondheim unter uns auf. Das muss es sein – ich bin anscheinend die Einzige hier, die sich den Hals verrenkt – alle anderen gucken gelangweilt. Fast zeitgleich, noch ehe man den Piloten hört, gruscheln alle nach ihren Gurten: also lauter Routinees! Dachte ich es mir doch.
Ich gucke nach unten, bekomme Gänsehaut. Zu schön, das kann nicht wirklich sein. Mir bleibt die Luft weg und noch mehr als ich im Sinkflug plötzlich den Eindruck habe: Wo um alles in der Welt ist plötzlich die Landebahn??? Ich sehe nur Wasser, Wellen… dicht, immer dichter unter mir und gerade als mein Gehirn ganz langsam meldet, dass das vielleicht nicht ganz in Ordnung sein könnte – setzt die Maschine auf, rollert ein kurzes Stück… wird straff gebremst und fährt quer übers leere Rollfeld einfach vor das Flughafengebäude.

Ich komme mir vor, wie nach einem langen spannenden Kinofilm. Soll wieder zurück in die Wirklichkeit und hätte doch gern noch da gesessen und mich in der Handlung verloren…

Hilft nix – ich muss mit der Masse mit: Köfferchen aus der Klappe, aufpassen, dass es niemandem auf den Kopf fällt und ich mich zugleich anstoße, vorwärts, vorwärts und „by, by!“ Runter das Treppchen und rein in ein recht überschaubares Flughafenareal… und als wüsste dieses Land, was mich am besten ent-fremdet im wahrsten Wortsinn, kommt – während alle auf das noch leere und reglose Gepäckband gucken – ein schokoladenbrauner Labrador, um erst mal die Leute ohne ihr Gepäck zu beriechen. Er findet nix und wartet, bis die alten und neuen Koffer, die verknautschten Reisetaschen und die edlen Rollenkoffer kommen. Dann nimmt er auch die unter die Nase…

Trotz aller Anstrengung und leicht anwachsender Kopfschmerzen muss ich lächeln. Durch die Glasscheibe habe ich Inga schon gesehen. Nun noch den Trolley vom Band und durch den „grünen“ Ausgang… einige Sekunden halte ich ihn im Weggehen noch am Schokobraunen, der genau zu wissen scheint, dass er das jetzt tun muss, Sekunden später bin ich durch die Tür…

Eine schlappe Umarmung meinerseits – zu viel geht mir durch Kopf und Herz… und die Kopfschmerzen werden heftiger und die Müdigkeit auch… im Auto sitzen noch zwei, alle gut drauf, sie waren am Fjord und haben Feuerchen gemacht für mich, ob ich es denn auch gesehen hätte! Schade – hätte ich es gewusst, bestimmt hätte ich es auch gesehen.

Es ist nach 23 Uhr und grade mal dämmrig… Inga fährt, ich will eigentlich gar nichts und alles zu gleich sagen. Kaum haben wir Trondheim verlassen und fahren aufwärts Richtung Hommelvik, steht ein Elch auf der Wiese, nur ein paar Meter von der Straße entfernt… der erste. Insgesamt haben sich fünf als mein Begrüßungskomitee verabredet!
In dieser Nacht soll ich noch nicht unten in der Hütte am See schlafen. Es soll nachts etwas am Stromnetz gemacht werden, deshalb ist er ausgeschaltet und meine Tochter meint, das wäre da unten vielleicht nicht so günstig. Aber im Grunde stört es nicht. Es wird ja bereits die ganze Nacht nicht richtig stockfinster, die Augen gewöhnen sich und man kann bequem auch ohne Licht Zähne putzen, das Bett überziehen…

Wie schon geahnt, ich schlafe nicht. Aber das ist mir auch egal. Ich sitze in der Dämmerung auf dem Bett und fühle einfach nur „ich bin da“! Später öffne ich die Tür nach draußen. Ins Zimmer führt quasi eine Hintertür. Obwohl es nicht wirklich lau ist, ist die Luft angenehm und ich will spüren wo ich bin. Ich bin in Norwegen, wohin ich noch vor gut etwa einem Jahr überhaupt nicht wollte! Und es tut gut.

Die äußeren Abläufe prägen sich schnell ein, das gemeinsame Frühstück mit allen Hausbewohnern. Ich lerne sie und ihre Eigenheiten kennen und habe auch schnell begriffen, dass man mit einigen auch mal ein resolutes Wörtchen wechseln muss, Behinderung hin oder her… Alles versuche ich immer unter dem Aspekt, dass ich hier mit leben will, zu sehen.


Nach dem Frühstück holpern wir den Trolly den Weg hinab über die Wiese, treffen eine Dorfbewohnerin, die uns fröhlich zuwinkt – immer raucht und von diesem Moment an beeindruckt von meinem kleinen Känguruh ist, das am Rucksack baumelt. Später werde ich noch erfahren, dass sie gerne „räumt“ und man immer ein wenig auf seine Sachen achten muss, will man sie nicht eines Tages an ungewohnter Stelle wieder finden. Nach meinem Känguruh wird sie mich täglich fragen!





Der See wäre erst seit zwei Tagen komplett ohne Eis, sagt Inga. Die Hütte hat sofort mein Herz erobert. Wenn ich hier die nächsten dreißig Jahre wohnen könnte! Aber um das zu klären, bin ich ja auch gekommen. Ein Esstisch am Fenster mit Blick über die große Holzterrasse auf den See. Eine neue Küchenzeile, ein alter Holzofen und ein bis oben gefüllter Holzkorb, ein Sofa, Tischchen, zwei Sessel, ein schöne alte Truhe, ein Einbauschrank von unglaublichem Stauraum und abgeteilt ein Schlafräumchen…
Inga inspiziert den Küchenschrank – kein Kaffee da, kein Tee… können wir alles am Nachmittag von oben mit runter bringen. Aber eine große Schale Obst hat sie schon mal aufgestellt.

Was soll ich über diese Tage im Einzelnen schreiben? Ich lernte viele außergewöhnliche Menschen kennen, die sich vorbehaltlos auf mich einließen. Ich wanderte durch eine außergewöhnliche Landschaft, in der alles XXL zu sein schien. Alles weiter, die Wege länger, die Bäume höher, die Menschen gelassener, die Wasser bizarrer - - -

Für die Eindrücke und innere Höhenflüge, die das Land in mir auslösten, für die hautnahe Begegnung mit den Menschen im Dorf, die gerade wegen ihrer Krankheit (ich nenne es lieber „Andersartigkeit“) so liebenswert sind, für meine eigenen Malessen – die mich ausgerechnet während dieser Zeit heim suchten (so kämpfte ich eine schlaflose Nacht lang mit verrückten Zahnschmerzen, die sich auch noch zwei Tage lang mit Tabletten „bedienen“ ließen! Zwei weiteren Tagen mit Kopfschmerzen, von denen „frau“ schon wusste, woher sie kamen!) und der Sprache, die ich lernen wollte und will, sind gut acht Tage einfach zu wenig. Die Seele kommt erst später an heißt es sinngemäß in einem indianischen Sprichwort.

Vor allem bei meiner eingegrenzten Aufnahmefähigkeit. Ideen, Gedanken, Stimmungen – ein wirres Durcheinander, das ich nur auf dem Papier oder durch das Tippen ins Notebook sortieren kann… über mich lernte ich da am Meisten!
Über die Notwendigkeit, sich zurückzuziehen! Aber auch über meine Anpassungsfähigkeit, staunend sehe ich mich ohne wirkliche Sprachkenntnis mit den Bewohnern der einzelnen Häuser zurecht kommen… Die Umstände deretwegen sie in dieser Lebensgemeinschaft wohnen und arbeiten, kenne ich nicht. Bis auf das eben sichtbare Downsyndrom bei zwei Bewohnerinnen bleiben irgendwelche „Diagnosen“ für mich verborgen. Aber ich fühle mich auch deshalb gut, weil sie mir nicht Fragen stellen, warum ich gekommen war, warum ich hierhin ging, warum ich in der Freitagsversammlung sitze oder warum ich in der Küche mit werkele, den Kaffee aufsetze oder die Spülmaschine einräume… und im Grunde ihren Wochenplan mit durcheinander brachte, in dem eingeteilt ist, wer wann Frühstück deckt und wer mit hilft…

Ungläubig in der mitternächtlichen Dämmerung stehend erlebe ich mich. Natürlich weiß ich, dass es in der Mitte des Jahres nicht dunkel wird… und es scheint mir unglaublich bizarr, dass einerseits vor Tagen noch der See die letzten Eisflecke schaukelte und andererseits einfach keine Nacht kommen wollte. Diese Diskrepanz entstand einfach nur in meinem Kopf, der ein eingebackenes Jahreszeiten-Szenario kennt. Unverrückbare Wetterverhältnisse. Unverrückbare Symptome den Monaten zu ordnet. Wie lächerlich kleinkariert meine Anschauung doch war! Und das mir, einem Menschen mit Hirn und Allgemeinbildung… Norwegen ist eben nicht dauerdunkel… ab April ist es über den Sommer sogar zuweilen untertäglich hell, weil der Mensch ja auch irgendwann schlafen sollte…

Im Fjord suchte ich mir zwei wunderschöne Faust große Steine, die mir nicht erzählten, wie lange das Wasser sie rund machte und woher die Maserung und die Punke auf ihnen kamen… sie sollten mit mir nach Hause reisen und mich daran erinnern, dass Aufbruch im Sinne von „Fortbewegen“ vielleicht auch auf brechen von Krusten auf Seele und Gehirn bedeuten kann.

Der Freitag nach meiner Ankunft wird trocken und heiß. Mir scheint aber nicht die Luft heiß zu sein, sondern nur die Sonne. Sie brennt direkt und heiß dort, wo man ohne Schatten sitzt. Die Luft aber ist kalt. Der Samstag findet mich mit allen im Nieselregen bei der Arbeit draussen mit den Anderen: Aufräumen rund um „meine“ Hütte ist angesagt. In der Hauptsache gebrochenes Geäst wird auf einen riesigen brennenden Haufen geschichtet… Mich interessiert nicht, dass die Feuchtigkeit langsam durch meine Schuhe dringt und die Socken schon erreicht hat. Schuhe habe ich noch dabei und Socken – Socken zur Genüge! Die Gummistiefel, die sich für mich gefunden hätten, passten nicht – und mir waren solche Teile für mein Gepäck einfach zu sperrig, um sie hierher zu transportieren.

Die rasenden Kopfschmerzen kündigen sich schon leicht an – jetzt wäre es noch Zeit, mit Tabletten gegenzuhalten, aber ich habe keine Lust, weg zu gehen. Zwei kommen mit dem Traktor die Wiese herunter und bringen Kaffee und irgendwoher kommen plötzlich auch Kekse… dann findet sich keine Milch an, oder ist sie einfach nur schon ausgegangen? Egal!!! Es ist einfach egal. Es zählt nur, dass alle zusammen kommen. Jeder einen heißen Becher in Händen hält, redet, lacht, die Kekse herum reicht und jede Schattierung des Lebens möglich scheint. Im doppelten Sinn des Wortes!
Später ist Mittagessen. Nicht jede Hausgemeinschaft bei sich, sondern alle zusammen im Gemeindehaus – oder wie immer es genannt wird. Und plötzlich bin ich mitten drin. Hinter der Theke, breche pizzaboden-artiges Brot in Stücke, schöpfe Suppe wahlweise aus zwei verschiedenen Töpfen und habe Mühe, die genuschelten Bitten richtig zu deuten. Aber niemand ist mir böse, wenn ich statt zwei nur einen Schöpfer voll ein fülle oder umgekehrt.
Irgendwann nehme ich mir selber und setze mich zu meiner „Freundin“, einer Frau mit Downsyndrom und vielleicht noch einigen anderen Störungen… man sagte mir nur Vermutungen und ich solle mich in acht nehmen: plötzlich könne sie mir in die Haare fassen und daran reißen. Überhaupt schlage ihre gute, fröhliche Stimmung oft ganz plötzlich um… Mich hat sie nur immer in die Haare gefasst um meinen Kopf zu sich auf Augenhöhe herunter zu ziehen… mir direkt ins Gesicht zu lachen und mir zu sagen, dass ich sooo nett bin. Dass man mir dazu erklärte, sie würde das jedem sagen, der ankäme, hat mich nicht belastet. Vielleicht war es so, und wenn: auch dann war es jedenfalls zu Anfang für jeden immer angenehm mit ihr zusammen zu treffen. Das ist doch schon mal gut.

In der allgemeinen Abräumhektik wird meinen Serviette – die norwegische Flagge auf Blattmuster – zerknüllt und droht in den Abfall zu versinken, da rettet meine „Freundin“ sie, streicht sie sorgsam glatt, straft den „Täter“ mit einem rollenden Blick und reicht mir strahlend die Serviette.
In meiner Hütte lege ich darauf meine beiden Steine aus dem Fjord… Mitbringsel – ganz ohne Geld!

Der Nachmittag bei Ekelwetter und Kopfweh im Bett. Ich schlafe und ich kann mich auch kaum zum abendlichen vorpfingstlichen Grillen auf raffen, Bauchkrämpfe haben sich auch noch breit gemacht. Natürlich weiß ich woher das kommt und auch, dass mir ein Kirschkernsack große Hilfe leisten würde, aber ich bin einfach zu blöd, um danach zu fragen. Uralte Bescheidenheitsmuster stellen mir wieder einmal ein Bein! Wann werde ich das endlich durchbrochen haben!
Das Leben ist überall auf der Welt durch Lücken gekennzeichnet, durch größere, große und dann und wann durch liebenswert kleine… irgendwer hatte sich auf irgendwen verlassen und nun war nicht genügend Fleisch und Wurst zum Grillen vorhanden… eilig wurde noch Hawaiitoast fabriziert… was soll’s?

Ich konnte nicht lange bleiben, mich fröstelte trotz Fleecejacke und Weste unter der Regenjacke, mein Kopf und mein Bauch schmerzten um die Wette und ich wanderte wieder in meine Hütte – Teewasser aufgesetzt, den Ofen geschürt, das vorhandene Kerzenrestchen auf dem Wohnzimmertisch angezündet… hier möchte ich sein.

Natürlich ist auch dort das Paradies nicht! Seit die Menschheit es verlassen musste, findet es sich nirgends auf dieser Welt, und ich weiß auf Anhieb eine Menge Menschen, die schon allein das Land für nicht besonders paradiesisch halten - ich gehörte ja dazu. Meine Augenärztin assoziiert Norwegen schlicht mit „ewig Winter und immer dunkel“, also war sie damit meiner ursprünglichen Auffassung so fern nicht….
Und es gibt genauso dort wie überall auf dieser Erde Menschlichkeiten und damit Reibereien, Missverständnisse und jeder hat sein Lebenspaket immer mit dabei.
Aber dennoch gibt es Verhältnisse und Umstände, die dem Einzelnen eben gut tun – trotz der Unzulänglichkeiten.
Wenn ich hierher mit den Hunden käme… zuerst einfach nur mit lebte und die Hunde einfach nur da wären, ohne therapeutische Ausbildung… den einen oder anderen Bewohner mit auf Spaziergänge nehmen, ja einige würden sich dadurch wahrscheinlich viel leichter überhaupt zu etwas bewegen lassen!
Mein Kopf würde gern ein Lebensszenario entwerfen, aber das schafft er an diesem Tag nicht mehr. Ich finde im Kühlschrank einen komplett verschlossenen Eiersalat von einem der Vorbesucher. Gut. Ich habe noch Knäckebrot da und Mandelschokolade mit Salz!!! (sehr aparter Geschmack, ich liebe sie!) als Nachtisch… So muss ich nicht mehr nach oben gehen.

Der Pfingstsonntag sieht gleich besser aus, aber frisch! und ein lustiger Wind bläst die Wolken scheinbar in jede nur denkbare Richtung. Sonntagsfrühstück, ich weiß inzwischen längst, wie ich in der großen Tischrunde zu Butter, Brot, Joghurt, Müsli und anderen Zutaten komme. Ein Rundgang durchs Dorf mit meiner Tochter und anderen Praktikantinnen, reingucken in die anderen Häuser, Hallo sagen, Bekanntschaft mit dem Schafbock machen, der samt Strick und Holzpflock als freier „Mann“ auf der Wiese herum trampelt und uns mit dem Schalk zwischen den Hörnern begrüßt. Es wird nach jemandem gesucht, der sich um die Schafe normalerweise zu kümmern hat. Weil ich sowieso noch nicht alle Namen kenne und zuordnen kann, weiß ich auch nicht, nach wem gesucht wird. Aber egal, der Gute wird einstweilen an einem Zaunelement fest gebunden, DEN wird er ja wohl nicht mit sich ziehen…
Den Nachmittag über habe ich Zeit, alles in mir „setzen“ zu lassen. Ich gehe nicht nach oben zum Kaffee… bleibe in der Hütte und pilgere erst zum Abend wieder hoch. Bei jedem Gang nach oben ins Dorf überlege ich, ob mir das auf Dauer eines Tages etwas ausmachen könnte: immer hoch laufen. Es werden schon mal etwa sieben Minuten – je nachdem wohin man im Dorf will. Und in meiner Hütte ist nur eine Toilette, also zum Duschen oder Baden sowieso immer hoch… auch die Schmutzwäsche muss oben im Haus gewaschen werden…
Ich beschließe, dass das eine Sache der Gewohnheit ist – mehr nicht. Und kein Grund, nicht in der Hütte zu wohnen – eines Tages, wenn sie mich hier wollen würden…


Kapitel 5: "Norleben"




Die Nacht war herb! Ich hatte Zahnschmerzen, zu denen mir keine Vokabel einfällt. Und das seit einer Ewigkeit wieder das erste Mal. Vermutlich habe ich selbst das Schmerzgefühl noch verstärkt, in dem ich ständig mit diesem Zeitpunkt haderte. Seit Jahren bin ich das erste Mal wieder auf Tour, warum muss ich ausgerechnet in diesen wenige Tagen ein Übel nach dem anderen ertragen? Ich sitze zunächst auf dem Stuhl, dann lege ich mich doch ins Bett. Versuche es mit Druckmassage oder nur Druck. Drauf beißen hilft auch nicht. Ich suche die Globuli durch, die ich dabei habe… nichts was zu hundert Prozent passen würde… Und Schmerztabletten, ganz banale Schmerztabletten führe ich natürlich nicht mit! Ich Schaf. Warum muss ich bei solchen Gelegenheiten immer den Märtyrer geben? Das geschieht zwar unbewusst und fällt mir erst dann auf, wenn andere Leute schon längst eine Aspirin oder was auch immer geschluckt haben. In mir pocht immer viel zu lang das alte Lied von „gelobt sei, was hart macht“ und der Angst, verweichlicht zu sein.

Ich beuge den Oberkörper rasch hin und her, die Bewegung lenkt ab… ich stelle fest, Wärme macht es nur noch schlimmer, stelle fest, dass ich im Rest meines Körpers so abartig müde bin – kaum kann ich noch irgendwas. Fühle mich nur noch verzweifelt. Gegen fünf Uhr morgens finde ich eine halb aufrechte Lage im Bett, in der der bohrende, reißende oder was auch immer… Schmerz sich irgendwie schmollend in sich zurück zieht. Er springt mir nicht mehr grell bis in die oberste Stirnregion sondern grummelt leicht und erträglich nur noch in sich hinein. Eine Weile verspanne ich mich komplett, aus Angst er könnte wieder spitz und scharf aus seinem Winkel springen… aber er gibt Ruhe und ich schlafe ein. Ich wache auf, weil mein Handy piept – unbarmherzig mit seinem Besitzer!
Der Morgen ist klar, sonnig und eiskalt: es hat geschneit. Nicht dick, aber es hat. Feiertag. Und trotz der Müdigkeit in allen Knochen ist mir so zu Mute, und nur weil Feiertag ist, „erreiche“ ich das Frühstück noch… Der Rest des Tages ist mir nicht mehr in Erinnerung, wohl weil ich wegen der Fülle an Begegnungen gepaart mit wechselnden Unbefindlichkeiten einfach nichts behalte und mich treiben lasse. Als ich von meinem nächtlichen Kampf berichte, kommt es aus allen Ecken mit den „hätte-wäre-wenn-Lösungen“, meine Tochter meint, ich hätte doch nur eine SMS zu schicken brauchen, sie hätten mir doch Tabletten runter gebracht, oder warum ich denn nicht hoch gekommen wäre… ja – um zwei Uhr nachts? Aber das wäre doch nun egal gewesen! Ihr ehemaliger Schulkollege geht in die „Praktikanten-Abteilung“ des Hauses, zückt einen kleinen Schlüssel, der zu einem Holzkästchen gehört, öffnet umständlich und reicht mir eine Tablette: wenn es wieder los gehen sollte. Und ich sollte ihn um Himmelswillen abends noch nach einer weiteren fragen für die Nacht!

Ich kann kein Tiramisu. Lächerlich. Aber ich kann es wirklich nicht. Habe noch nie welches gemacht. Sicher ist es ganz einfach, aber ich möchte nicht für etwa zwölf Leute Nachtisch machen, der dann nicht gelingt. Der Schulkollege meiner Tochter macht den Braten, sie den Nachtisch und ich einen Berg Salat.
Nachmittags bin und bleibe ich in der Hütte. Stricke, ertappe mich dabei, die alten Möbel durch meine zu ersetzen – in Gedanken, klar. Die Kaffeemaschine blubbert, die Sonne guckt scheinwarm über den See und ich sitze drinnen am Tisch, mein Strickzeug in der Hand, aber die Gedanken führe ich durchs Fenster über die Terrasse weit ins norwegische Irgendwo…

Trotz der heimeligen Atmosphäre – oder gerade wegen? – bin ich innerlich in Aufbruchstimmung! Oder lässt es sich einfach nur gut träumen hinter der sicheren Kaffeetasse, die Idylle vor Augen? Bin ich blauäugig? Habe ich mein bisheriges Leben, vor allem die letzten vier Jahre einfach nur satt? So satt, dass es mir grade egal ist, was und wo ich etwas anfange?
Zwei Thesen hängen sich fest in meinem Kopf: Die Gelegenheit ergreifen. Nur deshalb bietet sie sich ja so unverhofft. Raus aus der Kruste, nach der inneren Aufarbeitung so vieler Altlasten jetzt auch der äußere Schnitt. Letztes Lebensdrittel, aufgeräumt, umsortiert – von mir gestaltet und gelebt.

Die andere These sieht die gleiche Möglichkeit genau anderes herum: als eine Art Prüfung, ob ich überlegt und vernünftig zu handeln im Stande bin. Ob ich erkannt habe, dass ich mich überall mit hin nehme. Dass auch in Norwegen und in jedem meiner neuen Leben mit Wasser gekocht werden wird. Wenn ich nicht in der Lage bin, zu Haus auf die Füße zu fallen, warum sollte es dann in Norwegen gelingen?
Die beiden Gedankenstränge ärgern mich. Ich habe eigentlich keine Lust, dies jetzt mit mir auszudiskutieren, wo ich doch gerade keine Zahnschmerzen habe – die Tablette wirkt. Wo der Kaffee so fein riecht und meine Kekse ordentlich ausgebreitet auf dem Tellerchen liegen.
Weil mein Notebook oben im Haus am Internet-Kabel hängt, suche ich Musik mit meinem Handy… Moment: will ich das? Hier unten ist kein Telefon, kein Internet… von der Waschmaschine und dem fehlenden Bad sprach ich schon… Macht mir das etwas aus?
Ach was, wer sagt, dass sich nicht auch im Laufe der Zeit hier unten Internetanschluss machen lässt. Und telefonieren… also, das ist ja nun wirklich kein Kriterium!
Und warum soll ich mir jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wo noch gar nichts sicher und gesprochen ist.
Ich höre „Rosenstolz“, atme durch und denke nichts… das Abendessen ist eher „locker“, irgendwer stellt irgendwas raus und jeder kommt und macht sich ein Brot oder mehr… geht damit auf die Terrasse oder an den Esstisch oder an den kleinen runden Tisch oder isst gar nichts…
Später besucht Inga mich in meiner Hütte, Tee trinken und reden…
Mein Zahn klopft, ich nehme die Schmerztablette für die Nacht und schlafe bärig… lasse das Frühstück sausen, bekomme eine SMS meiner Tochter: der Pausen-Kaffee ist für alle im Gemeindehaus… da könnte ich auch „frühstücken“, danach mache ich mich auf den von allen empfohlenen Rundweg… es ist nicht heiß und nicht kalt, die Sonne scheint – weder Kopf- noch sonstige Schmerzen können mir heute was! Ich lasse mir beschreiben, wo ich längs gehen muss und traue zudem meinem Instinkt. Allerdings habe ich bis zum heutigen Tag nicht herausgefunden, ob es für norwegische Verhältnisse normal ist und vorauszusetzen, dass man einfach „lang“ unterwegs ist… Ich dachte an eine Wanderung von etwa zwei Stunden, und wollte zum Mittagessen um 13 Uhr zurück sein! Inga würde kochen, das war schon mal insoweit gut, als dass ich wusste, wen ich viertel vor ein Uhr anrufen musste, um zu sagen, dass ich mich ja noch mitten auf dem Wege befände. Niemanden schien das sonderlich zu wundern. Und im Grunde fand ich diese Gelassenheit als sehr angenehm. Nur hätte ich vorher gewusst, dass ich lange unterwegs sein würde, so hätte ich mir einfach essen und trinken mit genommen und die Tour viel mehr genossen!
Während ich Schafgatter öffnete und schloss – es gab keine zwei Gatter mit dem selben Schließmechanismus, spannend war es deshalb, immer neu zu tüfteln – mich immer wieder größere und kleinere Schafsgrüppchen begleiteten oder neugierig beguckten, suchte ich nach der Elch-Familie. Zumindest die Mutter und ihr Kalb musste hier irgendwo zu finden sein, freitags waren sie abends sozusagen beinahe mitten durchs Dorf marschiert, auf der Wiese am See entlang.

Vielleicht habe ich selbst über meiner Lauffreude und der Ausschau nach den Elchen meine Runde zu groß gezogen und irgendwo einen eher abgehenden Pfad übersehen… kurz nach ein Uhr gelangte ich wieder auf die Hauptstraße unterhalb des Dorfes. Allerdings war mir ganz schnell klar, dort wo ich grade auf die Straße traf, war ich ganz schön weit unten und mindestens eine weitere Stunde Wanderung am Straßenrand lag da noch vor mir… Aber egal, ich hatte ein Schafsgatter überklettert, Fotos gemacht von Licht und Schatten, hatte geatmet und gedichtet und war durch meine Hundewanderungen zu Haus gut im Training. Dass meine Hüfte zwackte und mit ihr das Knie – das war normal für mich und immer noch gut zu ignorieren. Ich war guter Dinge, rechnete mit einer Rückkunft zum Kaffee und spähte nach einem Pfad abseits der Straße, als mir ein wohlbekanntes Auto von hinten sozusagen „auffuhr“, der „Praktikanten-Golf“. Eine der Praktikantinnen war einkaufen gewesen, ob ich denn mit… natürlich! Wollte ich mit… den schönsten Teil des Weges hatte ich ja hinter mir und auf die Straße konnte ich gut verzichten… Mittagsreste und Kaffee, die anderen wollten einen Besuch machen und ich hatte mir vorgenommen, die Renovierungsreste rund um meine Hütte in große Müllsäcke einzusammeln und die Fenster zu putzen… und langsam aber bohrend schlichen sich Gedankenfetzen über das Ende dieser Tage in mein Herz. Ich kenne diese grausame Wehmut nur zu gut, die daher kommt, dass alles erst angerissen ist… für alles, was begonnen hat keine Zeit es rund und fertig werden zu lassen. Ich bin gerade dabei, richtig anzukommen! Hatte noch nicht einmal den Nerv, nach außen zu gucken… Allein für Trondheim hätte ich mir einfach einen ganzen Tag gewünscht.
Es wurden nur zwei Stunden daraus… Dabei war auch ein Stück norwegische Behörde zu erleben… Beamte scheinen auf der ganzen Welt ähnlich zu funktionieren: langsam und mit viel Ruhe! Wir amüsierten uns derweilen darüber, was anderes bleibt einem da auch nicht übrig.
Auf dem Rückweg schnell noch in einen Supermarkt, wir hatten beschlossen, für uns zu kochen… Inga musste ohnehin schnell wieder zum Flughafen, es würden im Laufe des Nachmittags jede Menge junge Leute ankommen, ein Treffen bis zum Wochenende…
Ihr einstiger Schulkamerad und ich brutzelten Putengeschnetzeltes für drei Personen und ich vertat den Nachmittag mit dem Lernen einer uralten Lektion über mich:
Wunderbares warmes Wetter und Sonnenschein, ich würde die Gerümpelaktion von gestern beenden, mir Kaffee oder Tee kochen und auf der Terrasse sitzen… DA kamen sie! Vier, fünf junge Leute. Den Weg zu meiner Hütte kamen sie. Trampelten ungeniert über die Terrasse und drückten den Türdrücker… Klar hatte ich sie kommen sehen. Und war nach drinnen geeilt, hatte abgeschlossen und kämpfte mit dem ersten Wutanfall: nun konnte ich nicht auf die Terrasse in die Sonne! Unglaublich! Das Grüppchen kletterte den Hang unterhalb der Hütte zum See. Nun konnte ich sie zwar nicht mehr sehen – und sie mich nicht – aber hören konnte ich sie. Die wollten doch wohl nicht da unten bleiben!?!?! Einfach als Fremde in mein Idyll einzubrechen!? Nun, die sollten erst mal sehen, dass hier wer WOHNTE!
Ich begann die Webteppiche über das Terrassengeländer zu hängen, die Terrasse zu fegen, die Fenster zu öffnen: alles mit der grotesken Botschaft: hier wohnt wer, ihr stört!

Geräuschvoll postiere ich einen Stuhl draußen, meine Teekanne, die Kekse! Hole mein Strickzeug dazu, stricke, grolle und merke langsam, dass ich mir mein Idyll gerade selber kaputt mache!
Warum kann ich sie nicht lassen? Warum habe ich nicht schon als sie kamen, die Tür offen stehen gelassen, ihnen zu gewunken und ein herzliches „hei“ in ihre Richtung gelacht? So hätten sie auch gemerkt, dass hier „jemand“ wohnt… und bitte sehr, woher nehme ich die Arroganz überhaupt? Ich bin hier selber Gast! Das ist der Punkt: ich will nicht Gast sein. Ich will dazugehören. Ich will, dass die da unten denken, ich gehörte hier dazu! Wie kindisch. Denn selbst wenn es wirklich so wäre, dann hätte ich gerade ein schlechtes Bild von Gastfreundschaft abgegeben…
Plötzlich fühle ich mich unwohl. Es kommt mir so vor, als wäre die Sonne nicht mehr für mich. Als würde mein Tee gerade deutlich sagen, dass er überhaupt nicht MEIN Tee sei.
Weil ich so wütend auf mich und meine Erkenntnis bin, schaffe ich es noch nicht mal, den Fünfen zuzuwinken, als sie das Plätzchen da unten verlassen. Was bin ich für ein selbstverliebter narzisstischer Holzklotz!
Oben findet im und um das Gemeindehaus „Treffen“ statt, ich will für mich sein. Abends wäre oben gemeinschaftliches Abendessen. Ich mag nicht hingehen, morgen fliege ich nach Deutschland, ich habe nicht die Kurve gekriegt, mit jemandem wegen eines Lebens hier zu reden. Auch das ärgert mich. Abends gegen zehn Uhr mache ich mich auf zu einem Waldspaziergang, noch eine halbe Stunde genießen, dass es aussieht als wäre es 19 Uhr deutscher Zeit… vorher noch schnell oben im Zimmerchen mit Außentür nach meinem Notebook und ins Internet geschaut. Inga hat nun Kopfschmerzen und schläft schon. Ich treffe aber ihren Schulkollegen aus Gymnasiumstagen und wir verplaudern uns. Hocken und lehnen irgendwie in dem kleinen Raum, in dem ich in der ersten Nacht schlief und erzählen. Reden auch über meine Idee mit den Hunden. Und darüber, dass ich eigentlich deshalb hergekommen bin, um zu sehen, ob ich hier leben könnte.

Nach 11 Uhr abends gehe ich doch noch für eine halbe Stunde in den Wald: Es fasziniert mich einfach, es wird nicht dunkel! Eigentlich hatte ich gehofft, die Elchmama noch mal zu treffen. Und ich sehe sie auch tatsächlich: den Hügel hinab ganz nah am Dorf, nur ich bin schon zu weit weg und bis ich zurück laufe, werden die beiden schon weiter gezogen sein.
„Tschüß Elche! Bis bald!“
In dem Moment bin ich mir sicher: ich werde wirklich bald wieder hier sein.
Mitternacht, als ich zurück komme an „meine“ Hütte. Ich habe noch NICHTS gepackt! Das geht mir immer dann so, wenn ich nicht weg will. Ich zögere und zaudere und finde so vieles Wichtige und tröste mich damit, das das „Bisschen“ schnell verstaut wäre…
Ehe ich zu Bett gehe, beginne ich wenigstens damit. Es muss ja sein. Und ich werde auch nicht gut schlafen, wenn ich morgen alles überhastet weg packen muss, die Hütte noch aufräumen und damit riskiere, mich von niemandem in Ruhe verabschieden zu können. Und in die Webstube wollte ich auch noch mal gucken, das hatte ich versprochen!


Als wäre ich hin gebeamt worden, sitze ich freitags mittags in der Halle am Flughafen Trondheim. Und habe einen Kloß im Hals.

Ich gucke in den tief hängenden Himmel und mein einziger Trost ist, dass ich ja hierhin zurückkommen will und werde…
„Für daheim“ kaufe ich fünf „Boller“ und bin stolz auf mich, weil ich sofort verstehe, dass die Verkäuferin fragt, welche ich will: mit Vanille, mit Rosinen oder mit Schokolade… Ich will mit Schokolade… das wird die „zum-Kaffe-Ration“, wenn ich mich erinnern will. Die werden zu Haus eingefroren. Ein Joghurt mit Knusperecke erstehe ich noch… dann kann ich zum Gate…

Als wollte mich das Schicksal daran erinnern, dass ich, die italophile!!! So einen Extrem-Schwenk nach Norden gemacht habe, habe ich meinen Platz neben einem italienischen Geschäftsmann. Das erkenne ich daran, dass er ein Buch liest. Und ich lese ein paar Seiten einfach mit. Sofort ist mein Italienisch präsent. Springt mir aus der Tiefe meines Sprachtalentes hervor und landet in einem Gehirn, das doch seit Monaten kaum mehr als vier fünf Buchseiten am Stück lesen kann! Weil meine Festplatte voll ist. Oder doch nicht?

Vermutlich habe ich zwei Festplatten. Eine mit meinen Talenten und Fähigkeiten, mit meinen Neigungen und Vorlieben… die funktioniert.
Und die funktioniert nur, wenn die andere übervolle Festplatte abgeschaltet wird. So tauche ich auch komplett verwirrt aus den italienischen Buchseiten auf, immer noch die „Seatbelts“ um meinen Bauch, als mir der Stewart die Sandwichs unter die Nase hält: ich habe mein Tischchen wieder mal noch nicht aufgeklappt… „some coffee? Yes? Be careful, it’s hot!“ Ja, ja – das kenne ich schon.
Wieder staune ich – es gelingt mir einfach aus den italienschen Seiten heraus Englisch zu denken und zu antworten. Ja, danke – ich bin careful, wenn ich genügend Zeit habe um ihn kühler werden zu lassen, den Kaffee. Natürlich baue ich keine komplizierten Sätze. Ich benutze einfache Worte…

Ich kann also „Sprachen“, „Hunde“, „Schreiben“, und ich kann „Menschen“! Aber was damit anfangen… etwas Effektives, etwas, das anderen und mir gleichermaßen „Etwas“ bringt!
Als die Kekse kommen, steht mein Kaffeebecher vom Sandwich-Durchgang noch auf dem Tischchen, mein Wunsch war ihm Befehl. Während das Wägelchen an mir vorbei ruckelt und sie den Kaffeebecher – außertourlich! damit ich nicht mit diesem schmuddeligen Ding meine Kekse essen muss, mit nehmen – fragt er folgerichtig: „some Water?“ Ich denke „And Whitewine with the fish, Miss Sophie…“ Nein, ich möchte nochmals Kaffee – „…AND some Water perhaps?“

Mir fällt auf, dass ich sogar die Notfall-Gymnastik irgendwie nicht registriert hatte… Mein italienischer Nachbar hat bemerkt, dass ich einen Blick nach draußen erhaschen will, er lächelt, legt das Buch auf den Schoß, und lehnt sich zurück… so habe ich den Blick frei, kann aber nun nicht weiter mit lesen… ohne dass es ihm auffiele.
Es geht schnell weiter in Amsterdam… Schopholm! Mir fällt die Vulkanasche wieder ein… nichts davon zu hören… Diesmal weiß ich, dass ich mich nicht um mein Köfferchen sorgen muss – ich drehe mich um und wünsche meinem ehemaligen Reisenachbarn „Buon viaggio e tante belle a lei“ Und gebe zu, dass mich sein Erstaunen im Blick und dann das Lächeln immer noch amüsiert…

Scheinbar meilenweit renne ich zum Gate und diesmal habe ich auch keine Panikattacke… Schon als Kind hatte ich immer den Eindruck, dass der Heimweg von wo her auch immer, wesentlich kürzer zu sein schien, als der Hinweg. Schon kreiste das Vögelchen ein drittes Mal über dem Nürnberger Flughafen, mein Strickzeug ist weg gepackt, die Kekse im Rucksack verstaut… und diesmal hatte ich „some Water“.

Zwei Minuten vor der eigentlichen Ankunftszeit stehe ich bereits am Gepäckband und warte auf meinen Trolley, schicke eine SMS an einen Bekannten, der in Nürnberg einen Besuch macht und mit mir zusammen nach Hause fahren wird… wir wollen uns sein Ticket teilen. Ich kenne das, dieses Ticket ist das Günstigste, selbst wenn man allein fährt… aber es kann eigentlich noch ein Erwachsener mit, und zwei Kinder… sogar ein Hund! Er hat seinen Besuch schon beendet, kommt mir im Eingang entgegen… ich spüre eine grausame Zerrissenheit! Einerseits will ich allein sein mit meinen Erlebnissen und den Erinnerungen und dem Gefühl, dass Norwegen noch nicht „fertig“ ist. Andererseits ist es einfach gut, nicht allein anzukommen. Wir trinken noch einen Kaffee, weil wir den nächsten Zug um drei Minuten verpasst haben…

Auf der Fahrt durch eine frisch beregnete, Regenbogen überspannte glitzernde Mailandschaft kommt mir Deutschland plötzlich unglaublich mickrig vor. Wie die Landschaft einer Spielzeug-Eisenbahn… so eng alles. „Eng wie die Menschen hier…“ schießt es mir durch den Kopf.

Auspacken…
Viel öder als einpacken. Ich lege die rundlichen Steine aus dem Fjord aufs Schuhschränkchen im Flur. Die Boller in den Gefrierschrank… die Wäsche in die Maschine, koche Tee, taue mir Brot auf und sitze in der leeren Wohnung. Drei Kronen habe ich noch. Die bekommen die Hunde an ihre Halsbänder...
Mir ist klar: ich werde mich bewerben. Norwegisch lernen. Langsam meinen Haushalt verkleinern und jeden Tag in Gedanken das Leben im Dorf mit den behinderten Menschen durch leben. Schon komisch: ich liebe Italien immer noch! Sehr… vieles in und an mir ist „italienisch“. Deshalb hatte ich auch begonnen, mir damals 1998 Italienisch selbst beizubringen… bis auf eine anständige Grammatik bin ich ganz gut vorangekommen. Ohne Kurs! Nur mit CD’s.

Doch! Ich war oft in Italien… sehr oft. Mit sechs Jahren zum ersten Mal. Später immer unscheinbar abseits der Touristenwege.

Aber in diesen wenigen Tagen hat mir Norwegen eine Kraft gezeigt, eine Kraft, die ich brauche. Eine Kraft, der lange Winter mit langen Nächten nichts anhaben können. Eine Kraft, die sich aus dem bedingungslosen Genießen der ersten milden Sonnentage speist. Viel bizarrer und eindrücklicher als wir das in Deutschland jemals spüren. Eine Kraft, die aus einer Gelassenheit der Menschen kommt, über die wir uns in Deutschland nur die Augen reiben können.

Von meiner Seite gibt es kein Abwägen mehr und kein Zweifeln.
Wenn das meine Bestimmung ist: ich habe nichts dagegen – Italien kann ich ja weiter lieben!
Aber leben möchte ich in Norwegen.

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Texte: Copyright für Text und Bilder by Alexandra Heinrich
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2011

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Widmung:
...für alle, die auch nicht so schnell über neue Tellerränder gucken können...

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