Ich war 8, als mein Vater den Verstand verlor. Dabei war es ein Abend wie jeder andere. Er war ein wirklich fürsorglicher Vater, machte mir mein Butterbrot, fuhr mich in die Schule und er las mir jeden Tag eine Geschichte vor. Seit ich ganz klein war. Mir war klar, dass ich schon viel zu alt war, um Gute- Nacht- Geschichten vorgelesen zu bekommen. Er wusste das auch, aber er betonte ständig, dass man sich über Normen hinwegsetzen muss, wenn sie keinen Sinn ergeben. Und die Norm, ein 8- jähriger Junge bekommt keine Gute- Nacht- Geschichte mehr, hielt er für sinnlos.
An dem besagten Abend kam mein Vater in mein Zimmer und setzte mich neben mich auf einen Stuhl. So macht er das immer, setzte sich erst mal in Ruhe hin, blieb ein paar Minuten schweigsam sitzen und legte sich seine Geschichte zurecht. Denn er laß nicht einfach Geschichten vor, er erfand sie. Er war ein begnadeter Erzähler, ein Künstler in seinem Fach. Aber wie jeder Künstler, war er mit seinen Werken nie zufrieden. Einmal wollte er ein Buch schreiben, mit all den Gute-Nacht- Geschichten, die er für mich erfand. Doch immer, wenn er sie aufschrieb, veränderte sie, schrieb sie um, schrieb sie wieder um und war irgendwann so unzufrieden, dass er sein Vorhaben wieder verwarf.
Wenn er da so saß, sah mein Vater ganz friedlich auf und diesen Gesichtsausdruck hatte er auch jetzt. „Papa“, sprach ich: „fang an. Ich will deine Geschichte hören. Erzähl mir was.“ Man muss sagen, ein 8-Jähriger ist nicht besonders geduldig. Mein Vater wusste das und musste schmunzeln. „Also“, begann er:
„Es war einmal ein kleines Mädchen von 10 Jahren, das lebte allein mit seinem Vater auf einem kleinen brachen Hof. Sie waren sehr arm. Bessere Zeiten waren schon lange her, sie schieden mit ihrer Mutter dahin. Das kleine Mädchen war schmutzig und ohne Schmuck, aber herzensgut. Es kümmerte sich um seinen Vater und führte den Hof, welcher bloß ein altes Schwein und einen Nussbaum bewirtete. Der Nussbaum begleitete das Mädchen in reichen wie in armen Zeiten. Drum war der Baum ihr stiller Beschützer und Tröster. Und war das Herz des Kindes besonders schwer, so schmiegte sie sich an den starken Stamm des Nussbaumes und dieser legte schützend sein grünes Kleid auf sie. Das Schwein aber sah nie ein reiches Land. Es wurde hineingeboren in das Elend. Und auch die Mutter des Schweins zog dahin, sodass das Mädchen im unscheinbaren, alten Schwein einen Verbündeten und Freund zu sehen glaubte. Der Vater aber war kein schlechter Mensch, dennoch voll Furcht und Gram in seinem Verlust. Daher konnte er seinen Zorn oftmals nicht zügeln und schrie und schlug auf das morsche Haus ein, dass Fenster und Türen splitterten.“
Mein Vater hielt einen Moment in seiner Geschichte an und betrachtete mich. Um die Dramatik zu erhöhen. Ich hasste das und rief: „Los, Papa, weiter!“ Doch mein Vater blieb still und starrte mir nur weiter ins Gesicht. Nun bekam ich ein wenig Angst und stupste ihn an. Das schien in aus der Erstarrung zu lösen. Er sprach ungerührt weiter, als wäre nichts geschehen:
„Aus Angst zu verhungern stapfte der Vater eines Tages in den Stall, um das alte Schwein zu holen. Das Schwein quiekte bei seinem wilden Anblick gar jämmerlich, doch der Vater ließ sich nicht erweichen und schnappte sich das vor Panik zappelnde Tier. Das Mädchen jedoch hörte den Hilferuf ihres Freundes und jagte dem Vater hinterher: „Oh Vater, Vater! Haltet ein! Verschont ihr, der uns schon so lange erträgt!“ Der Vater aber drehte sich um, wie der leibhaftige persönlich und schrie aus voller Kehle: „Und sollen wir verhungern, weil du keine Opfer zu bringen vermagst? Weil du an dein Schwein dich klammerst, wie ein Baby an einem Schnuller? Wer bist du, der ein Tier vor seinen eigenen Vater stellt? Deinem eigenen Fleisch und Blut?“ Der Vater war so in Rage in seiner Verzweiflung, dass er nicht bemerkte, wie das fast zu Tode verängstigte Schwein sich seinem festen Griff entwand und schrill kreischend vom Hofe lief. Entsetz vom Ausbruch seines Vaters und von dem verstörenden Anblick des Tieres blieb das Kind wie angewurzelt stehen und starrte seine Blutsverwandten ungläubig an. Dieser war so blind vor Wut und Verzweiflung, dass er mit zitternder Stimme aus seinen Lippen presste: „Hinfort! Hinfort mit dir und dem Vieh. Ein Maul weniger stopfen, ein Elend weniger zu sehen. Verschwinde und lasse dich nicht eher blicken, bis du Rettung und Ehrfurcht aufweist.“
Mit einem Male sprang mein Vater auf, lieg von einer Zimmerecke in die andere. Er schaute immer wieder zu mir, ganz wild geworden. „Weg! Weg“, rief er. Zunächst dachte ich, es wäre eine neue Zuschaustellung seiner Künste. Eine neue Art, seine Geschichten vorzutragen. Doch er fing an zu schwitzen und heftig zu atmen. Ich rief seinen Namen, immer und immer wieder. Irgendwann beruhigte er sich, nahm ein Taschentuch aus seiner Hose und trocknete sich die Stirn. Dann fuhr er fort:
„Das Kind zitterte und wandte seinen Blick ab. Es rannte in den Wald hinein, einen letzten traurigen Blick zum Nussbaum gewandt. Im Wald angekommen, versuchte das Mädchen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und rief nach dem armen, alten Schwein. Immer weiter ins Herz des Waldes getrieben vergaß das Kind Weg und Zeit, bis es nicht mehr sagen konnte, wo sie war und wie lange sie schon ihres Weges ging. Als das Mädchen sich ihrer misslichen Lage bewusst wurde, liefen ihr heißen Tränen übers Gesicht und sie vergrub ihr Antlitz in ihren Händen. Während sie auf die Knie fiel, stützte sie sich mit den Händen auf dem Boden ab und entdeckte dabei eine kleine dunkelbraune Nuss, die direkt vor ihr lag. Das Mädchen hob die Nuss auf und benetzte sie mit Tränen. Aufgrund der Nuss erinnerte sie sich an den Trost ihres Nussbaumes und bei dem Gedanken an dem Verlust schluchzte sie nur umso mehr, sackte in sich zusammen, bis sie schließlich voller Erschöpfung einschlief.“
Nicht nur das Mädchen aus seiner Erzählung schlief ein, auch mein Vater schloss einfach die Augen. Ich konnte ihn leise schnarchen hören. Wurde mein Vater alt? Sollte ich vielleicht Hilfe holen? Bevor ich jedoch handeln konnte, schreckte mein Papa auf:
„Als sie endlich wieder erwachte, rieb sie sich die Augen und betrachtete den Wald um sie herum aufmerksam. Es schien ihr, als wäre sie woanders aufgewacht, als dass sie eingeschlafen war. Die Bäume schienen ihr grüner und reicher an Früchten. Das Licht brach stärker und goldener durch das Dickicht des Waldes und tauchte das Mädchen in ein warmes Licht. Gestärkt von den Sonnenstrahlen setzte dieses seinen Weg fort, um das verlorene Schwein wiederzufinden. Es war noch nicht weit gekommen, da erstreckte sich vor ihr ein reißender Fluss. Sie blickte sich um, konnte aber nirgends eine Brücke oder einen anderen Übergang entdecken. Sie schaute zurück, scheute sich aber, in das wenig einladende Schwarz des dunklen Waldes zurückzukehren. Stattdessen entscheid sie sich erst einmal dem Fluss zu folgen. Das stetige Rauschen beruhigte ihr Gemüt und sie dachte bei sich: „Nun suche ich meinen Freund und mit ihm zusammen finde ich vielleicht den Weg zurück. „Als ihre Gedanken aber an ihren Vater und die ausgesprochene Verbannung fiel, da wurde sie ganz trübsinnig und mit einem Male war sie sich nicht mir mehr sicher, ob es wirklich ein Zurück gab.
Der Fluss führte sie flussabwärts, bis sie an eine Stelle kam, an dem das Gewässer so schmal war, dass sie sich zutraute, ans andere Ufer zu springen. Das Mädchen spürte Furcht in ihr aufsteigen, aber auch Neugierde auf das ihr noch unbekannte Land vor ihr. Also ging sie ein paar Schritte rückwärts, nahm Anlauf, einmal tief Luft. Dann lief sie los und sprang. Der erste Fuß setzte am andern Ufern auf, der Sand unter ihr gab nach und ihr Fuß berührte das kalte Nass. Gerade noch rechtzeitig setzte sie mit dem zweiten Fuß auf festen Boden auf und sie kippte vornüber. Heftig nach Luft schnappend blickte sie auf. Vor ihr erstreckte sich ein weiterer Teil des Waldes und das Sonnenlicht tauchte selbst die einzelnen Blätter und Grashalme in tiefes Gold. Es war ein so schöner Anblick, trotzdem wurden dem Mädchen traurig und grüblerisch zumute. Sie dachte an das arme Schwein, fragte sich, wo es hin ist und befürchtete, dass es dem reißenden Strom hinter ihr zum Opfer fiel Eine Weile saß sie so da, dann schüttelte sie die trüben Gedanken ab und griff in eine kleine Tasche ihres Kleides, in der sie die gefundenen Nuss hineingelegt hat. Sie betrachtete sie und wunderte sich: „War sie heller geworden?“ Sie erschien ihr fast so golden, wie die Natur um sie herum. Energisch stand sie auf und neuen Mutes gefasst setzte sie ihre Suche fort.“
Trotz der Schwierigkeiten hatte mein Vater mich mit seiner Geschichte gefesselt, so wie er es immer schaffte. Neugierig hatte ich meinen Kopf in die Hände gestützt, mich in die Decke gemummelt und mich erwartungsvoll nach vorne gelegt. Aber anstatt weiterzuerzählen, änderte Papa einfach seine Erzählweise, die Stimmlage und… die Geschichte:
„Aliesa pflügte gerade das Feld, als sie den lauten Schrei vernahm. Sie drehte sich zur Siedlung von der sie den Laut vernommen hatten und versuchte ihn zu lokalisieren. Eine Weile geschah nichts und Aliesa war versucht, sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Da aber ertönte ein zweiter Schrei, lauter als der vorherige. Bei dem Entsetzen in der Stimme erschrak Aliena, und noch mehr erschrak sie, als ihr klar wurde, dass der Schreckensschrei aus ihrer Behausung kam. „Vater“, murmelte sie, schmiss die Flügge beiseite und rannte los. Ihr Herz raste und sie fürchtete, es würde gleich ihren Dienst versagen. Laufen war hier nicht gerne gesehen. Es bedeutete, dass jemand was zu verbergen hatte oder dass Gefahr drohte. Ungebührliches Laufen wurde getadelt, in schweren Fällen auch bestraft. Doch Aliesa kümmerte sich nicht darum und lief so schnell ihre Beine sie trugen. Zweimal fiel sie beinahe hin, so wenig waren ihre Beine die plötzliche Belastung gewöhnt, doch in kürzester Zeit kam sie zu ihrer Behausung. Sie stürzte hinein und blieb wie angewurzelt stehen, um das sich ihr bietende Bild zu verarbeiten.
Ein Junge, kaum älter als sie selbst, lang auf dem Boden. Er trug ein seltsames Gewand, das ihn sicher nicht sehr wärmen konnte. Seine blonden Haare waren leicht verfilzt und sein Körper bedeckt von Schmutz und Schlamm, die Augen vor Schreck und Angst geweitet. Er hatte einen Stuhl schützend vor sich bestellt und versuchte den Angriffen ihres Vaters auszuweichen. Ihr Vater stand vor dem fremden Jungen. Er blickte hasserfüllt auf die Gestalt am Boden herab, in seiner Hand ein Messer, was er immer bei sich trug. „Reine Vorsichtsmaßnahme“, meinte er immer. Alle in dem Orden hatte so ein Messer bekommen, sollte es mal zu einer Revolution kommen. So konnte der Orden sicher sein, dass sein Glaube verteidigt wurde und dass Ungläubige die Bildfläche verließen. Nun aber richtete der Vater das Messer auf dem Jungen und beschimpfte ihn in voller Lautstärke, ein Dieb zu sein. Bildete sich Aliesa das nur ein oder war ihr Vater betrunken? Sie war sich nicht ganz sicher, aber sie wollte nicht warten, bis sie es herausfand. Betrunkene konnten unberechenbar sein und das Leben des fremden Jungen hing am seidenen Faden.
Beherzt sprang Aliesa ihren Vater in den Weg und schrie auf ihn ein: „Was soll das werden? Das Messer dient nur zur Verteidigung, ja? Und welche Art von Verteidigung kann man gegen einen derart Schwächlingen Jungen schon brauchen?“ Sie blickte abschätzig zu Boden, wo der Junge sich noch immer schützend hinter einem Stuhl verbarg. Bildete sie sich das ein oder errötete er? „Schwächling“, dachte sie und sprach weiter auf ihren Vater ein: „ Was immer er getan hat, es duldet sicher nicht den Gebrauch einer solchen Waffe. Verschwinde und schlafe deinen Rausch aus oder aber ich melde es dem Orden.“
Sie blickte in die eisblauen Augen ihres Vaters und sah, wie er erschrak. Für einen Moment herrschte Stille, dann plötzlich rannte der Vater aus dem Haus in die Wälder. Auf halben Weg schien er zu merken was er tat, drosselte seinen Gang und blickte sich um. Schweigend und nun langsamer ging er in den Wald hinein.“
Ich wollte ihn stoppen, ihm sagen, dass er die Geschichte gewechselt hatte. Langsam bekam ich echt Angst, so etwas war noch nie geschehen. Doch anstatt sich beirren zu lassen von meiner Unruhe, erzählte er immer weiter:
„Aliesa schüttelte den Kopf und sah ihrem Vater nach. Seit einiger Zeit schon benahm sich ihr Vater mehr als seltsam. Noch schlimmer als früher. Sie konnte spüren, wie die Leute aus der Siedlung darauf lauerten, dass ihr Vater den Verstand verlor oder, um ihn dann endgültig zu erledigen. Schon immer missbilligten sie alle die Machenschaften ihres Vaters. Sie hatten nie verstanden, warum er sich den Orden anschloss. Aliesa verstand die Beweggründe, konnte diese aber nicht gutheißen. Dennoch war es ihr Vater und sie musste ihn vor den geifernden Mündern der Siedlung schützen. Jetzt aber war in den Wald geflohen. Dort würde ihn eh niemand finden.
Sie wandte sich wieder dem unerwarteten Besuch zu. „Wer bist du?“ fragte sie. „Was machst du hier? Und was zum Kalhlir trägst du eigentlich da?“ Der Junge starrte sie an. „Hallo?? Haben sie dir die Zunge herausgeschnitten?“ Natürlich wusste sie, dass das eine einfältige Frage war. Solche Bestrafungen gab es schon länger nicht mehr. Sie waren mehr als veraltet. Mittlerweile gab es ganz andere Methoden, die weitaus effektiver und grausamer waren. Aliesa schüttelte den düsteren Gedanken ab und starrte den Jungen unverwandt an. Dieser entgegnete ihren Blick und öffnete den Mund um etwas zu sagen. Doch er schien es sich anders zu überlegen und schloss den Mund wieder. Sekunden verstrichen und Stille machte sich breit wie eine ungeliebte Katze. Dann öffnete der Junge seinen Mund erneut und sprach:
„ Mein Name ist Jaspar. Ich komme von der ...der Anstalt ... hier in der Nähe ...und ich bin auf der Flucht vor... vor... erm... vor Etwas.“ „Genauer geht's nicht? Und überhaupt. Von welcher Anstalt sprichst du? Was erzählt du für einen Schwachsinn? Vor Etwas...“, Aliesa schnaubte, „Du musst noch dämlicher sein, als ich gedacht habe. Sie schien den Jungen, der sich Jaspar nannte, mit ihren Worten verletzt zu haben, denn er schwieg erneut und blickte sie zornig an. Auf einmal schien er zu bemerken, dass er noch immer auf dem Boden lag. Er rappelte sich hastig auf und stand nun direkt vor Aliesa. Nun konnte sie sehen, dass er ein Stück größer war als sie selbst, aber nicht besonders viel. Er war auch ähnlich hager gebaut, aber er schien nie Hunger gelitten haben und wenn doch, dann nicht besonders oft. Er kam also wohl nicht au ihrer Gegend. Dafür aber hatte Jaspar überall auf den nackten Armen Stiche, deren Ursprung Aliesa nicht benennen konnte. „Vielleicht ein Insekt? Oder eine neue Foltermethode?“, überlegte sie, behielt diesen Gedanken aber für sich.
Obwohl er nicht so aussah, als ob er wirklich lange darben musste, so musste Aliesa doch zugeben, dass sie deutlich seinen hungrigen Magen hören konnte. Er schien es auch bemerkt zu haben. Er stöhnte und ließ sich auf den Stuhl fallen, der zuvor noch seine Waffe gewesen war. Aliesa blickte ihn an und überlegte. So geschwächt wie er jetzt war, konnte er ihr in keiner Weise nutzen. Aber ihn einfach weg zuschicken brachte sie auch nicht über sich. Wenn sie das täte, dann wäre sie auch nicht besser als der Orden. Sie seufzte tief, drehte sich von ihm weg zum Schrank, öffnete diesen und holte eine kleine Schüssel hervor. Sie war gefüllt mit einem dickflüssigen Brei. Er hielt sich sehr lange und musste nicht gekühlt werden. Daher war er ein Grundnahrungsmittel hier in der Siedlung. Aliesa stellte die Schüssel auf dem Tisch an dem Jaspar saß. „Iss“, sprach sie. Jaspar starrte sie einen Moment lag an. Doch dann war der Hunger so übermächtig, dass sich der Junge auf das Essen stürzte, während Aliesa sich und ihren Vater vorstellte.
„Was war das? Es schmeckte… anders.“ fragte Jaspar. „Nussbrei“, antworte Aliesa: „Das ist eine Spezialität hier. Der Nussbaum ist einer der wenigen Pflanzen, die hier gut gedeihen.“
Da sprang mein Vater auf und lief zu meinem Fenster. Er blieb vor den Fenstern stehen und betrachtete den Garten. Ich fürchtete mich zu bewegen, aber es war schließlich mein Vater. Also schlug ich die Decke auf und schwang mein eines Bein aus dem Bett. Bevor allerdings mein zweites Bein den Boden berührte, war mein Vater schon neben mir, schubste mich zurück ins Bett und legte die Decke um mich. Drückte sie ganz fest, damit ich nicht verschwinden konnte. Seine Augen blickten gradewegs durch mich hindurch und seine Bewegungen wirkten hektisch. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und erzählte weiter:
„Jaspar wurde bleich und sie starrte ihn verwundert an. „Was ist los?“ „Ich... ich bin allergisch auf Nüsse!“ Er japste und keuchte und hielt sich die Hände an die Kehle. Mit schreckensgeweiteten Augen erwartete er das Schlimmste und auch Aliesa ließ die Zeit verstreichen, ohne zu wissen, wie sie handeln sollte. Doch nichts geschah. Es schüttelte ihm nicht am ganzen Körper und er bekam auch noch genauso gut Luft wie vorher. Er konnte klar sehen und kein Schmerz stellte sich ein. Jaspar blickte verwundert auf. „Ich verstehe das nicht“, gestand er.
Aliesa zuckte mit den Schultern. Sie glaubte der Junge würde fantasieren. Anders konnte sie sich seine wirre Geschichte und seine plötzlich Panik nicht erklären. Dass die Leute in dieser Gegend anfingen zu fantasieren, war eh nichts Neues. Bestes Vorbild war ihr eigener Vater. „Schon gut“, sprach sie. Sie wusste, dass man fantasierende Menschen nicht aufregen. Andererseits wollte sie wirklich gerne wissen, wer dieser Junge war. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, konnte aber nicht benennen woher. Aber zunächst einmal musste sie dafür sorgen, dass er so nicht auf die Straße ging in seiner seltsamen Kleidung, die noch dazu sehr mitgenommen aussah.
„Komm“, sprach sie: „Ich gebe dir etwas zum Anziehen.“ Jaspar folgte ihr in den Nebenraum. Darin standen ein kleines Bett mit grobem Bettzeug und ein Holzschrank mit Kleidung. Die Tür stand offen und Jaspar ging davon aus, dass es sich dabei um das Zimmer des Mannes handelte. Er stand unschlüssig in der Mitte des Zimmers, bis Aliesa ihm bedeutete, er solle sich aufs Bett setzten. Er tat wie ihm geheißen und erblickte dabei die gleiche Pflanze hinter dem Schrank, die er bereits im Eingang des Hauses gesehen hatte. Aliesa folgte seinem Blick und sprach: „Das ist eine Marysia. Eine Pflanze, die hier in der Nähe wächst. Fast jeder in der Siedlung hat welche bei sich zu Hause. Sie soll vor dem Bösen schützen. Als ob.“
Sie wandte den Blick ab und suchte weiter nach was Passenden zum Anziehen. „Es gibt eine Geschichte über diese Pflanze. Eines Tages verlief sich ein kleiner Junge in dem dunklen Wald. Seine Eltern hatten ihm immer wieder erzählt, welche Gefahren die Wald barg, daher war er außer sich vor Furcht. Als es Nacht wurde fing der Junge fürchterlich an zu weinen. Er wusste weder wo er war, noch wie er zurück nach Hause kommen sollte. Von dem Schluchzend des kleinen angelockt näherten sich wilde gefährliche Tiere, die wie Schatten um ihn herum kreisten. Der Junge bemerkte die Gefahr und versuchte sich zu verstecken. Dabei blieb er unter einer Pflanze hängen, deren Blätter so groß waren, dass sie ihn fast ganz unter ihr verbarg, die Blüten aber so groß und rot, dass sie verlockender nicht hätte seien konnte. Der Junge hatte sich mit seiner Hose in der Pflanze verfangen und konnte nicht weiter vor den Tieren flüchten. Diese näherten sich immer weiter und knurrten drohend. Dann aber blicken sie auf und rümpften die Nase, als hätten sie etwas Furchtbares gerochen. Der Junge verstand es nicht, denn er roch nichts. Die Tiere allerdings blickten erschrocken zur Pflanze und flüchteten mit einem Male, als würden sie von etwas noch Gefährlicheren verfolgt werden. Der Junge wartete, bis er die Tiere weder hören noch sehen konnte und versuchte erneut aufzustehen.
Die Pflanze ließ ihn anstandsfrei los, doch ein kleiner Zweig brach ab. Diesen hob der Junge auf und setzte seine Suche fort. Nicht lang später fand er zur Siedlung zurück, wo seine Eltern voller Sorge nach ihm riefen. Er rannte auf sie zu, in der Hand die Pflanze. Nachdem er ihnen sein Abenteuer im Wald erzählt hatte, nahmen seine Eltern die Pflanze und stellten sie in ihr Haus, damit nie wieder einen von ihnen ein Leid geschah.“
Aliesa blickte wieder zu Jaspar. „Und unsere Siedlung ist sehr abergläubisch. Daher stehen überall diese Pflanzen. Ob die Geschichte wirklich passiert ist, kann ich dir aber nicht sagen. Heutzutage wäre der Junge alleine fürs rennen bestraft worden. Aber damals… wer weiß. Hier, was zum Anziehen.“ Sie gab ihm eine stabile braune Hose und ein weißes Hemd. „Damit fällst du hier nicht ganz so schlimm auf. Und es müsste dir eigentlich passen. Ich warte in der Küche“. Aliesa verließ den Raum.“
Wieder sprang mein Vater auf, suchte hektisch die Wände ab, bis er schließlich zur Tür spurtete, als hätte er einen Schatten gesehen. Mittlerweile hatte ich viel zu viel Angst, als dass ich mich bewegt hätte. Zögernd versuchte ich, das Wort zu ergreifen: „Papa, was…?“ Weiter kam ich nicht, denn mein Vater setzte wieder an zur Erzählung. Doch wieder hatte er seine Stimme geändert und auch die Handlung hatte mit der vorherigen oder der davor nichts gemein. Er ratterte die neue Geschichte in einem Tempo runter, dass es mir schwerfiel, zuzuhören:
„Durch die Wohnung stolpernd war er auf der Suche nach seinen Schlüssel. Ohne Erinnerung, wo er sie zurückgelassen hat, schaute er hinter jedem seiner zahlreichen Bücher, hinter den verwaschenen Gardinen, die ihm noch der Vormieter hinterlassen hatte, hinter seinem alten Sofa, dass ebenso verwaschen wie die Gardinen inmitten des einzigen Zimmers stand und durch die spartanische Einrichtung alle Blicke auf sich zog. Er suchte unter dem kleinen, antiken Tisch an einem Ende des Zimmers und auch hinter seiner Schreibmaschine, die in all ihrer Pracht den Tisch und auch den gesamten Raum schmückte. Es war sein wertvollster Besitz, ein Erbstück seiner Mutter, verziert mit goldenen Lettern auf braunem Grund. Die Tasten bereits abgenutzt, aber noch vollkommen einsatzbereit. Jede Nacht saß er an dieser Schreibmaschine, teilte ihr alle Gedanken mit, alle Träume, alle Hoffnungen und Wünsche.
Ruhte er meist tagsüber auf seinem verschlissenem Sofa, ließ sich auf dem verblassten grünem Stoff in das Land seiner Träume entführen, schrieb er eben diese nachts mit aristokratischer Geduld auf. Die Schreibmaschine war sein engster Vertrauter, sein Freund und seine große Liebe, sein Leben.
Nun aber hatte er vor ihr gesessen, sie angeblickt, angestarrt regelrecht, und trotzdem wusste er nichts zu berichten, keine Gedanken die er niederschreiben konnte, keine Träume die er beschreiben wollte. Nichts. Vollkommende Stille.
Er hatte seine Finger über die Tastatur fahren lassen, hatte die Buchstaben gespürt, die Augen geschlossen und versucht sich von ihnen in einen Illusion der Träume entführen zu lassen. In einer Welt, wo die Fantasie siegt.
Doch nichts. Vollkommen still war es geworden.
Er war aufgestanden, von einer Ecke des Raumes zur anderen gewandert, hatte sich auf den ebenso kalten wie kargen Boden gelegt, auf die Holzdielen der Decke gestarrt. Dabei hatte er seine Muse um Hilfe ersucht. Doch sie schien ihn nicht zu hören, denn ihn ihm war nichts außer diese vollkommende Stille.
Er hatte sogar das Fenster geöffnet- dies hatte er in all den Jahren noch nie getan- und auf das rege Treiben draußen an der Straße geschaut. Er hatte die gehetzten Menschen begutachtet, wie sie von der einen Straßenseite zur anderen wechselten, wie sie geschäftig mit Kunden oder Partner sprachen, wie sie ihren Liebsten einen flüchtigen Kuss gaben, bevor sie um die nächste Ecke bogen. Er hatte die Kinder toben, die Eltern schimpfen gehört, hatte gesehen, wie sie drohend den Zeigefinger erhoben hatten. So konnte er jede Kleinigkeit bis ins Detail in aller Ruhe mitverfolgen, ohne dass jemand überhaupt Notiz von ihm nahm, er war ein stiller Begutachter, jemand der das Leben aus sicherer Entfernung heraus betrachtete, ohne selbst in jenes hingezogen zu werden. Tief und bedächtig atmend hatte er versucht, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren, das Leben unter ihm zu vergessen, seine eigene Seele zu spüren.
Doch er fühlte nichts. Denn es war nichts weiter in ihm als eine allumfassende Stille. Fürchterlich verzehrend und stetig wachsend. Gnadenlos wie eiskalt. Ohne Rücksicht auf Verluste fraß sie sich durch seine Seele hindurch in sein Herz, umklammerte dieses mit starker Hand und ruhte nun in seinem Geist.
Plötzlich war er aufgesprungen, starrte fassungslos auf seine Schreibmaschine, suchte in ihr nach Antwort und blickte dabei nur in sie hindurch, wie durch ein Fenster. Regungslos verharrte er einige Momente bis er mit einem Male aus seiner Trance aufschreckte und wie ein Besessener durch die Wohnung rannte. Seine ohnehin schon zerschlissene, wenn auch karge Einrichtung auf den Kopf stellend, suchte er verzweifelt nach seinem Schlüssel, denn er musste hier raus, raus in die Welt. Er musste seine Wohnung verlassen, die ihm mit einem Male wie ein Gefängnis vorkam, so schrecklich erdrückend, so unpersönlich und doch voller Erinnerungen. Alles in seinen vier Wänden schien ihn einzuengen, seine so geliebte Schreibmaschine ihn zu verspotten, als würde sie verächtlich mit einem Finger auf ihn zeigen und ihn auslachen, ihn sagen, wie armselig er sein, wie bemitleidenswert und wie dumm.
Nachdem er seine Schlüssel nicht finden konnte, verlor er die Geduld und stürmte kurzentschlossen aus seiner Wohnung, schmiss die Tür hinter sich zu, welche nicht komplett in den Rahmen einrastete und durch den Schwung des versuchten Zuschmeißens einen Spalt weit offen blieb.
Doch er bekam dies alles nicht mehr mit, lief schon die Treppen hinunter, mehrere Stufen auf einmal überspringend. Alles in ihm drängte nach Freiheit, nach Luft und Raum zum Atmen. Er rannte nach draußen, blieb direkt vor der verrosteten Haustür stehen und breitete seine Arme aus. Den Blick gen Himmel gerichtet nahm er einen tiefen Zug der von Abgasen verschmutzten Luft, stellte sich vor, sie wäre rein und sauber. Als er aber bemerkte, dass es ihm nicht möglich war, sich aus dieser Welt zu denken, nahm er zögerlich seine Arme wieder herunter, schweifte mit dem Blick langsam über die Straße, die Häuser und die Menschen. Er sah keine Veränderung dessen, was er am Fenster in seiner Wohnung erblickt hatte, doch fühlte er sich der Szenerie auf einmal so nah, erdrückend nah. Angewidert stolperte er ein, zwei Schritte zurück und beäugte die Passanten weiterhin missbilligend. So eingeengt hatte er sich noch nie gefühlt, er hatte da Bedürfnis zu schreien, zu rennen, sich von allen diesem zu entfernen und zu befreien. Frei wollte er sein, allein, doch fürchtete er nichts mehr als die Einsamkeit.
Hin und hergerissen von seinen eigenen Gefühlen folge er der Strasse raus aus der Stadt, vorbei an den Gebäuden, dessen Fassaden wie Masken auf ihn hinabzublicken schienen, vorbei an den Menschen, an allen diesen, die ihn nicht beachteten, in keines Blickes würdigten, viel zu sehr mit ihren eignen Problemen beschäftigt. Er beschleunigte seine Schritte, nahm schon längst die Personen um ihn herum nicht mehr wirklich wahr, es waren nur noch flüchtige Schatten, so faszinierend wie irrelevant, so beindruckend wie bedeutungslos. Er rannte die Wege hinunter zum Ende der Stadt und es schien, als könnte ihn nichts aufhalten, er rannte, als sein es der einziger Weg, den er hatte wählen können. Er rannte, als wäre dies die Lösung auf all seine Probleme."
„Papa, Papa! Hör auf, bitte! Hör mir zu, ich brauche gar keine Geschichte mehr, es ist gut. Was ist denn los?“ Ich hatte meinen Vater beruhigen wollen. Stattdessen sprang er auf, lief neben meinem Bett hin und her und erzählte dann:
„In der großen Mall füllte es sich. Menschen strömten hinein, um nach Feierabend noch ein paar Erledigungen zu machen, Jugendliche gingen mit Vorliebe um diese Zeit shoppen, schauten sich die neusten Trends an und gingen zusammen Kaffee trinken. Ab und an sah man junge Paare sich neue Möbel für die erste eigene Wohnung aussuchen, während sie dabei die Verkäufer mit ihrer Liebesgeschichte immer wieder aufs Neue auf die Nerven gingen. Dass es auf Weihnachten zuging leerte die Mall auch nicht, im Gegenteil, man musste aufpassen, dass man überhaupt noch Luft zum Atmen bekam. Die Verkäufer kamen mit kassieren nicht mehr nach und die Kassenschlage wuchs immer weiter.“
„Hör doch bitte auf!“ Doch mein Vater sprach weiter:
„Tracy, fast 20, begutachtete gerade die Parfums in der Kosmetikabteilung. Normalerweise arbeitete auch sie als Verkäuferin in dieser Mall, um ihr Studium bezahlen zu können. Sie hatte heute ihren freien Tag und bedauerte in Gedanken ihre Kollegen, denen vor Stress schon der Schweiß von der Stirn lief. „ Allerdings muss ich morgen auch mit in das Getümmel.“, beruhigte sie ihr Gewissen selber.
Sie wandte sich wieder dem Parfum-Flakon zu, dass sie in der Hand hielt. Es war eine schöne, matt- pinke, in sich gewundene Flasche mit einem goldenen Deckel in Form einer Blume. Auf der Flasche stand mit goldenen Buchstaben etwas geschrieben, was Tracy, ohne ihre Brille aber nicht lesen konnte. Sie war schwer weitsichtig, schämte sich aber ihre Brille zu tragen. Sie hatte das Gefühl ausgelacht zu werden, sobald sie ihr Gestell aus der Tasche kramte. Selbst ihr Freund, mit dem sie jetzt schon sechs Monate zusammen war, hatte sie noch nie mit den „Omagläsern“, wie Tracy selbst ihre Brille bezeichnete, gesehen und sie tat alles daran, dass es so blieb. Natürlich kam es dadurch manchmal zu peinlichen Situationen.
So wollte sie einmal eine ältere Dame zu den Kochbüchern führen und landete mit ihr geradewegs in der Pornoabteilung, während sie der Dame erklärte wie schmackhaft der Inhalt war und dass sie ein paar leckere Sachen auch schon ausprobiert hätte. Als sie ihren Fehler erkennen musste, war ihr das sehr peinlich. Als sie an der Stimme auch noch erkannte, dass es sich um eine ihrer Professorinnen handelte, war es mit ihrer Beherrschung ganz vorbei, sie stammelte ein „Tschuldigung“ und drängte sich an der geschockten Professorin vorbei, um sich erst mal auf dem Personaltoilette zu sammeln.
Während sie das Parfum betrachtete, spürte sie plötzlich wie sie von der Seite heftig angestoßen wurde. Vor Schreck verlor sie den Halt und stürzte zusammen mit dem „Rempler“ zu Boden und riss dabei das gesamte Parfum- Regal mit um. Die Flaschen zersprangen, der Inhalt ergoss sich über den Boden bis hin zu den Rolltreppen wo, die Flüssigkeit in die Elektrik floss und einen Kurzschluss versuchte. Der dabei entstandene Qualm stieg nach oben und löste die Rauchmelder, wie auch die Wasserspengler aus, sodass die gesamte Mall von dem Krach des Rauchmelders erfüllt war und sich der Regen in der Etage auf alles runter rieselte, auf Käufer und Verkäufer, aber auch auf Waren wie Seife und Bücher. Zudem machte sich der unerträgliche Gestank der Parfums im Gebäude breit. Durch den Aufprall der Flaschen, zersprangen diese in tausend Stücke und die Scherben flogen durch die Gegend, trafen ab und an auf Fleisch, wo sie tiefen Wunden hinterließen. Geschrei und Hysterie machte sie in der Mall breit. Tracy bekam das alles nur verschwommen mit, bevor um sie herum alles schwarz und ruhig wurde.
Weißes Licht drang in Tracys Bewusstsein. „Bin ich tot?“ fragte sie sich selber. Dann nahm sie dieses Stimmengewirr wahr. Die Stimmen schienen von überall zu kommen, hohe, tiefe, leise, laute, Stimmen von Männern und von Frauen. Tracy fühlte sich von den Stimmen bedrängt und ihr Kopf fühlte sich an, als wolle er jeden Moment explodieren. Sie wollte von den Stimmen wegdrehen, sich die Ohren zuhalten oder irgendetwas anderes machen, um dem Lärm zu entkommen, doch sie war unfähig sich zu bewegen, geschweige denn die Augen vollständig zu öffnen. Um sie herum huschten Gestalten vorbei, nur flüchtige Schatten, die sich von dem grellen Licht absetzten. Sie versuchte zu sprechen, mit den ihr unheimlichen Schatten Kontakt aufzunehmen, aber es drang kein Laut über ihre Lippen. Es lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken.
„Was passiert hier mit mir? Wo bin ich? Was ist geschehen? Wie bin ich hier hergekommen?“ Waren Fragen, die sie sich selber immer wieder stellte. Auf einmal durchzuckten sie unvorstellbare Schmerzen. Ihr Körper begann heftig zu krampfen und Tracy sah lauter bunte Farben, die sich ihr in Form von Fratzen immer weiter näherten. Ihr Gesicht brannte, aber in ihrem inneren fühlte sie eine Kälte, dass sie glaubte zu erfrieren. Angst machte sich bei Tracys breit, sie hatte ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle und die Stimmen schienen weiter anzuschwellen. Mit einem Mal hörten die Schmerzen auf, die Krämpfe waren vorbei, ihr Körper erschlaffte und Tracy sah nur noch weißes Licht, dann verlor erneut das Bewusstsein...“
Da blieb Papa mit einem Male stehen, direkt vor meinem Bett. Sein Blick verdüsterte sich, seine Stimme wurde bleiern und schwer, er schien die nächsten Worte beinahe zu rezitieren:
„Angst! Er spürte, wie das Gefühl durch seine Adern drang und dieses wie eine Witterung in sein innerstes aufnahm. Sein Opfer verspürte eine quälende Furcht, es kämpfte ums Überleben. Er selbst aber war der Jäger und er jagte gern. Er liebte die Hetzjagd, spürte gerne das schnelle klopfen des Herzens, wenn er langsam sein Opfer in die Falle lockte.
Er beschleunigte seine Schritte, kreiste seine Beute ein. Mit seinem Alter- er hatte schon einige Jahrzehnte überlebt- hatte er seine Jagdtechnik verfeinert. Niemals kam es vor, dass ihm irgendjemand entwischte. Er war ein wahrer Meister des Jagens.
Vor dem großen Dom blieb er stehen. Er verfolgte sie, seine Geliebte, seine Hexe. Eine der vielen Hexen, die ihm vertraut hatten. Eine von vielen, die sich in ihn verliebt hatten. Eine von diesen vielen Hexen, die er schon gejagt hatte. Er liebte das jagen wirklich; und er sah es als sein Schicksal, seine kleinen Affären auszusaugen. Schlechtes Gewissen kannte er nicht. Die Augen geschlossen, konzentrierte er sich auf die Aura der Hexe und atmete tief ein und aus. Nach eine Weile des Verharren öffnete er seine Augen wieder, denn nun war ihm klar, wo sie sich vor ihm versteckte. Seine kleine Hexe versuchte sich mit einem Bannspruch vor ihm zu schützen, doch sie hatte ihm in ihrer Naivität das wertvollste Geschenk gemacht, was eine Hexe einem Vampir machen konnte. Sie gab ihm mit einem magischen Schwur jeglichen Schutz vor ihrer Magie. Sie konnte sich nirgendwo vor ihm verstecken, hatte keine Chance sich vor ihm zu schützen. Sie konnte seine eigene Magie nicht abwehren und ihre Magie nicht gegen ihn anwenden. Sie war ihm schutzlos ausgeliefert und sie wusste um ihr Schicksal.
Langsam setzte er seinen Weg fort. Mit leichten Schritten ging er ruhig auf die verängstigte Frau zu die vor ihm auf dem dreckigen Boden kauerte und ihn anflehte, sie zu verschonen. Vor ihr blieb er stehen und betrachtete sie genau:
Ihre langen rehbraunen Haare verdeckten fast ihr ganzes Gesicht, fielen ihr glatt und strähnig über den gesamten Körper. Ihre ebenso brauen großen Augen schauten ihn bittend an und über ihrem rosig-weißem Gesicht zog sich eine lange, tiefe Wunde, die sie sich wohl bei der Flucht zugezogen hatte. Auch das lange schwarze Kleid, dass ihren zierlichen Körper umspielte, war teilweise zerrissen. Sie zog ihre Beine an sich heran und umklammerte sie mit ihren Armen. Sie hielt nun ihren Kopf gesenkt und von der Spitze ihrer Stupsnase fiel eine Träne auf einen ihrer nackten Füße. Sie wiegte sich hin und her und sprach ein Gebet, dass einem Klagelied ähnelte.
Plötzlich sprang sie jedoch mit einem gewaltigen Satz auf, machte einen Schritt nach vorn und sah ihn zornig funkelt an. In jeder Faser ihres blut- und dreckverschmierten Gesichtes war eine unglaubliche Traurigkeit zu erkennen. Leise, fast ohne Ton sprach sie ihren Verfolger direkt an:
„Warum hast du das getan? Warum soll ich sterben? Wieso ich? Warum, Viego, warum?“ Mit jeder Silbe schien sie lauter zu werden bis sie ihn fast anschrie. Dann, plötzlich, als hätte sie ihr Mut mit einem Male verlassen, drückte sie sich an einer steinernen Wand hinter ihr und verschränkte ihre Arme schützend vor ihrem Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie sich noch mal zu ihrem Jäger umdrehte und langsam mit ihrem Mund das Wort ‘warum‘ formte. Dann sank sie in sich zusammen, legte ihren Kopf auf ihre angewinkelten Beine ab, umschlang diese und schaute ihn mit Abscheu an.
Mein Vater machte eine dramatische Pause. Diesmal sprach ich nicht dazwischen und die Stille legte sich über uns. Dann setzte er von neuem an:
„Weil ich ein Vampir bin. Du wusstest es, Amy, du wusstest es vom ersten Moment an. Doch du hast dich auf mich eingelassen, trotz den Gefahren dich ich mit mir bringe und trotzt dem Verbot, dass es Hexen untersagt sich mit Vampiren einzulassen. Du hast dich auf mich eingelassen, dich mir hingegeben, mich von deiner Magie befreit. Dir war klar, dass dieser Moment kommen könnte“, antwortete ihr der Vampir ohne Gefühl in seiner sonst so leidenschaftlichen Stimme.
Er kniete sich zu ihr nieder, schaute sie unverwandt durchdringend an und ließ ihren Blick nicht los. Mit einer überraschenden Sanftheit nahm er ihr Gesicht in seine Hände und gab ihr einen Kuss. Amy konnte sich nicht unter dem Druck von Viegos Magie nicht wehrend. Er hatte sie bereits hypnotisiert, eine seiner Künste, die er am besten beherrschte. Dann hob er sie mit seiner übernatürlichen Kraft auf und stellte sie wieder auf die Beine. Er wusste, was er tat, denn er hatte es schon hunderte Mal getan. Mit seinem gewohntem Feuer in den Augen schaute er sie an, betrachtete das Geschöpf das nun erschöpft in seine Arme sank, sich an ihm festhielt, ihm dank der Hypnose vertraute und ihn doch mit angsterfüllten Augen ansah.
Viego legte sie sanft auf dem Boden ab. Und setzte sich neben sie. An ihr linkes Ohr gebeugt flüsterte er liebevoll: „Ich liebe dich, Amy. Ich habe dich wirklich geliebt. Aber dennoch bin ich ein Vampir. Ich bin ein Geschöpf der Dunkelheit.“ Lachend und mit einer gewissen Härte in seiner Stimme, fügte er hinzu: „Du bist mein Lebenselixier,dass musste dir doch klar gewesen sein. Ich nehme nicht mehr jeden Tag Blut zu mir, wie noch meine Ahnen vor mir, doch auch ich muss das rote Leben zu mir nehmen. Du hast die große Ehre, ein Teil von mir zu werden, mich am Leben zu erhalten. Du liebst mich doch, oder? Warum willst du mir dann nicht helfen?“ Etwas spöttischer fügte er hinzu: „ Du willst selbst an Leben bleiben, nicht wahr, mein Schatz? Aber kannst du auch glücklich werden mit der Last, seinem Geliebten nicht geholfen zu haben? Nun denn,“ rief Viego aus: „Dann lauf um dein armseliges Leben. Gegen mich wirst sowieso nicht gewinnen. Du wirst mir niemals entkommen! Ich werde dir das Blut aus den Ader saugen.“
Mittlerweile war die Stimme meines Vaters immer schriller geworden. Er hielt die Augen starr offen und blickte mich aus weiter Ferne an, als er schrill und fast atemlos sprach:
„Damit zog er Amy an sich heran, entblößte ihren Hals, bis in ihn hinein und trank ihr Blut bis ihr Körper erschlaffte. Danach ließ Viego sie los. Er wusste, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte, wenn sie wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte. Viele Hexen hatte er schon fast zu Tode gehetzt, aber er ließ sie immer am Leben. Er liebte das Jagen, aber nicht das töten.
Nach vollbrachter Tat stand Viego auf, betrachtete die Frau zu seinen Füßen eine Weile. Schließlich drehte er sich von ihr weg und verließ ‘seine Hexe‘. Nicht hielt in mehr in diesem Viertel der Stadt. Lieber wollte er weiter ziehen andere Gegenden entdecken, Verbündete finden, neue Hexen kennen lernen...
Außerdem schien es ihm besser, zu verschwinden, bevor Amy wieder aufwachte. Vielleicht würde sie sich an ihn erinnern, wenn der Vampir ihr in die Augen schauen würde..."
Mein Vater brach ab, starrte mich an. Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Zu sehr fürchtete ich, dass er weiter durchdrehen könnte, dass es nicht bei Worten bleiben würde. „Verschwinden, verschwinden, verschwinden“, murmelte er. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief hinaus. Bevor ich reagieren konnte, war er schon aus dem Haus raus und in die mittlerweile eingesetzte Nacht entschwunden.
Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe. Er wurde eingefangen und eingewiesen. Die Ärzte sind sich nicht sicher, was den Zusammenbruch ausgelöst hat, aber seit diesem Erlebnis möchte er mich nicht mehr sehen. Ich weiß nicht was passiert ist und es tut mir schrecklich leid um ihn. Gleich am nächsten Tag bin ich zu meiner Mutter gezogen. Eine Geschichte habe ich seitdem nie wieder gelesen oder mir vorlesen lassen.
Texte: Willow Caró
Bildmaterialien: Eigenmaterial
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
drei Stunden zu spät.. schade