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1. Kapitel


Gedankenverloren und noch halbträumend zupfe ich eine Strähne seines aschblonden Haares und drehe sie mit meinem Finger auf. Mit einem Lächeln betrachte ich sein Gesicht, das mir so vertraut und doch eigentlich fremd ist. Wir kennen uns und doch haben wir uns nie kennen gelernt. Kompliziert, nicht? Ja, was soll ich sagen. Sie würden es mir ja doch nicht glauben, wenn ich Ihnen erzählen würde, dass...

Ja, was soll ich Ihnen eigentlich erzählen?

Es ist vollkommen unglaubwürdig und selbst ich zweifle manchmal an dem Wahrheitsgehalt. Vielleicht sollte ich von vorn beginnen. Und bitte! Lachen Sie mich nicht aus. Es klingt wie ein Märchen und ich bin ein erwachsener Mann. Kinder erzählen einem Märchen und man erzählt ihnen umgekehrt Gute-Nacht-Geschichten.

Solchen Unsinn als eine wahre Begebenheit zu verkaufen... Nein, ich würde das noch nicht einmal im Scherz tun. Und doch ... in einer Zeit der Rationalität scheinen doch noch Märchen und Wunder zu geschehen. Auch in unserer hochtechnisierten Welt gibt es Geheimnisse, deren Kenntnis wahrscheinlich ganze Gedankenkonstrukte und Ideengebäude zum Einsturz bringen würden. Doch daran liegt mir nicht. Ich will nur erzählen, was mir wiederfahren ist.

Was uns wiederfahren ist.

Sein Name ist Michael. Jetzt nennt er sich Christian. Lassen wir die Nachnamen weg. Sie tun nichts zur Sache. Eigentlich ist es schon ein seltsamer Zufall, dass er eindeutig christliche Namen trägt, dieser Heilige. Oder Scheinheilige? Wieder ist mir nach Lachen zumute, doch ich werde ihn schlafen lassen. Dann bleibt uns noch ein wenig Zeit und Sie können mir zuhören.

Mein Name ist im übrigen Philip. Ich habe ihn beibehalten.

Lassen Sie mich beginnen. Ja, womit? Ein Märchen beginnt man eigentlich mit Es war einmal'. Doch das ist hier lächerlich. Mal überlegen.

Sie müssen wissen, ich war Priester. Nicht so einer, wie Sie ihn aus der Kanzel am Sonntag predigen hören, sofern Sie ein Besucher der Kirche sind. Nein, ganz und gar nicht. Ich studierte alte Bücher in einem Kloster, etwas fernab dieser Welt und Äonen entfernt von dieser Zeit. Es ist nicht so, dass ich nicht wusste, wie es hier ist.

Doch waren Sie schon einmal in einer dieser Bibliotheken, in denen sehr viele dieser wirklich alten Bücher mit Seiten aus Tierhäuten, eingebunden in schweres zum Teil gebrochenen Leder, verschlossen mit zum Teil wirklich archaisch aussehenden oder auch sehr kostbar verzierten Schließen aus Eisen, Gold oder Silber?

Die Seiten eng beschrieben in einer uralten, unbekannten Sprache, seltsame Zeichen und uralte, einige wunderbar bunte und andere wiederum in schlicht schwarz ausgeführten Zeichnungen. Einige üppig mit Blattgold verziert, andere vollkommen bar jeglicher Verzierung.

Stellen Sie sich vor: Ein Raum, angefüllt nur mit solchen Büchern.

Riesig!

Unendlich!

Das Licht bricht sich in den bunten Mosaiken der wenigen Fenster und das Licht zum Lesen wird von den Lampen auf den unzähligen Schreibtischen gespendet. Die Luft ist angefüllt vom Staub der Jahrhunderte und dazwischen wandeln schwarzgewandete Priester umher. Ja, wandeln. Gehen' wäre hier wirklich zu profan.

Ein in sich geschlossenes Universum, dass die Welt da draußen vollkommen vergessen lässt. Eine andere Welt. Ich denke, jetzt wissen Sie, was ich damit meine.

Nun, ich habe in so einer Bibliothek studiert. Mir lag nichts daran, meinen Dienst auf der Kanzel zu tätigen und das Wort Gottes zu verbreiten. Ich wollte sein Wort studieren, aber auch noch in andere Bereiche vorstoßen, die jenseits dessen lagen. Bitte werfen Sie mir keine Blasphemie vor. Ich weiß das. Aber ein studierter Geist hält sich selten an die ihm vorgegeben Grenzen und es ist nicht so, als ob die Kirche das nicht wüsste. So lange aber darüber der Mantel des Schweigens lag und Diskretion gewahrt blieb, so lange konnte man sich auch einigermaßen frei in diesem doch leicht anrüchigen Bereich bewegen.

Meinen Glauben an Gott hat das nicht gemindert. Im Gegenteil. Dass ich heute kein Priester mehr bin, liegt an ihm und nicht an dem Inhalt der Bücher. Und doch hat auch dieser Ort etwas damit zu tun. Sie wollen jetzt natürlich wissen, wo dieses Kloster ist. Es tut mir leid. Auch jetzt noch bin ich zum Schweigen verpflichtet und wenn Sie recherchieren wollen, dann muss ich Sie enttäuschen. Sie werden nichts finden, dass meine Geschichte in irgendeiner Weise unterstützen würde.

Die Archive, die die entsprechenden Schriften bergen, sind für Außenstehende und denen, die nicht zu einem bestimmten Kreis innerhalb der Kirchenhierarchie gehören, verschlossen.

Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich auf die förmlichen kirchenverwaltungsinternen Begrifflichkeiten verzichten. Man kommt ja kaum mit den weltlichen Behörden zurecht und mit denen hat der normale Mensch in der Regel mehr zu schaffen, als mit den Verwaltungsinterna der christlich katholischen Kirche.

Ich studierte also die alten Schriften und versank zur Freude meiner Vorgesetzten in vollkommenen mit frommer Freude erfüllten Arbeitseifer. Übersetzte Schriften, restaurierte Bücher und schrieb kleinere Abhandlungen über relativ harmlose Themen. Ja, eine handwerkliche Ausbildung habe ich auch. Im übrigen ist es die Ausbildung als Restaurator, die mich nicht Verhungern lässt, leicht übertrieben ausgedrückt.

Der Rest ist, wie man das so schön sagt, eine brotlose Kunst.

An dem Tag, der eine Wende in meinem Leben darstellen sollte, war ich gerade mit der Übersetzung einer alten Bibelschrift beschäftigt. Wie immer bei wirklich alten Bibeln bestand die Gefahr, dass deren Inhalt nicht ganz mit dem gültigen Kanon übereinstimmte, und daher brisante neue oder eher gesagt alte Informationen preis gab. Das war aber weniger mein Problem, da ich solche Dinge mit Vergnügen herausfand und mir darüber meine persönlichen Gedanken macht. Den Disput darüber mit allen daraus resultierenden Konsequenzen führten dann später andere.

Aber ich weiche ab. Also wie gesagt, ich hatte mich in meine Arbeit vertieft und übersetzte gerade eine fast unleserlich Passage dieses wunderbaren, alten und vollkommen zerfledderten Stückes der Buchmacherkunst, als ich zum Abt gerufen wurde.

Ehrerbietig kniete ich mich hin, ergriff seine rechte Hand und küsste den Ring, der Zeichen seiner Stellung war. Ein kurzer Wink und ich durfte wieder aufstehen. Er bot mir einen Stuhl ihm gegenüber an und lächelte wohlwollend. Es hätte mir eigentlich ein Warnung sein müssen, wenn ich es im Nachhinein so betrachte. Aber meine Menschenkenntnis war wirklich nicht sehr ausgeprägt und auch jetzt macht sich dieser Mangel ab und an bemerkbar.

"Wie geht es dir mein Sohn?", begann er wie üblich mit der rhetorischen Frage, die ich genauso rhetorisch erwiderte, obwohl mich wirklich nichts plagte, ich also keinerlei Sorgen hatte. Da er kein Mann großer Umschweife war, kam er gleich auf den Grund zu sprechen, warum er mich hatte herzitieren lassen.

"In ein paar Tagen wird uns ein alter Bruder dieses Klosters besuchen und ich möchte, dass du ihn begleitest, mein Sohn. Er wird seltsam sein und einige Dinge, die er tut, sind seltsam. Ich möchte aber, dass du über alles, was du im Zusammenhang mit ihm erfährst, Schweigen bewahren wirst. Denkst du, dass du dieser Aufgabe gewachsen sein wirst, mein Sohn?"

Ich war etwas verwirrt über diese Eröffnung. Was konnte so seltsam sein, dass ich darüber Schweigen bewahren musste? Aber ich fühlte mich dieser Aufgabe gewachsen. Ich sagte zu und schwor beim Gott, unserem Vater, und seinem Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, dass ich alles tun würde, was in meinen Kräften stände und ich ausnahmslos schweigen würde.

Ich Narr!

Der Abt nickte mit einem milden Lächeln und führte mich zur Klosterkapelle. Die Kapelle wurde nur selten von uns Brüdern - ich weiß, ich bin kein Priester mehr - zur Andacht benutzt. Meist wurden die Gottesdienste in der größeren Kirche abgehalten. Nur wenn ein Bruder der persönlichen Versenkung bedurfte, kam er hierher und betete zu Gott. Wir hielten vor einer großen Steinplatte an der Westwand der Kapelle, die ein Grab hinter sich verbarg.

Das war allgemein bekannt. Ursprünglich war der hier begrabene Mann der Namenspatron unseres Klosters gewesen. Irgendwann wurde dies jedoch aus Gründen, die nicht bekannt waren, wieder geändert. Dennoch! Dieser Mann war nicht Irgendjemand. Er war ein heiliggesprochener Mönch dieses Klosters, dem seltsame, heilige Dinge zugesprochen worden waren. Das war jetzt, wenn mich meine Erinnerungen nicht täuschten, etwas mehr als 500 Jahre her. Christian weiß die genaue Jahreszahl. Ich habe ihn aber nie danach gefragt.

Was ich mich damals nur fragte, war: Warum führte der Abt mich hierher? Sollte ich mich vor der Begegnung dieses Bruders noch einmal sammeln? Was für ein Mensch war dieser Mönch?

Ich war auf alle Fälle äußerst gespannt.

Doch es kam anders. Ich sollte mich nicht sammeln, obwohl mir das bestimmt nicht verwehrt worden wäre. Nein, es kam wirklich anders, als ich vermutet hatte. Ein Druck auf einen sensitiven Stein, der nachträglich in das Steinrelief eingelassen worden sein musste, gab den Zugang zum Grab frei und öffnete einen vergleichsweise großen, aber sehr niedrigen Raum, an dessen Ende sich ein Sarkophag aus weißgelbliche Alabaster befand. Er war schlicht ohne die üblichen Verzierungen. Auch stand kein Name auf darauf oder eine Nachbildung des Heiligen in Form einer Statue oder einer Gravur.

Eigentlich recht ungewöhnlich, wenn man bedachte, mit welchem Enthusiasmus in früheren Zeiten die Heiligen verehrt worden waren und es auch heute noch der Fall ist. Selbst relativ unbekannte Heilige wurden und werden, soweit sich noch jemand an sie erinnerte, ihr Grab bekannt oder eine Reliquie vorhanden war, mit großer Phantasie und je nach Mentalität und Kultur der Menschen mit allerlei erhabener Kunst ausgestattet.

Hier jedoch bestand die einzige Bezeugung einer solchen Ehrerbietung in dem verwendeten Material, aus dem der Sarkophag gefertigt worden war.

Ich schaute mit milder Neugier meinen Abt an, der auf einen Stuhl wies, der aus neuerer Zeit zu stammen schien. "Wenn du noch immer glaubst, dich der Aufgabe gewachsen zu fühlen, mein Sohn, dann warte hier!" Nun jetzt doch ein wenig verunsichert, schaute ich mich um und blickte zurück zum Ausgang. Ich verspürte den irrationalen Drang schnellstmöglich diesen mir auf einmal unheimlichen Ort zu verlassen. Dennoch blieb ich wie angewurzelt stehen. Was sollte das hier?

Warum sollte ich an diesem Ort warten? Bei einem Toten? Wer war dieser geheimnisvolle Bruder? Mein Vater schaute mich nachsichtig an. Meine Verwirrung stand mir wohl sehr deutlich ins Gesicht geschrieben. Da er eine Reaktion von mir erwartete, sollte ich ihm wohl eine Antwort geben und ihm sagen, wenn auch in anderen Worten, dass ich sehr gern die Gelegenheit zur Flucht ergreifen wollte.

"Ich werde hier warten, Vater!" Die einzige Reaktion des Abtes war eine hochgezogenen Augenbraue und dann ein Nicken. Er reichte mir noch einmal seine Hand und ich küsste nach einem Kniefall seinen Ring. Langsam und ehrwürdig schreitend verließ mein vorgesetzter Ordensbruder das Grab des Heiligen und strebte dem Ausgang der Kapelle entgegen.

Ich hätte mich ohrfeigen können. Es war ganz und gar nicht mein Wunsch und Wille gewesen hier zu bleiben und doch hatte ich genau das eben kundgetan. Wütend über mich selbst, hätte ich am liebsten einen Schrei ausgestoßen; doch die Heiligkeit dieses Ortes hielt mich davon ab. Beim besten Willen konnte ich nicht hinter dem Abt herlaufen und ihm sagen, dass ich es mir anders überlegt hatte. Diese Peinlichkeit wollte ich mir dann doch ersparen. Mit einem resignierenden Seufzen setzte ich mich auf den Stuhl, der neben dem Alabastersarkophag stand und stellte mich auf eine unbestimmte Zeit des Wartens ein.

Kurz sinnierte ich darüber nach, wie wohl die Passage in der alten Bibel übersetzt lauten mochte. Doch dann entschied ich mich, die Zeit für eine kleine Klausur zu nutzen und übte mich in der Versenkung.

Da mir nicht gesagt worden war, wie lange ich warten sollte, blieb ich auch, als die Glocke zur Abendmesse rief. So verrichtete ich mein Abendgebet ohne das Abendmahl allein in der sich immer mehr verdunkelnden Kapelle. Nur die wenigen Kerzen erleuchtete meine Einsamkeit und schufen unheimliche Schatten an der Wand. Mit einem Vaterunser verscheuchte ich den Teufel der Angst und befahl mich in Gottes Hände.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in der Dunkelheit der Kapelle saß. Ich weiß nur noch, dass mich der Schlaf zu übermannen droht. Erfolgreich hatte ich den Hunger unterdrückt. Es war nicht das erste Mal, dass ich fastete. Aber mit dem Schlaf hatte ich noch immer meine Probleme und meist gewann er den Kampf, den ich gegen ihn führte. In dieser Nacht war es wieder einmal so und ich dämmert vor mich hin. Der Stuhl war wirklich nicht dafür gemacht, dass man auf ihm schlief. So passierte das Unvermeidliche und ich fiel ziemlich unsanft auf den Boden. Meine Soutane hatte sich verheddert und ich musste mich erst wieder befreien, um auf die Beine zu kommen.

Ein kratzendes Geräusch ließ mich wie gebannt in meinen Befreiungsversuch innehalten. Mit schreckgeweiteten Augen schaute ich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Wie in einem schlechten Horrorfilm war natürlich der Sarkophag die Quelle dieser Geräusche. Doch das hier war ganz und gar nicht lustig. Denn mir gefror ehrlich gesagt das Blut in den Adern und ich vermochte mich überhaupt nicht zu rühren.

Ich brauchte eine ganze Weile, ehe ich mich zu dem Gedanken durchrang, dass das Geräusch vielleicht von einer Ratte oder einer Maus verursacht worden sein konnte. Es war vollkommen absurd, dass die Leiche sich bewegt hatte. Wenn überhaupt noch etwas von dem Heiligen vorhanden war und dieser nicht längst zu Staub zerfallen in seinem steinernen Grab lag, hieß das natürlich. Ich wusste auch von Heiligen, die mumifiziert fast wie lebendig aussahen. Na, dieser Erinnerung hätte es nun wirklich nicht bedurft, denn mich überzog wieder das kalte Grauen.

Jetzt schalt ich mich aber endgültig einen Narren und rappelte mich wütend über mich selbst auf die Beine. Beinahe hätte ich mich an der niedrigen Decke gestoßen, als ich derart außer mir aufstand. Meine Feigheit beiseite schiebend und einen Helden markierend, ging ich mit weichen Knien zum Ort meines Unbehagens. Ich konnte in dieser kaum erleuchteten Dunkelheit nur sehr wenig erkennen. Doch das machte es nur umso schwerer.

Alles war wieder still und mittlerweile glaubte ich mich getäuscht zu haben. Mit zitternden Händen strich ich über den Deckel des Sarges und spürte dessen Kälte. Außer mir schien hier wirklich keiner zu sein.

Fragen Sie mich nicht, welcher Teufel mich geritten hatte. Aber ich beging in dieser Nacht der Schwäche eine in meinen Augen immer noch große Dummheit, obwohl im nachhinein mir wahrscheinlich nichts anderes bestimmt war. Und selbst wenn ich es nicht getan hätte, ich denke es wäre nicht sehr viel anders gekommen.

Glauben Sie an Bestimmung? Damals war mir dieser Gedanke fern.

Heute?

Jetzt schon! Aber nicht irgendwie in der Form: Seine Wege sind erhaben und undurchschaubar für uns Sterbliche. Nein, so nicht.

Aber lassen Sie mich weiter erzählen, was geschah.

Was denken Sie, was ich tat? Ja, es klingt wirklich wie einer dieser Horrorfilme. Ich öffnete den Sarkophag und ... Nein, nicht die Mumie. Wenn es das gewesen wäre, wäre ich nicht in Ohnmacht gefallen. Denke ich...

Ich schob also mit einiger Mühe den schweren Steindeckel beiseite. Viel konnte ich nicht erkennen. Ich roch aber Staub und etwas wie zerfallener Stoff und vermoderndes Leder. Wenn man in einer Bibliothek arbeitet, in der solche Stoffe ständig gegen die Zeit verlieren, dann kennt man diesen Geruch.

Um den Umstand der störenden Dunkelheit abzuschaffen, besorgte ich mir vom Altar des Kapellenraumes eine Kerze und begab mich zurück, nicht ohne jedoch noch ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken und meinen Schutzengel herbeizurufen. Ich denke, dass hatte ich zuletzt als kleiner Junge getan. In dieser Nacht schien mir dies jedoch angebracht zu sein und ich machte mir darüber weiter keine Gedanken.

Noch einmal atmete ich tief durch und wagte mich dann an den Rand des Sargs. Meine Hand zitterte und ich fürchtete die Kerze fallen zu lassen und das, was immer sich in dem dunklen Abgrund befand, zu verbrennen. Eigentlich ein lächerlicher Gedanke, aber ich war nicht mehr zu viel Vernunft in der Lage.

Langsam kroch der unsichere Schein in das Innere und gab den Blick auf den Inhalt frei. Ich schnappte kurz nach Luft, konnte mich aber wieder fassen. Ich hatte leider nicht das Glück, dass mein Blick auf einen Haufen Staub und verstreuter Knochen fiel. Die Zeit war sehr gnädig mit dem Leichnam umgegangen. In einer halbzerfallenen alten Mönchskutte, die keine Ähnlichkeit mit der meinigen hatte, lag die Leiche eines alten Mannes. Grauer Staub lag auf den Zügen und den langen Haaren. Auch der restliche Teil des Leichnams wurde von ihm bedeckt.

Ich fragte mich noch, warum der Mönch lange Haare hatte. Soweit ich wusste, entsprach das zu keiner Zeit den üblichen Ordensregeln. Doch soweit gediehen meine Gedanken nicht. Das nächste, was ich zu sehen bekam, waren ein Paar dunkelbraune Augen, die mich unverwandt musterten. Im ersten Moment passierte gar nichts. Nur sehr langsam sickerte die Nachricht in mich, dass der tote Heilige mich anschaute aus Augen, die alles andere als tot waren.

Das war im übrigen der Moment, wo ich in Ohnmacht fiel.

2. Kapitel


Mich weckte ein warmes Lachen aus meiner Umnachtung und der durchdringende Geruch von uraltem Staub. Niesend öffnete ich meine Augen und fand mich dem Blick eines sehr wachen Heiligen ausgesetzt. Er schien sich köstlich zu amüsieren.

In einem absolut desolaten geistigen Zustand wich ich entsetzt vor dieser Fata Morgana meiner Sinne zurück und betete, dass der Teufel von mir weichen sollte. Das Lachen wurde lauter. Ich starrte ihn nur noch zitternd und zweifelnd an der Richtigkeit, der von meinen Sinnen übermittelten Informationen, an.

Der Heilige verstummte. Aber das Funkeln verschwand nicht aus seinen Augen. Da er sah, dass ich mich zumindest einigermaßen beruhigt hatte, begann er zu sprechen. Das nun wieder beruhigte mich nicht im mindesten.

"Könntet Ihr mir helfen aufzustehen? Ich bin leider nicht in bester Form." Ich rührte mich noch immer nicht und starrte das Wunder oder Drama stumm an. Wurde mir hier ein makaberer Scherz gespielt? Ich konnte mir das eigentlich nicht denken. Aber wenn ich hier warten sollte, dann konnte das nur bedeuten, dass er der seltsame Bruder war, von dem der Abt gesprochen hatte. Aber was suchte der in einem Sarg von einem Heiligen. Auch wenn dieser Heilige nicht sehr bekannt war, so war dies doch ein Sakrileg ohne Gleichen. Hinzu kam, dass dieser einmal der Namenspatron dieses Klosters gewesen war. Das machte dieses Verbrechen noch um Einiges schwerer.

Dieser Mann schien sich darüber jedoch nicht die geringsten Gedanken zu machen und lächelte nur still vor sich hin. Er schien darauf zu warten, dass ich den ersten Schritt tat. Da mich aber meine Kräfte verlassen hatten, musste ich mich erst wieder sammeln.

Nach einer für mich unerträglichen, aber auf unbestimmte Weise doch erholsame, Weile, begann der Heilige, oder wer immer er auch war, wieder zu sprechen: "Mein Name ist Michael. Würdet ihr mir den euren verraten?" Er schien mich immer noch unter Schock stehend zu betrachten, denn seine Stimme war sanft und leise, schien um mein Vertrauen buhlend.

Ich wurde wütend ob der Farce, die man hier mir bot. Glaubte diese Mann wirklich, dass ich ihm abnahm, dass er nicht wusste, wer ich war? Dies hier war doch nur ein abgekartetes Spiel, an dessen Ende man mir lachend meine Angst unter die Nase reiben würde. Mir war nie bekannt geworden, dass es solche Sachen in unserem Orden gab. Aber eine andere Erklärung verbot sich mir.

Michael schaute mich noch immer erwartungsvoll an, erkannte aber, dass mich Wut gepackt hatte. "Was glaubt Ihr, was hier passiert?", fragte er noch immer mit leiser Stimme. "Das jemand hervorspringt und ruft: April, April'.", rief ich sarkastisch. Der Heilige oder Michael, wie er sich nannte, schaute mich verständnislos an. "Ich habe keine Ahnung, was Ihr mir damit sagen wollt. Solltet Ihr aber so etwas, wie einen ... Scherz vermuten", er schien sich wirklich nicht sicher zu sein, meine Worte richtig übersetzt zu haben, denn er stockte kurz, "dann möchte ich Euch versichern, dass dem nicht so ist."

Irgendwie verrauchte meine Wut bei seinem verzeihungsheischenden Blick, der um einen Vertrauensvorschuss bat. Sollte ich ihm wirklich vertrauen? Nun, wenn er wirklich der Bruder war, der angekündigt worden ist, dann musste ich ihm so oder so helfen. Das mit dem Sarkophag musste dann später geregelt werden. Etwas unbeholfen erhob ich mich und ging auf die halb am Sarg lehnende Gestalt zu. Ich rümpfte bei dem penetranten Geruch, der ihn umhüllte, ein wenig die Nase. "Ja, ich denke, ein Bad wäre angemessen.", war der kurze Kommentar, der mir die Schamesröte ins Gesicht trieb.

Noch immer unsicher, ob nicht doch noch jemand April, April' rief, half ich Bruder Michael auf die Beine und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass dieser nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Noch einmal warf ich einen Blick in den nun leeren Sarkophag, dann raffte ich mich auf und trug Bruder Michael mehr, als ich ihn führte, hinaus aus der Grabkammer und der Kapelle.

Die Nacht war lau und angenehm. Ein leichter Wind mit einem Hauch von Jasmin umwehte uns, ließ mich an Ferne denke. Michael begann gefährlich zu zittern und sank haltlos zu Boden. Erschrocken griff ich zu und entlockte ihm dabei einen Schmerzesschrei. Ich hatte zu stark zugepackt und ihm dabei weh getan.

Ich war mit der Situation vollkommen überfordert, aber es war zu spät, um noch nach Rat zu fragen. Also tat ich das, was ich für angemessen hielt und hob den zerbrechlichen Körper dieses seltsamen Heiligen hoch. Er war wirklich federleicht und mich wunderte es, dass er nicht schon verhungert war. Außer einer Dusche, denn ein Bad besaß das Kloster nicht, war noch etwas zu Essen sehr viel notwendiger.

Ohne viel Federlesens brachte ich ihn zur Küche und setzte ihn dort angekommen an einen Tisch. Schnell war eine kleine Vesper aufgebaut, die die Augen des nächtlichen Gastes erstaunt vergrößerte. Er verstand aber den Gedanken, der mich zu der Änderung der Pläne bewogen hatte und begann bedächtig zu essen. Ich hatte gedacht, er würde sich wie ein Raubtier auf alles Essbare stürzen. Zu meiner Verwunderung war dem jedoch nicht so. Gesittet nahm er von allem etwas und kaute alles gründlich durch.

Genüsslich trank er den noch lauwarmen Tee vom Abendbrot und lehnte sich dann zufrieden zurück. "Ihr wollt nicht mehr essen?", fragt ich ihn verwundert, angesichts der Spatzenmahlzeit. "Nein, am Anfang nicht. Ihr wisst selbst, dass man nach einem langen Fasten nicht so viel essen sollte. Mir würde nur übel werden. Morgen esse ich mehr. Sehr viel mehr. Dann könnte der Inhalt der Speisekammer nicht ausreichen, mich satt zu machen." Er fügte diesen Worten ein Zwinkern hinzu.

Mit einem Schulterzucken räumte ich den Tisch wieder ab. Mir selbst gönnte ich eine trockene Brotscheibe, die ich schnell beim Abräumen vertilgte. Dann trug ich Michael zu den Duschen.

Mit dem Hinweis, dass ich ihm einen neue Soutane besorgen wollte, ließ ich ihn mit einem Stapel Badetücher, Duschgel und Shampoo allein. Als ich wiederkam, saß er mit verständnislosen Blick unter der Dusche und schaute sich die glänzenden Armaturen an. Er war vollkommen nass, obwohl er noch vollständig mit seiner fadenscheinigen Kutte bekleidet war. "Was ist passiert?", fragte ich ihn verständnislos.

Michaels Blick zeigte nur Verblüffung. Ich verstand überhaupt nichts. Trat ein wenig näher. "Da kommt Wasser raus." Jetzt war ich es, der verblüfft war. Natürlich kam da Wasser raus, es handelte sich ja schließlich um eine Dusche. "Und was ist daran so ungewöhnlich?" fragt ich ihn ungehalten. Michael schien zu bemerken, dass ich die Situation in der er sich befand, überhaupt nicht verstand und für eine Erklärung fehlte ihm die Kraft. "Zeigt mir bitte, wie es funktioniert. Ich wäre Euch dankbar dafür.", murmelte er kurzangebunden.

Ich schüttelt nur den Kopf. Für meine Verhältnisse ruhig, aber wahrscheinlich eher unhöflich, erklärte ich ihm die Funktionsweise der Dusche. Michael nickte und versuchte sich dann an den Armaturen hochzuziehen. Der Versuch misslang und er sank wieder zurück. Müde lehnte er sich mit geschlossenen Augen gegen die gekachelte Wand und atmete schwer.

Nicht auch das noch, gab ich einem innerlich Stöhnen nach und verfluchte einmal mehr, dass ich zugesagt hatte. Für den Fluch notierte ich mir eine fällige Beichte, dann machte ich mich daran, Michael der alten Kutte zu entledigen. Die Schuhe erwiesen sich als einfache halbzerfallene Ledersandalen, die sich nicht mehr öffnen ließen. Zum Glück fielen sie ihm fast von allein von den Füßen. Ich weiß bis heute nicht, warum mir das nicht einen erhellenden Gedankenblitz gab, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der vorherigen Ereignisse. Aber ich schiebe das auf eine allgemeine Müdigkeit, die sich auch bei mir bemerkbar machte.

Da Michael keine Anstalten machte, sich selbst zu duschen, zog ich auch meine Soutane aus und duschte mit ihm. Sein Körper bot einen schrecklichen Anblick. So wie ich es beim Tragen schon erfühlt hatte, bestand er nur aus Haut und Knochen. Seine langen schlohweißen Haare verstärkten den Eindruck, es eher mit einem Gespenst denn mit einen Menschen zu tun zu haben. Da sich der Staub aber nun von seiner Haut löste, verflüchtigte sich langsam zumindest dieser Eindruck.

Als ich fertig war, lehnte Michael schlafend an mir und schien zufrieden zu träumen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und sein Atem ging ruhig. Ergeben schloss ich meine Augen. Dann raffte ich mich auf. Ich verzichtete darauf, ihm die Soutane überzuziehen, nach dem ich ihn abgetrocknet hatte. Ein großes Badetuch genügte. Sollte er sich selbst anziehen, wenn er dazu in der Lage war. Ich hatte kein Quäntchen Konzentration mehr dafür über. Ich schaffte es kaum noch, mich selbst anzuziehen.

Halb schwankend trat ich den Weg in meine Kammer an. Da ich keine Ahnung hatte, wo der Gast schlafen sollte und meines Wissens nach alle Gästekammern von anderen Mönchen anderer Orden besetzt waren, würde ich Bruder Michael wohl oder übel zu mir nehmen müssen. Einen Fluch verkniff ich mir dieses Mal. Beichten konnten unter solchen Umständen ziemlich lang werden.

Vorsichtig setzte ich die zerbrechliche Last ab und deckte ihn zu. Dann rollte ich mich grummelnd auf dem Boden zusammen, nur mit einer dünnen Decke bedeckt.

Entgegen meinen Befürchtungen schlief ich augenblicklich ein. Der harte Boden störte mich nicht sonderlich. Ich war nur noch froh, endlich bedenkenlos schlafen zu dürfen.

Natürlich rächte sich diese Nacht bitter. Sie können sich sicher vorstellen, dass ich mit völlig verrenktem Nacken aufwachte. Kalt war es zu meinem Glück nicht gewesen. Frühzeitig genug, um noch der Morgenandacht beizuwohnen, beendete ich meine Nacht mit einem vernehmlichen Ächzen. Ich kann nicht behaupten, dass die Pritsche, die ich sonst zum Schlafen benutzte, sehr viel bequemer war. Aber zwischen ihr und dem Boden liegen doch Welten.

Mein Gast schlief noch seelenruhig und ich überlegte mir, ob ich ihn auch für die Morgenandacht wecken sollte. Aber in Erinnerung an seinem Zustand entschied ich mich dagegen. Schnell nach einer kurzen Versicherung, dass Bruder Michael nicht doch noch gestorben war, machte ich mich auf den Weg in die Kirche. Lassen wir diesen Teil weg. Sie werden sich nicht sonderlich dafür interessieren, wie oft, an welchen Stellen wir uns hinknieten, sangen und beteten.

Sonderlich ausgeglichen wie sonst, hatte mich diese Übung jedoch nicht gemacht. Ich suchte wieder meine Kammer auf. Mein Gast schlief noch immer und schien den Tag verschlafen zu wollen. Sollte er das wirklich vorhaben, fiel für ihn das Frühstück aus. Ich betrachtete ihn eingehend und musste verwundert feststellen, dass sich sein Aussehen doch erheblich geändert hatte. Mir schien es, als ob er jünger aussah. Sein Haar verlor irgendwie seine weiße Farbe. Die Haut wirkte irgendwie ... ich weiß nicht ... frischer wäre, glaube ich, das richtige Wort gewesen. Ich hielt das zunächst für einen Trugschluss und ließ mich nicht weiter davon aufhalten.

Kurzentschlossen weckte ich ihn. Er brummte missmutig vor sich hin und wischte unwirsch meine Hand von sich. Dann jedoch griff er danach und zog mich zu sich hinunter. In einer äußerst unbequemen Lage fand ich mich über ihn gebeugt wieder. Ärger zog in mir hoch und ich begann ihn energischer zu schütteln. Dieses Mal hatte meine Aktion Erfolg. Ich schaute in blinzelnde dunkelbraune Augen, in denen mildes Erstaunen stand. Eigentlich stand mir der Part zu, da er mich in diese Lage gebracht hatte, aber ich verbiss mir jeglichen Kommentar.

"Guten Morgen.", murmelte er und ließ mich los. Ich sagte irgendetwas Unbestimmtes und versprach mir, dass ich bei meiner nächsten Klausur sehr viel mehr über Nachsichtigkeit lernen müsste. Ich reichte Bruder Michael die Soutane und verließ die Kammer. Nach kurzer Zeit trat er vollständig angekleidet aber barfuss vor mich. "Warum habe ich daran nicht gedacht?", stöhnte ich. Michael lachte. "Keine Sorge. Ich kann auch so laufen. Jetzt habe ich Hunger und ich könnte wirklich etwas vertragen."

Ich schaute ihn prüfend an. Er hatte sein weißes Haar hinten einfach zusammengebunden. Die Soutane war ihm zu groß und er hatte immer noch dieses ungesunde, ausgemergelte Aussehen. Essen war jetzt wirklich das wichtigste. Der Rest würde folgen.

Ich führte ihn in den Speisesaal, in dem meine Mitbrüder schon lange beim Essen saßen. Natürlich erregten wir Aufsehen, aber ein Nicken des Abtes verzieh unser spätes Erscheinen. Er streifte Michael mit einem seltsamen Blick, dann widmete er sich wieder seinem Frühstück, welches im allgemeinen schweigend eingenommen wird.

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, erstaunt Bruder Michaels Appetit und dessen Auswirkungen zu beobachten. Die anderen hatten sich schon zu ihrem Tagwerk aufgemacht. Da meine Aufgabe darin bestand, an seiner Seite zu sein, wurde ich Zeuge, wie er mehrere Teller der dünnen Suppe, zwei Brote und einige Kannen des Tees buchstäblich vernichtete. Es war leider Fastentag, so dass kein sehr üppiges Essen auf dem Plan stand und die Enttäuschung stand Bruder Michael ins Gesicht geschrieben. Aber auch so, war das kein Fasten mehr.

Sein Verlangen nach Essen hielt sich im übrigen die ersten zwei Tage, wo er fast stündlich etwas zu sich nahm. Nun, Etwas' ist dabei untertrieben. So wie er aß, so veränderte er sich auch. Die Farbe seines Haares wechselte in ein tiefes Braun, dass einen Stich ins Rote hatte. Seine Haut wurde dunkler und spannte sich glatt, aber ohne den Ansatz von Fett, über seine Muskeln und Knochen. Seine Reaktion über meine andauerndes Starren war nur ein nachsichtiges Lächeln.

Mittlerweile war im übrigen die Information, dass Michael und der Heilige ein und dieselbe Person waren, in mein Gehirn angelangt. Auch die Unterredung mit dem Abt ließen daran keinen Zweifel. Nach dem ersten Tag seines Erwachens, rief er uns beide in sein Zimmer.

Mein Vorgesetzter begann ohne Umschweife und Begrüßung zu reden. Es war offensichtlich, dass er die Anwesenheit von Bruder Michael überhaupt nicht schätzte. Die Zusammenhänge wurden mir jedoch erst später klar, durch Bruder Michael selbst.

"Ihr werdet euch an die Regeln des Klosters halten, Bruder Michael." begann er ernst. Irgendetwas lag ihm auf der Zunge, aber meine Anwesenheit schien eine Konkretisierung zu verhindern. Aber Michael verstand auch so. "Ihr wisst so gut wie ich, dass ich mich an keine Regeln halten werde. Da ihr mir Bruder Philip zugeteilt habt, kann ich euch zumindest versprechen, dass ich mich von den anderen fern halten werde und sie nicht in ihrer Arbeit störe. Es könnten ja unangenehme Fragen auftauchen bezüglich meiner Anwesenheit oder genauer: Fragen über die offene Gruft."

So viel offenen Sarkasmus hatte ich Michael nicht zugetraut, aber ich sollte ihn noch besser kennen lernen.

"Ich habe bis auf Weiteres den Zutritt zur Kapelle untersagt. Ihr habt natürlich Zugang. Bruder Philip! Ihr werdet Bruder Michael, wo auch immer er hingeht, begleiten! Der Kontakt zu den anderen Brüdern ist auf ein Minimum zu beschränken! Ihr seid von den Andachten befreit." Nur selten sprach der Abt in förmlicher Weise mit den Priestern und Mönchen seines Klosters. Dass er es jetzt tat, bereitete mir Bauchschmerzen. Dies galt noch mehr für den Inhalt.

Jetzt, da ich zugesagt hatte, waren die Befehle eindeutiger. Der Abt wollte unter keinen Umständen, dass irgendjemand erfuhr, dass der Heilige St. Michael wie durch ein Wunder über die Jahrhunderte hinweg auf einmal wieder auferstanden war. Das Problem war nur, der Abt wusste, dass Michael erwachen würde und ihm war auch der Tag bekannt gewesen. Ich hatte eindeutig Bauchschmerzen.

"Ihr seht blass aus." Bruder Michael musterte mich eingehend und ich konnte eine Gänsehaut nicht verhindern. "Werdet ihr mir erklären, was der Abt nicht sagen wollte?" Bruder Michael senkte den Kopf, dann ging er und hielt an, um auf mich zu warten. "Vielleicht."

Aus irgendeinem mir völlig unerfindlichen Grund sehnte ich mich zu der wirklich geruhsamen Welt meiner Bibelübersetzung zurück. Innerhalb kürzester Zeit wurde ich meiner vertrauten Umgebung entrissen und in etwas völlig Verwirrendes gestoßen und alle außer mir schienen sich dabei prächtig zu amüsieren. Bruder Michael machte zumindest diesen Eindruck.

Ich muss zugeben, er hielt sein Schweigen nicht lange. Es war auch nie seine Absicht, mich im Unklaren darüber zu lassen, wie er mir später erklärte. Er fand nur meinen Gesichtsausdruck ... Nun, er sagte, er fand ihn süß. Nun den Gesichtsausdruck nach dieser Aussage können Sie sich dann ja lebhaft vorstellen. Er entgleiste mir völlig.

Aber zurück, zu seinem Hintergrund; dem, warum er wie ein Toter begraben wurde und dennoch nicht wirklich tot war.

Glauben Sie jetzt nicht, dass er ein Vampir wäre. Oh, nein. Ganz und gar nicht. Er mochte stark mit Knoblauch gewürztes Essen, tanzte im Sonnenlicht (das meine ich jetzt wirklich so), man konnte ihn im Spiegel betrachten und er sich selbst natürlich auch und ich habe nicht bemerkt, dass er sich in eine Fledermaus verwandelt hätte. Er war also vollkommen normal, bis ... bis eben auf dieses seltsame Detail. Er ähnelte im Charakter keinen der Brüder meines Klosters und ich denken, dass es weder vor noch nach ihm jemanden wie ihn gegeben hatte. Im Gegensatz zu ihm waren wir wirklich angestaubt.

Bruder Michael erzählte mir in einfachen Worten, was er getan hatte. Wären wir im Mittelalter und der Neuzeit, hätte man ihn für seine Taten und diesem Geständnis auf den Scheiterhaufen verbrannt. Das ist sicher. Das er für Magie damals nicht hingerichtet worden ist, erklärt sich vielleicht aus glücklichen Umständen, die selbst er nicht mehr wirklich durchschaute. Vor über 500 Jahren beschäftigte er sich mit Alchemie und zwar in diesem Kloster. Er suchte, wie so viele vor ihm, den Stein der Weisen und ein Mittel für das Ewige Leben. Auch die Mönche der damaligen Zeit waren der Versuchung erlegen, sich mit weniger christlichen Themen auseinander zusetzen. Aber lassen wir geschichtliche Details außer Acht.

Er hatte nur zum Teil Erfolg. Michael lebte nun ewig, aber der Preis dafür war hoch. Im Detail hat er nie aufgeschrieben, wie er es damals gemacht hatte. Eines der Gründe, warum das Kloster ihn bis heute deckt. Natürlich glaubt heute niemand mehr an den Stein der Weisen, aber mit einem Mittel für Unsterblichkeit ließe sich auch heute eine Menge Geld machen.

Doch wie schon angedeutet: Das Experiment misslang. Sein Leben endete offiziell 7 Tage nach dem Ende des Experiments. Er schlief ein. Da er die Veränderungen schon zuvor bemerkt hatte und auch ahnte, dass er nicht wirklich sterben würde, hatte er eine Abmachung mit dem damaligen Abt getroffen. Diese Abmachung gilt auch heute noch und jeder neue Abt ist daran gebunden oder genauer, fühlt sich daran gebunden. Wie man an meinem Abt sehen konnte, war damit nicht immer Begeisterung verbunden.

Da sein Erscheinen in der Vergangenheit immer wieder für Verwirrung gesorgt hatte, wurde irgendwann dafür gesorgt, dass ihm ein Bruder zu Seite gestellt wurde, der sich um seine Belange kümmerte und ihm die jeweiligen Gepflogenheiten der Zeit und ihn in die Sprache einwies. Das er die Sprache dieser Zeit so gut sprach, lag daran, dass sich seit den letzten 100 Jahren sich so viel nicht geändert hatte. Zumindest war das Neudeutsch im Kloster noch nicht so weit verbreitet wie außerhalb. Aber sein Gesicht beim Anblick eines Computers hätten Sie sehen müssen.

Am Anfang wusste er natürlich nicht, wie lange die Phase der Ruhe dauern würde. Es waren genau 100 Jahre wie er hatte feststellen müssen. Keinen Tag mehr und keinen Tag weniger. Ich kann mir den Schrecken lebhaft vorstellen, den der Mann empfand, der Michael damals 100 Jahre später erwachen sah.

Sein letztes Erwachen war also jetzt wieder 100 Jahre her und ihm standen 7 Tage zur Verfügung. Im Gemeinhin nutzte er die Zeit, die Auswirkungen von damals wieder rückgängig zu machen oder zumindest diese Ruhephasen, wenn nicht vollkommen zu beenden so doch zu verkürzen. Aber das war ihm immer wieder misslungen.

3. Kapitel


Auch dieses Mal machte er sich wie immer an die Arbeit und durchforstete den Flügel der Bibliothek, der mir im allgemeinen verboten war. Hier befanden sich Schriften und Literatur, die auch heute noch zum Teil als gefährlich eingestuft werden. Zumindest als ketzerisch und heidnisch. Ich denke aber, dass einem Geschichtsforscher das Herz vor Freude überlaufen würde, sollte er jemals dieser Schriften ansichtig werden.

Ich beobachtete ihn aufmerksam bei seinen Studien. Er scherte sich nicht sichtlich um die christlich katholische Einstellung eines Priesters oder Mönchs. Er fluchte ungehalten und ausgiebig und ich lernte noch einige neue dabei hinzu. Meine Beichte würde wirklich lang werden, wenn dieser Mann sich wieder schlafen legte.

Die Zeit verging wie im Fluge. Ich verbrachte Tag und Nacht mit ihm. Die fragenden Blicke meiner Brüder hatten irgendwann nachgelassen. Auch das Dulden des Abtes war ein Hinweis, dass dieser die Verstöße gegen die Ordensregeln zumindest für uns beide genehmigt hatte. Eine offizielle Weisung hatte er nie abgegeben. Die Nächte verbrachten wir gemeinsam in meiner Kammer, in die nach der ersten gemeinsamen Nacht eine zweite Pritsche hineingeschoben worden war.

Ich weiß nicht. Irgendwann änderte sich etwas. Ich beobachtete ihn meist stumm und gab Antworten auf seine Fragen, wenn etwas für ihn neu war. Er fand sich aber erstaunlich schnell zurecht, so dass die Flut der Fragen irgendwann abebbte.

Berührungen von ihm waren mir schon von Anfang an eher unangenehm gewesen, so dass ich einen direkten Körperkontakt, wenn es ging, vermied. Ich denke, dass er das bemerkte. Er schien jedoch das gegenteilige Bedürfnis zu haben und suchte regelrecht danach. Ein Konflikt, der irgendwann eskalieren würde.

Wie war das noch mal gewesen? Ich versuche mal das Chaos zu ordnen, obwohl ich sagen muss, dass es mir schwer fällt, die genaue Reihenfolge zu rekonstruieren. Aber es spielt keine Rolle, wenn es etwas ungenau ausfällt, oder? Fragen Sie ja nicht Michael. Er erzählt sowieso alles anders. Aber so wie ich es erzähle, entspricht es meiner Erinnerung.

Es war in dem verbotenen Teil der Bibliothek.

Wie passend!

Wie immer hatte er eine komplizierte Apparatur aufgebaut, die dampfend und zischend seltsam riechende Dämpfe von sich gab. Ich hielt das übrigens für gefährlich, so etwas zwischen lauter leicht brennbaren Sachen aufzubauen, auch wenn der Raum abgetrennt von den Regalen war. Michael winkte nur ab. Er sagte, dass hiervon keine Gefahr für die Bücher bestehen würde. Einmal mehr beruhigte mich das nicht.

Irgendwas knallte ziemlich laut und Flüssigkeit breitete sich auf dem Boden aus. Ich fuhr heftig hoch und rutschte aus. Dann weiß ich nicht mehr, was genau passierte. Ich fand mich aber in seinen Armen wieder und seine Augen funkelten vergnügt. Er fand es wie immer amüsant, mich in Verlegenheit zu bringen. Panik stieg in mir hoch, ich wollte mich schnell aus dieser Lage befreien und beachtete dabei nicht, dass die Haltung die Michael bei meinem Auffangen einnehmen musste, alles andere als stabil war. So kam wie es kommen musste. Wir fielen beide zu Boden. Ich unter ihm.

Kaum lag ich, umzingelt von dieser unbekannten Chemikalie und über mir Michael, fing ich an, mich zu wehren. Ich wollte hoch und so schnell wie möglich weg. Ehe ich mich jedoch versah, hatte er meine abwehrenden Arme eingefangen und sie am Boden festgenagelt. "Meinst du, es wird besser, wenn du so herumzappelst. Es besteht keine Gefahr. Eher verletzt du dich, wenn du so weitermachst." Michael hatte mich bis jetzt immer förmlich angesprochen. Dies war der Zeitpunkt, als er die Distanz buchstäblich auf allen Ebenen niederriss.

Mein Atem ging ziemlich heftig und mein Herzschlag muss laut genug gewesen sein, dass auch er ihn bemerkt haben musste.

Ihn musste schon lange das Verlangen geplagt haben und er nutzte die Gelegenheit. Langsam kam er immer näher. Wenn Sie glauben, dass man Augen nicht wirklich weit aufreißen kann, dann muss ich Sie eines Besseren belehren. Mir taten meine Lider noch am nächsten Tag weh. Hatte er Erfolg?

Ja, er hatte.

Panikartig drehte ich meine Kopf zur Seite und versuchte ihm meinen Mund zu entziehen, der augenscheinlich sein Ziel war. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und lieferten sich mit meinen gegenläufigen Instinkten eine Schlacht. Ich war nicht mehr wirklich handlungsfähig.

Ich spürte seinen Atem in meinem Ohr und etwas Feuchtes, dass langsam den Windungen meiner Ohrmuschel folgte. Ich hätte ihn beinahe mit meiner Kopfbewegung niedergeschlagen. Aber er schien die Bewegung vorhergeahnt zu haben und wich ihr leicht aus. Das nächste, was ich fühlte, waren unglaublich weiche Lippen auf meinen. Jetzt war ich wie festgefroren. Kein Atem, kein Herzschlag und keine Muskelbewegung. Nichts funktionierte mehr.

Als jedoch alles wieder einsetzte, schien alles sehr viel schneller zu laufen. Fast schmerzhaft zuckte ich zusammen, spürte die unglaubliche Wärme, die sich in mir ausbreitete und mir ein beschämendes Stöhnen entlockte. Michael schien zufrieden. Denn daraufhin beendete er seine Attacke und stand wieder auf. Vollkommen verwirrt betrachtete ich die Hand, die mir mein Aufstehen erleichtern sollte. Wieder schwirrte dieses Lachen um mich und dieses Mal schien es mich zu umhüllen, wie einen warmen Mantel.

Als ich auf meinen Beinen stand, kam er mir wieder gefährlich nah. Doch ein Entkommen war nicht möglich. Hinter mir war die Tischkante und er vor mir. Doch zu irgendeinen Zeitpunkt muss mein Widerstand ihm gegenüber auf der Strecke geblieben sein. Ich wollte nicht gehen, aber mich noch einmal küssen lassen...

Ich ließ es zu und er wurde mutiger.

Der erste richtige Kuss in meinem Leben ... von einem Mann. Und dafür legt man den Zölibats-Eid ab. Ich glaube, für diesen Gedanken hätte ich wieder eines dieser unglaublichen Lachen geerntet. Er scherte sich wirklich nicht um Regeln oder Konventionen.

An diesem Tag stahl er mir immer wieder einen flüchtigen intimen Moment und ich begann zu schweben. Ich muss vollkommen entrückt ausgesehen haben, mit einem dämlich wirkenden Lächeln durch die Gegend gelaufen sein. Ihn zog das noch mehr an.

Es war der vorletzte Tag und ich hatte kaum bemerkt, dass sich seine Zeit dem Ende zu neigte. Er war auf dem Höhepunkt seiner Kraft, die er in so kurzer Zeit hatte sammeln können. Seine Arbeitsstimmung hatte einen Tiefpunkt erreicht. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde, dass Problem zu lösen. Michael zog mich in den verbotenen Teil der Bibliothek. Es schien, als ob er zum ersten Mal mit Worten kämpfte. Ich umarmte ihn, wollte ihm beistehen, bei Dingen, bei denen ich ihm nicht beistehen konnte.

Er fing an mich zu küssen und ich erwiderte die verzweifelten Liebesbekundungen. Irgendwann lagen wir auf dem Boden zwischen hohen, steilaufragenden Regalen in denen sich staubiges Pergament stapelte.

Zwischen Büchern der schwarzen Magie, Künsten der Alchemie, häretischen Schriften, hebräischen Übersetzung und diversen apokryphischen Texten verlor ich in einem ekstatischen und lusterfüllten Liebesreigen meine Unschuld.

Ich fiel tief und ich genoss es.

Was gibt es da zu schauen? Ich wurde Priester bevor ich jemals ein Erlebnis dieser Art hatte. Mit anderen Worten, bis zu diesem Tag war ich Jungfrau. Danach nicht mehr.

Was mir Michael verzweifelt versuchte klar zu machen, war, dass er versagt hatte. Es schmerzte ihn mehr als je zuvor, dass er keinen Weg gefunden hatte. Diese Nacht blieb ich allein in meiner Kammer. Er hatte mir verboten, ihm zu folgen und mir das Versprechen abgerungen, mich daran zu halten. Ich schlief nicht. Als er am nächsten Morgen zurückkam, sah er müde aus.

Mit einem Lächeln schlief er in meinen Armen ein und wir verbrachten auf diese Weise den ganzen Tag. Trotz des drohenden Abschieds war ich für einen Moment glücklich. Aber mir blieb auch nicht verborgen, dass sich alles umkehrte. Michael verlor die Farbe seiner Haare und seine Haut den dunklen Schimmer. Er wurde nicht so schwach, wie bei seinem Erwachen, aber doch merklich.

Als die Dämmerung hereinbrach und damit die Stunde unserer Trennung, bemächtigte sich mir große Panik. Ich wollte ihn halten, es irgendwie aufhalten. Er war nachsichtig zu mir, wie zu einem kleinen Kind und umarmte mich. Dann schob er mich von sich und ging. Ich folgte ihm, da er mich nicht aufhielt. Natürlich ging er zur Kapelle. Mir war, als würde ich nicht weiterlaufen können und doch trieb es mich vorwärts. Ich wollte keine Minute, keine Sekunde, keine Augenblick ohne ihn sein. Doch ich wusste, dass es schlimmer kommen würde.

Ich würde für den Rest meines Lebens ohne ihn sein.

Ich weinte nicht. Nicht eine Träne, als er in den Sarkophag stieg. Mit einem Lächeln winkte er mich zu sich. Zwischenzeitlich hatte irgendjemand, vielleicht er, eine Decke aus roten Samt und ein ebensolches Kissen hineingelegt. Das Blutrot stach scharf von den Wänden des Alabastersarges ab. Die Farbe des Lebens. Die Farbe der Liebe. Es kam mir wie ein Hohn vor.

Stumm schob er die Decke vor seinen Füßen beiseite und öffnete ein kleines Versteck, dass in Wahrheit der Größe des gesamten Sarkophages einnahm. Im Schein des Lichtes leuchteten mir tausender kleiner, goldener Kügelchen entgegen. "Man könnte annehmen, dass es Gold ist...", sagte er leise. "Es bedeutet mir nichts mehr."

Ich verstand nicht.

Er küsste mich noch einmal und befahl mir, den Deckel zu schließen und zu gehen. Ich stand nur wie angewurzelt da. Er ließ mich gewähren. Sein Zerfall wurde immer offensichtlicher und er legte sich hin, kreuzte die Arme über die Brust...

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort so gestanden habe. Für mich blieb die Zeit ohne Bewegung. Ich sah und doch sah ich nichts. Irgendwann muss ich doch getan habe, was er mir sagte. Ich schloss den Deckel, verlöschte die Lichter und ließ die Grabtür zuschnappen.

100 Jahre...

Ich brach zusammen.

Als ich wieder erwachte, lag ich in der Krankenstation meines Klosters. Ich lag da etwa zwei Wochen. Natürlich versuchte ich mein normales Leben wieder aufzunehmen, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab und wenn ich dann auf die uralten Schriften schaute, verstand ich kein Wort. Die Tage und Wochen zogen an mir vorüber, ohne dass sie mich einmal berührt hätten. Rückblickend würde ich sagen, dass ich einen schweren Fall von Schock und Liebeskummer hatte. Aber in einem Kloster hilft da einem keiner. Hier gibt es keinen Liebeskummer.

Ich glaubte, langsam zu ersticken. Nur wenn die Sonne schien, dann war mir, als könnte ich ihn tanzen sehen. Ich sah, wie er durch die Reihen der Regale ging, umflirrt von dem staubgetränkten bunten Licht, das sich durch Mosaikfenster ergoss und seinen Weg in die dämmrige Dunkelheit sucht. Sein Lachen hallte durch die Gänge und war in meiner Kammer. Ich spürte seine Berührungen, seine Küsse und seine Wärme. Manchmal dachte ich, ich könnte noch einen Hauch seines Duftes wahrnehmen.

Ich reichte mein Gesuch ein, aus dem Priesteramt entlassen zu werden. Ich wollte das, was ich als meine Berufung angesehen hatte, nicht mehr wahrnehmen. Ich vermochte es nicht mehr.

Der Abt hatte nur genickt und kommentarlos mein Gesuch entgegengenommen. Ich wusste, dass er damit gerechnet hatte, als ich nur noch einem Gespenst gleich, durch die Gänge des Kloster gewandelt war. Er hatte mich geopfert. Ich glaube nicht, dass er damit gerechnet hatte, dass wen auch immer er für diese Aufgabe auserkor, so reagieren würde. Doch er war sich sicher, dass derjenige nie mehr so sein würde wie am Anfang. Ich war noch jung, unerfahren, ohne besondere Reputation. Austauschbar, ersetzbar - im Zweifel.

Ich hatte mir übrigens den Zutritt zur verbotenen Bibliothek erkämpft. Da ich Michael nicht mehr begleitete, war mir dieser eigentlich auch verwehrt. Ich ließ mich jedoch nicht aufhalten und ein Befehl des Abtes genehmigte mein eigenwilliges Vorgehen.

Ich schaute mir die wenigen Fragmente zu Michaels Leben an.

Es half mir nicht, den Schmerz zu mindern. Eher im Gegenteil. Aber ich erfuhr, warum er das ewige Leben gesucht hatte. Michael hatte sich verliebt. In einen Mitbruder. Dieser war schwer erkrankt und es war absehbar, wann er aus dem Leben scheiden würde.

Sollten Sie jetzt davon ausgehen, dass er dann im Laufe der Jahrhunderte immer wieder einen Liebhaber hatte, dann muss ich dem widersprechen. Der Schmerz noch einmal jemanden zu verlieren, dem er so nahe stand, war ihm zu groß. Er wollte auch niemanden so etwas zumuten. Das er sich in mich verliebt hatte, war so nicht vorgesehen. Sein Geständnis.

Aber das erfolgte später.

Denn wenn ich sage, das Christian Michael ist, dann kann die Geschichte auch noch nicht zu ende sein.

Ich verließ also das Kloster. Eine Arbeit fand ich zwar relativ schnell und auch für eine Wohnung war gesorgt. Nur wie auch im Kloster fand ich nicht zum Leben zurück. Ich starb jede Sekunde und mit jedem Atemzug. Ich verlor meine Arbeit und danach meine Wohnung.

Ich landete auf der Straße und schlug mich mit Bettelei durch. Mehr schlecht als recht. Niemand hätte damals in mir einen ehemaligen Priester erkannt. Zerlumpt und mit weniger Besitz als manch anderer, der auf der Straße lebte, bewegte ich mich ziellos durch die Straßen und Häuserschluchten.

Was mich davon abhielt, mir den Lebensunterhalt anders zu besorgen? Davon abgesehen, dass mich, wenn ich die Kraft gehabt hätte, darauf zu hören, mich mein Gewissen bewegungslos gemacht hätte, war ich kaum in der Lage zu Denken. Ich existierte nur noch und sehnte mich im Grunde nach dem Tod. Also warum durch einen Raubüberfall oder etwas anderem, das vielleicht auch noch erfolgreich war, mein Leben verlängern?

Dass ich den Tod rief, bemerkte ich, als ich in einer verregneten und kalten Nacht auf einer Brücke entlang ging. Ich hatte das Quartier für diese Nacht an einen anderen verloren, der mich mit Schlägen davon gejagt und mir noch mit Schlimmeren gedroht hatte.

Ich sah das schwarze geheimnisvolle Glitzern des strömenden Flusses unter mir. Eine Stimme schien mich zu rufen. Betörend. Versprechend. Ruhe. Nur Ruhe. Keine Schmerzen mehr. Keine Kälte. Keine Einsamkeit.

Nicht mehr glauben, ihn gesehen zu haben und es dann doch als eine Wunschphantasie des Geistes zu entlarven. Ich wollte zu ihm. Auch wenn er nicht tot war, so war er doch unerreichbar für mich.

Ich kletterte wie in Trance das Geländer hinauf und ließ mich von dem kalten und nassen Wind umarmen. Das Wasser lief mir den Nacken hinunter und kühlte mich aus. Aber ich hatte schon lange keine Kraft mehr zu zittern.

Als ich losließ und fiel, fing jemand mich auf. Grob wurde ich von dem Geländer geholt und gegen den Pfahl gepresst. Eine dunkle Gestalt, nach der Kraft und der Größe zu urteilen scheinbar ein Mann, hielt mich fest. Ich schaute ihn an, ohne das ich begriff, dass er mich gerade aufgehalten hatte. Tastend klopfte er mich ab. Ah, ein Dieb, dachte ich mir. Er hat ja auch Recht, warum in den Tod springen und dann eventuell noch brauchbare Sachen der Vernichtung preis geben.

Doch dann küsste mich der vermeintliche Dieb. Erst weich, dann fordernder. Doch kein Dieb! Sollte er haben, was er wollte. Es spielte keine Rolle mehr. Sollte er mich benutzen. Zu mehr war ich sowieso nicht mehr zu gebrauchen. "Was machst du? Bist du vollkommen verrückt? Warum willst du dich umbringen?", keuchte der Mann aufgebracht. Warum interessierte ihn das? Wollte er mich nicht mehr? Na, dann konnte ich ja auch gehen.

Da er die Umklammerung gelockerte hatte, drehte ich mich um und wandte mich wieder dem Geländer zu. Mit einem Ruck wurde ich zurückgerissen. Ich verlor mein Gleichgewicht und fiel. Für einen Augenblick verlor ich die Orientierung, dann fand ich mich in seinem Schoss wieder. Blaugrüne Augen schauten mich besorgt an. Ich konnte es sehen, da das Licht eines vorüberfahrenden Autos ihn anleuchtete. Sein Haar schien blond und kurz zu sein. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich ihm jemals begegnet war. "Lassen Sie mich los!", murmelte ich.

"Warum willst du dich umbringen, Philip?" Woher kannte er meinen Namen? Nun, es spielte keine Rolle mehr. Vielleicht ein Streetworker oder irgendjemand anderes. "Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!", knurrte ich halblaut. Nun, wenn es nicht diese Nacht sein sollte ... es gab noch viele Nächte. "Doch, mich geht das sehr wohl etwas an. Ich habe lange nach dir gesucht und ich werde dich nicht einfach wieder so gehen lassen. Ich liebe dich und nur für dich bin ich hier. Also wirst du gefälligst leben! Hast du mich verstanden?" Er schrie fast und ich konnte seine Verzweiflung fast körperlich spüren. Was redete er da für einen Unsinn?

Wieso liebte er mich? Ich verstand überhaupt nichts mehr. Aber zum Denken war ich mittlerweile zu müde. Der Schoss und die Umarmung waren warm und es war eine Wärme, die ich schon lange vermisst hatte. Der Fremde küsste mich noch einmal. Danach weiß ich nichts mehr.

4. Kapitel


Als ich erwachte, lag ich in einem großen weichen Bett. Einem Doppelbett.

Und ich lag nicht allein darin.

Neben mir lag der Fremde.

Sein Gesicht konnte ich jetzt genauer betrachten und ich fand ihn ganz ansehnlich. Für diesen Satz werde ich wahrscheinlich zu büßen haben. Aber davon abgesehen, konnte ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihn jemals in meinem Leben gesehen zu haben.

Das nächste, was ich feststellte, war, dass ich keinerlei Kleidung mehr trug. Wirklich, nicht ein Stück. Auch der Fremde neben mir trug nichts außer einer Bettdecke. Nach einiger Zeit, in der ich zwischen Scham, Zorn und dann Gleichmut schwankte, entschied ich mich für Gleichmut. Ich hatte mein Vorhaben, mich dieses Lebens zu entledigen, noch nicht wirklich aufgegeben. Also war dieses Zwischenspiel ohne Bedeutung. Aber ich wollte gern herausfinden, warum dieser Mann mich kannte, und wie er sagte, liebte.

Also wartete ich, dass er aufwachen würde. Da er sich nach einer Weile, die mir zu lang wurde, noch immer nicht rührte, rüttelte ich leicht an ihm. Im nächsten Augenblick fand ich mich in seiner Umarmung wieder und er kuschelte sich eng an mich. Aufgewacht war er dabei überhaupt nicht und ich bemerkte, dass er wirklich nichts anhatte. Und ich auch nicht, wie schon erwähnt, aber abrupt wieder ins Gedächtnis gerufen.

Ich räusperte mich verlegen und schien damit endlich die gewünschte Reaktion zu erreichen. Mich blinzelten die mir mittlerweile schon bekannten blaugrünen Augen an und mir wurde ein verschlafenes Guten Morgen' gewünscht. Ich schluckte und verwünschte meine Röte, die in meinem Gesicht erst einmal einen festen Platz eingenommen hatte. "Noch immer so schüchtern?", murmelte mein Bettnachbar und stahl mir im Aufstehen einen Kuss.

"Was willst du frühstücken?" Die erste Frage des Tages und sie erforderte eine Entscheidung. Darin mit eingeschlossen auch die Entscheidung, ob ich länger blieb, denn der Fremde ging scheinbar davon aus. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Waren wir verheiratet oder lebten wir schon seit ewigen Zeiten zusammen? Mit einem Mal hatte ich keine Lust mehr auf irgendetwas. Nicht nachdenken und den Tag einfach vergessen und am besten die Nacht gleich mit. Ich zog die Decke über mich, raffte sie mir unter die Achseln und drehte mich um.

Er konnte mir gestohlen bleiben. Er hatte mich hierher geschleppt, dann wollte ich mich zumindest einmal richtig ausruhen. Auf der Straße würde ich früh genug wieder stehen. War ich jetzt eigentlich ein Stricher? Mir egal!

Nun gut. Ich gebe zu, ich war beleidigt und ich ... ich schmollte; ist glaube ich, der richtige Ausdruck. Ich hörte ihn in meinem Rücken lachen und Sie werden es nicht glauben. Es jagte mir einen Schauer ein. Warum, wusste ich nicht. Aber irgendetwas Bekanntes wurde dabei in mir berührt.

Ich hörte noch, wie er das Schlafzimmer verließ. Frustriert schloss ich die Augen. Ich musste danach eingeschlafen sein, obwohl ich eigentlich nicht wirklich müde war. Aber vielleicht lag es auch daran, dass ich mich irgendwie sicher fühlte. So sicher, wie schon lange nicht mehr.

Leises Klappern und Klirren von Porzellanservice und Besteck, der Geruch von frischgebrühten Kaffee und der warme, weiche Duft von frischen Brötchen weckte mich. Unsicher, nicht einer Halluzination aufzuliegen, drehte ich mich um und schaute in das heitere Gesicht meines Gastgebers, vielleicht auch Retters, der Nacht und dieses Morgens. "Jetzt vielleicht doch etwas frühstücken?" Er zuckte dabei leicht mit den Schultern, als ob er sich für etwas entschuldigen müsste. Eigentlich lag es wohl eher bei mir, so etwas zu tun. Aber ich war an diesem Morgen störrisch. Mein Hunger verbat mir aber, meinen Stolz in Sachen Frühstück entscheiden zu lassen.

Ich ließ es mir schmecken und machte damit meinem Retter sichtlich Freude. Er entspannte sich und griff auch zu. Mir entging die rote Rose nicht, die das Tablett schmückte; ging aber nicht darauf ein.

Okay! Er kannte mich. Er liebte mich.

Aber bei mir war nichts vorhanden, dass eine entsprechende Resonanz hervorbrachte. Es wurde Zeit, ein paar Fragen zu stellen. Nach dem Essen!

"Ich weiß, dass du genug Fragen hast. Können wir die etwas verschieben?", begann er, bevor ich auch nur ein Wort gesagt hatte. Er musste es mir angesehen haben. Es war eigentlich auch natürlich, dass sich diese Fragen stellten. Insofern ...

"Eine Frage bleibt aber noch und die kann nicht warten." knurrte ich halblaut. "Und die wäre?", entgegnete er mit einem Lächeln.

"Wo sind meine Sachen?" Wieder dieses Lachen. Es machte mich traurig. Ich hätte weinen mögen. Ich habe nie geweint. Auch nicht, als ich den Deckel geschlossen hatte. Aber jetzt stand ich kurz davor, genau so etwas zu tun. Ich biss mir auf die Lippen. Ihm entging die Reaktion nicht und ich weiß nicht, ob er sie richtig deutete.

Er zog mich zu sich und umarmte mich. Selbstverständlich in der Geste und vollkommen vertraut. Ich zitterte wie Espenlaub. Was ging hier vor? Ich verstand überhaupt nicht, was er von mir wollte und warum er diese Reaktion in mir hervorrief. Ich verstand absolut nichts!

"Vielleicht wird es Zeit, dass du loslässt, Philip!" Ich stieß ihn von mir, als hätte ich mich verbrannt. Gehetzt schaute ich ihn an. Ich wusste, dass er meinen Namen kannte. Aber was wusste er noch? Ich schlug die Hand weg, die nach mir griff. Hastig raffte ich die Bettdecke und entfloh dem Bett. Panisch suchte ich nach meinen Sachen.

"Wenn du etwas zum Anziehen suchst, bediene dich am Schrank. Hinter der linken Schranktür befinden sich Sachen in deiner Größe. Das Bad ist den Flur entlang rechts die dritte Tür." Sah ich Enttäuschung in seinen Augen? Ich hatte dafür keine Geduld. Ich wollte nur diesem unheimlichen Mann entkommen und er schien mich nicht aufhalten zu wollen. Ich nahm die Offerte an und suchte mir willkürlich irgendwelche Sachen aus.

Ich nahm weder wahr, dass die Wohnung den Stil eines Penthouses hatte, nicht dass die Kleidung mir exakt passte, nicht seinen Blick, den er mir hinterher warf und einiges mehr.

Als ich meine Schuhe suchte, fand ich neben der Tür ein Paar nagelneue Schuhe, die meiner Größe entsprach. Ein Mantel baumelte vor meiner Nase und der Fremde hielt ihn mir auf. Es war nicht mein Mantel. Nichts, was ich trug, stammte von mir. Ehe ich jedoch zur Tür hinausstürmen konnte, die er mir wies, fand ich mich an der Wand daneben festgenagelt wieder. "Ich möchte nur eines von dir: Gib mir eine Chance, Philip!" Ein fast flehender Kuss besiegelt seine Bitte, dann war ich frei und fand mich nach einem halsbrecherischen Treppenrennen auf der Straße wieder.

Ich warf keinen Blick zurück. Schlug nur den Kragen meines Mantels hoch und verschwand. Als ich endlich wieder zur Besinnung kam, registrierte ich, mit was ich hier ausstaffiert worden war. Ich gebe zu, ich war noch nie sehr markenfest. Doch die Kleidung, die ich trug, stammte direkt von einem der nobelsten Herrenausstatter dieser Stadt. Der Regen perlte von dem Mantel ab und wärmte mich einfach wunderbar. Er war, wie alles, was ich trug, nagelneu. Vollkommen ungetragen. Dasselbe galt für meine Schuhe.

Etwas Schweres schlug mir gegen die Brust und nach einem kurzen Suchen im Inneren, fand ich in der Seitentasche ein kleines, voll geladenes Handy, eine Geldspange mit Geldscheinen und einen Zettel.

Die Nummer ist eingespeichert. Doch ich kann Dich nicht zwingen, mich anzurufen. Die Sachen gehören Dir, wie alles andere auch. Wenn Du Deine Fragen doch noch beantwortet haben willst, dann können wir uns irgendwo treffen. Christian'

Ich musste mich setzen. Da formte sich eine seltsame Idee. Irgendwie kam mir das seltsam geplant vor. War ich hier einem Verrückten begegnet? Ich lese eigentlich nicht solche Zeitungen, aber sie können einen ein wenig in allzu kalten Nächten den Wind vom Leib halten. Beim besten Willen, es ist unmöglich die Überschriften zu ignorieren. In mir baute sich das Bild eines Psychopathen mit einer Axt auf. Unwillig schüttelte ich den Kopf. Das machte irgendwie wenig Sinn. Man kleidete seine Opfer nicht ein feinstes Kaschmir, um sie dann blutig niederzumetzeln.

Zumindest glaubte ich das. Aber was wusste ich von den Abgründen der menschlichen Seele.

Ich wanderte noch den ganzen Tag umher, unschlüssig, wohin ich meine Schritte lenken sollte. Ich hatte mich noch nie so heimatlos gefühlt, absolut einsam und alleingelassen. In meinen zerrissenen Sachen wäre ich einfach nur stumpfsinnig durch die Gegend gelaufen, doch diese feinen Designerstücke trennten mich von der Straße und deren Bewohnern.

Müde und zerschlagen setzte ich mich in ein Café. Ich war noch nie in einem Café gewesen, also studierte ich mit großem Interesse die Karte. Sofort wuselte ein dienstfertiger Kellner um mich herum. Ich hatte keine Ahnung, was ich bestellen sollte.

"Zwei Latte Machiatto und zwei belegte Baguette´s mit Käse.", hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir. Erschrocken wollte ich vom Stuhl hochspringen, wurde jedoch bestimmt wieder zurückgedrängt.

"Es ist Zufall. Ich bin dir nicht gefolgt. Auch wenn du mir nicht glauben wirst. Entschuldige meine Eigenmächtigkeit, du sahst aber nicht so aus, als ob du wüsstest, was du bestellen kannst." Mein Retter Christian, wie er selbst geschrieben hatte, setzte sich mir gegenüber hin. Er sah nicht sehr glücklich aus, eher schienen ihn große Sorgen zu bedrücken. Ob ich der Grund dafür war? Ich sollte mich nicht so wichtig nehmen...

"Aber ich denke, ich kann die Gelegenheit wahrnehmen, dir ein paar Sachen zu erklären. Wenn du mir aber den Gefallen tun würdest, nicht laut zu schreien oder zu rufen, wäre ich sehr froh. Das, was ich dir erzähle werde, wird dir vielleicht nicht gefallen." Ich nickte ihm nur zu, da ich noch immer sprachlos war. Der Kellner brachte das Bestellte. Hungrig biss ich in das französische Weißbrot. Es war köstlich. Auch der Kaffee war gut. Warum ich mich in dieser Situation an Nebensächlichkeiten aufhielt, muss ich meiner Nervosität zurechnen. Aber Christian ging es nicht sehr viel besser. Da er reden musste, konnte er sich noch nicht einmal mit Essen ablenken.

So nahm er nur einen kleinen Schluck vom Kaffee und begann dann leise zu erzählen. Mir blieb der Bissen im Hals stecken, da mein Mund plötzlich so trocken wurde. Ich verschluckte mich heftig und rang nach Luft. Schnell war er um den Tisch und verhalf mir wieder zu Atem. Rot im Gesicht und noch immer außer Fassung starrte ich ihn an. Mechanisch kaute ich das letzte Stück des Brotes und schluckte. Doch diesem Vorgang galt nicht meine Aufmerksamkeit.

Christian beugte sich leicht zu mir runter und flüsterte mir etwas ins Ohr, dann spürte ich etwas warmes Feuchtes, dass meiner Ohrwindungen folgte. Ich rührte mich nicht. Nur jetzt war ich blass. Mir brach der Schweiß aus und die Welt um mich herum begann sich zu drehen. Ich verlor gnadenlos. Dunkelheit bemächtigte sich meiner und ich hörte ihn nur noch verzweifelt meinen Namen rufen.

Wollen Sie erst wissen, wie und wo ich zu mir kam oder das, was mir Christian erzählte hatte?

Hätte ich mir auch denken können.

Also. So wie ich das verstanden habe und ich habe davon nicht sehr viel Ahnung, war folgendes passiert:

Die 7 Tage 100 Jahre zuvor hatte er einen folgenschweren Entschluss gefasst. Er wollte nicht mehr danach suchen, wie er die Ruhephasen beenden konnte. Er wollte sterben. Michael war nur noch aufgewacht, um einen Weg zu finden, sich von diesem Dasein zu befreien. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass er sich noch einmal verlieben würde. Dies machte es ihm schwer.

Sehr schwer.

In der Nacht, als ich ihn nicht begleiten durfte, hatte er einige Dinge abgeändert. Er wusste nicht, ob es ihm gelingen würde. Er wusste nur eines: Ihm würde es gelingen die Bindungen seines Geistes, seiner Seele von seinem Körper zu lösen. Der Rest verblieb der Spekulation.

Ich würde es, wäre ich ein Mensch des Mittelalters, als Magie bezeichnen. Heute wäre, glaube ich, Seelenwanderung der passendere Begriff. Genauso etwas hatte er vor. Doch dafür bedurfte es eines Körpers ohne Seele. Schwierig. Solche Menschen findet man nicht so ohne weiteres. Außerdem war ihm nicht bekannt, was mit einer Seele ohne Körper passierte. Ehrlich gesagt, dass weiß er bis heute nicht.

Der erste Teil gelang, wie er vermutet hatte, ohne Probleme. Er starb dieses Mal. Er schlief nicht nur ein. Der Heilige St. Michael würde nicht mehr aufwachen, wenn die 100 Jahre um waren. Dem Abt war das bekannt. Michael hatte die schriftliche Abmachung zerrissen und ihm diese versiegelt zukommen lassen. Eine sehr dramatische Geste. Aber sie war deutlich und eindeutig. Das Kloster war aus seiner Verpflichtung entlassen. Vielleicht würde in 100 Jahre noch einmal jemand warten, aber dann vergeblich.

Der zweite Teil war wirklich problematischer. Er wusste nicht, wie er zu diesem Menschen ohne Seele gelangt war oder ob er überhaupt einen finden würde. Aber sein Wunsch musste ihm Flügel verliehen haben oder vielleicht hatten ihm auch Engel die ihren geliehen. Er traf einen sterbenden Menschen, dessen Seele im Begriff war zu gehen. Worte fielen keine im üblichen Sinne, so hatte Michael angemerkt, aber es war eine Art Einverständnis und die Erlaubnis des Sterbenden, die ihm sein Vorhaben ermöglichte.

Danach wusste er nichts mehr. Er erwachte im Krankenhaus. Man sagte ihm, dass er einen schweren Unfall gehabt hatte und dass er noch eine ganze Zeit im Krankenhaus bleiben und dann zur Rehabilitation musste. Man schob seinen Gedächtnisverlust auf den Unfall zurück und erzählte ihm ohne weiteres von seiner Vergangenheit. Er lernte seinen Lebenslauf, seine Familie, seine Vergangenheit kennen. Aber er vergaß nie, dass es nicht sein Leben war und dass er jemanden suchte.

Er brauchte eine ganze Zeit, ehe er die Puzzleteile zusammen hatte, bis er sich an alles erinnerte. Sein Leben vor diesem Leben, den Grund und mich. Noch in der Rehabilitation begann er nach mir zu forschen. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich jedoch schon lange auf dem absteigenden Ast und war nur noch schwer auffindbar. Dann verblasste meine Spur und verlief sich ins Nirgendwo. Frustriert musste er zusehen, wie er mich verlor, vielleicht unwiederbringlich. Der Unfall war wirklich schwer gewesen und so seine Ärzte bestanden trotz seines Widerstandes auf einen ordnungsgemäßen Abschluss der Maßnahme. Vor einem Monat wurde er entlassen. Gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte.

Er brauchte etwas weniger als einen Monat, um eine Vorstellung davon zu haben, wo ich mich befand. Michael zog hierher. In die Stadt, in der ich lebte. Seitdem durchwanderte er die Straße zu fast jeder Tag- und Nachtzeit. Stöberte in den dunklen Gassen, Ecken und Winkeln. Fragte sich durch. Doch immer, wenn er glaubte, mich gefunden zu haben, dann war es ein Trugschluss.

In der Nacht, als er mich auf der Brücke von meiner Verzweiflungstat abhielt, war er auf den Penner gestoßen, der mich davongejagt hatte. Dieser hatte noch immer vor sich hingemurmelt, als er ihn antraf. Michael glaubte zwar nicht an einen Erfolg, wenn er fragen würde; bekam aber entgegen seiner Vermutung eine Antwort. Jetzt blieb nur noch die Frage, ob ich es auch sein konnte.

Er sagte mir, dass er mich trotz der Dunkelheit erkannt hatte. Er war unbeschreiblich froh und glücklich. Unfassbar, endlich am Ziel zu sein, mich gefunden zu haben, war er wie erstarrt stehen geblieben. Fast zu spät registrierte er mein Vorhaben.

Der Rest ist Ihnen bekannt.

Wollen wir zurück zum Café?

Oh, ... ich glaube daraus wird nichts mehr.

Er erwacht. Es wird Zeit für Sie, zu gehen. War mir eine Freude. ...


"Mhm, du bist schon wach?",

"Schon die ganze Zeit."

"Und was hast du die ganze Zeit getan?"

"Dich beobachtet und mir so meine Gedanken gemacht."

Warmes Lachen, dass wie ein Sonnenstrahl die Wolken durchbricht.

"Und was waren das für Gedanken?"

"Kann ich dir leider nicht verraten."

"Mhm, das werden wir sehen."

...

"Was machst du?"

...

"Lass dich überraschen!"


...

"Nhn, ... ähm Christian? ... Ah! ... Oh, Gott ... Michael!"

FIN

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Warnungen: Yaoi Death Blasphemie (?)

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